Ein Opfer wird belohnt - Gert Rothberg - E-Book

Ein Opfer wird belohnt E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Denise von Schoenecker beobachtete verstohlen die beiden kleinen Mädchen, die unruhig auf ihren Stühlen hin und her rutschten. Es waren hübsche Kinder, denen man auf den ersten Blick ansah, dass sie Schwestern waren. Beide Mädchen hatten blonde Haare und große blaue Augen, die aber im Augenblick sehr ängstlich und verstört blickten. Es war den Kindern anzusehen, dass sie in der letzten Zeit oft geweint hatten. Wie zwei verängstigte Vögelchen, die aus dem Nest gefallen sind, hockten sie auf ihren Stühlen. Sie waren sehr geschmackvoll und modisch gekleidet. Sie trugen bunte Faltenröcke und dazu passende rote Jacken. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie Daniela und Stefanie vorläufig in Sophienlust aufnehmen wollen«, sagte der weißhaarige Herr, der Denise gegenübersaß. »Ich hoffe, dass es sich nur um eine kurze Zeit handelt. Ich werde bereits morgen nach Berlin fliegen und mit Frau Stetten sprechen.« »Frau Stetten ist die Tante der Kinder, nicht wahr, Herr Dr. Buchner?« fragte Denise. Der Anwalt nickte. »Frau Stetten ist Danielas und Stefanies Tante. Die Mutter der Kinder war die Schwester von Frau Stetten. Diese ist jetzt die einzige Verwandte der Kinder. Wie ich Ihnen bereits schrieb, war es der Wunsch der Verstorbenen, dass die Kinder nach Deutschland gebracht werden und dass ihre jüngere Schwester Irene die Vormundschaft übernimmt. Frau Stetten wird entscheiden müssen, was mit den Kindern geschieht.

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Sophienlust Extra – 71 –

Ein Opfer wird belohnt

Wie sich Irene um ihre kleinen Nichten kümmerte ...

Gert Rothberg

Denise von Schoenecker beobachtete verstohlen die beiden kleinen Mädchen, die unruhig auf ihren Stühlen hin und her rutschten. Es waren hübsche Kinder, denen man auf den ersten Blick ansah, dass sie Schwestern waren. Beide Mädchen hatten blonde Haare und große blaue Augen, die aber im Augenblick sehr ängstlich und verstört blickten. Es war den Kindern anzusehen, dass sie in der letzten Zeit oft geweint hatten. Wie zwei verängstigte Vögelchen, die aus dem Nest gefallen sind, hockten sie auf ihren Stühlen. Sie waren sehr geschmackvoll und modisch gekleidet. Sie trugen bunte Faltenröcke und dazu passende rote Jacken.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie Daniela und Stefanie vorläufig in Sophienlust aufnehmen wollen«, sagte der weißhaarige Herr, der Denise gegenübersaß. »Ich hoffe, dass es sich nur um eine kurze Zeit handelt. Ich werde bereits morgen nach Berlin fliegen und mit Frau Stetten sprechen.«

»Frau Stetten ist die Tante der Kinder, nicht wahr, Herr Dr. Buchner?« fragte Denise.

Der Anwalt nickte. »Frau Stetten ist Danielas und Stefanies Tante. Die Mutter der Kinder war die Schwester von Frau Stetten. Diese ist jetzt die einzige Verwandte der Kinder. Wie ich Ihnen bereits schrieb, war es der Wunsch der Verstorbenen, dass die Kinder nach Deutschland gebracht werden und dass ihre jüngere Schwester Irene die Vormundschaft übernimmt. Frau Stetten wird entscheiden müssen, was mit den Kindern geschieht. So war es der Wunsch von Frau Korten, der Mutter der beiden Mädchen.«

»Und der Vater?« fragte Denise bedrückt.

»Der Vater der Kinder ist leider vor zwei Jahren verstorben. Er war wie seine Frau beim amerikanischen Fernsehen tätig. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass Frau Korten eine bekannte und beliebte Fernsehansagerin war. Ich kannte die Familie seit Jahren und habe als Anwalt die Interessen der Familie wahrgenommen. Deshalb ist mir jetzt auch die Aufgabe zugefallen, die Kinder nach Deutschland zu bringen. Ich möchte hierbei noch einmal betonen, wie dankbar ich Ihnen bin, dass sie die Kinder zunächst in Ihrem Kinderheim aufnehmen wollen. Ich hoffe, dadurch in Kürze nach New York zurückfliegen zu können.«

»Frau Stetten, die Tante der Kinder, kennen Sie nicht persönlich?« fragte Denise. Tiefes Mitleid mit den elternlosen Kindern erfasste sie.

»Leider nein. Frau Korten war zwölf Jahre älter als ihre Schwester. Soviel ich weiß, haben sich die Schwestern nicht besonders gut verstanden. Wahrscheinlich war der Altersunterschied zu groß. Sie hatten kaum noch Kontakt und tauschten nur zu den Festtagen Kartengrüße aus. Frau Korten lebte seit zwanzig Jahren in Amerika und Frau Stetten in Berlin, der Heimatstadt der Schwestern. Irene Stetten ist übrigens Schauspielerin.«

Wieder warf Denise den beiden Mädchen einen verstohlenen Blick zu. Wie schrecklich ist das alles für die Kinder, dachte sie traurig. Nicht nur, dass sie die Mutter verloren haben und in ein Land gebracht wurden, in dem ihnen alles fremd ist, obendrein ist ihr Schicksal vollkommen ungewiss. Es hängt davon ab, wie sich diese Tante, die sie gar nicht kennen und von der sie wahrscheinlich nicht einmal viel gehört haben, entscheidet.

Denise nahm sich in diesem Augenblick vor, um diese beiden Kinder zu kämpfen: Da sagte der Anwalt, als habe er ihre Gedanken erraten: »Für die Kinder kommt es nun darauf an, wie sich Frau Stetten entscheidet. Ich hoffe sehr, dass die Kinder wenigstens beisammenbleiben können. Gut wäre es, wenn Frau Stetten die Kinder zu sich nehmen würde, aber ich glaube kaum, dass das der Fall sein wird. Frau Stetten ist fünfundzwanzig Jahre alt und Schauspielerin. Sicher hofft sie auf eine große Karriere. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich mit einem sieben und einem fünfjährigen Kind belasten wird. Zum Glück sind die Kinder nicht ganz mittellos. Das kleine Vermögen ist in recht sicheren Papieren angelegt und wird für eine gute Ausbildung reichen.«

»Wann fahren wir zu Tante Irene?« piepste in diesem Augenblick die siebenjährige Daniela. »Ich möchte zu Tante Irene nach Berlin.«

»Nach Berlin, zu Tante Irene.« Die um zwei Jahre jüngere Stefanie war das Echo ihrer älteren Schwester.

»Wann fahren wir?« Das war wieder Daniela. »Wir wollen zu Tante Irene. Hier gefällt es uns nicht.« Die Stimme des kleinen Mädchens konnte recht energisch klingen. »Onkel Buchner, du hast uns versprochen, dass du uns zu Tante Irene bringst.«

Daniela begann zu weinen, und prompt kullerten auch bei ihrer Schwester die Tränen.

»Ihr sprecht aber gut Deutsch«, sagte Denise bewundernd und hoffte, die Kinder damit auf andere Gedanken zu bringen.

»Deutsch ist doch unsere Muttersprache. Das hat Mutti immer zu uns gesagt. Und wir sind doch in einen deutschen Kindergarten gegangen. Dort haben wir nur Deutsch gesprochen«, erklärte Daniela.

»Ich möchte in den Kindergarten«, jammerte Stefanie. Sie kletterte von ihrem Stuhl herab und lief zur Tür. »Ich will nicht hierbleiben. Ich will nach Hause, ich will nach New York.«

»Ich auch«, schrie Daniela nun. »Hier ist es doof.«

»Doof«, echote Stefanie hinterher und versuchte, die Tür zu öffnen.

Denise sprang auf. »Hiergeblieben, ihr Ausreißer!« sagte sie scherzend und fasste die Kinder fest an den Händen. »Jetzt bleibt ihr erst einmal bei uns in Sophienlust. Passt auf, es wird euch hier gefallen. Sophienlust ist ein Kinderheim. Hier leben viele Kinder.«

»Kinderheim, was ist das?« fragte Daniela gedehnt. »Ist das so etwas wie ein Kindergarten?«

Denise nickte. »Das ist so etwas Ähnliches wie ein Kindergarten«, bestätigte sie.

»Und wo sind die Kinder?« fragte Daniela und sah sich um. »Ich sehe keine Kinder.«

»Keine Kinder«, piepste Stefanie.

»Ich werde jetzt nach Schwester Regine läuten. Sie wird mit euch zu den anderen Kindern gehen und euch euer Zimmer zeigen.«

»Wer ist Schwester Regine?« erkundigte sich Daniela misstrauisch. »Ist das eine Krankenschwester wie bei Mutti im Krankenhaus?«

»Ich will nicht zu einer Schwester Regine aus dem Krankenhaus.« Stefanie schrie plötzlich wie am Spieß.

Es kostete Denise viel Mühe, das Kind zu beruhigen. »Schwester Regine ist sehr lieb. Sie ist so lieb, wie es sicher eure Kindergartentante war«, versicherte Denise immer wieder.

Für einen kurzen Augenblick klärte sich Danielas Gesicht etwas auf, während Stefanie noch immer leise vor sich hin weinte. »Tante Resi war lieb«, sagte Daniela leise und versonnen.

»War lieb.« Stefanie nickte ein wenig mit dem Kopf.

»Seht ihr! Und bald werdet ihr auch Schwester Regine lieb haben. Und nun verabschiedet euch von Herrn Dr. Buchner, denn gleich wird Schwester Regine kommen.«

»Nein«, erklärte Daniela energisch und stampfte ein wenig mit dem Fuß auf. »Er hat gesagt, dass er uns zu Tante Irene bringt. Er hat es uns versprochen. Was man verspricht, muss man halten.«

»Muss man halten«, ließ sich Stefanie weinerlich vernehmen.

Der alte Anwalt warf Denise einen flehenden Blick zu, den diese verstand. »Glaubt mir, es ist bestimmt besser, ihr bleibt zunächst ein Weilchen bei uns in Sophienlust. Herr Dr. Buchner wird erst einmal allein nach Bern fliegen und mit eurer Tante sprechen. Es muss vieles besprochen und erledigt werden. Danach wird euch eure Tante sicher zunächst einmal besuchen. Alles Weitere sehen wir dann schon«, versuchte Denise den Kindern ihre Lage möglichst vorsichtig zu erklären.

Daniela sah Denise misstrauisch an. »Will sie uns nicht?«

»Will sie uns nicht?« fragte nun auch Stefanie und begann wieder zu weinen. Es war gut, dass in diesem Augenblick Schwester Regine das Zimmer betrat. Dadurch wurden die Kinder erst einmal abgelenkt. »Wer weint denn hier?« fragte die junge Kinderschwester und beugte sich liebevoll zu der kleinen Stefanie hinab.

»Ich«, murmelte Stefanie.

»So, und warum weinst du?«

»Wir wollen nicht hierbleiben«, übernahm Daniela das Wort und legte beschützend ihren Arm um die Schulter der jüngeren Schwester. »Wir wollen zu Tante Irene.«

»Nun, sicher werdet ihr auch bald zu eurer Tante kommen«, meinte Schwester Regine mit einem lieben Lächeln, denn sie war von Denise bereits über das Schicksal der Kinder unterrichtet worden. »Jetzt bleibt ihr aber am besten erst einmal bei uns in Sophienlust. Die Kinder hier freuen sich schon auf euch. Sie sind gespannt auf euch, weil ihr aus Amerika kommt. Sie werden staunen, wenn sie hören, wie gut ihr Deutsch sprecht. Könnt ihr denn auch Englisch sprechen?«

»Natürlich«, sagten beide Mädchen wie aus einem Munde. Sie begannen sofort in englischer Sprache zu erzählen, dass sie nur zu Hause mit der Mutti und im Kindergarten Deutsch gesprochen hatten, aber auf der Straße und beim Einkaufen und in dem großen Haus, in dem sie gewohnt hatten, Englisch. Sonst hätte sie ja niemand verstanden.

Für einen Augenblick hatten die Kinder ihren Kummer tatsächlich vergessen. Sie bemerkten kaum, dass Schwester Regine sie aus dem Zimmer führte. Erst auf dem Flur verstummte Daniela. Sie sah sich misstrauisch um und wollte dann zurücklaufen, aber Schwester Regine hielt sie am Arm fest.

»Ich zeige euch jetzt das Zimmer, in dem ihr schlafen werdet, und dann werden wir zusammen in den Speisesaal gehen, wo ihr die anderen Kinder kennenlernen werdet. Heute Abend gibt es Würstchen und Salat. Ist das nicht etwas Gutes?«

»Ich habe gar keinen Hunger.«

»Keinen Hunger«, echote Stefanie und schüttelte zur Bekräftigung ihrer Worte den Kopf.

»In Gesellschaft der Kinder wird sich der Hunger und der Appetit schon einstellen. So, und jetzt müssen wir hier die Treppe hinaufgehen.«

»Wo ist der Lift?« fragte Daniela. Misstrauisch musterte sie die schön geschwungene Treppe, die von der Halle hinauf in den ersten Stock führte, wo die Schlafräume der Kinder lagen.

»Hier gibt es keinen Lift. Wir brauchen hier auch keinen. Diese Treppe führt zum ersten Stock hinauf.«

»So ein kleines Haus«, staunte Daniela beeindruckt. »Wir haben in einem großen Haus gewohnt. Es hatte zwanzig Stockwerke, und wir haben ganz oben gewohnt.«

»Wir haben ganz oben gewohnt.« Stefanie fasste nach der Hand der älteren Schwester. »Komm, Daniela, wir wollen hier nicht bleiben. Hier gibt es keinen Lift.« Sie versuchte, ihre Schwester fortzuziehen.

»Wenn es nur ein kleines Haus ist mit einem Stockwerk, brauchen wir vielleicht keinen Lift«, überlegte die Siebenjährige und setzte einen Fuß auf die Treppe.

Schwester Regine seufzte erleichtert auf.

»Brauchen wir vielleicht keinen Lift.« Stefanie folgte dem Beispiel der Schwester. Hand in Hand stiegen die beiden nun die Treppe empor. Schwester Regine folgte ihnen lächelnd. Oben blieben die Kinder stehen und sahen sich neugierig um.

»Die Treppe ist schön, aber ein Lift ist besser. Der ist fast so wie ein Flugzeug.«

Das Flugzeug erinnerte Daniela wieder an ihren Kummer. Ihr Gesicht, das eben noch etwas gelöster ausgesehen hatte, wurde wieder traurig.

»Wir fliegen nach Berlin, hat Onkel Buchner gesagt. Wir wollen zu Tante Irene. Hier wollen wir nicht bleiben.« Daniela fing wieder an bitterlich zu weinen, und natürlich flossen auch bei Stefanie wieder die Tränen.

Schwester Regine war froh, als sie die Kinder endlich in dem Zimmer hatte, das sie bewohnen sollten. Die Koffer der Kinder standen schon mitten im Raum, und darauf thronten zwei Puppen, die schon etwas mitgenommen aussahen, ein Zeichen dafür, dass sie von Daniela und Stefanie heiß geliebt wurden.

»Karline!« schrie Daniela. Sie stürzte sich auf ihr Puppenkind und herzte und küsste es.

Auch Stefanie nahm ihre Puppe auf den Arm und presste sie fest an sich. »Sie heißt Julchen«, sagte sie leise und blickte mit tränennassen Augen zu Schwester Regine empor. »Mutti hat sie mir selbst gemacht. Ist sie nicht schön?«

»Wunderschön«, versicherte Schwester Regine. »Ich habe noch nie eine Puppe gesehen, die so schön ist, Stefanie. Du musst sie sehr lieb haben.« Schwester Regine hatte das Gefühl, einen Kloß im Hals zu haben. Sie hätte den Kindern so gern geholfen, hätte ihnen so gern etwas Tröstendes gesagt, aber sie wusste, dass es für die Kinder im Augenblick noch keinen wirklichen Trost gab.

Stefanie schien jedoch zu fühlen, dass die junge Frau es gut mit ihr und ihrer Schwester meinte. Sie hielt ihre Puppe hoch, während sie sich dicht an Schwester Regine lehnte. »Du darfst ihr einen Kuss geben, weil du lieb bist«, sagte sie leise.

Gerührt nahm die Kinderschwester die Puppe und küsste sie sanft auf die Stirn. Stefanie sah befriedigt zu, dann bettete sie das Puppenkind zärtlich in ein Bett. »Schlafe ich hier?« fragte sie.

Schwester Regine nickte. »In dem einen Bett schläfst du, im anderen Daniela.«

»Aber nur eine Nacht. Morgen will ich zu Tante Irene. Carline will auch nicht hierbleiben. Es gefällt ihr hier nicht, hat sie mir eben gesagt.«

»Ich glaube, es wird Carline hier schon noch gefallen. Morgen könnt ihr die Puppenkinder in einen Puppenwagen setzen und spazieren fahren.«

»Hast du einen Puppenwagen?« fragte Daniela interessiert.

»Ich nicht, aber es gibt hier einen wunderschönen Puppenwagen.«

»Können wir ihn gleich haben? Morgen sind wir doch nicht mehr hier. Wir wollen doch zu Tante Irene.«

Schwester Regine tat, als habe sie nichts gehört. Sie packte eine Reisetasche aus. »So, jetzt könnt ihr euch die Hände waschen, und dann gehen wir zusammen hinunter zum Abendessen.«

Wortlos und mit gesenkten Köpfen gingen die Kinder ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Sie machten einen sehr bedrückten Eindruck. Auch als sie später neben Schwester Regine hinunter in den Speiseraum gingen, hielten sie die Köpfe gesenkt und sahen kaum auf.

Wie immer, wenn ein neues Kind in Sophienlust eintraf, waren die Kinder des Heims neugierig auf den Neuankömmling. Auf die beiden Schwestern aus Amerika waren sie natürlich ganz besonders neugierig, aber sie wussten auch aus Erfahrung, dass es besser war, die Neuen zuerst einmal in Ruhe zu lassen. Denise hatte den Kindern erzählt, dass Daniela und Stefanie vor Kurzem die Mutter verloren hatten und nun außer einer Tante in Berlin keine Verwandten mehr hatten.

Alle Kinder, die in Sophienlust lebten, hatten schon Trauriges erlebt. Die meisten von ihnen hatten Vater und Mutter verloren und wussten daher, wie den Schwestern zumute war. Sie hatten auch schon oft erlebt, dass die Kinder, die neu nach Sophienlust kamen, in der ersten Zeit traurig waren, dass sie weinten. Deshalb war es für sie ganz natürlich, dass die beiden Schwestern aus Amerika verweinte Augen hatten und kaum aufsahen. Dass sie aus diesem Grund ganz besonders nett und freundlich zu den beiden Neuen waren, war für sie selbstverständlich.

Die kleine Heidi Holsten, die ständig in Sophienlust lebte, wollte sogar auf ihr Würstchen verzichten und es Daniela und Stefanie geben. Als die beiden aber stumm den Kopf schüttelten, war sie doch sehr froh, denn Würstchen aß sie für ihr Leben gern.

Daniela und Stefanie aßen ohne Appetit, aber sie aßen gehorsam alles auf, was Schwester Regine ihnen auf den Teller legte. Während der Mahlzeit sprachen sie kein Wort und sahen kaum von ihren Tellern auf. Die Kinderschwester war froh, als sie mit den Kindern wieder nach oben gehen konnte. Daniela rieb sich unentwegt die Augen vor Müdigkeit, und Stefanie schien bereits halb zu schlafen. Nach all dem Neuen und Aufregenden, das die beiden an diesem Tag erlebt hatten, fielen ihnen fast die Augen zu.

Wenn die Kinderschwester aber geglaubt hatte, dass die beiden unter solchen Umständen sofort einschlafen würden, dann sah sie sich getäuscht. Als die Kinder nämlich in ihren Betten lagen, kam ihnen wieder so recht zu Bewusstsein, dass ihre Mutti nicht da war, die mit ihnen stets das Abendgebet gesprochen hatte, dass sie in einem fremden Land waren, in einer fremden Umgebung. Sie hatten Sehnsucht nach der Mutter und Heimweh nach der vertrauten Umgebung und begannen wieder zu weinen.

Es blieb Schwester Regine nichts weiter übrig, als den Kindern freundlich zuzusprechen und ihnen zu versprechen, sie nicht allein zu lassen, sondern bei ihnen zu schlafen. Da waren die Kinder plötzlich nicht mehr müde. Interessiert sahen sie zu, wie die junge Kinderschwester auf der Couch, die im Zimmer stand, ihr Nachtlager richtete. Der Gedanke, in der Nacht nicht allein zu sein, beruhigte sie ungemein. Ihre Tränen versiegten, sie sprachen ihr Nachtgebet, und der Schlaf brachte ihnen danach endlich für ein paar Stunden Frieden und Vergessen.

Schwester Regine war das Herz schwer, als sie auf die schlafenden Kinder blickte. Die nächste Zeit würde ganz sicher noch sehr schwer und sehr traurig für Daniela und Stefanie sein. Ähnliches sagte Denise ein wenig später, als sie mit der Kinderschwester sprach. »Ich bin sehr besorgt um die Kinder«, meinte sie. »Besonders sorge ich mich um die Zukunft der beiden. Wie mir Herr Dr. Buchner sagte, hat die Verstorbene noch kurz vor ihrem Tod zu den Kindern gesagt, dass sie bald zu ihrer Tante Irene nach Berlin reisen würden und dass die Tante sie sehr lieb haben würde. Es ist also nur natürlich, dass Daniela und Stefanie es nun, nach dem Tod ihrer Mutter, nicht abwarten können, zu der Tante zu kommen. Hoffentlich werden sie nicht enttäuscht. Diese Tante ist erst fünfundzwanzig Jahre alt. Wird sie die Kinder zu sich nehmen? Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich kann nur hoffen, dass sie einsieht, dass man die Kinder nicht trennen darf. Ich werde mich auf jeden Fall dafür einsetzen, dass Daniela und Stefanie nicht getrennt werden. Vielleicht können sie hier in Sophienlust bleiben wenigstens für die nächste Zeit.«

Denise seufzte. »Das alles hängt von einer Frau ab, die wir nicht kennen, von der wir nichts wissen. Was ist diese Irene Stetten für ein Mensch?«

*

Die gleiche Frage stellte fast zur gleichen Zeit Adelheid von Wüstrow ihrem ältesten Sohn Klaus. Mutter und Sohn saßen um diese Zeit auf der Terrasse ihres großen Anwesen. Ein Mädchen in schwarzem Kleid und weißer Schürze hatte sie soeben verlassen, nachdem es ihnen nach dem Abendessen Eistee auf der Terrasse serviert hatte.

Adelheid von Wüstrow liebte diese Abendzeit ganz besonders. Es war die Zeit, da es in dem großen Hause langsam ruhig und still wurde, da die Söhne etwas Zeit für sie hatten. Das gab ihr das Gefühl, dass nun nicht mehr viel Unangenehmes passieren könne, denn der Tag neigte sich ja dem Ende zu. Es war auch die Zeit, da Adelheid von Wüstrow gern von der Vergangenheit sprach, von ihrer Jugend auf den großen Gütern im Osten Deutschlands, von ihrer Hochzeit. Lange war es her, dass sie den Grafen Wüstrow geheiratet hatte. Jetzt lebte die Familie auf einem nach Ansicht der alten Dame recht bescheidenen Besitz. Man hatte den Grafentitel abgelegt, und statt eines Dieners in Livree servierte ein Mädchen in schwarzem Kleid und weißer Schürze. Die Zeiten hatten sich geändert, aber es war schwer, sich mit dem Neuen abzufinden. Vieles konnte Adelheid nicht verstehen. Vor allem auch, dass Bodo, ihr jüngster Sohn, die Absicht hatte, eine junge Schauspielerin aus Berlin zu heiraten.

»Was ist diese Irene Stetten überhaupt für ein Mensch? Wie kommt Bodo darauf, sie heiraten zu wollen? Verstehst du das, Klaus? Ich habe noch nie etwas von einer Irene Stetten gehört.«

»Ich auch nicht, Mama«, gestand Klaus von Wüstrow und legte die Zeitung, in der er gelesen hatte, auf den Tisch. »Ich muss gestehen, dass mich das Mädchen auch nicht interessiert. Über Bodo bin ich verärgert, einfach verärgert. Er hätte es dir etwas schonungsvoller beibringen können.«