Späte Reue - Gert Rothberg - E-Book

Späte Reue E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Wenn die Kinder von Sophienlust im Park spielten, fiel ihnen immer wieder ein kleines dunkelhaariges Mädchen auf, das an der Hecke entlangschlich und neugierig zu ihnen herüberschaute. Doch schnell verschwand es, wenn eines der Kinder an die Hecke lief. Die kleine Heidi, immer mitfühlend, aber auch sehr neugierig, erzählte Pünktchen von dem kleinen Mädchen. Dabei zupfte Heidi aufgeregt an ihren Rattenschwänzchen. »Bestimmt ist es ein armes Kind, Pünktchen, das gern mit uns spielen wollte, aber es getraut sich nicht. Immer hat das Mädchen eine blaue Latzhose und einen bunt gestreiften Pulli an. Sicher hat es gar nichts anderes anzuziehen. Lauf doch du mal hinaus, und hole es zu uns herein.« Pünktchen lachte. Wie die anderen Kinder in Sophienlust kannte sie Heidis Übereifer, aber sie wollte sie nicht enttäuschen. »Na gut«, sagte sie, »wenn du das Mädchen heute wieder siehst, sag es mir. Dann lauf ich zu ihm hinaus.« Damit war Heidi zufrieden. Die Spiele der anderen interessierten sie heute kaum. Sie lag immerzu auf der Lauer. Aber Heidi musste sich lange gedulden. Erst nach dem Kaffeetrinken entdeckte sie das kleine Mädchen. Es bemühte sich wieder, durch die Hecke zu blicken. Sofort lief Heidi zu Pünktchen.

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Sophienlust Extra – 70 –

Späte Reue

Als Annegret doch noch eine richtige Familie bekam

Gert Rothberg

Wenn die Kinder von Sophienlust im Park spielten, fiel ihnen immer wieder ein kleines dunkelhaariges Mädchen auf, das an der Hecke entlangschlich und neugierig zu ihnen herüberschaute. Doch schnell verschwand es, wenn eines der Kinder an die Hecke lief.

Die kleine Heidi, immer mitfühlend, aber auch sehr neugierig, erzählte Pünktchen von dem kleinen Mädchen. Dabei zupfte Heidi aufgeregt an ihren Rattenschwänzchen.

»Bestimmt ist es ein armes Kind, Pünktchen, das gern mit uns spielen wollte, aber es getraut sich nicht. Immer hat das Mädchen eine blaue Latzhose und einen bunt gestreiften Pulli an. Sicher hat es gar nichts anderes anzuziehen. Lauf doch du mal hinaus, und hole es zu uns herein.«

Pünktchen lachte. Wie die anderen Kinder in Sophienlust kannte sie Heidis Übereifer, aber sie wollte sie nicht enttäuschen.

»Na gut«, sagte sie, »wenn du das Mädchen heute wieder siehst, sag es mir. Dann lauf ich zu ihm hinaus.«

Damit war Heidi zufrieden. Die Spiele der anderen interessierten sie heute kaum. Sie lag immerzu auf der Lauer. Aber Heidi musste sich lange gedulden. Erst nach dem Kaffeetrinken entdeckte sie das kleine Mädchen. Es bemühte sich wieder, durch die Hecke zu blicken.

Sofort lief Heidi zu Pünktchen. »Jetzt, lauf schnell, sonst ist das Mädchen wieder weg!«

Pünktchen wollte sich nicht auffällig benehmen, deshalb lief sie nicht, sondern ging ruhig zum Tor und hinaus auf den Bürgersteig. Dort wurde sie von dem kleinen Mädchen gar nicht beachtet. Es lugte noch immer vorsichtig durch die Hecke.

Pünktchen ging zu der Kleinen und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Erschrick nicht«, bat sie.

Trotzdem war das Mädchen zusammengezuckt und sah sie ängstlich aus großen dunklen Augen an. Was für ein hübsches Kind, dachte Pünktchen und sah in das runde Gesicht, das von dunklen Haaren mit einem Pony eingerahmt war.

»Beobachtest du die Kinder?« fragte Pünktchen.

Das Mädchen nickte, dann sagte es mit stockender Stimme: »Die haben es gut, die können immer miteinander spielen.«

Pünktchen legte den Arm um die Schultern des Mädchens und fragte: »Hast du denn niemanden zum Spielen?«

»Nein, überhaupt niemanden.« Das klang sehr traurig. »Ich habe nur meinen Großvater, und der ist schon alt und manchmal krank.«

»Wie heißt du denn?« fragte Pünktchen. »Annegret, Annegret Jansen. Und du?« fragte das Mädchen schüchtern.

Pünktchen lachte. »Mich nennen hier alle Pünktchen, weil ich so viele Sommersprossen im Gesicht habe. Da, schau.«

»Du bist aber ein liebes großes Mädchen. Ich habe dich auch schon mit den kleinen Kindern spielen sehen. Ja, und Pünktchen, das gefällt mir.« Die kleine Annegret wurde allmählich zutraulicher.

»Willst du nicht zu uns in den Park kommen?« fragte Pünktchen.

Annegrets Augen leuchteten sehnsüchtig. »Das wär schön, aber darf ich das denn?«

»Freilich darfst du.« Pünktchen nahm Annegret an die Hand. »Komm gleich mit. Die anderen werden sich freuen, wenn du mit ihnen spielst. Wie alt bist du denn?«

»Großvater sagt, dass ich fünf Jahre bin. Da brauche ich noch nicht zur Schule zu gehen, aber ich freue mich darauf. Wir sind noch nicht lange in Wildmoos. Ich glaube, deshalb habe ich auch keine Freunde. Vorher haben wir in Schlendern gewohnt. Das ist ein weites Stück von hier. Dort mussten wir ausziehen.«

»Und wo wohnst du jetzt, Annegret? Ich meine, wo in Wildmoos?« Pünktchen fragte, während sie durch den Park gingen und ihnen die kleine Heidi entgegengesprungen kam.

»Ach, wir wohnen ganz am Ende des Dorfes in einem kleinen alten Haus.« Annegret sah Heidi wieder etwas schüchtern an.

Pünktchen sagte: »Heidi, das kleine Mädchen heißt Annegret, und es hat nie jemanden zum Spielen. Lauf mit ihr zu den anderen. Ich muss jetzt Schularbeiten machen.«

Es dauerte nicht lange, da war Annegret im Kreis der Kinder von Sophienlust aufgenommen. Sie durfte auf die Rutsche, und beim Schaukeln schob man sie kräftig an.

Aber dann wurde Annegret unruhig. »Ich glaube, ich muss nach Hause gehen, sonst sorgt sich mein Großvater um mich. Ich darf nicht so lange wegbleiben.«

»Hast du denn nur einen Großvater?« fragte Heidi.

Annegret nickte. »Ja, ich bin immer nur bei ihm, aber ich habe noch, eine Mutti. Die wird einmal kommen und mich zu sich holen.« Jetzt glänzten ihre Augen. »Das sagt Großvater immer. Meine Mutti ist jetzt nur weit fort. Ich glaube, das Land heißt Amerika und dorthin muss man über ein ganz großes Wasser.«

»Und einen Papi hast du keinen?« Heidi konnte ihre Neugierde nicht zügeln.

Henrik von Schoenecker, der sich gern mit ihr anlegte, stieß sie an. »Sei doch nicht wieder so neugierig. Immer musst du alles wissen.«

Heidi sah ihn entrüstet an. »Du brauchst dich nicht drum zu kümmern, was ich frage.« Ihre Stimme nahm einen hartnäckigen Klang an. »Du hast also keinen Vati, Annegret?«

»Nein, ich habe keinen Vati, aber Großvater ist sehr lieb. Ich habe ihn ja so gern. Jetzt muss ich wirklich gehen. Schade!«

»Komm bald wieder, Annegret«, forderte Heidi sie auf, und die anderen taten es ihr nach. Annegret lachte fröhlich. Es war ihr anzumerken, wie glücklich sie diese Einladung machte.

»Das ist ein ganz armes Mädchen«, sagte Heidi. »Sie hat es bestimmt nicht so schön wie wir in Sophienlust. Wenn ihre Mutti weit weg in einem anderen Land lebt, kommt sie vielleicht lange nicht zurück. Ich freue mich, wenn Annegret jetzt öfter zu uns kommt.«

Diese Freude hatte Heidi schon am nächsten Tag, und dabei blieb es nicht. Annegret kam immer wieder. Bald kannten sie auch Denise von Schoenecker, Schwester Regine und die Heimleiterin Frau Rennert. Alle waren mit dieser kleinen Besucherin einverstanden. Erst recht, wenn sie sahen, wie dankbar Annegret war, mit den Kindern von Sophienlust zusammensein zu können.

Eines Tages fragte Annegret etwas schüchtern: »Darf ich meinen Großvater einmal mitbringen? Er ist immer so allein, und er möchte auch gern wissen, wohin ich gehe.«

»Warum solltest du deinen Großvater nicht mitbringen?« fragte Schwester Regine. »Wir alle werden uns freuen, ihn kennenzulernen.«

»Dann bringe ich ihn gleich morgen mit.« Annegret freute sich sichtlich. Am nächsten Tag kam sie an der Hand ihres Großvaters Ferdinand Jansen. Er war ein schmächtiger Mann mit schneeweißem Haar. Man sah ihm seine siebzig Jahre an, aber aus dem zerfurchten Gesicht leuchteten gütige Augen.

Die Kinder mochten ihn gleich gern. Schwester Regine und Denise von Schoenecker, die an diesem Nachmittag mit im Park waren, stellte er sich mit altmodischer Höflichkeit vor. Dabei erklärte er, dass er nur ein einfacher Waldarbeiter gewesen sei und jetzt von seiner kleinen Rente mit seiner Enkelin lebe.

»Ich kann Annegret leider nicht das bieten, was ich gern möchte«, sagte er traurig. »Deshalb freue ich mich so, dass sie hier so liebe Gesellschaft gefunden hat. Wir sind eben noch fremd im Ort und wohnen auch zu weit draußen, dass meine Enkelin schnell Anschluss finden könnte.«

Denise setzte sich mit ihm auf eine Bank. Von dort aus sahen sie dem übermütigen Spiel der Kinder zu. Sie sprachen über Sophienlust, und Ferdinand Jansen stellte fest: »Welch ein Glück, dass es so etwas gibt. Nichts ist doch schrecklicher, als wenn Kinder nach Liebe hungern müssen oder vernachlässigt werden, weil sich niemand um sie kümmert.« Er seufzte. »Eines Tages wird auch meine Annegret in einem Heim leben müssen. Um meine Gesundheit ist es leider nicht zum besten bestellt. Immer mehr plagt mich der Gedanke, was aus Annegret werden wird, wenn ich gehen muss.«

»Aber hat sie nicht noch eine Mutter?« fragte Denise. »Davon erzählte sie doch.«

Ein Schatten huschte über Ferdinand Jansens Gesicht. »Ja, Annegret hat noch eine Mutter, aber die kümmert sich nicht um ihr Kind. Es ist eine Schande, dass ich das von meiner eigenen Tochter sagen muss. Annegret ist ein uneheliches Kind. Ihre Mutter hat nie den Namen des Vaters verraten, auch mir nicht. Ja, meine Ulrike war immer ein eigenwilliges Geschöpf. Sie wollte schon als Kind hoch hinaus, und jetzt hat sie es ja auch erreicht.«

Denise merkte, dass es dem alten Mann wohltat, über seine Sorgen sprechen zu können. Deshalb scheute sie sich auch nicht, zu fragen: »Annegrets Mutter ist in Amerika? So habe ich die Kleine wenigstens verstanden.«

Ferdinand Jansen zögerte etwas, ehe er antwortete. »Nein, die Mutter ist nicht in Amerika. Das erzähle ich Annegret zwar immer wieder. Ich denke, dann versteht sie besser, dass die Mutter sie nicht besuchen kommt. Meine Tochter lebt in Köln, aber ich kenne nicht einmal ihre Adresse. Die hat sie mir immer verheimlicht. Vielleicht, damit ich sie nicht einmal überraschend mit ihrem Kind besuche. Es ist ein Elend mit meiner Ulrike. Ich weiß aber, sie hat ihr Ziel erreicht, einen reichen Mann zu bekommen. Er ist Immobilienmakler und kann seiner Frau all das bieten, was sie sich immer gewünscht hat. Ihr Kind verleugnet sie. Ich bin sicher, dass mein Schwiegersohn nichts von Annegret weiß.«

Denise war erschüttert, als sie das alles gehört hatte. Ahnungsvoll fragte sie: »Dann kennt Annegret ihre Mutter gar nicht?«

»So ist es. Ulrike hat sie schon als ganz kleines Kind zu mir gebracht. Sie ist Schneiderin und arbeitete damals in einem Modeatelier in Köln, nachdem sie ganz plötzlich von Schlendern weggegangen war. Heute weiß ich, dass sie in dieser Zeit das Kind erwartete, doch das hat sie mir verheimlicht. Meine Tochter hat eben zu früh ihre Mutter verloren. Ich musste immer hart arbeiten und konnte mich nur wenig um sie kümmern. Vielleicht ist dadurch alles so gekommen, dass sie aus der Armut heraus wollte. Um dieses Ziel zu erreichen, war ihr jedes Mittel recht.«

»Wie sind Sie mit dem kleinen Kind nur zurechtgekommen?« fragte Denise mitfühlend. Der Alte zuckte die Schultern. »Das weiß ich selbst nicht mehr. Ich war schon in Rente und konnte mich den ganzen Tag um Annegret kümmern. Zunächst besuchte ihre Mutter uns, aber dann blieb sie aus. Manchmal schreibt sie einen kurzen Brief aus Köln und steckt ein paar Scheine hinein. Nun ja, ich kann das Geld gut brauchen für Annegret, aber damit ersetzt sie doch die Mutterliebe nicht.«

»Nein, bestimmt nicht«, sagte Denise überzeugt. »Und das Kind kennt seine Mutter also nicht.« Verständnislos schüttelte sie den Kopf.

»Nein, sie würden einander nicht erkennen.« Ferdinand Jansen strich sich über die Stirn. »Es ist alles so schwer. Einmal müsste sich doch Ulrike darauf besinnen, dass es mich irgendwann nicht mehr gibt. Oft möchte ich meine Tochter verachten, aber ich liebe sie noch immer. Liebe kann man sich nicht aus dem Herzen reißen. Ulrike ist auf einem Irrweg, und ich fürchte sehr, dass er sie ins Unglück führen wird. Ich muss mir also sorgen um sie und um Annegret machen. Oft ist das zu viel für mich.«

Denise versuchte, den alten Mann etwas zu beruhigen, aber es fiel ihr schwer. Was sein Herz bedrückte, ließ sich mit Worten nicht aus der Welt schaffen.

Die Kinder lenkten sie ab. Annegret kam mit erhitztem Gesicht zu ihrem Großvater, und die kleine Heidi begleitete sie. Die beiden waren Freundinnen geworden, aber auch die anderen Kinder hatten Annegret lieb gewonnen.

Als Ferdinand Jansen mit seiner Enkelin nach Hause ging, war er schon wieder ruhiger. Er wusste, dass Annegret nun nicht mehr so einsam war, dass sie bei den Kindern von Sophienlust etwas davon bekam, was er ihr trotz aller Liebe und Mühe nicht geben konnte. Zudem hatte er sich heute einmal aussprechen können. Die verständnisvolle Art Denise von Schoeneckers hatte sein Herz etwas erleichtert.

*

Annegret kam noch zweimal nach Sophienlust, dann blieb sie plötzlich aus. Anfangs dachte sich noch niemand etwas dabei, als aber mehrere Tage vergangen waren, begann man sich zu sorgen.

Henrik, der wegen Heidi immer etwas hatte zurückstehen müssen, wollte handeln. Er tat so etwas gern auf eigene Faust. Also weihte er niemanden ein, als er sich auf den Weg zu dem kleinen alten Haus am Ortsende machte, in dem Annegret mit ihrem Großvater lebte.

Schon als er durch den kleinen Vorgarten ging, wurde die Haustür aufgerissen, und Annegret kam herausgelaufen. Sofort sah Henrik, dass sie geweint hatte.

»Warum kommst du nicht mehr zu uns?« fragte er. »Wir vermissen dich alle. Dir hat es doch vorher in Sophienlust gefallen.«

»Ich würde ja so gern kommen, aber mein Großvater ist krank.« Dem kleinen Mädchen stiegen schon wieder die Tränen in die Augen.

»Was fehlt ihm denn?« fragte Henrik erschrocken.

»Er ist so schwach, dass er gar nicht aufstehen kann«, klagte Annegret. »Er versucht es immer wieder, aber es geht nicht. Er sagt, das liegt an seinem Herzen.« Annegret griff nach Henriks Arm.

»Ist das etwas Schlimmes, Henrik?«

»Das weiß ich nicht. Hast du noch keinen Arzt gerufen? Das tun wir gleich, wenn bei uns jemand krank ist.«

»Großvater wollte nicht, dass ich einen Arzt hole. Niemand ist da, der uns helfen könnte. Wir kennen hier doch die Leute noch nicht, und sie kümmern sich nicht um uns.«

»Aber wer kocht denn dann?« fragte Henrik. »Und andere Arbeit gibt es doch auch.«

»Das versuche ich alles, aber ich kann es noch nicht richtig. Kommst du mit hinein?« fragte Annegret.

Zunächst wollte Henrik sie ins Haus begleiten, dann überlegte er es sich anders. »Nein, ich gehe gleich wieder zurück. Ich werde Frau Dr. Frey Bescheid sagen, dass dein Großvater krank ist und Hilfe braucht. Weißt du, sie ist unsere Ärztin und kommt oft nach Sophienlust. Ob dein Großvater will oder nicht, jetzt braucht er einen Arzt.« Das sagte Henrik sehr entschieden, so, wie es seine Art war.

»Wenn du meinst«, sagte Annegret zögernd. »Es war lieb von dir, dass du gekommen bist, Henrik. Ich habe immerzu nur geweint. Aber so, dass Großvater es nicht gesehen hat.«

»Geh jetzt wieder zu ihm. Sicher dauert es nicht lange, bis Frau Dr. Frey kommt. Ich besuche dich bald wieder, damit du nicht so allein bist. Vielleicht bringe ich auch noch jemanden mit.«

Henrik lief schon auf die Straße. Er hatte es sehr eilig, nach Sophienlust zurückzukommen. Dort lief er gleich zu seiner Mutter. Sie war in ihrem Zimmer und sah ihn vorwurfsvoll an.

»Wo bist du denn nur gewesen, Henrik? Alle haben dich schon vermisst. Du weißt doch, dass du Bescheid sagen sollst, wenn du weggehst.«

»Daran habe ich gar nicht gedacht, Mutti«, sagte Henrik etwas schuldbewusst, »aber einer musste sich doch mal um Annegret kümmern, wenn sie gar nicht mehr zu uns kommt.«

»Du warst bei Annegret?« fragte seine Mutter.

»Ja, Mutti, und das war gut so.« Nun sprudelte, Henrik heraus, dass Annegrets Großvater krank sei und sie immerzu weine. »Du musst sofort Frau Dr. Frey zu ihm schicken, Mutti, sonst stirbt er vielleicht. Dann hätte Annegret überhaupt niemanden mehr.«

Denise war erschrocken. Sie stand auf und strich ihrem Sohn über das Haar. »Nach Annegret zu sehen, darauf hätten wir anderen auch kommen können; du hast einen sehr vernünftigen Gedanken gehabt, und ich mache dir auch keine Vorwürfe. Ich rufe jetzt gleich Frau Dr. Frey an. Hoffentlich erreiche ich sie. Nur, um diese Nachmittagszeit ist sie meistens unterwegs.«

Denise hatte Glück. Anja Frey war gerade nach Hause gekommen und erklärte sich sofort bereit, zu Ferdinand Jansen zu fahren. Henrik und seine Mutter warteten gespannt auf ihre Rückkehr. Es verging viel Zeit, ehe sie kam. An der Hand hatte sie Annegret. Das kleine Mädchen sah nun noch verweinter aus als vorher.

»Mein Großvater musste ins Krankenhaus gebracht werden«, erzählte es schluchzend.

Denise ging zu ihr und streichelte sie. »Das tut mir sehr leid, Annegret, aber im Krankenhaus wird dein Großvater sicher schneller gesund werden. Was fehlt ihm denn?«

Sie sah Anja Frey an. »Sein Herz macht nicht mehr so mit, wie es sein sollte.«

Mehr sagte Anja Frey nicht. Es war ihr anzumerken, dass sie vor Annegret nicht deutlicher werden wollte.

»Bleibst du jetzt bei uns?« fragte Henrik. »Du kannst doch nicht allein in dem kleinen Haus sein.«

»Das meinte ich auch, Henrik«, sagte Anja Frey. »Deshalb habe ich Annegret gleich mitgebracht. Frau von Schoenecker, werden Sie Platz für Annegret haben?«

»Aber selbstverständlich«, antwortete Denise. »Für einen Notfall haben wir immer Platz. Annegret, geh zu den Kindern und sei nicht mehr traurig. Wenn du willst, kannst du mit Heidi in einem Zimmer schlafen. Die kennst du doch schon am besten. Henrik wird dich jetzt begleiten.«

Darauf hatte Henrik nur gewartet. Er spürte, dass die Ärztin mit seiner Mutter etwas besprechen wollte, was Annegret nicht hören sollte. So war es auch. Jetzt sprach Anja Frey ihre ernsten Bedenken über Ferdinand Jansens Zustand aus. Sie hatte wenig Hoffnung, dass er noch einmal zu Kräften kam.

»Sein Herz und sein Kreislauf müssen schon seit Langem nicht in Ordnung sein. Er hat wohl zu große Sorgen gehabt und dann sein Alter«, sagte sie.

Denise dachte an das, was ihr der alte Mann anvertraut hatte. Sie erzählte es Anja Frey.

*

Während sich alle in Sophienlust um Ferdinand Jansen sorgten und jeden Tag jemand mit Annegret zu ihm ins Maibacher Krankenhaus fuhr, führte ihre Mutter in Köln ein Leben, um das sie nicht zu beneiden war.