Er müsste sprechen können - Gert Rothberg - E-Book

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Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. ein großzügiges, traditionsreiches Anwesen, gelegen in einem riesigen Park. Geleitet wird es von der warmherzigen Denise von Schoenecker, die für ihren halbwüchsigen Sohn Nick dieses Erbe bis zu seiner Volljährigkeit verwaltet. Denise, in zweiter Ehe verheiratet mit Alexander, dem Besitzer des benachbarten Gutes Schoeneich, ist auch Mutter des kleinen Henrik, der den Kopf voller Streiche hat. Jungen von Sophienlust, die ihre oft traurigen Schicksale an diesem heiteren und beschützten Ort vergessen können. Sie alle bestätigen aus vollem Herzen: Sophienlust ist das Haus der glücklichen Kinder! Nick blickte skeptisch zum stark verhangenen Himmel empor. Im Moment regnete es nicht, doch die graue Wolkendecke, die von keinem einzigen Fleckchen Blau unterbrochen wurde, verriet, dass der nächste Regenguss nicht lange auf sich warten lassen würde. Nick seufzte erbarmungswürdig. Er setzte mit einem langen Satz über eine Pfütze und lief weiter in Richtung Ponykoppel. Er trug Jeans und einen langärmeligen hellblauen Rollkragenpullover, aber er schwitzte kein bisschen in dieser Winterkleidung – dabei schrieb man gerade Anfang August. Ein trostloser Sommer war das. Nick erkannte Pünktchen schon von weitem in ihrem feuerroten Kleidchen. Auch sie hatte eine Strickweste übergezogen. Die blonden Locken klebten ihr feucht auf der Stirn. Sie schien also weniger Glück gehabt zu haben als er selbst und noch in den letzten Regenguss gekommen zu sein. Nick ging auf das Mädchen zu. Und jedes Mal, wenn Pünktchen ihren Freund sah, zog ein verklärtes Lächeln über ihr Gesicht. Ihr Näschen mit den unzähligen Sommersprossen zog sich dabei kraus.« »Wolltest du auch mal frische Luft schnappen, Nick?«, erkundigte sich Pünktchen.«

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Sophienlust Extra – 6 –

Er müsste sprechen können

Ein kleines Mädchen und ihr Hund als Zeugen eines Verbrechens …

Gert Rothberg

Sophienlust ist ein Kinderheim der ganz besonderen Art:

ein großzügiges, traditionsreiches Anwesen, gelegen in einem riesigen Park.

Geleitet wird es von der warmherzigen Denise von Schoenecker, die für ihren halbwüchsigen Sohn Nick dieses Erbe bis zu seiner Volljährigkeit verwaltet.

Denise, in zweiter Ehe verheiratet mit Alexander, dem Besitzer des benachbarten Gutes Schoeneich, ist auch Mutter des kleinen Henrik, der den Kopf voller Streiche hat. Seine und Nicks beste Spielgefährten sind die Mädchen und

Jungen von Sophienlust, die ihre oft traurigen Schicksale an diesem heiteren und beschützten Ort vergessen können. Sie alle bestätigen aus vollem Herzen: Sophienlust ist das Haus der glücklichen Kinder!

Nick blickte skeptisch zum stark verhangenen Himmel empor. Im Moment regnete es nicht, doch die graue Wolkendecke, die von keinem einzigen Fleckchen Blau unterbrochen wurde, verriet, dass der nächste Regenguss nicht lange auf sich warten lassen würde.

Nick seufzte erbarmungswürdig. Er setzte mit einem langen Satz über eine Pfütze und lief weiter in Richtung Ponykoppel. Er trug Jeans und einen langärmeligen hellblauen Rollkragenpullover, aber er schwitzte kein bisschen in dieser Winterkleidung – dabei schrieb man gerade Anfang August. Ein trostloser Sommer war das.

Nick erkannte Pünktchen schon von weitem in ihrem feuerroten Kleidchen. Auch sie hatte eine Strickweste übergezogen. Die blonden Locken klebten ihr feucht auf der Stirn. Sie schien also weniger Glück gehabt zu haben als er selbst und noch in den letzten Regenguss gekommen zu sein.

Nick ging auf das Mädchen zu. Und jedes Mal, wenn Pünktchen ihren Freund sah, zog ein verklärtes Lächeln über ihr Gesicht. Ihr Näschen mit den unzähligen Sommersprossen zog sich dabei kraus.«

»Wolltest du auch mal frische Luft schnappen, Nick?«, erkundigte sich Pünktchen.« Der Junge nickte und sagte: »Ich komme mit dir.« Danach meinte er skeptisch: »Glaubst du, dass sich das Wetter bis morgen früh bessert, Pünktchen?«

»Es sieht nicht so aus, Nick. Dabei hatten wir uns doch so sehr auf die Fahrt nach Berchtesgaden gefreut, die Tante Isi uns versprochen hat. Glaubst du, dass wir bei dem schlechten Wetter nun zu Hause bleiben müssen, Nick?«

Pünktchens Stimme war deutlich anzuhören, wie sehr sie auf ein Nein von Nick hoffte – und da kam es auch bereits.

»Selbstverständlich müssen wir nicht zu Hause bleiben«, erklärte Nick im Brustton der Überzeugung. »Mutti hat heute Mittag nach dem Essen ausdrücklich betont, dass wir nach Berchtesgaden fahren werden, ganz gleich, wie morgen das Wetter ist. Mutti weiß doch auch, wie sehr sich alle Kinder auf diesen Ausflug gefreut haben. Sie möchte natürlich keinen enttäuschen. Außerdem meint mein Vater, dass sich das Wetter ja immer noch über Nacht ändern könnte.«

»Hoffentlich!«, seufzte Pünktchen. »Carola hat gesagt, dass die Huber-Mutter auch mitfährt. Stimmt das?«

Der große Junge nickte eifrig. »Das hab’ ich bei Mutti durchgesetzt, weißt du. Mutti wollte nämlich zuerst nicht, dass die Huber-Mutter die weite Fahrt mitmacht. Sie hatte Angst, dass die alte Frau durch die Reise vielleicht gesundheitlich Schaden nehmen könnte. Immerhin sind es doch ein paar hundert Kilometer, die wir zurücklegen müssen. Aber dann sagte ich zu Mutti, sie solle doch einmal überlegen, was für ein Erlebnis die wunderbare Landschaft dort unten für die Huber-Mutter bedeuten müsse. Auch würden sie die Alpenkräuter, die doch für ihre große Heilkraft berühmt sind, bestimmt sehr interessieren. Da gab sich Mutti schließlich geschlagen. Sie musste lachen, weil ich so hartnäckig blieb. Dann meinte sie, es sei wohl am besten die Huber-Mutter selbst entscheiden zu lassen.«

»Und was hat die Huber-Mutter gesagt?«, fragte Pünktchen gespannt.

»Ja, da passierte etwas ganz Seltsames«, murmelte Nick nachdenklich. »Zuerst schien die Huber-Mutter über den Vorschlag, eine so weite Reise zu unternehmen, überrascht zu sein. Doch dann schweifte ihr Blick plötzlich ab, als sähen ihre Augen etwas, was nur für sie allein sichtbar war. Dann aber sagte sie plötzlich entschlossen: Selbstverständlich komme ich mit, wenn ihr mich einladet.«

Pünktchen war Nicks Bericht mit weit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem gefolgt. Nun fragte sie aufgeregt: »Glaubst du, dass dieses merkwürdige Verhalten der Huber-Mutter etwas zu bedeuten hat, Nick?«

»Ich bin überzeugt davon«, erklärte der große Junge fest. »Bestimmt hat die Huber-Mutter etwas gesehen, was dort unten in Berchtesgaden passieren wird. Nur deshalb will sie mitkommen. Vielleicht glaubt sie, jemandem helfen zu können …«

Eine ganze Weile gingen die zwei Kinder schweigend nebeneinander her. Dann wollte Pünktchen wissen: »Frau Dr. Karsten wird auch mitkommen, nicht wahr?«

»Ja, Mutti wollte das so, falls wirklich ein Kind unterwegs krank werden und die Hilfe eines Arztes brauchen sollte.«

»Während der paar Tage wird schon nichts passieren!«, meinte Pünktchen optimistisch, ohne zu ahnen, wie sehr sie schon bald die Hilfe der jungen Ärztin nötig haben würden.

»Andrea und ihr Mann kommen einen Tag später nach Berchtesgaden«, fuhr Nick in seinen Erläuterungen fort. »Sie wären ja gern mit uns gefahren, aber Hans-Joachim kann seine Praxis nicht so lange allein lassen. So können sie nur einen Tag bei uns bleiben.«

»Schade«, meinte Pünktchen. »Es macht zwar Spaß, ständig so viele Tiere um sich zu haben, aber Nachteile hat der Beruf des Tierarztes auch, wie man sieht. Denn man muss ständig erreichbar sein.«

*

Am nächsten Morgen ging die Sonne leuchtend an einem strahlend-blauen Himmel über Sophienlust auf. Über jenem Kinderheim, das schon so vielen Kindern zu einer zweiten Heimat geworden war. Ganz gleich, wie lange die Kinder in jenem hübschen Haus mit dem weiten Park und den vielen Tieren blieben – ob nur für einige Wochen oder bis zu dem Zeitpunkt, da sie erwachsen waren –, sie fühlten sich alle zufrieden und glücklich dort. In Dominik von Wellentin-Schoenecker, den sie alle nur Nick nannten und dem dieses schöne Anwesen einst gehören würde, besaßen sie einen wahren Freund und Bruder. Und in seiner schönen Mutti, von allen Kindern zärtlich Tante Isi genannt, eine verständnisvolle Frau, die sie liebte wie ihre eigenen Kinder. Viele Kinder waren so glücklich dort, dass sie überhaupt nicht mehr weg wollten.

An diesem sonnigen Morgen herrschte lebhaftes Treiben auf Sophienlust. Beim Aufwachen hatten viele Kinder ungläubig geblinzelt und sich die Augen gerieben – doch die lachende Sonne verschwand nicht vom Himmel.

Denise von Schoenecker, ihr Mann und ihre beiden Söhne Nick und Henrik waren bereits von Schoeneich herübergekommen, um das Frühstück mit den Kindern einzunehmen. Doch Magda, die Köchin von Sophienlust, musste es an diesem Morgen hinnehmen, dass kaum jemand ihrem sorgfältig zubereiteten Frühstück Beachtung schenkte. Alle wurden bereits vom Reisefieber geplagt.

Dann war es endlich soweit. Draußen fuhren die Schulbusse vor, die die Kinder zu ihrem Ausflugsziel bringen sollten.

Denise und Alexander warteten, bis die Busse sich in Bewegung setzten. Dann erst nahmen sie in ihrem eigenen Wagen Platz, nachdem die Huber-Mutter und Frau Dr. Karsten es sich auf den Rücksitzen des Wagens bequem gemacht hatten. Nick und sein jüngerer Bruder Henrik hatten lieber mit den anderen Kindern im Bus fahren wollen, und Denise hatte es ihnen lächelnd gewährt. Denn dort gab es für die beiden Jungen natürlich mehr Unterhaltung.

Denise hätte sich jedoch gewundert, wenn sie gewusst hätte, wie still es in den Bussen nach der lautstarken Erstürmung der Sitzplätze geworden war. Die Kinder waren während der Fahrt ausgiebig damit beschäftigt, die ständig wechselnde Landschaft zu bestaunen, die bald von Hügelketten durchzogen war, bald wieder flach wurde. Im ersten Bus erklärte Wolfgang Rennert, was es in den einzelnen Orten an Bemerkenswertem zu sehen gab, und die Kinder lauschten gespannt jedem seiner Worte.

Lebhaft wurde es in den Bussen erst wieder, als man ins Voralpenland kam. Nur die Gesichter der Erwachsenen wurden bei jedem Kilometer besorgter, denn sie wussten, was dieses strahlende Blau des Himmels, die scheinbare Nähe der blaugesäumten Berge und die fröhlichen kleinen Wattewölkchen zu bedeuten hatten: Es herrschte Föhn. Bald konnte es wieder Regen geben.

Besonders Denise tat es von Herzen leid, dass diese Fahrt, auf die sich die Kinder so riesig gefreut hatten, im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser fallen sollte. Deshalb drängte sie, nachdem man endlich in der Pension im Berchtesgadener Land angelangt war, sich etwas erfrischt und auch das Mittagessen eingenommen hatte, darauf, noch am selben Nachmittag den ersten Ausflug an den Königssee zu unternehmen.

Auf die erstaunten Blicke ihres Mannes erklärte Denise in ihrer warmherzigen Art: »Ich weiß, Alexander, was du jetzt denkst. Du wunderst dich, dass ich gleich wieder zum Aufbruch dränge. Doch ich möchte, dass die Kinder wenigstens etwas von dieser wunderschönen Landschaft gesehen haben, falls morgen alles wieder durch Nebel und Wolken verhangen sein sollte. Besonders Nick wäre enttäuscht, wenn er seiner viel bewunderten Huber-Mutter überhaupt nichts von den Alpen und ihren Kräutern zeigen könnte. Doch auch ich gönne der alten Frau dieses Erlebnis von Herzen.«

Lächelnd griff Alexander von Schoen­ecker nach der Hand seiner Frau und zog sie an seine Lippen. »Ich weiß schon, meine liebe Denise, du denkst keinen Augenblick daran, dich von der anstrengenden Fahrt zu erholen. Deine Sorge gilt wie immer allein den Kindern und der Tatsache, dass sie von dieser Fahrt vielleicht enttäuscht sein könnten. Aber du wärest nicht meine Denise, wenn du anders dächtest. Ich danke dem Himmel jeden Tag dafür, dass er mich einen Menschen wie dich kennenlernen ließ.«

»Du sollst nicht alle Verdienste mir zuschieben wollen«, tadelte seine Frau zärtlich. »Ich weiß recht gut, welche Sorgen du dir oft um die uns anvertrauten Kinder machst, Alexander.«

Nick, der in diesem Moment zu seinen Eltern trat, unterbrach die Unterhaltung der beiden. »Kommt ihr mit?«, fragte er. »Wir fahren jetzt los zum Königssee. Ich glaube, die Kinder würden sich freuen, wenn ihr diesmal zu uns in einen der Busse einsteigen würdet. Da sind wir dann wirklich eine einzige große Familie.«

Die Erwachsenen waren mit diesem Vorschlag sofort einverstanden.

*

Die Fahrt zum Königssee war ein voller Erfolg gewesen. Doch bereits am Abend, als man am Abendbrottisch saß, ertönte draußen das erste Donnergrollen, das rasch lauter wurde. Minuten später ging ein wolkenbruchartiger Regen nieder. Aber den Kindern verdarb es nicht die Laune. Morgen, so trösteten sie sich, morgen würde bestimmt wieder die Sonne scheinen. Außerdem würden dann auch Andrea und ihr Mann kommen. Und auf dem Ausflugsprogramm stand eine Fahrt nach Salzburg.

Die Stimmung war also an diesem Abend trotz des Regens ausgesprochen munter und fröhlich. Doch am nächsten Morgen regnete es noch immer. Zwar war das Gewitter längst weitergezogen, doch jetzt ging ein ausgesprochener Landregen nieder, der die Gipfel der hohen Berge in Wolken und Nebelschwaden hüllte.

»So ein Wetter haben wir hier gar nicht gern«, erklärte eines der Hausmädchen während des Frühstücks trübe. »Dieser Regen hält bestimmt ein paar Tage an.«

»Das macht überhaupt nichts«, entgegnete Alexander munter. »Ich hab’ einen Vorschlag, bei dem wir vom Wetter völlig unabhängig sind: wir besuchen das Salzbergwerk! Das ist sehr interessant – und außerdem liegt es tief unter der Erde. Bis dorthin dringt der Regen bestimmt nicht!«

Das Frühstück wurde in einer wesentlich besseren Stimmung beendet, als es begonnen hatte. Als dann draußen auch noch ein Wagen vorfuhr, dem Andrea und ihr Mann, Dr. Hans-Joachim von Lehn, entstiegen, gab es wieder einmal kein Halten für die Kinder. Sie rannten hinaus und umringten die Neuankömmlinge mit fröhlichen Zurufen und begeistertem Händeschütteln.

In diesem Trubel achtete niemand auf die Huber-Mutter. Ganz still hatte sie sich vom Frühstückstisch erhoben und war hinausgetreten vor die Tür, wo gerade in diesem Moment ein greller Blitz über den Himmel zuckte, dem sofort ein ohrenbetäubender Donnerschlag folgte. Ein neues Gewitter hing über dem Tal. Und nun brach der Regen mit doppelter Heftigkeit los. Er verwandelte den Feldweg, an dem die kleine Pension lag, im Nu in einen reißenden Bach, und ließ die alte Frau in wenigen Minuten nass werden bis auf die Haut.

Doch die Huber-Mutter achtete weder auf ihre Umgebung, noch auf die Nässe. Die gleiche innere Stimme, die sie geheißen hatte, an dieser Fahrt nach Berchtesgaden teilzunehmen, bestimmte sie nun, hinauszulaufen in Gewitter und Regen. Ihr Kopftuch hatte sie tief ins Gesicht gezogen, ihr Dreieckstuch eng um die Schultern geschlungen. Der lange, weite, jetzt mit Regenwasser vollgesogene Rock schlug schwer um ihre Knöchel – doch der starre Blick der alten Frau war geradeaus gerichtet. In weiter Ferne schien sie etwas zu erblicken, das sie magisch anzog.

Die Huber-Mutter hatte den kleinen Ferienort unweit des Sees inzwischen längst hinter sich gelassen. Zuerst hatte sie eine Waldwiese überquert. Nun folgte sie mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit einem Wildbach, der durch den Regen der letzten Tage stark angeschwollen war. Das bleigraue Wasser sprang gischtend über bemooste Steine, bildete ab und zu einen kleinen Wasserfall, führte Holzstücke und manchmal ganze Äste mit sich, die der Sturm abgerissen hatte.

Der Blick der alten Frau schweifte immer wieder suchend über das wild brodelnde Wasser. Und je länger sie vergeblich suchte, desto unruhiger wurde sie. Viel rascher, als es für ihre alten Füße gut war, lief sie das unwegsame Gelände entlang, ging jetzt hart am Ufer des Wildbaches entlang und beugte sich immer wieder vor, um den Wasserlauf mit gespannten Blicken zu verfolgen. Ihr Atem ging keuchend. Einmal blieb sie stehen, um tief Luft zu holen. Dann setzte sie ihre unermüdliche Suche fort.

*

In der Pension hatte sich das Stimmengewirr inzwischen etwas gelegt. Alexander von Schoenecker hatte seinem Schwiegersohn eben erklärt, dass man statt der Fahrt nach Salzburg nun eine Besichtigung des Salzbergwerks aufs Programm gesetzt habe, da fragte Nick plötzlich mit aufgeregter Stimme: »Wo ist eigentlich die Huber-Mutter?«

Eine volle Minute lang herrschte Schweigen. Niemand konnte diese Frage beantworten. Die meisten Kinder erinnerten sich lediglich, die alte Frau noch beim Frühstück gesehen zu haben. Auch Denise war über das Verschwinden der Huber-Mutter erschrocken. Doch sie hielt es für sinnvoller, niemanden etwas von ihren Befürchtungen merken zu lassen. »Sie wird droben auf ihrem Zimmer sein«, meinte sie scheinbar gleichmütig.

Doch Pünktchen, die sofort die Treppe hinaufgerannt war, um droben nachzusehen, kam eben wieder zurück und erklärte erschrocken: »Droben ist sie auch nicht, Tante Isi. Ihr Zimmer ist so aufgeräumt, als habe sie es für längere Zeit verlassen.«

Alle blickten sich ratlos an. Da erklärte eines der Hausmädchen der Pension, das erst jetzt hinzugekommen war: »Suchen Sie die alte Frau, die gestern mit Ihnen gekommen ist? Die hab’ ich vor etwa einer Viertelstunde weggehen sehen.«

»Bei diesem Regen?«, unterbrach Nick das Mädchen atemlos. »Es gießt doch geradezu. Das Gewitter muss unmittelbar über uns sein. Blitz und Donner folgen ja direkt aufeinander.«

Doch das Mädchen zuckte nur die Achseln. »Ich hab’ sie jedenfalls hinauslaufen sehen. Ich weiß auch nicht, wohin sie wollte.«

Da packte Nick das Mädchen in seiner Aufregung fest am Arm. »Rasch, zeigen Sie uns, wohin die alte Frau gelaufen ist.«

Das Mädchen deutete mit ausgestrecktem Finger in die Richtung, in der die Huber-Mutter vor kurzem verschwunden war.

Nick rannte sofort in der angegebenen Richtung davon. Pünktchen folgte ihm auf dem Fuße.

»Nehmt doch wenigstens eure Regenmäntel mit«, rief Denise hinter den beiden her. Doch das hörten die Kinder schon nicht mehr.

»Ich laufe ihnen nach«, erbot sich Dr. Hans-Joachim von Lehn nun. »Vielleicht brauchen sie Hilfe.«

»Ja, tu das!«, rief Denise spontan.

Alexander, der die Erregung seiner Frau bemerkte, legte liebevoll den Arm um ihre Schulter. »Es wird schon nichts geschehen, mein Liebling«, versuchte er sie zu beruhigen. Doch er merkte, dass sie innerlich vor Aufregung bebte. Da führte er sie in den großen Aufenthaltsraum der Pension, wo sich die übrigen Kinder versammelt hatten, und schlug ihnen vor, ein paar Gesellschaftsspiele zu machen. Das würde sie alle für eine Weile ablenken.

Unterdessen hatte auch Nick, dicht gefolgt von Pünktchen, die Waldwiese überquert und war dem Lauf des angeschwollenen Wildbachs gefolgt. Aufgeregt hielt er nach allen Seiten Ausschau. Doch nirgends konnte er die Gestalt der alten Frau entdecken. Nick war dies unerklärlich.

Er blieb stehen. Dann kletterte er auf den untersten Ast eines jungen Baumes und hielt von dort aus ringsum Ausschau. Doch das Ergebnis war das gleiche. Nirgends war eine Spur von der alten Frau zu entdecken.

Da fiel dem Jungen plötzlich wieder jener Moment ein, als er die Huber-Mutter aufgefordert hatte, mit ihnen zu kommen. In diesem Augenblick hatte die Greisin etwas gesehen, dessen war Nick sich völlig sicher.

Er verließ nun ebenfalls den Waldweg und rannte den Wildbach entlang. Nebelfahnen schlugen ihm wie nasse Lappen ins Gesicht. Manchmal betrug die Sicht nur noch wenige Meter – doch Nick lief unbeirrt weiter. Auch als er einmal stolperte und ins nasse Gras fiel, erhob er sich ohne zu zögern und rannte sofort wieder weiter. Immer noch war Pünktchen hinter ihm.

Nick sah die alte Frau zuerst. Doch fast im gleichen Augenblick hörte der Junge einen überraschten Ausruf von Pünktchen.

Die Huber-Mutter kniete am Ufer des Wildbachs und beugte sich so weit vor, dass sie jede Sekunde den Halt verlieren konnte. Sie schien dort unten etwas zu suchen – oder es bereits gefunden zu haben.

Jetzt schrie Pünktchen noch einmal auf. Aber diesmal nicht allein aus Angst um die alte Frau. Denn Pünktchen hatte in dem tosenden Wildbach etwas entdeckt, was sie für die Gestalt eines kleinen Kindes hielt. Zuerst war es nur ein hellblauer Fleck, der auftauchte und wieder verschwand. Pünktchen glaubte bereits, einer optischen Täuschung zum Opfer gefallen zu sein. Zumal eine Nebelfahne den Wildbach und die dunkle Gestalt der Huber-Mutter im nächsten Moment wieder verdeckte. Doch dann zerriss der Nebel – und Pünktchen sah abermals den hellblauen Fleck, diesmal näher, deutlicher. Pünktchen wusste nun, das da drunten in den tobenden und brausenden Fluten war zweifellos ein Kind, das von den Wellen umhergeworfen wurde wie ein Spielball. Jetzt war es schon wieder verschwunden.

Da schrie Pünktchen noch einmal laut auf. Dann rannte sie hinter Nick her, hinunter zum Bachrand.

Nick überlegte keine Sekunde, ehe er mit beiden Füßen hinein in den wild schäumenden Wildbach trat. Die Wucht des Wassers warf ihn beinahe an den Uferrand zurück, doch er stemmte sich mit aller Kraft gegen die Fluten. Er musste das Kind erreichen und vor dem sicheren Tod erretten.

Während Pünktchen angstvoll hinter ihm herblickte, kämpfte der Junge sich tapfer weiter gegen die reißenden Wassermassen vor.

Rasch wandte Pünktchen sich zur Seite.

Die Huber-Mutter kniete noch immer am Bachrand. Beide Hände streckte sie dem tobenden Wasserlauf entgegen, als hoffe sie, mit ihren schwachen Kräften das Kind auffangen und retten zu können. In ihrem Eifer beugte sie sich immer weiter vor, und richtete den Blick immer verzweifelter auf die ständig weitertreibende Gestalt des Kindes. Da verlor die alte Frau das Gleichgewicht und wäre im nächsten Augenblick ins Wasser gestürzt, wenn Pünktchen sie nicht mit aller Kraft zurückgerissen hätte.