Auf der Suche nach Geborgenheit - Gert Rothberg - E-Book

Auf der Suche nach Geborgenheit E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. »Es macht Ihnen doch nichts aus, Frau Gernand? Der Vertrag muss unbedingt noch heute heraus.« Melanie Gernand schaute verstohlen auf die Uhr. Wieder einmal war die übliche Bürozeit längst überschritten. Die zierliche junge Frau unterdrückte einen Seufzer, lächelte höflich und versicherte dem nervösen Generaldirektor, dass sie den Vertrag selbstverständlich noch schreiben würde. Dr. Eugen Aggeroth nickte. Er hatte nichts anderes erwartet. Frau Gernand war eine zuverlässige Sekretärin, stets einsatzbereit und mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten ausgestattet. Sie verstand ihr Handwerk, beherrschte mehrere Sprachen, sah immer gepflegt aus und besaß auch jenes gewisse diplomatische Geschick, mit dem eine gute Mitarbeiterin Kunden oder Geschäftspartner überzeugte. Während der große Boss hinter seinem überdimensionalen Schreibtisch in dicken Aktenbänden blätterte und sich Notizen machte, brachte Melanie mit flinken Fingern den neuen Vertrag zu Papier. Es waren in letzter Minute einige Veränderungen ausgehandelt worden. Aus diesem Grunde mussten mehrere Seiten des Abkommens neu gefasst, also auch neu geschrieben werden. Wie es die Art von Dr. Aggeroth war, schaute er mehrmals durch die angelehnte Tür, um festzustellen, wie lange es noch dauern werde. Dass er Melanie damit nur störte, kam ihm nicht in den Sinn. Machte er sich überhaupt jemals Gedanken über seine liebenswürdige und unersetzliche Sekretärin? Hatte er schon einmal bemerkt, dass seine jüngeren Abteilungsdirektoren Melanie Gernand heimlich oder offen bewunderten? Wusste er irgendetwas über das private Leben der attraktiven Dame, die die Fäden seines großen Konzerns sicher in ihren kleinen Händen hielt? Wohl kaum.

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Sophienlust Extra – 72 –

Auf der Suche nach Geborgenheit

Resi und ihre Mama haben es nicht leicht ...

Gert Rothberg

»Es macht Ihnen doch nichts aus, Frau Gernand? Der Vertrag muss unbedingt noch heute heraus.«

Melanie Gernand schaute verstohlen auf die Uhr. Wieder einmal war die übliche Bürozeit längst überschritten. Die zierliche junge Frau unterdrückte einen Seufzer, lächelte höflich und versicherte dem nervösen Generaldirektor, dass sie den Vertrag selbstverständlich noch schreiben würde.

Dr. Eugen Aggeroth nickte. Er hatte nichts anderes erwartet. Frau Gernand war eine zuverlässige Sekretärin, stets einsatzbereit und mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten ausgestattet. Sie verstand ihr Handwerk, beherrschte mehrere Sprachen, sah immer gepflegt aus und besaß auch jenes gewisse diplomatische Geschick, mit dem eine gute Mitarbeiterin Kunden oder Geschäftspartner überzeugte.

Während der große Boss hinter seinem überdimensionalen Schreibtisch in dicken Aktenbänden blätterte und sich Notizen machte, brachte Melanie mit flinken Fingern den neuen Vertrag zu Papier. Es waren in letzter Minute einige Veränderungen ausgehandelt worden. Aus diesem Grunde mussten mehrere Seiten des Abkommens neu gefasst, also auch neu geschrieben werden.

Wie es die Art von Dr. Aggeroth war, schaute er mehrmals durch die angelehnte Tür, um festzustellen, wie lange es noch dauern werde. Dass er Melanie damit nur störte, kam ihm nicht in den Sinn.

Machte er sich überhaupt jemals Gedanken über seine liebenswürdige und unersetzliche Sekretärin? Hatte er schon einmal bemerkt, dass seine jüngeren Abteilungsdirektoren Melanie Gernand heimlich oder offen bewunderten? Wusste er irgendetwas über das private Leben der attraktiven Dame, die die Fäden seines großen Konzerns sicher in ihren kleinen Händen hielt?

Wohl kaum. Für Eugen Aggeroth, der nur für seine Arbeit lebte und von früh bis spät im beruflichen Stress steckte, gehörte die tüchtige Frau Gernand gewissermaßen zur Ausstattung seines Direktionsbüros, genau wie die wertvollen Möbel, die elektronische Rufanlage, der Bildschirm für Rückfragen beim Zentralcomputer. Alles, was er für die reibungslose Funktion seines Firmenimperiums benötigte, war vorhanden erstklassig und natürlich teuer.

Selbstverständlich erhielt Melanie Gernand ein hervorragendes Gehalt. Das war aber auch das Einzige, was ihr Chef für sie tat. Für sein gutes Geld erwartete er bedingungslosen Arbeitseinsatz und hervorragende Leistungen.

Melanie hatte sich nach dem viel zu frühen Tod ihres Mannes um die Anstellung beworben und war unter zahlreichen Anwärterinnen nach einer gründlichen Prüfung eingestellt worden. Sie brauchte eine sichere Anstellung, denn sie musste Schulden abzahlen und für sich und ihr Töchterchen Unterhalt verdienen.

Von der Existenz des kleinen Mädchens hatte Dr. Aggeroth jedoch nicht die geringste Ahnung. Nur im Personalbüro war Melanies Personalstatus bekannt, da er von ihrer Steuerkarte abgelesen werden konnte. Das Kind dürfe kein Hindernis sein, falls gelegentlich Überstunden erforderlich wären, hatte der Personalchef kühl und sachlich gefordert. Ob sie dafür garantieren könne? Denn der Generaldirektor komme oft erst am Abend dazu, in Ruhe seine wichtigen Briefe zu diktieren, die Post durchzusehen und dergleichen.

Melanie hatte versichert, dass ihre Tochter Resi nicht stören würde. Sie hatte eine recht nette Wohnung in einem Neubaublock gefunden. Zwei Häuser weiter wohnten Herr und Frau Fischer, die Resi tagsüber betreuten. Resi liebte Onkel und Tante Fischer. Es machte ihr nichts aus, wenn sie abends oft ziemlich lange bei den beiden auf die Heimkehr ihrer Mutti warten musste. An den Wochenenden wurde sie dann entschädigt. Diese gehörten ganz und gar Mutter und Kind.

Wie gesagt, davon wusste Eugen Aggeroth nichts. Es hätte ihn auch nicht interessiert. Er war nur damit beschäftigt, seinen Konzern ständig zu erweitern und das verzweigte Unternehmen von Erfolg zu Erfolg zu führen. Es gab einige Leute in der Firma, die sich ernstlich fragten, ob dieser dynamische, rastlose Manager irgendwelche menschlichen Gefühle kenne. Oder konnte man sich so etwas nicht leisten im harten Kampf der modernen Geschäftswelt?

Lebensfreude, Lachen, Glück diese Dinge schien es für den Generaldirektor nicht zu geben. Er bewohnte eine riesige Villa aus der Zeit um die Jahrhundertwende, deren Inneres noch nie jemand gesehen hatte. Sein Chauffeur, der zugleich Butler war und dem Haushalt vorstand, gab sich genauso zugeknöpft wie der Chef. Im Laufe der Jahre wurden sie einander immer ähnlicher - der Direktor und sein ergebener Diener.

Melanie zog den letzten Bogen aus ihrer Maschine und las den Vertragstext ein zweites Mal sorgsam durch, ehe sie ihn unten links abzeichnete.

»Fertig?« Dr. Aggeroth hatte natürlich gehört, dass die elektrische Maschine verstummt war. Deshalb stand er jetzt bereits neben Melanie, um seine gewichtige Unterschrift unter das Vertragswerk zu setzen.

»Ja, Herr Doktor.« Er griff nach dem Kugelschreiber, den sie ihm reichte.

»Danke, Frau Gernand. Wir können zufrieden sein. Dieser Vertrag sichert uns eine Auslastung der neuen Maschinen im Werk Sieben auf zwei volle Jahre. Ich fliege noch heute Abend nach Paris, damit Fernand & Co. morgen früh gegenzeichnen. Erwarten Sie mich dann am späten Vormittag hier. Bis dahin können Sie bequem die Besprechung mit Wilking vorbereiten. Ich hoffe, wir bekommen diesen Auftrag herein.«

Melanie notierte sich einige Punkte, stellte zwei oder drei Fragen und bediente den Kopierapparat, um die erforderliche Anzahl der Vertragsexemplare herzustellen. Sorgsam heftete sie das Original und zwei Kopien zusammen, um alles in eine flache Ledermappe zu schieben, die ihr Chef an sich nahm.

»Guten Abend, Herr Doktor«, sagte sie freundlich. »Der Wagen wartet. Die Maschine kann sofort starten, wenn Sie am Flughafen eintreffen.«

»In Ordnung, Frau Gernand.« Es hätte ihn allenfalls aus der Ruhe gebracht, wenn einmal etwas nicht geklappt hätte. Für ihn war es absolut selbstverständlich, dass jeder seine Schritte perfekt organisiert wurde und zwar stets durch die umsichtige Melanie Gernand!

»Haben Sie Ihren Pass bei sich?« erinnerte sie ihn.

»Ja, danke, ich habe mich eben davon überzeugt.« Er ging hinaus und nickte ihr zu, ohne eine Miene zu verziehen. »Guten Abend, Frau Gernand.«

Melanie atmete auf. Endlich Feierabend. Die Uhr über der Tür des Sekretariats, die sekundengenau ging, zeigte bereits halb neun. Sie verschloss alle Unterlagen, sicherte Schrank und Schreibtisch, um dann ihren leichten Mantel überzustreifen.

Der Pförtner grüßte freundlich, als sie in ihrem kleinen Wagen durchs Tor fuhr. Sie winkte zurück und lächelte. Im Gegensatz zu ihrem unnahbaren Chef hatte sie ein gutes Verhältnis zu den Kollegen im Betrieb. Eigentlich durfte man die Beziehung des Generaldirektors zu seinen Mitarbeitern nicht einmal als schlecht bezeichnen. Vielmehr bestand eine solche Beziehung überhaupt nicht. Möglicherweise hatte Dr. Eugen Aggeroth seine Seele schon vor vielen Jahren an den Erfolg verkauft oder sie verloren …

Manchmal machte sich Melanie über ihren Chef Gedanken. Heute jedoch wollte sie so schnell wie möglich nach Hause, weil Resi längst ins Bett gehörte.

Frau Fischer öffnete und erging sich in den üblichen Seufzern wegen Melanies beruflicher Überlastung. Resi sei schon zweimal im Sessel vor dem Fernseher eingeschlafen! Melanie bedankte sich, ohne auf die Klagen der freundlichen Pflegemutter einzugehen. Resi ließ sich umarmen und küssen.

»Ich habe in der Schule einen Einser im Lesen bekommen, Mutti«, berichtete sie stolz.

»Siehst du, bald kannst du deine Bücher selber lesen und brauchst nicht zu warten, bis jemand Zeit zum Vorlesen findet.«

»Vorlesen ist trotzdem schöner, Mutti, weil du dann nämlich bei mir bist.«

Melanie mied den Blick des kleinen Mädchens. Natürlich litt Resi manchmal darunter, dass ihre Mutter so häufig abwesend war. Nach kurzem herzlichen Abschied begaben sich Mutter und Töchterchen in die eigene Wohnung im übernächsten Haus. Resi hatte schon bei den Fischers gegessen und stieg rasch in die Wanne. Melanie betete mit ihr und nahm sie fest in die Arme.

»Wenn ich mal groß bin und Kinder habe, lese ich ihnen immer vor und bin überhaupt nur daheim, Mutti.«

»Das möchte ich auch gern, Resi. Leider muss ich Geld verdienen, weil unser lieber Vati nicht mehr lebt. Du darfst nicht traurig sein deswegen. Tante Fischer ist wirklich nett zu dir und wir zwei haben unsere herrlichen Wochenenden, nicht wahr?«

»Nein, traurig bin ich nicht, Mutti. Nur fehlst du mir manchmal ganz plötzlich, wenn ich dir unbedingt etwas zeigen oder sagen möchte. Bis zum Abend habe ich es meistens vergessen. Deshalb! Verstehst du mich?«

Melanie küsste Resi. »Ich verstehe dich sehr gut, Resi. Du fehlst mir nämlich auch. Aber jetzt musst du schlafen, denn morgen müssen wir wieder früh heraus, ob es uns nun passt oder nicht.«

Resi gähnte. Eine Minute später war sie eingeschlafen. Melanie deckte sie liebevoll zu und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Sie fühlte sich restlos übermüdet und konnte zunächst nicht einmal essen. Deshalb schaltete sie das Radio ein und setzte sich für eine Viertelstunde mit geschlossenen Lidern in den tiefen Sessel am Fenster. Anfangs dachte sie noch an Dr. Aggeroth, an die Pariser Vertragsfirma, doch allmählich gelang es ihr, den Bürostress zu vergessen.

Später machte sie sich in ihrer kleinen blitzblanken Küche ein Schinkenbrot zurecht und trank ein Glas kalte Milch dazu. Anschließend deckte sie den Frühstückstisch für Resi und sich.

Es war von Montag bis Freitag die gleiche Routine. Sie hatte sich daran gewöhnt und kam sich nicht bedauernswert vor. Dennoch bedeuteten die Wochenenden für sie jedes Mal eine beglückende Flucht in ihr persönliches Leben.

Genaugenommen lebte sie gewissermaßen auf zwei verschiedenen Ebenen, die nichts miteinander zu tun hatten. Der Generaldirektor war gleichsam ausgelöscht und nicht mehr vorhanden, sobald sie in Resis Augen blickte und deren blondes Haar berührte. Umgekehrt hörte das Kind auf zu existieren, sobald sie ihr elegant eingerichtetes Sekretariat in der Direktionsetage des Verwaltungsgebäudes betrat.

Melanie nahm sich selten Zeit, darüber nachzugrübeln. Es war nun einmal so und ließ sich nicht ändern. Obgleich es ziemlich spät geworden war, füllte sie rasch die Waschmaschine, weil Resi keine Strümpfe mehr hatte.

Lange nach Mitternacht legte sich Melanie endlich zu Bett. Sie schaute nach ihrem Töchterchen, das tief und entspannt schlummerte. Die Leute behaupteten, Resi gleiche ihr. Sie selbst erkannte jedoch immer wieder Ähnlichkeiten mit ihrem verstorbenen Mann in dem kleinen zarten Gesicht.

Als Melanie die Lampe am Bett ausschaltete, war sie so erschöpft, dass sie sofort einschlief. An ihren Chef, der sich etwa zur gleichen Zeit in einem breiten Pariser Hotelbett die Decke über die Schultern zog, dachte sie mit keinem einzigen Gedanken.

*

Am Morgen lief das übliche Programm rasch und reibungslos wie immer ab. Resi maulte ein bisschen, weil sie es nicht liebte, wenn die Mutter ihr langes helles Haar gründlich bürstete.

»Schnell, du darfst nicht zu spät zur Schule kommen, Resi!« Melanie nahm ihr Töchterchen morgens im Auto mit und setzte es vor dem Schultor ab. Mittags ging Resi zu Fuß zur Familie Fischer, wo das gute Essen meistens schon dampfend auf dem Tisch stand. Selbstverständlich bezahlte Melanie für die Betreuung und Verpflegung des Kindes ein Kostgeld, doch im Grunde war das, was Herr und Frau Fischer für Resi tagtäglich taten, nicht in Euro und Cent aufzuwiegen. Denn das Kind hatte in der bescheidenen Wohnung eine zweite Heimat und durfte sich dort stets geborgen fühlen.

»Tschüss, Mutti!« Wie gewohnt, stieg Resi vor der Schule aus und winkte Melanie zu, ehe sie sich fröhlich unter ihre kleinen Freunde mischte. Melanie gab Gas und fuhr weiter. Es war ein Tag wie jeder andere … Auch im Büro lief alles wie üblich. Freundliche Grüße nach den verschiedensten Seiten, die dicke Postmappe, das Telefon, das ihr nur wenig Ruhe ließ. Melanie kümmerte sich um die wichtigsten Briefe, bereitete die Sitzung vor, erteilte geduldig Auskünfte und tippte mehrere wichtige Berichte, die für die Besprechung gebraucht wurden.

Gegen zehn Uhr kam ein Anruf aus Paris, dass der Generaldirektor pünktlich abgeflogen sei. Elf Uhr dreißig betrat er sein Arbeitszimmer, als habe er zu Hause im eigenen Bett übernachtet und nur einen kleinen Umweg gemacht.

Melanie fragte höflich, ob die Sache mit dem Vertrag wunschgemäß gelaufen sei, und erhielt ein zufriedenes Nicken als Antwort. Wieso auch nicht? Bei Dr. Aggeroth ging niemals etwas schief! Er war ein Perfektionist und erwartete von seinen Mitarbeitern, dass sie zu keinem Zeitpunkt auch nur den geringsten Fehler begingen. Irgendwie erreichte er dieses absolut einwandfreie Funktionieren im Betrieb.

Deshalb lief die Sitzung auch genau nach Plan ab. Beim gemeinsamen Mittagsmahl mit sechs seiner leitenden Direktoren wurde ein neues Projekt für Japan erörtert. Melanie musste am Essen teilnehmen und später ein Protokoll schreiben. Wie sich das auf ihre Gesundheit auswirkte, interessierte keinen Menschen. Sie hatte sich angewöhnt, bei solchen Konferenzen auf Suppe, Steak und Gemüse heldenhaft zu verzichten. Auf diese Weise konnte sie sich in Ruhe Notizen machen und bekam später wenigstens keine Magenschmerzen. Gewichtsprobleme entstanden für die schlanke blonde Melanie allerdings auch nicht. Im Gegenteil manchmal ass sie zwischendurch Schokolade, weil sie immer schmaler wurde. Denn Eugen Aggeroth besprach mit Vorliebe beim Mittagessen neue Geschäftspläne oder Produktionsvorhaben. Er nahm dabei auf die wohlverdiente Mittagspause seiner Angestellten nicht die geringste Rücksicht.

Der Nachmittag gehörte dann intensiver Arbeit am Schreibtisch. Melanie saß ihrem Chef viele Stunden schweigend gegenüber und notierte seine Formulierungen, seine zahlreichen Wünsche, seine bei Telefongesprächen verabredeten Termine. Gegen sechs Uhr fiel ihm ein, dass er unbedingt einen englischen Brief an einen Fabrikanten in Kanada schreiben müsse, den er in deutscher Sprache diktierte. Melanie blieb nichts anderes übrig, als die Epistel in aller Eile zu übersetzen und zu tippen, denn der Chauffeur sollte das umfangreiche Schreiben noch am Abend zum Flughafen bringen, damit es am anderen Tag an Ort und Stelle war.

Wieder einmal dunkelte es bereits, als Melanie endlich aufbrechen konnte. Auf dem kurzen Weg vom Verwaltungsgebäude zu ihrem Wagen wurde sie völlig durchnässt, denn es goss seit zwei oder drei Stunden in Strömen. Trotzdem lächelte sie freundlich, als sie am Pförtnerhaus vorüberfuhr. Der pflichtgetreue Mann hatte sich in das kleine Gebäude zurückgezogen. Es war ein Wetter, dass man keinen Hund vor die Tür jagte.

*

Als Melanie um die Straßenecke bog, erkannte sie die kleine Gestalt im Regenmäntelchen sofort. Triefend nass und mit tropfendem Haar stand Resi vor der Haustür. Melanie bremste scharf und stieg aus. »Wieso bist du nicht bei den Fischers?« fragte sie bestürzt.

Resi schluchzte ein bisschen. Auf ihrem blassen Gesicht mischten sich Regentropfen und Tränen. »Ich … ich warte schon ewig lange auf dich, Mutti. Tante Fischer ist nämlich die Treppe heruntergefallen. Onkel Fischer musste mit ihr ins Krankenhaus fahren. Deshalb habe ich hier auf dich gewartet. Bloß gut, dass du endlich da bist.«

»Du meine Güte war es schlimm, Kind? Was ist passiert?« Resi kletterte ins Auto. Sie zitterte vor Aufregung und Kälte. Auf der Fahrt in die Tiefgarage berichtete sie, dass das Auto mit dem Roten Kreuz gerade eingetroffen sei, als sie von der Schule zurückgekehrt sei. Onkel Fischer habe ihr nur eingeschärft, sie dürfe nicht weggehen. Da sei sie eben auf der Straße geblieben und habe gehofft, dass Onkel Fischer bald zurückkehren würde …

»Hast du wenigstens etwas zu essen gehabt?« erkundigte sich Melanie bestürzt.

»Nein, Mutti. Aber so arg wie das Warten war der Hunger wirklich nicht.«

Melanie parkte ihren Wagen ein und ergriff Resis kalte, feuchte Hand. Im Lift ging es hinauf in die Wohnung. So schnell wie möglich zog Melanie ihre Tochter aus und steckte sie ins warme Badewasser. Anschließend rubbelte sie das Kind gründlich trocken und föhnte dessen langes Haar. Resi ließ sich so viel Betulichkeit nur zu gern gefallen. Sie durfte es sich im Pyjama auf der Couch im Wohnzimmer mit einer weichen Decke und zwei Kissen gemütlich machen, während die Mutti in der Küche heißen Kakao kochte.

»Ich hatte auch kein Essen heute Mittag«, gestand Melanie leise, als die beiden einträchtig den köstlichen dunkelbraunen Kakao tranken.

»Wieso denn nicht? Bei dir gibt es doch eine große Kantine, Mutti?«

»Ich hatte zu viel zu tun, Kleines. Möchtest du jetzt Toast mit Rührei haben? Darauf hätte ich Appetit.«

Resi leckte sich die Lippen. »Ja, bitte, Mutti.« Melanie bereitete lockeres Rührei zu und ließ es auf gebutterte Toastscheiben gleiten. Sie garnierte die beiden Teller mit Tomatenscheiben, sodass es nett aussah.

Das einfache Abendessen mundete köstlich. Resi wurde danach müde. Deshalb erhob sie keinen Einspruch, als sie sich die Zähne putzen und ins. Bett gehen sollte.

»Ich schaue eben noch einmal zu den Fischers hinüber«, erklärte Melanie nach dem Nachtgebet. »Hoffentlich klappt es morgen wieder nach der Schule.«

»Ja, aber bleib nicht so lange weg. Du weißt, ich bin nun mal nicht gern allein, Mutti.«

Melanie küsste ihr Töchterchen. Sie wusste, Resi fürchtete sich, sobald man sie allein in der Wohnung ließ. Deshalb wartete sie, bis das Kind eingeschlafen war. Auch ließ sie die kleine Lampe neben dem Bett brennen.

Melanie ergriff Regenmantel und Schirm und machte sich auf den Weg zur Wohnung der Fischers. Sie hätte natürlich auch telefonieren können, aber das wäre recht unhöflich gewesen, nachdem sie erfahren hatte, dass Frau Fischer verunglückt war. Da musste sie wohl oder übel persönlich nachfragen.

Melanie traf Herrn Fischer an. Er war vor einer halben Stunde heimgekehrt und völlig durcheinander. Seine Frau hatte sich einen Oberschenkelbruch zugezogen und musste mehrere Wochen lang in der Klinik liegen.

»Es tut mir aufrichtig leid, Herr Fischer.«

Der nette alte Herr sah sie traurig an. »Ich bin so ungeschickt im Haushalt, Frau Gernand. Meine Schwester kommt morgen und räumt hier auf. Dann nimmt sie mich mit. Sie wohnt viel näher an der Städtischen Klinik. Ich habe es von dort aus bequemer, meine Frau täglich zu besuchen. Und um mein Essen brauche ich mich auch nicht zu kümmern.«

»Sie sperren also hier einfach für einige Wochen zu?« vergewisserte sich Melanie unsicher.

»Ja, es ist doch am besten so. Meine Frau hätte keine Ruhe, wenn sie wüsste, dass ich hier allein wirtschafte. Ein Segen, dass meine Schwester mich aufnehmen kann.«

»Für Resi muss ich mir also etwas einfallen lassen«, warf Melanie leise ein.

Herr Fischer hob den Kopf und bekam runde, erstaunte Augen. »Ja, ach so, die kleine Resi! Entschuldigen Sie bitte ich habe gar nicht mehr an das Kind gedacht. Es war wie ein Schock, als das Unglück geschah. Ich bin ganz hilflos ohne meine Frau.«

»Resi hat brav auf der Straße gewartet. Unglücklicherweise kam ich besonders spät zurück, und es regnete stark.«