Wo wir alle glücklich sind - Gert Rothberg - E-Book

Wo wir alle glücklich sind E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Denise von Schoenecker legte nachdenklich den Hörer auf die Gabel zurück. Die schrille Stimme der Anruferin aus Heilbronn hatte sie unangenehm berührt. Sie bat eine der Praktikantinnen, Wolfgang Rennert zu ihr zu schicken. Das war der Hauslehrer, der die Sophienluster Kinder in Musik und Zeichnen unterrichtete, ihnen aber auch in anderen Fächern, falls nötig, Nachhilfeunterricht erteilte. Denise begrüßte den jungen Mann in ihrer liebenswürdigen Art. »Eine große Aufgabe kommt auf Sie zu, Herr Rennert. Soeben hat Frau Fuchs aus Heilbronn angerufen und angefragt, ob wir ihre Enkelin für etwa drei Wochen bei uns aufnehmen können. Die Kleine scheint ein Wunderkind zu sein.« »Ein zukünftiges Malergenie oder eine Sängerin?« Wolfgang Rennert schaute Denise von Schoenecker mit seinen warmen grauen Augen, in denen gern der Schalk aufblitzte, fragend an. Er hatte auf Sophienlust sein Glück gefunden. Seine Frau Carola, die selbst einmal ein Schützling von Sophienlust gewesen war. Inzwischen hatten die beiden ein Zwillingspärchen. Alexandra und Andreas. »Eine zukünftige Pianistin, Herr Rennert«, erwiderte Denise. »Sie ist siebeneinhalb Jahre alt und spielt bereits Klavierkonzerte und die Sonaten von Beethoven.« »Dann muss sie wahrhaftig ein Wunderkind sein!«, rief Wolfgang Rennert begeistert. »Wer unterrichtet das Kind?«

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Sophienlust Extra – 61 –

Wo wir alle glücklich sind

Wie Daniela lernte, wieder Kind zu sein

Gert Rothberg

Denise von Schoenecker legte nachdenklich den Hörer auf die Gabel zurück. Die schrille Stimme der Anruferin aus Heilbronn hatte sie unangenehm berührt. Sie bat eine der Praktikantinnen, Wolfgang Rennert zu ihr zu schicken. Das war der Hauslehrer, der die Sophienluster Kinder in Musik und Zeichnen unterrichtete, ihnen aber auch in anderen Fächern, falls nötig, Nachhilfeunterricht erteilte.

Denise begrüßte den jungen Mann in ihrer liebenswürdigen Art.

»Eine große Aufgabe kommt auf Sie zu, Herr Rennert. Soeben hat Frau Fuchs aus Heilbronn angerufen und angefragt, ob wir ihre Enkelin für etwa drei Wochen bei uns aufnehmen können. Die Kleine scheint ein Wunderkind zu sein.«

»Ein zukünftiges Malergenie oder eine Sängerin?« Wolfgang Rennert schaute Denise von Schoenecker mit seinen warmen grauen Augen, in denen gern der Schalk aufblitzte, fragend an. Er hatte auf Sophienlust sein Glück gefunden. Seine Frau Carola, die selbst einmal ein Schützling von Sophienlust gewesen war. Inzwischen hatten die beiden ein Zwillingspärchen. Alexandra und Andreas.

»Eine zukünftige Pianistin, Herr Rennert«, erwiderte Denise. »Sie ist siebeneinhalb Jahre alt und spielt bereits Klavierkonzerte und die Sonaten von Beethoven.«

»Dann muss sie wahrhaftig ein Wunderkind sein!«, rief Wolfgang Rennert begeistert. »Wer unterrichtet das Kind?«

»Professor Ludwig Schubert in Heilbronn.«

»Eine Kapazität, Frau von Schoenecker. Ich kenne seinen Ruf. Er unterrichtet nur außergewöhnlich begabte Schüler.«

Denise seufzte. »Frau Fuchs hat gefordert, dass Sie ihre Enkelin täglich vier Stunden bei ihren Übungen beaufsichtigen. Ein so kleines Kind soll stundenlang am Klavier sitzen?«

»Es gibt Genies, die es mit Begeisterung tun, Frau von Schoenecker. Denken Sie nur an Mozart und Franz Liszt, die unglücklich waren, wenn sie nicht auf dem Klavierschemel sitzen durften.«

»Frau Fuchs nannte ihre Enkelin ›kleine Madam Liszt‹. Hoffentlich mit Recht!«

Wolfgang Rennert bemerkte, dass der Herrin von Sophienlust der Gedanke an die Mühsal des Kindes unbehaglich war. Er wusste, wie sehr sie darauf bedacht war, dass Kinder echte Kinder sein durften, dass sie spielen, sich austoben, fröhlich und unbekümmert sein durften. Dafür lebte und arbeitete sie. Sie nahm verlassene oder vernachlässigte Kinder auf und sorgte dafür, dass sie auf Sophienlust wieder das Lachen lernten.

Er versuchte sie zu beruhigen. »Sie werden es sofort merken, ob das Mädchen bei den Übungen glücklich ist oder ob es durch falschen Ehrgeiz zu einem Wunderkind gezwungen wurde, Frau von Schoenecker.«

»Der Stimme der Großmutter nach befürchte ich das letztere, Herr Rennert. Aber ich will mit meinem Urteil nicht voreilig sein. Auf jeden Fall muss mir Frau Fuchs die Verantwortung für ihre Enkelin voll und ganz übertragen, solange das Kind bei uns ist.«

*

Dass diese Forderung auf Widerstand stoßen würde, ahnte Denise von Schoenecker, als sie Regina Fuchs aus dem Wagen steigen sah. Sie war eine große hagere Frau mit blond gefärbtem Haar, das zu einem strengen Chignon am Hinterkopf aufgesteckt war. Sie trug ein hellblaues Sommerkostüm, dazu farblich abgestimmte Schuhe, schwarze Handtasche und Handschuhe. Ihre Augen waren von einem strahlenden Hellblau, aber sie wirkten klein und verkniffen. Hinter ihr stieg ein hochbeiniges kleines Mädchen aus dem Wagen mit dunklem Haar, sanften braunen Augen und einem schüchternen Lächeln um den Mund.

»Guten Tag, Frau von Schoenecker«, sagte Regina Fuchs und strahlte Selbstbewusstsein aus. »Begrüße die Dame, Ela.«

Daniela Encken knickste und sagte leise: »Guten Tag!«

»Willkommen bei uns, Daniela.«

Regina Fuchs hob die Augenbrauen. »Nennen Sie meine Enkelin bitte Ela. Sie muss sich an ihren zukünftigen Künstlernamen gewöhnen.«

Denise neigte leicht den Kopf und bat die beiden ins Haus. Pünktchen und Angelika Langenbach zwei der Dauerkinder auf Sophienlust, standen bereit, um die neue Freundin zu empfangen.

»Pünktchen, wie wir unsere liebe Angelina Dommin nennen, und Angelika Langenbach, werden sich Ihrer Enkelin annehmen, Frau Fuchs«, erklärte Denise.

Regina Fuchs musterte die beiden Mädchen.

»Sie sind als Gesellschafterin für meine Enkelin zu jung, Frau von Schoenecker.«

»Pünktchen ist zwölf Jahre alt, Angelika ein Jahr jünger. Wenn ich Sie am Telefon recht verstanden habe, ist Daniela …«

»Ela, wenn ich bitten darf, Frau von Schoenecker.«

Denises Gesicht rötete sich. Ihre sonst so samtweiche Stimme wurde ein wenig schärfer: »Ihre Enkelin ist noch nicht einmal acht Jahre alt, Frau Fuchs.«

»Nicht die Jahre zählen, sondern die Reife. Ela hat nichts für die unter gewöhnlichen Kindern üblichen Unterhaltungen übrig. Sie kennt ihr gottbegnadetes Talent und ihre Pflichten.«

Armes kleines Mädchen, dachte Denise. Sie bat Ela, mit Frau Rennert in das Zimmer zu gehen, das für sie bereitstand. »Frau Rennert ist die Heimleiterin und die Mutter unseres Musiklehrers«, erläuterte sie. »Pünktchen und Angelika werden dich mit den anderen Kindern bekannt machen.«

»Darf ich gehen, Großmama?«

Regina Fuchs wollte protestieren, aber unter dem ernsten Blick Denise von Schoeneckers wagte sie keinen Widerspruch. Sie erkannte, sie hatte eine stärkere Persönlichkeit vor sich, als sie selbst war. Sie fasste es mit innerem Widerstreben und bedauerte, ihre Enkelin hierhergebracht zu haben.

»Du kannst gehen. Für drei Wochen musst du Frau von Schoenecker gehorchen.« Danach polierte sie ihr angeschlagenes Selbstbewusstsein dadurch wieder auf, dass sie forderte, den Musiklehrer Wolfgang Rennert zu sprechen. »Herr Schubert sagte mir, dass er ein fähiger Pädagoge sei. Ich verlasse mich auf dieses Urteil und hoffe, dass er meine Enkelin nicht ungünstig beeinflusst. Allerdings habe ich erfahren, dass Herr Rennert vor Jahren einmal kriminell geworden ist …«

Denise unterbrach sie. Sie klingelte nach einer Praktikantin und bat sie, Herrn Rennert in das Biedermeierzimmer zu schicken. Zu Regina Fuchs sagte sie danach: »Herr Rennert ist nicht nur ein ausgezeichneter Pädagoge, er ist auch ein Mann untadeligen Charakters, Frau Fuchs. Darf ich Sie bitten, keinerlei Anspielungen auf seine Vergangenheit zu machen? Das Richten über fremde Sünden ist unserem eigenen Charakter höchst unzuträglich. Ich nehme an, dass Sie als gebildete Frau meine Meinung teilen.«

Das Kompliment freute Regina Fuchs. Eigene Fehler zuzugeben, lag nicht in ihren Möglichkeiten.

Sie betonte viel lieber die Fehler ihrer Tochter.

»Sie haben recht, Frau von Schoenecker, ich habe nicht das Recht über fremde Sünden zu richten, da ich gezwungen bin, meine eigene Tochter Vera verurteilen zu müssen. Aber erst will ich mit Herrn Rennert sprechen. Das Wohl meiner Enkelin liegt mir sehr am Herzen.«

Die ruhige Art Wolfgang Rennerts beeindruckte sie. Auch der Respekt, den Denise von Schoenecker ihrem Angestellten entgegenbrachte, imponierte ihr. Sie beendete das Gespräch mit der Forderung: »Ich verlasse mich also auf Ihr Pflichtbewusstsein, Herr Rennert. Meine Enkelin muss täglich vier Stunden üben. Schon in der Bibel heißt es: ›Wer sein Kind liebt, der züchtigt es‹. Ela ist meine Enkelin und ein Mädchen, aber diese Forderung hat auch für mich Gültigkeit. Ich verlange natürlich nicht, dass Sie Ela ohrfeigen, wenn sie sich weigert zu spielen. Ich lege die Bibel nicht wörtlich aus. Unter Zucht verstehe ich Strafe und unbedingte Konsequenz und Härte. Später, wenn Ela einmal weltberühmt sein wird, wird sie mir dafür, dass ich sie zu ihrem Glück gezwungen habe, dankbar sein. Haben wir uns verstanden, Herr Rennert?«

Er wechselte einen Blick mit Denise und nickte. Er hatte verstanden, aber er wusste, dass er sich auf Denise von Schoenecker verlassen konnte. Sie würde einen Weg finden, diesem gequälten und überforderten Kind zu helfen.

Er verabschiedete sich kühl von Regina Fuchs, die auch Schwester Regine noch einer eingehenden Prüfung unterzog. Dann waren Denise von Schoenecker und die ehrgeizige Großmutter allein. Regina Fuchs straffte ihren Rücken, ihre Stimme wurde schrill: »Ich möchte Ihnen einige Erklärungen über die besondere Situation meiner Enkelin geben. Elas Mutter lebt in Mailand mit einem blinden Pianisten zusammen. Zuerst war Ela bei ihrer Mutter, aber ich konnte nicht dulden, dass sie in diesem lasterhaften Haus blieb, auch wenn es ein vornehmer Palazzo ist. Ich habe sie zu mir nach Heilbronn geholt.«

»Ihre Tochter war damit einverstanden?«

»Es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie musste sich zwischen diesem Parini und ihrem Kind entscheiden. Sie blieb bei ihm.«

»Sie liebt ihn?«

Regina lachte ungut auf. »Sie behauptet, wie eine Schwester mit ihm zu leben. Sie fühlt sich verpflichtet, bei ihm zu bleiben, weil er durch einen Unfall sein Augenlicht verlor. Mein Schwiegersohn saß am Steuer, als das Unglück geschah. Vera trägt keine Schuld daran. Frau Parini ist ihrem ewig kränkelnden Mann davongelaufen, was ich verstehen kann. Seit dem Unfall hat er seinen Flügel nicht mehr angerührt. Ich bitte Sie, wer hält es schon bei einem Mann aus, der den ganzen Tag im Haus herumnörgelt und gehätschelt und verwöhnt werden will? In dieser ungesunden Luft sollte meine Enkelin leben? Nein, es war meine Pflicht als Großmutter, sie herauszuholen.«

Denise ließ die Besucherin reden. Doch sie glaubte ihr nicht, sondern fühlte, dass sie zu Übertreibungen neigte.

Regina Fuchs fuhr fort: »Es tut mir leid, dass ich meine Tochter herabsetzen muss, aber sie ist selbst schuld daran. Sie hatte bei mir dieselben Möglichkeiten wie Ela, eine Künstlerin von Weltruf zu werden. Kein Lehrer war mir für sie zu teuer. Wie Ela hat sie bereits mit drei Jahren den ersten Unterricht bekommen. Doch es fehlte ihr der nötige Lebensernst, der eiserne Fleiß, den auch ein Genie braucht, um Erfolg zu haben. Sie heiratete und vergeudete ihr gottbegnadetes Talent. Sie war nur noch die Frau ihres Mannes, der später Dirigent eines berühmten Mailänder Orchesters wurde. Elvio Parini war sein erster Pianist. Sie nannten sich Freunde. Dann war Jochen tot, Vera nur noch ein Nichts ohne ihn. Nun lebt sie bequem auf Kosten Parinis, trägt die Maske der Dulderin und sonnt sich in seinem Ruhm.«

Noch nie hatte Denise eine Mutter so gehässig über ihre eigene Tochter urteilen hören.

Sie fühlte wachsende Abneigung gegen diese selbstgerechte Frau.

»Sagten Sie nicht, Signor Parini würde seit seiner Erblindung nicht mehr spielen? Ich habe seinen Namen noch nie gehört. Mein Mann und ich fahren manchmal nach Mailand, um einen Ballettabend in der Skala zu besuchen …«

»Natürlich! Sie waren ja früher Tänzerin, wie ich erfuhr, als ich mich nach Ihrem Heim erkundigte. Auch Tanzen ist eine Kunst, wenn sie auch bei weitem nicht an die eines Musikers heranreicht. Sie nehmen mir meine Offenheit doch hoffentlich nicht übel?«

Denise nahm sie nicht übel. Sie fühlte sich niemals von Menschen gekränkt, die sie nicht achten konnte, und schüttelte lachend den Kopf. Regina Fuchs fuhr fort: »Sie haben mich missverstanden, meine Liebe. Ich meinte nicht den künstlerischen Ruhm Parinis. Der war niemals bedeutend. Ein erster Pianist in einem Orchester erntet keine Lorbeeren, auch wenn das Orchester noch so gut ist. Parini gehört einer alten Mailänder Familie an und besitzt einen Reichtum, der ihm nicht zusteht. Die Spitzen der Gesellschaft verkehren in seinem Haus. In diesem Glanz sonnt sich meine bequeme Tochter, die alles hatte, um selbst glänzen zu können.«

»Sie sind enttäuscht, weil Ihre Tochter nicht die große Karriere gemacht hat, die Sie für sie erträumten.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Natürlich! Welche Mutter wäre nicht stolz, eine Tochter zu haben, die in allen Konzertsälen der Welt bejubelt wird? Aber was meine Tochter nicht erreicht hat, wird meiner Enkelin gelingen. Ela ist fleißig und gehorsam. Kein verspieltes dummes Ding. Ich sorge auch dafür, dass sie ihre Schularbeiten nicht vernachlässigt. Im nächsten Jahr engagiere ich einen Hauslehrer, denn ich habe bereits einen Agenten, der sie groß herausbringen wird.«

»Was sagt ihr Lehrer, Professor Schubert, dazu?«

Regina lachte ungut auf. »Der ist natürlich dagegen. Er behauptet, Elas Gesundheit sei viel zu zart, um diese Strapazen, diese Doppelbelastung, wie er sich ausdrückt, zu verkraften. Er meint, dass ich ihr für ihre Zukunft erst ein solides Fundament in einem bürgerlichen Beruf schaffen sollte.«

»Sehr vernünftig«, meinte Denise, erntete damit aber einen empörten Blick.

»Ich hätte mir eigentlich denken können, dass Sie auf der Seite Professor Schuberts stehen. Doch ich nehme es Ihnen nicht übel, Frau von Schoenecker. Ein Genie zu verstehen ist für gewöhnliche Menschen zu schwer. Ich brauche Ihr Verständnis nicht. Ich erwarte nur, dass Sie für das Pflegegeld meine Anordnungen befolgen. Ich fahre jetzt zu meiner Tochter und werde mir das alleinige Sorgerecht für meine Enkelin erkämpfen. Sie darf nicht ein solcher Versager werden wie ihre Mutter.« Regina Fuchs holte aus ihrer Handtasche zwei Visitenkarten. »Hier ist die Adresse meiner Tochter, falls Sie mich dringend erreichen müssen. Tagsüber werde ich meist bei ihr sein. Ich steige im Hotel Principessa ab.« Sie erhob sich.

Auch Denise hatte sich erhoben. »Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft über das Kind, Frau Fuchs. Da ich die Verantwortung für Ela habe, während sie bei uns wohnt, muss ich Sie bitten, mir dafür ausdrücklich alle Vollmachten zu erteilen.«

»Wenn Sie meine Anordnungen befolgen, bin ich mit Ihnen zufrieden.«

Denise blieb beharrlich. »Das Kind könnte erkranken. Dann wären die vier Übungsstunden täglich nicht durchführbar.«

»Kleine Unpässlichkeiten ändern nichts an Elas Stundenplan. Ein Genie muss für sein begnadetes Talent bezahlen. Ich habe Ausreden niemals geduldet. Ohne Fleiß kein Preis, sagt das Sprichwort.«

Denise widersprach nicht mehr. Sie wollte nicht riskieren, dass diese vom Ehrgeiz besessene Großmutter ihre Enkelin in einem anderen Heim unterbrachte, in dem man ihre Forderungen widerstandslos erfüllen würde. »Möchten Sie das Zimmer Ihrer Enkelin sehen?«

»Natürlich.«

Ela war damit beschäftigt, ihren Koffer auszupacken. Als die Großmutter eintrat, zuckte sie zusammen.

»Denke an meine Weisungen, mein Kind. Gehorche den Leuten hier. Zeige dem Musiklehrer, was du kannst. Wenn ich dich abhole, möchte ich die ›Appassionata‹ fehlerfrei von dir hören.«

»Ja, Großmama.«

»Gib mir einen Kuss!«

Das hochgewachsene Mädchen erhob sich auf die Zehenspitzen, um mit ihren Lippen die Wange der um einen Kopf größeren Großmutter zu küssen.

Denise war unter der Tür stehen geblieben. Sie bemerkte, dass Daniela Encken vor Angst zitterte. Mitleid überkam sie. Mitleid mit diesem geschundenen Kind, dem die schönsten Kinderjahre von der eigenen Großmutter gestohlen wurden.

Frau Rennert, die Heimleiterin, begleitete Frau Fuchs zu ihrem Wagen. Denise blieb bei dem Mädchen.

»Ich hoffe, du wirst dich bei uns wohlfühlen, Ela.«

Die Kleine schaute die wunderschöne Dame mit den gütigen Augen verschüchtert an. »Großmama sagte, ich brauche mich nicht wohlzufühlen. Ich bin hier, um zu üben.«

»Das auch, Ela.«

Das Mädchen zögerte, dann presste es hervor: »Würden Sie mich Daniela nennen wie meine Mutti? Nur Großmama nennt mich Ela. Ich mag diesen Namen nicht.«

»Warum nicht, Daniela?«

»Er klingt wie ein Trompetenstoß. Oder wie der Anfang der fünften Symphonie von Beethoven.«

Eine erstaunliche Antwort für eine Siebeneinhalbjährige. Und eine traurige Antwort, denn sie zeigte, dass dieses Kind kein Kind mehr war, es niemals hatte sein dürfen.

Denise lenkte Daniela ab. Sie musste erst das Urteil von Wolfgang Rennert hören, ehe sie diesem geplagten Kind helfen konnte. Wenn Daniela wirklich ein kleines Genie war, musste sie an sie andere Maßstäbe anlegen als an ihre sonstigen Schützlinge auf Sophienlust. Sie alle waren normal begabte Kinder, die verstört und unglücklich auf Sophienlust eingetroffen waren, in der Gemeinschaft aber wieder glücklich und heiter geworden waren. Denise hoffte sehnlichst, dass auch auf diesem ernsten Gesichtchen bald wieder ein unbeschwertes fröhliches Lachen glänzen würde.

Nick, der zukünftige Herr von Sophienlust, war von Gut Schoeneich herübergeritten. Er war neugierig auf das ›Genie‹. »Darf ich Daniela begrüßen, Mutti?«, fragte er und lachte seine Mutter an.

Denise blinzelte ihm zu, und Nick begriff. Er musste mit diesem Mädchen behutsam umgehen. So dämpfte er seine sonst recht unbekümmert laute Jungenstimme, reichte Daniela die Hand und sagte: »Willkommen bei uns! Kennst du schon die anderen Kinder?«

»Zwei Mädchen habe ich kennengelernt. Ich habe ihre Namen vergessen. Das eine hat lustige Sommersprossen.«

»Dann war es Pünktchen.« Nick lachte. »Sie ist so vergnügt, wie ihr Gesicht aussieht. Wirst du uns heute Abend etwas vorspielen, Daniela?«

Das Mädchen zögerte mit der Antwort. »Großmama hat es verboten. Ich darf nur mit meinem Lehrer üben. Konzerte darf ich nur in einem Saal vor Publikum geben.«

Das dafür bezahlt, dachte Denise. Am Gesicht ihres Sohnes sah sie, dass er die gleichen Gedanken hegte. Er blickte Daniela etwas unfreundlich an. Diese Antwort missfiel ihm.

»Herr Rennert veranstaltet mit uns Hauskonzerte. Es geht dabei immer sehr vergnügt zu. Du kannst zuhören, wenn du willst. Vielleicht aber tun dir die Ohren weh, denn manche Kinder spielen recht unkünstlerisch.«

Nick bereute seine Worte sofort, denn er sah, dass Daniela zitterte.

»Ich denke nicht so. Großmama hat es befohlen.« Sie hob die Lider über den großen dunkelbraunen Augen, die feucht geworden waren. Nun sah sie auf die Uhr. Es war drei. »In einer Stunde muss ich mit meinen Übungen beginnen. Jeden Vormittag muss ich zwei Stunden üben und jeden Nachmittag von vier bis sechs, Frau von Schoenecker.«

»Die Kinder nennen mich Tante Isi, Daniela.«

Die kleine Madam Liszt seufzte. »Großmama hat gesagt, ich wäre nicht ein Kind wie die anderen. Ich müsste mich zurückhalten.«

»Möchtest du dich von den anderen Kindern unterscheiden?«, fragte Nick, der gekränkt war, weil Daniela seine geliebte Mutti nicht Tante Isi nennen wollte. Er begriff noch nicht, dass dieses Mädchen niemals das hatte sagen dürfen, was es empfand. Es war zum Sprachrohr der Ansichten der strengen Großmutter geworden. Es plapperte genauso nach wie Habakuk, der Papagei im Wintergarten.

Denise griff ein. »Frau Fuchs hat uns befohlen, Daniela mit dem Namen Ela anzureden, Nick. Es ist ihr zukünftiger Künstlername. Ela aber hat mich gebeten, sie genauso Daniela zu nennen wie ihre Mutti.«

Nick vergaß seinen Ärger. Sie war also doch kein Papagei. Daniela begann ihm zu imponieren.

Mit bedeutsamen Blicken forderte seine Mutter ihn auf, sie mit Daniela allein zu lassen. Nick verabschiedete sich mit einem kräftigen Händedruck, sah, wie sie das Gesicht schmerzlich verzog. »Habe ich dir wehgetan?«

»Großmama hat mir verboten, die Hand zu reichen. Meine Hände seien pures Gold wert, sagt sie.« Sie hielt sie vor sich hin, die langen schmalen Hände mit den zarten Fingern, starrte darauf. Und wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Nichts darf ich, was anderen Kindern erlaubt ist«, schluchzte sie plötzlich. »Ich darf nicht Ball spielen, nicht Rad fahren, nicht Eis laufen, damit ich mir nichts breche. Ich muss jeden Tag Fingergymnastik machen, üben und langweilige Partituren lesen. Ich hasse das Klavier, weil ich nicht so sein darf wie die anderen Kinder. Aber ich muss Großmama gehorchen. Ich darf nicht so schlecht werden wie meine Mutti. Sie lebt mit einem Mann zusammen, der nicht mit ihr verheiratet ist. Seitdem mein Vati tot ist und Großmama mich von Mutti weggeholt hat, bin ich traurig. Hilf mir, Tante Isi!«