Späte Vergeltung - Friedhelm Neyer - E-Book

Späte Vergeltung E-Book

Friedhelm Neyer

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Beschreibung

Im kleinen Dorf Adelberg wird seit Wochen ein Mann vermisst. Annabelle und Rick Epple sowie der pensionierte Kommissar Klemens Maier machen sich daran, nach dem Vermissten zu suchen. Kaum vorstellbar, dass er seine Luxuslimousine im Wald stehen lässt. Im Herrenbachtal entdecken sie eine grässlich zugerichtet Leiche. Brutal erschlagen. Alles deutet darauf hin, dass ein ehemaliger Freund Ricks der Täter sein muss. Er hat dem Kommissar einen Hinweis hinterlassen, den nur dieser deuten kann. Verwirrend ist die Tatsache, dass dieser Mann zwei Jahre zuvor erschossen wurde. Langsam aber sicher gelingt es ihnen, die Puzzleteile zusammenzusetzen und sich ein Bild zu machen. Das überraschende Ende findet wieder in der Schweiz statt. "Späte Vergeltung" ist eine an »Vergiftetes Wasser« anschließende Weiterführung der Ereignisse um Annabelle und Rick Epple desselben Autors. »Späte Vergeltung« kann unabhängig vom ersten Band gelesen werden. Es ist hilfreich, "Vergiftetes Wasser" gelesen zu haben. Manche Ereignisse nehmen Bezug auf den ersten Teil. Im ersten Kapitel gibt es einen Rückblick auf das damalige Geschehen.

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Seitenzahl: 306

Veröffentlichungsjahr: 2023

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F. K. Neyer

Späte Vergeltung

Regionalkrimi aus Schwaben

Das Buch

Im kleinen Dorf Adelberg wird seit Wochen ein Mann vermisst. Annabelle und Rick Epple sowie der pensionierte Kommissar Klemens Maier machen sich daran, nach dem Vermissten zu suchen. Kaum vorstellbar, dass er seine Luxuslimousine im Wald stehen lässt. Im Herrenbachtal entdecken sie eine grässlich zugerichtet Leiche. Brutal erschlagen. Alles deutet darauf hin, dass ein ehemaliger Freund Ricks der Täter sein muss. Er hat dem Kommissar einen Hinweis hinterlassen, den nur dieser deuten kann. Verwirrend ist die Tatsache, dass dieser Mann zwei Jahre zuvor erschossen wurde. Langsam aber sicher gelingt es ihnen, die Puzzleteile zusammenzusetzen und sich ein Bild zu machen. Das überraschende Ende findet wieder in der Schweiz statt.

Der vorliegende Roman ist die Fortsetzung von »Vergiftetes Wasser« um Annabelle und Rick Epple. »Späte Vergeltung« kann unabhängig vom ersten Band gelesen werden. Es ist hilfreich, diesen Teil gelesen zu haben. Manche Ereignisse nehmen Bezug auf den ersten Teil. Im ersten Kapitel gibt es einen Rückblick auf das damalige Geschehen.

Der Autor

F. K. Neyer wurde im Jahr 1960 in einem kleinen Dorf im Schwabenland geboren. Er ist seit über 40 Jahren verheiratet und hat zwei Töchter. Nach der mittleren Reife 1977 war er zuerst in unterschiedlichen Bereichen tätig, bevor eine Ausbildung zum Programmierer es ihm ermöglichte in den frühen 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts in die aufstrebende IT einzusteigen. Nach Jahrzehnten in dieser Branche erfüllte er sich im vorgezogenen Ruhestand im Jahr 2022 einen langgehegten Wunsch und begann zu schreiben.

Impressum:

Texte:

© Copyright by F. K. Neyer

Umschlaggestaltung:

© Copyright by F. K. Neyer

Fotos stammen von Pixabay

Dieses Werk ist Fiktion. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Veröffentlichung darf in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln vervielfältigt, verbreitet oder übertragen werden, außer nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Autors. Namen, Charaktere und Ereignisse sind entweder vom Autor frei erfunden oder werden als fiktives Element verwendet. Die Orte sind teilweise namentlich genannt und sind real. SOS-Kinderdorf e. V. und die Gaststätte »Treffpunkt« in Göppingen haben dem Autor die ausdrückliche Genehmigung erteilt, ihre Namen zu verwenden. Darüber hinaus ist jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen rein zufällig.

Verlag:

Friedhelm Neyer, Hauffstraße 21/1

73084 Salach

[email protected]

Vertrieb:

publi – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 18

Kapitel 212

Kapitel 318

Kapitel 425

Kapitel 537

Kapitel 647

Kapitel 754

Kapitel 863

Kapitel 970

Kapitel 1074

Kapitel 1180

Kapitel 1285

Kapitel 1393

Kapitel 1497

Kapitel 15101

Kapitel 16125

Kapitel 17131

Kapitel 18140

Kapitel 19146

Kapitel 20152

Kapitel 21158

Kapitel 22173

Kapitel 23178

Kapitel 24182

Kapitel 25186

Kapitel 26192

Kapitel 27200

Kapitel 28213

Kapitel 29221

Kapitel 30234

Kapitel 31238

Kapitel 32242

Kapitel 33246

Kapitel 34255

Kapitel 35261

Kapitel 36267

Kapitel 37271

Kapitel 38278

Kapitel 39285

Kapitel 40287

Kapitel 41298

Kapitel 42303

Kapitel 43306

Kapitel 44309

Kapitel 45315

Epilog318

Kapitel 1

06. Mai 2022

Anwesen Epple, Adelberg

Annabelle Epple ließ sich auf der großzügigen, nach Südwesten ausgerichteten Terrasse auf einem der bequemen Gartenstühle nieder. Einem Relaxsessel nicht unähnlich. Die dicke, gelb-weiße Auflage vermittelte ihr das angenehme Gefühl einer nicht zu weichen Matratze. Ihr Ehemann Rick schraubte womöglich an seiner Corvette herum. Die weit ausladende Markise im selben Design wie der Sessel war teilweise ausgefahren. Gerade soweit, um das Licht der grellen Maisonne abzuhalten, aber die Wärme nicht zu sehr zu dämpfen. Eine Glaskaraffe mit eisgekühltem, selbstgemachtem Pfefferminztee stand auf einem niedrigen Hocker neben ihr. Frisch gezupfte Pfefferminzblätter aus dem Garten, dünne Scheiben einer Limette und aus dem Tee gewonnene Eiswürfel schwammen in der Karaffe. Ungesüßt das von ihr bevorzugte Getränk, wenn das Frühjahr langsam sommerlichen Charakter annahm. Sie wollte die letzten 50 Seiten von Ken Folletts Roman Am Morgen einer neuen Zeit zu Ende lesen, der seit Wochen herumlag. Aus verschiedenen Gründen war es ihr bisher nicht gelungen, den vierten Band der Kingsbridge-Reihe des britischen Bestseller-Autors zu beenden.

Es kam anders. Kaum schlug sie den 900 Seiten starken Wälzer auf, drifteten ihre Gedanken ab. Annabelle erinnerte sich an die verstörenden Ereignisse im vorletzten Spätherbst. Ihre und Ricks gemeinsame Freundin Claudia Bauer war Mitte der 90er-Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts spurlos verschwunden. Beide vermuteten lange, dass Claudia ein neues Leben beginnen wollte, in dem niemand aus ihrem bisherigen Bekanntenkreis eine Rolle spielen sollte. Ein Leben, in dem sie zu finden hoffte, was sie vielleicht suchte.

Vor achtzehn Monaten, am 20. November 2020, war diese Vermutung, diese immerwährende Hoffnung, wie eine Seifenblase mit einem Schlag zerplatzt. An diesem Tag, den Annabelle nicht vergessen konnte und der sie seitdem wieder und wieder einholte, wurde Claudias grausam zugerichtete Leiche vom Grund eines Sees geborgen. Ricks Erinnerungen gaben den letzten Anstoß dazu, dass der zuständige Kommissar Klemens Maier, inzwischen ein guter Freund der beiden, den See absuchen ließ. Den Waldsee, an dem vor über 40 Jahren alles so wunderschön begonnen hatte.

Rick wurde zuerst in einem seiner furchtbar quälenden Flashbacks mit Claudias Leiche konfrontiert. Später, bei der Bergung des Körpers, dann direkt. Er verschwieg ihr die Details bis zum heutigen Tag, weil er sie schonen wollte. Dafür war sie ihm bis heute dankbar. Dennoch fühlte Annabelle, dass der Mord an ihrer Freundin unvorstellbar brutal gewesen sein musste. Wochenlang bekniete sie den Kommissar, ihr mehr über die Bluttat zu erzählen. Ihr zu sagen, wie Claudia getötet worden war. Erfolglos. Der abgebrühte Polizist konnte nicht verbergen, dass er von der Brutalität des Verbrechens zutiefst erschüttert war, aber wenn sie ehrlich zu sich war, wollte sie es gar nicht wissen. Sie befürchtete, dass die brutalen Details sie noch mehr aus der Bahn geworfen hätten.

Noch später erfuhr sie, dass Rick dem Kommissar ausdrücklich untersagte, ihr mehr als das zu erzählen, was sie ohnehin schon wusste. Das Schlimmste an den verstörenden Ereignissen war, dass Annabelle den Mörder Claudias persönlich kannte. Eine bescheidene Genugtuung war es ihr, dass dieser Mann, Dieter Weller, Jahre später selbst einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Einer Tat, begangen von einem anderen ehemaligen Freund ihres Ehemannes, der ihr ebenfalls bekannt war. Einem Mann, der jahrelang im selben Dorf wohnte, mit dem sie damals des Öfteren zusammenkam. Peter „Pitt“ Klein, den Rick vor über vierzig Jahren zu seinen besten Freunden zählte. Der ein ganz Anderer war, als der, den sie glaubte, gekannt zu haben. Hans Miklund der angesehene erste Vorsitzende des Angel- und Fischervereins. Dieser Mann war auch Ruedi Raeschli gewesen. Der kurz nach dem Auffinden von Claudias Leiche bei einem gescheiterten Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft in Bern erschossen wurde.

Die Schweizer Polizei war davon ausgegangen, dass er das Opfer war, das sich zufälligerweise zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielt. Annabelle beruhigte sich mit dem Gedanken an den gerechten Lohn, den die beiden Mörder bekommen hatten. Das einzige Opfer war ihre Freundin. Sie hatte den Tod nicht verdient. Wenn die Menschen Claudias sexuelle Orientierung auch unnatürlich und abstoßend nannten. Niemand hat das Recht, über die Veranlagung eines Anderen zu urteilen. Damals nicht und heute ebenso wenig.

Kapitel 2

Drei Wochen zuvor

Kriminalpolizei Göppingen

Nun war er also gekommen. Der letzte Tag einer langen, in weiten Teilen außerordentlich erfolgreichen Karriere. Nicht immer war es der geradlinige Weg gewesen, den er gewählt hatte. Den er aus seiner Sicht wählen musste, um das jeweilige Ziel zu erreichen. Aktionen hart am Rand der Legalität waren mitunter die einzige Option gewesen, um Menschen, die zweifelsfrei schuldig waren eines Verbrechens zu überführen. Manche dieser Optionen lagen jenseits der Grenze, die von den geltenden Gesetzen gezogen wird. Beschränkungen, deren Sinn er nicht nachvollziehen konnte. Vorschriften, die mehr dem Schutz der Täter als dem Opferschutz dienen. Auch wenn seine Opfer nicht von diesem kaum existierenden Schutz profitieren konnten. Schreckliche Bilder lagen wie eingebrannt auf seiner Erinnerung. Über vierzig Verbrechen gegen den Menschen, wie man Mord oder Totschlag im Amtsjargon nennt, in ebensovielen Dienstjahren bescherten ihm unzählige schlaflose Nächte. Zeiten, in denen er kurz davor stand, den Dienst zu quittieren. Eindrücke, die kein Mensch mehr loswerden konnte. Kein Psychologe könnte diese Bilder aus der Erinnerung verbannen, die mit einem weißglühenden Brandeisen in sein Gehirn eingraviert waren. Im Lauf der Zeit lernte er, diese Brandwunden verschorfen zu lassen. Ausradieren konnte sie niemand. Dazu hätte man sein Gehirn komplett entfernen müssen. Er konnte damit umgehen, vergessen konnte er das alles niemals.

Hauptkommissar Klemens Maier lehnte sich in dem abgenutzten Stuhl zurück und zog seine persönliche Bilanz. Mit Ausnahme eines einzigen Falles war es ihm gelungen, jeden Mörder und jeden Totschläger der irdischen Gerechtigkeit zuzuführen. Wenn diese scheinbare Rechtssprechung auch nicht immer dem entsprach, was er als gerecht empfand.

Dieser eine Fall lag ihm seit dreißig Jahren im Magen. Er konnte den Schuldigen damals überführen. Jeden einzelnen Schritt der Tat nachvollziehen. Er kannte das Motiv – Gier und Rache. Das Geständnis des Täters lag vor. Ohne Zeugen und mündlich. Nutzlos wie ein Kropf. Er konnte ihn in der Schweiz aufspüren.

Nun ja, aufgespürt trifft es nicht ganz, dachte Maier selbstkritisch.

Der Kerl hatte ihn zu einem Treffen genötigt. Dessen ausgeprägtes Selbstbewusstsein hätte jeden Ermittler zur Verzweiflung gebracht. Geständnis hin oder her. Ihm war nichts anzuhaben, Maier musste ihn unbehelligt gehen lassen. Zwei Dinge gab der Kerl ihm am Ende der Unterredung. Eine Aufstellung der Orte seiner Verbrechen und vor wenigen Tagen die Nachricht der Schweizer Kollegen, dass er in seiner selbstgewählten, neuen Heimat erschossen worden war. Auch eine Art der Genugtuung, dachte er.

Plötzlich kam draußen unüberhörbarer Trubel auf. Stimmen, die sich mühsam auf ein Lied zu einigen schienen. Die Tür zu seinem Büro wurde aufgerissen. Seine Kollegen, die schon morgen seine Ex-Kollegen waren, drängelten herein und sangen aus vollem Hals. Tiefe und hohe Stimmen. Manche krächzend von zu vielen Zigaretten und falsche waren darunter. Jeder bemühte sich nach Kräften, den bekannten Text von »For he‘s a jolly good fellow« in der US-amerikanischen Version zu intonieren. Eine Wiederholung, die zunehmend misstönender klang.

Der seit einigen Jahren pensionierte Kriminaloberrat Ernst Staudinger trat aus der Gruppe vor und stellte ein 50 Zentimeter großes und offenbar aus Metall gefertigtes, schwergewichtiges Modell eines Bergepanzers 2A2EHS auf den Schreibtisch. Mitsamt einer RC-Steuerung, an der eine lange Antenne vor und zurück wippte. Maier kannte die Bedeutung. Den meisten der anwesenden Kollegen war der Hintergrund des sicher kostspieligen Geschenks auch bekannt. Die es nicht wussten, würden es ganz gewiss im Lauf der kommenden Stunde erfahren.

»Lieber Kollege Maier, Klemens«, knarzte Staudinger mit seiner charakteristischen Stimme, »ich rede nicht lange um den heißen Brei herum. Sie wissen, dass ich nie viele Worte gemacht habe. Lassen wir es dabei bewenden. Ich habe mir beim Präsidenten ausbedungen, Ihre Verabschiedung zu übernehmen. Lange Rede, kurzer Sinn. Meinen herzlichen Glückwunsch zum 40-jährigen Jubiläum und Ihrem gleichzeitigen Eintritt in den verdienten Ruhestand.« Staudinger konnte sich ein meckerndes Lachen nicht verkneifen. »Möge Ihnen dieses Modell jede Menge Freude bereiten und manches aufdecken, was bisher im Morast der Zeit verborgen war.«

Staudingers Selbstbeherrschung war dahin. Er holte tief Luft und lachte aus vollem Hals. Maier wollte zuerst ungehalten reagieren, als er das Modell des Panzers sah. Das Lachen des Oberrates a. D. ließ dieses Gefühl verfliegen und machte der Rührung Platz. Nacheinander kamen die Kollegen zu ihm, zuerst die im aktiven Dienst. Ehemalige, an die er lange nicht gedacht hatte. Klopften ihm auf die Schulter und sagten ein paar nette Worte, die sicher ernst gemeint waren. Auf dem leer geräumten Schreibtisch stapelten sich die Geschenke. Drei lange, schlanke Aluminiumröhren, in denen er die Schutzhüllen teurer Zigarren erkannte. Havanna mit Sicherheit. Sechs, sieben Flaschen mit ausgewählten Single Malts von den Inseln Islay und Jura. Ardbeg, Caol Ila, Talisker und mancher andere. Nur Blumen hatte keiner mitgebracht. Jeder seiner Kollegen kannte Maiers Meinung, dass Pflanzen dort am schönsten waren, wo die Natur sie wachsen lässt. Niemand sollte irgendetwas aus dem Pflanzenreich abschneiden dürfen. Er kam nicht mehr umhin. Er musste ein paar Worte sagen.

»Tja, Jungs, was soll ich sagen. Außer 㼀danke, vielen Dank für alles. Ihr kennt mich. Manche seit Jahrzehnten. Ihr wisst, dass ich noch weniger geredet habe«, er machte eine bezeichnende Geste in Staudingers Richtung, »als unser allseits geschätzter, ehemaliger Cheffe. Der sich nicht zu schade war, heute seinen Ruhestand zu unterbrechen und hierher zu kommen. Der sich nicht zu schade gewesen wäre«, diesen Seitenhieb konnte er sich nicht verkneifen, »die Rote Armee oder das US-Marine Corps anzufordern. Der mir einen Flugzeugträger angeboten hat, um meinen letzten Fall zu lösen. Weshalb er mir den Bergepanzer verweigerte, werde ich nie erfahren. Herr Staudinger, auch und besonders Ihnen vielen Dank. Verdammt, ich vermisse euch jetzt schon.«

»Quatschen Sie nicht herum, Maier«, sagte der Oberrat im Befehlston, »Sie wissen, dass das ein Scherz war damals. Einer auf Ihre Kosten zwar, aber ein Scherz. Der Erfolg hat Ihnen recht gegeben. Ohne die Ledernacken. Machen Sie eine der Flaschen auf. Ich will probieren, wofür ich mein sauer verdientes Geld ausgegeben habe.«

Staudinger wie er leibt und lebt, dachte Maier, auch ihn werde ich vermissen.

Eine Stunde später war alles vorbei. Staudinger war als Letzter noch geblieben und saß ihm gedankenverloren gegenüber. Eine der dicken Zigarren zwischen den Fingern. Vom Single Malt sichtlich angeschlagen. »Nun kommen Sie schon, Maier«, knarzte er nuschelnd zum wiederholten Mal, »wir gehen in den Irish Pub drüben, ich lade Sie ein.« Diese Einladung seines früheren Vorgesetzten konnte er nicht ablehnen. Es war die Erste in mehr als fünfundzwanzig Jahren, während derer Staudinger sein Chef gewesen war. Er dachte darüber nach, ob er spätestens morgen in das gefürchtete Loch des Ruhestands fallen würde. Hoffte gleichzeitig, dass es nur eine flache Bodensenke wäre.

Kapitel 3

18. April 2022

Herrenbachtal, Adelberg

Nebelfetzen waberten, vom Stausee kommend, zwischen den Bäumen des Mischwaldes. Fingen sich in den Ästen der hohen Nadelbäume und der breit ausladenden Laubbäume. Zerfaserten im lauen Wind und entstanden sofort wieder neu. Die ganze Umgebung war klamm und feucht. Kurz nach den Osterfeiertagen sollte es um diese Uhrzeit längst hell sein. Vor mehr als zwei Wochen war das erste Kalenderblatt des Monats April abgerissen worden. Der Nebel resultierte daraus, dass es an den vergangenen Tagen sehr warm gewesen war. Der großflächige, überwiegend flache, See produzierte eine Menge Wasserdampf.

Eine surreale Atmosphäre, die an alte Edgar-Wallace-Filme erinnerte, in denen der englische Nebel wie festgeklebt über der Themse hing. Er joggte nahezu täglich frühmorgens dieselbe Strecke. Seine Runde startete an einem Parkplatz an der Mittelmühle, führte ihn um den Stausee und wieder zurück. Exakt 6.340 Meter. Gernot Allinger war ein pedantischer Formalist. Er warf einen Blick auf seine Smart Watch und stellte anhand der angezeigten Pulsfrequenz fest, dass er zu schnell war. Deutlich erhöhter Puls. Er verringerte sein Tempo auf eine mäßigere Geschwindigkeit, um seinen Kreislauf wieder in den gesünderen Normbereich zu bringen. Allinger erreichte den nordwestlichsten Punkt seiner Runde. Dort, wo der Schliffbach sein spärlich fließendes Wasser dem See übergab, ersparte er sich wie gewohnt einen halben Kilometer und die vor ihm liegende Steigung. Er verminderte sein Tempo, der kaum sichtbare Trampelpfad vor ihm hatte seine Tücken. Besonders wenn der Untergrund feucht war. Ein mehr als zehn Meter abfallender, glitschiger Steilhang, der am unteren Ende mit scharfkantigen Felsbrocken garniert war. Wer hier abrutschte, könnte tagelang liegen. Ohne dass ihn jemand finden würde.

An der Abbruchkante eine Ruhebank. Von hier schweifte der Blick weit über den See. Die ideale Stelle, um die Seele baumeln zu lassen. Hier legte er meist eine kurze Pause mit einigen Dehnübungen ein.

Der vom See aufsteigende Nebel war dichter geworden. Die Wasseroberfläche nur zu erahnen. Ohne Ortskenntnis konnte es leicht passieren, dass man im Wasser landete.

Heute wollte er zugunsten des erhöhten Pulses auf die Übungen verzichten und sich ein paar Minuten erholen. Es nutzte niemandem, am allerwenigsten ihm selbst, wenn er abgekämpft an seinem Arbeitsplatz erscheinen würde. Ein ausgefüllter Arbeitstag mit eng getakteten Terminen lag vor ihm. Am unter ihm liegenden Ufer nahm er eine Gestalt wahr, die eilig im Unterholz verschwand.

Ein anderer Läufer wahrscheinlich, der sich bei diesem Nebel hierher verirrt hat, dachte er und zuckte mit den Schultern. Nicht meine Angelegenheit. Wer hier unterwegs kannte das Gelände. Wenn nicht ...

Allinger setzte sich auf die Bank und streckte sich ausgiebig. Eine ungewohnte Ermüdung hatte in übermannt.

So hoch ist mein Puls nur selten, überlegte er, jetzt doch etwas besorgt, verschwendete trotzdem keinen weiteren Gedanken an diese Erschöpfung. Das gibt sich, wenn ich wieder in Bewegung bin.

Unvermittelt meinte er ein Geräusch hinter sich zu hören. Er sah sich suchend um. Nein, da war nichts. Ein Stein vielleicht, der sich aus der steilen Uferböschung gelöst hatte und ins Wasser gekullert war. Nicht dass Allinger überaus ängstlich war, doch heutzutage konnte man nicht vorsichtig genug sein. Durchgeknallte Spinner trieben sich überall herum. Bei denen man nicht einmal ahnen konnte, was in ihren kranken Gehirnen vor sich ging. Seine Vorsicht verhinderte nicht, was jetzt geschah.

Das zirpende Surren in seinem Rücken und das Gefühl, dass etwas über seinen Kopf geworfen wurde, war eins. Ein Draht oder ein dünnes Seil zog sich um seinen Hals zusammen. Urplötzlich konnte er nicht mehr atmen. Hektisch schnappte er nach Luft. Nichts kam in seiner Lunge an. Kein Quäntchen Sauerstoff verschaffte ihm Erleichterung. Die Atemnot nahm zu. Die Schlinge zog sich weiter zu.

Allinger bemerkte, dass es heiß und klebrig an seiner Kehle hinunterlief. Plötzlich wurde ihm mit erschreckender Klarheit bewusst, dass sein Leben am seidenen Faden hing, obwohl ihm alles andere als ein Seidenfaden die Luft zum Atmen nahm. Das war der letzte klare Gedanke, den seine Synapsen formulieren konnten. Seine Muskeln erschlafften, er sackte in sich zusammen. Kaum einen Fingerbreit vom Tod entfernt. Er nahm nicht mehr bewusst wahr, dass sich sie Schlinge löste und entfernt wurde. Er registrierte nicht, dass sein Körper unsanft nach vorne gestoßen wurde. Nicht, dass er die tiefe Böschung hinunterstürzte.

Das kalte Wasser ließ ihn wieder zu Bewusstsein kommen. Bemerkte, dass er rücklings auf den scharfkantigen Felsblöcken auf halber Höhe des Abhanges lag. Über ihm ragte verschwommen die Böschung empor. Mehr seines bewussten Denkens kam zurück. Die scharfen Kanten der Steine drückten schmerzhaft gegen sein Rückgrat. Egal, wichtig war in dem Moment nur, dass er wieder Luft in seine Lungen pressen konnte.

Er sah eine Gestalt über sich stehen und ihn hämisch grinsend anstarren. Allinger war zu keiner Bewegung fähig. Er blieb bewegungslos liegen und versuchte, seinen normalen Atemrhythmus zu erreichen und nicht mehr hektisch nach Luft zu schnappen. Ein heftiger Schlag traf ihn am rechten Unterschenkel. Beide Knochen des Schienbeins brachen mit einem vernehmlichen, trockenen Knacken. Der nächste Schlag, der andere Unterschenkel. Auch der gab knackend nach.

So fühlt es sich also an, fuhr es ihm durch den Kopf, wenn man totgeschlagen wird.

Er ahnte nicht, dass die Gestalt ihn alles andere als totschlüge. Die nächsten beiden Schläge. Rechter und linker Unterarm. Auf dem Kulminationspunkt der Gewaltorgie splitterten die Schulterblätter. Alle beide. Die muskelgeschützten Oberschenkelknochen waren die einzigen, die sein Peiniger nicht traktierte. Bewegungslos lag er da. Selbst wenn der Kerl sich auf der Stelle aus dem Staub machte, wäre Allinger nicht mehr in der Lage, sich nur einen Zentimeter fortzubewegen. Der Mann wusste offenbar genau, was er tun musste, um ihn bewegungsunfähig zu machen.

Der Schmerz in den vielfach gebrochenen Knochen war atemberaubend. Dennoch konnte er keinen Laut von sich geben. Eine schwarz behandschuhte Hand tauchte in seinem verschwommenen Gesichtsfeld auf. Zwang seine Kiefergelenke auseinander. Er musste den Mund öffnen. Ein weicher, nach Fisch stinkender Lappen schob sich in seine Mundhöhle und wurde tief in den Schlund gepresst.

Der unmittelbar folgende, heftige Schlag auf die Nase ließ diese sofort zuschwellen. Die Gestalt packte ihn ohne jede Rücksicht auf die gesplitterten Knochen unter den Armen und zog ihn durch den eiskalten Schlamm ins flache Uferwasser. Er wurde aus der Rückenlage in eine nicht minder unbequeme Bauchlage gedreht. Der weiche Lappen in seinem Rachen sog sich sofort mit Wasser voll. Durch den Mund würde er die nötige Luft nicht bekommen. Über die zugeschwollene Nase ebenso wenig. Er würde ersticken, ertrinken oder beides zugleich.

Schmerz spürte er längst nicht mehr. Trotz der unausweichlichen Tatsache, dass hier und jetzt sein Leben ging, wehrte sich sein Überlebenswille noch eine ganze Zeit dagegen. Erst als der Sauerstoffmangel, der Wasserüberschuss in Mundhöhle und Lunge, zu groß wurde, war es endgültig vorbei.

Das war‘s also, glasklar der letzte Gedanke.

Die Gestalt atmete tief durch und zerrte den leblosen Körper ein Stück hinter die Büsche. Sollte man die Leiche finden. Es spielte keine Rolle. Zu früh war allerdings nicht im Sinne des Mörders. Es wäre besser, wenn etwas Gras über den Mord gewachsen war, bevor der erste Entsetzensschrei über die einsame Wasserfläche des Sees schallte. Der tote Körper blieb nicht liegen. Er rutschte vollends den Abhang hinunter, verfing sich zwischen umgestürzten Baumresten und kam, an einer Wurzel fast am Ende der Böschung, zu liegen. Auch recht, dachte er. Ein letzter Blick. Der Mörder murmelte fast lautlos: »Wohin auch immer Du nun unterwegs bist, ich wünsche Dir eine gute Reise. Nimm‘ es nicht persönlich, das ist es nicht. Das Ziel ist jemand anderes. Das werde ich treffen. Du warst nur das Haut d’oeuvre.«

Als letzte Ehrbezeugung stimmte er, misstönend und verhalten, die ersten Takte des alten irischen Volksliedes It‘s a long way to Tipperary, it‘s a long way to go... an und verschwand zwischen den Bäumen. Nicht ohne einen unscheinbaren, angelaufenen Plastikbeutel gezielt unter die vermoderten Blätter zu schieben. Blutige Schlieren aus den vielfachen Verletzungen färbten das Wasser der kleinen Bucht rot. Die leichte Strömung ließe diese bald verlaufen. Die Steine am Ufer waren ebenfalls blutig gefärbt. Der rote Lebenssaft verfärbte sich bereits dunkel. In wenigen Tagen würden die Spritzer höchstens noch als schwarze Flecken zu sehen sein.

Kapitel 4

24. Mai 2022

Anwesen Epple, Adelberg

Annabelle stand auf der Terrasse und beobachtete, hinterhältig grinsend, ihren Göttergatten Rick. Offenbar der Verzweiflung nahe, versuchte er seit einer Stunde den alten Aufsitz-Rasenmäher in Gang zu bekommen. Gottfried, den Golden Retriever, hatte Annabelle in weiser Voraussicht in einem günstigen Moment am Halsband gepackt und am schweren Fuß eines Sonnenschirms angeleint. Man konnte nie wissen, was dem Kerl in den Sinn kam, sobald er sein Herrchen im Garten hantieren sah. Gegen dessen nachdrücklich und dramatisch vorgebrachten Protest. Der Hund bemerkte, dass ihn niemand beachtete. Dass ihn niemand aus seiner misslichen Situation befreien würde. Zutiefst beleidigt legte er seinen Kopf auf die Vorderpfoten. Regelmäßig prüfte er aus einem halbgeöffneten Auge die Lage und tat ansonsten so, als ob er tief schlafen würde.

Manchmal sprang der in Ehren ergraute Rasenmäher kurz an. Tuckerte qualmend vor sich hin. Jedes Mal, wenn Rick auf das altersschwache Gefährt aufgestiegen war und seine Sitzposition gefunden hatte, machte ihm die alte Mühle einen Strich durch die Rechnung und starb mit seltsam spotzenden Geräuschen ab. Nach dem dritten Mal sprang er wutschnaubend herunter. Stolperte dabei über den Benzinkanister, der direkt neben der Maschine stand. Er kam mit weit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken zu liegen und rappelte sich mühsam auf. Mit ausladenden Schritten spurtete er zum Geräteschuppen und kam kurz darauf mit einem Vorschlaghammer wieder zurück. Es war klar, wonach ihm der Sinn stand. Sonst ein Gemütsmensch, den fast nichts aus der Ruhe brachte, dieser Rasenmäher schaffte es regelmäßig. Er holte mit dem mehr als zehn Kilogramm schweren Werkzeug aus. Schwang es wie eine Big Berta[Fußnote 1] aus dem Golfsport über den Kopf. Rick unterschätzte die Kombination aus Beschleunigung und Gewicht, die ihm den Hammer mit Schwung aus den Händen riss und ihn meterweit fliegen ließ. Bevor er auf dem Allerwertesten landete, schlug das schwere Werkzeug bereits eine unansehnliche, tiefe Kuhle in den gepflegten Rasen. Einzelne Grassoden flogen bis auf die Terrasse. Ein Greenkeeper[Fußnote 2] wäre in Tränen ausgebrochen. Das war eindeutig zu viel! Er gab der abgesoffenen Maschine einen Tritt und fluchte, entgegen seiner üblichen, gewählten Ausdrucksweise: »Dann nicht! Soll der Rasen einen Meter hochwachsen! Mir egal!«

An den Rasenmäher gerichtet setzte er hinzu: »Nicht mit mir, Kollege, nicht mit mir. Das kannst Du Dir merken. Wenn Du einen Dummen suchst, bist Du bei mir genau richtig. Das war‘s für dich. Schluss! Aus! Ende! Endgültig.«

Die slapstickartige Szene war für Annabelle zu viel. Ihr Gelächter schallte über das Anwesen. Rick fuhr herum und wollte einen bissigen Kommentar abgeben. Das immer noch glockenhelle Lachen seiner Angetrauten ließ seine Wut augenblicklich verrauchen. Er stimmte in Annabelles Lachen ein und brummelte vor sich hin: »Ist doch wahr. Da gibt man ein paar tausend Euro für die Kiste aus und was ist? Nichts ist! Alles im Eimer!« Annabelle lachte immer noch und erwiderte prustend: »Von wegen tausende von Euro. Das Ding hat gerade mal 1.200 Mark gekostet. Vor 30 Jahren.«

»Quatsch, Belle. Ich habe die Mistkarre doch erst vor ein paar Jahren gekauft. Die Deutsche Mark war da längst 㼀Geschichte.«

»Vor ein paar Jahren? Mein lieber Rick, langsam mache ich mir wirklich Sorgen um dein Erinnerungsvermögen. Außerdem hat die Karre bis vor zwei Jahren einwandfrei funktioniert … bis Du versucht hast, sie zu reparieren. Wird langsam Zeit für einen Neuen. Rasenmäher, meine ich natürlich.«

Wohlwissend, dass sich Ricks Talent für Reparaturen aller Art in sehr engen Grenzen hielt, setzte sie schelmisch grinsend hinzu: »Du könntest auch versuchen, ihn nochmals zu reparieren. Wer weiß ...?«

Er warf einen imaginären Stein nach seiner besseren Hälfte und stürmte mit wehenden Haaren auf die Terrasse. Dort umarmte er sie, gab ihr einen Kuss und sagte außer Atem, wieder der alte Rick Epple: »Heute nicht mehr. Das war zu viel für mich. Muss mich ein bisschen schonen, bin ja nicht mehr der Jüngste.«

In diesem Augenblick hörten sie, wie jemand den linken, leicht quietschenden Flügel des schmiedeeisernen Tores aufdrückte. Gleichzeitig schauten die beiden nach unten zur Auffahrt. Neugierig, wer da kommen mochte. Alle aus dem Dorf waren willkommen, es gab aber nur ganz wenige Leute, die das Grundstück ohne direkte Einladung betreten würden. Einen Wagen hatten sie nicht gehört. Rick sah den Besucher 㼀zuerst, der auf dem Weg zur Terrasse war. »Klem«, rief er heiter, »was führt dich zu uns? Freundschaftsbesuch oder schlechte Nachrichten?«

An der untersten Treppenstufe stand ihr Freund, der ehemalige Hauptkommissar Klemens Maier. Seit seiner Pensionierung vor einigen Wochen hatte er sichtbar an Gewicht verloren. Er hatte sich offenbar noch nicht in sein Leben als Pensionär eingefunden und schien nur unregelmäßig zu essen. In jedem Fall unzureichend.

»Annabelle! Rick! Freut mich, euch zu sehen«, antwortete er lächelnd, »tja, wenn ich das wüsste. Von beidem etwas, denke ich.«

»Komm‘ herauf, Klemens und setz dich hin«, sagte Annabelle, »ich habe noch etwas von meinem Gulasch im Kühlschrank, das mache ich Dir warm. Du musst was essen, Mann. Du fällst demnächst von den Knochen. Das ist nicht verhandelbar! Wie viel hast Du abgenommen, seit Du im Ruhestand bist? Sag‘ jetzt nicht, dass es kaum etwas gewesen ist.«

Klemens Maier, der maßgeblich daran beteiligt war, dass der Mord an ihrer Freundin Claudia aufgeklärt, wenn auch juristisch nicht gesühnt werden konnte, ließ sich in einen Stuhl fallen und lehnte sich zurück.

»Zwölf, dreizehn Kilo werden es sein. Das ist vollkommen in Ordnung. Zehn Zentimeter zu klein bin ich leider immer noch.«

»Nein, ist es nicht«, erwiderte Annabelle mit Nachdruck, »nicht in drei Wochen. Das weißt Du. Du isst jetzt den Gulasch bis zum letzten Bissen. Vorher verlässt Du dieses Grundstück nicht. Punkt!«

Sie ging ins Haus und kam nach fünfzehn Minuten mit einer dampfenden Schüssel zurück. Gegen dessen Protest schaufelte sie ihrem Freund eine riesenhafte Portion auf den Teller. Schwäbische Spätzle in sämigem Gulasch mit Paprikastreifen, Zwiebeln und jeder Menge Fleischstücken. Der Duft war unbeschreiblich. Klemens begann zu essen, dann schlang er das Gulasch hinunter.

»Also, mein lieber Ex-Kommissar Klemens«, fragte Annabelle drängend, nur Rick nannte ihn Klem, »woran liegt es?«

»Woran liegt was? Ich verstehe nicht.«

»Oh doch, mein Lieber! Du weißt, was ich meine.«

»Du hast ja Recht«, räumte er maulend ein, »im Ernst, ich habe keine Ahnung, weshalb ich selten Appetit habe. Die Tage sind einfach zu lang. Vorher zehn, manchmal zwölf oder mehr Stunden im Büro oder draußen. Jetzt habe ich vierundzwanzig Stunden Freizeit täglich, in denen ich nicht weiß, was ich mit mir anfangen soll. Tasse Kaffee, Zeitunglesen und dann«?

»Daran werden wir arbeiten«, versprach Annabelle. Es hörte sich eher wie eine Drohung an.

Inzwischen war Rick wieder zurück. Umgezogen. Er trug die obligatorischen schwarzen Jeans samt T-Shirt und hatte Annabelles letzten Satz gehört. »Woran wollt ihr arbeiten?«

»Daran, dass Klemens sich einen regelmäßigen Tagesablauf angewöhnt. Daran, dass er regelmäßig isst. Und daran, dass er sich eine Beschäftigung sucht. Von mir aus kann es auch eine Sinnlose sein, mit irgendetwas muss er sich beschäftigen.«

»Äh, Annabelle«, versuchte sich Klemens an einem Widerspruch, »Du hast bemerkt, dass ich anwesend bin?«

»Hab‘ ich, ja. Das spielt keine Rolle. Nicht mehr. Du hast vorläufig Sendepause. Jetzt sage ich Dir, was Du tun wirst. Auch das ist nicht verhandelbar.«

Aus langjähriger Erfahrung wusste Rick genau, dass keiner die kleineste Chance zum Widerspruch hatte, wenn Belle in diesem Ton mit ihm redete.

Was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, würde geschehen. Zweifellos. Klemens sah ihn hilfesuchend an. Rick zuckte mit den Schultern und ließ wortlos durchblicken, dass jeder Widerrede sinnlos und indiskutabel war.

»Und was werde ich tun?«

»Beginnen wir mit dem einfachsten Punkt. Zum nächstmöglichen Termin wirst Du umziehen. Zu uns in die Einliegerwohnung und in Zukunft dort wohnen. Deine jetzige Wohnung kündigst Du umgehend. Nicht verhandelbar!«

»Aber … ich ... ääh«, stotterte er hilflos herum, »ich … äääh … Annabelle, Du weißt, dass ich mir eure Wohnung nicht leisten kann. Meine Beamtenpension ist ausreichend, aber diese Wohnung ist nicht drin.«

»Weiß ich«, erwiderte sie mit einem flüchtigen Seitenblick zu Rick, der zustimmend nickte, »dennoch wirst Du hier wohnen. So weit kommt es noch, dass wir von einem Freund Miete verlangen. Du weißt, dass Du ansonsten über kurz oder lang vor die Hunde gehst?«

»Nein«, versuchte Klemens erneut zu widersprechen, »das kann und werde ich nicht annehmen! Niemals!«

»Schön, dass wir uns auf Anhieb verstehen. Wann ziehst Du ein?«

Er ließ resignierend die Schultern hängen und bat Rick fast flehend: »Hilf‘ mir doch! Das geht doch nicht. Ich kann doch nicht ...«

Annabelle schoss einen Blick auf ihren Göttergatten ab, der diesem unmissverständlich zu verstehen gab, dass er sich herauszuhalten habe. Wieder zuckte Rick mit den Schultern. »Vergiss‘ es, Klem. Zum einen wollen wir Dir wirklich helfen und zum anderen…«, er machte eine Pause, »... Du kennst Belle zwar noch nicht so lange wie ich, solltest aber wissen, dass in dieser Angelegenheit das letzte Wort gesprochen ist.«

»Und meine Möbel? Was ist mit meinen Möbeln?« lamentierte er weinerlich.

Jetzt kam Annabelle erst richtig in Fahrt. Sie kannte Maiers Wohnung. Wusste, wie er eingerichtet war und erwiderte: »Klemens, was Du Möbel nennst, ist mindestens dreißig Jahre alt und wird im besten Fall vom Furnier zusammengehalten. Der einzige Gegenstand in deiner Wohnung«, sie malte Anführungszeichen in die Luft, »der brauchbar wäre, ist der Billardtisch. Der Rest ist reif für den Sperrmüll. Außerdem ist die Einliegerwohnung komplett ausgestattet. Billardtisch haben wir auch einen. Wann ziehst Du um?«

Er hatte verloren und er wusste es. Insgeheim freute er sich auf den Umzug, denn tatsächlich war seine Wohnung ein trostloses, düsteres Loch im Tiefparterre eines zehn Etagen hohen Wohnblocks in der Südstadt. Nicht zu vergleichen mit den lichtdurchfluteten Räumen im Haus seiner Freunde.

»Na schön«, antwortete er, »Du hast gewonnen. Ich ziehe bei euch ein. Aber nicht mietfrei. Niemals! Das könnt ihr euch aus dem Kopf schlagen. Mit einem Vorschlaghammer! Ich bezahle euch dieselbe Miete wie jetzt. Das ist von meiner Seite aus nicht verhandelbar!«

»Ich habe dich durchschaut, Klemens«, schmunzelte Annabelle, »ich wusste schon bei deinem ersten Protest, dass Du meinen Vorschlag annimmst. Du magst deine Wohnung doch gar nicht. Vermutlich bist Du deshalb Tag und Nacht im Büro gewesen.«

»Annabelle«, protestierte er halbherzig, »das war kein Vorschlag, das war ...«

Rick lachte schallend und erwiderte: »... nein, das war es nicht. Damit hast Du ausnahmsweise recht. Vergiss‘ nicht, Belle ist eine begnadete Psychologin und kann dich lesen wie ein offenes Buch. Du kannst nichts vor ihr geheim halten. Nicht das Geringste. Bevor Du Dir überlegt hast, was Du sagen willst, hat sie es herausgefunden. Und glaub‘ mir, Klem«, ein gefühlvoller Seitenblick zu Annabelle, »ich weiß, wovon ich rede. Ich weiß es seit über vierzig Jahren. Es hat mir nie geschadet. Nicht ein einziges Mal.«

Sie diskutierten noch eine Zeitlang darüber, welche Beschäftigung sich Klemens suchen könnte, kamen jedoch zu keinem Ergebnis. Briefmarken oder seltene Münzen sammeln war ihm zu öde. Golf spielen zu teuer und exklusiv. Radfahren, einem Sportverein beitreten zu anstrengend. An nichts davon war der Ex-Kommissar interessiert. Sie verschoben diesen Punkt bis nach dem Umzug, der in den nächsten Tagen über die Bühne gehen sollte. Annabelle hatte eine Idee in petto, die sowohl Klemens als auch Rick begeistern würde, behielt diese im Augenblick allerdings noch für sich. Darüber konnten sie nach dem Umzug reden. Inzwischen war es Zeit für den bei Epples obligatorischen Nachmittagsimbiss geworden. Maier wusste schon jetzt, dass er die Gesellschaft seiner Freunde genießen würde und sah zu seiner Freude, dass auch Annabelle es bemerkt hatte. Er freute sich unglaublich auf sein neues Leben. Während Annabelle das Geschirr ins Haus trug, raunte er Rick zu: »Mein lieber Rick, Du weißt überhaupt nicht, was für ein Glück Du mit Annabelle hast!«

»Oh doch, Klem«, sagte Rick, »das weiß ich sehr gut.«

In diesem Augenblick kam Annabelle mit einer Flasche Rotwein und drei Gläsern zurück und setzte sich wieder zu den beiden. Sie goss ein und prostete den Männern zu. Klemens fragte, ob sie davon gehört hätten, dass jemand aus ihrem Dorf abgängig sei. Seit über vier Wochen schon.

»Was meinst Du mit abgängig?« fragte Rick begriffsstutzig, »weggezogen oder was?«

»Eher nicht«, erwiderte Klemens, »wenn jemand wegzieht, lässt er kaum seinen achtzigtausend Euro teuren Wagen im Wald stehen.«

»Vermisst also«, jetzt hatte Rick verstanden, »kennen wir den Mann?«

»Keine Ahnung, weiß ich doch nicht, wen ihr alles kennt. Sagt euch der Name Gernot Allinger irgendetwas?«

»Auf Anhieb nicht, nein«, erwiderte Rick, »jedenfalls kein Einheimischer aus dem Dorf. Die kenne ich eigentlich alle. Zumindest dem Namen nach. Andererseits sind in den letzten Jahren viele hierher gezogen, die wir nicht kennen. Wisst ihr Einzelheiten«, fuhr er fort, bevor im einfiel, dass Klemens kein Polizist mehr war, »ich meine, weißt Du irgendetwas?«

»Nein, außer dem Namen und dass sein Wagen unten im Tal aufgefunden wurde, nichts. Ich könnte das eine oder andere herausfinden.«

»Einen Moment, Klem. Allinger? Gernot Allinger?« Rick schlug sich an die Stirn.

»Ja. Weshalb? Kennt ihr ihn doch.«

»Bin nicht ganz sicher. Irgendetwas sagt mir der Name Allinger. Belle, kannst Du dich an jemanden mit diesem Namen erinnern?«

»Lassen wir das für den Moment«, sagte Annabelle, unauffällig gähnend. Auch bei ihr hatte dieser Name etwas geweckt. Sie kam nicht drauf. »Wir können morgen darüber reden. Trinken wir noch ein Gläschen und machen dann Schluss für heute.«

»Gute Idee«, stimmte Klemens zu und trank sein Glas mit einem Schluck aus, »ich fahre dann nach Hause. Wir sehen uns morgen.«

»Vergiss‘ es, Klem«, widersprach Rick, »Du hast zwei Bier und zwei Rotwein. Zuviel, um noch zu fahren. Apropos, ich habe keinen Wagen gehört, als Du gekommen bist. Wo hast Du ihn abgestellt?«

»Drüben auf dem Klosterparkplatz. Ich dachte, ein bisschen Bewegung kann nicht schaden.«

»Das ist über ein Kilometer«, grinste Rick, »Du hast wirklich einen Kilometer zu Fuß zurückgelegt?«

»Du kannst in der Einliegerwohnung übernachten. Es ist alles da, was Du brauchst«, sagte Annabelle unmissverständlich, »selbst ein Pyjama, der Dir passen müsste. Dann kannst Du schon mal sehen, was Dir entgangen wäre. Schlaf‘ gut.«

Sie erhob sich und verschwand im Haus. Rick blieb noch einen Moment sitzen und sagte gedämpft: »Du kennst den Weg. Deinen Wagen holen wir morgen Vormittag.«

Kapitel 5

24. Mai 2022

Anwesen Epple, Adelberg

»Guten Morgen, Schlafmütze«, rief Rick. Er saß seit geraumer Zeit auf der Terrasse. Eine leere Tasse stand vor ihm auf dem Tisch.

»Habt ihr schon gefrühstückt?« nuschelte Annabelle schläfrig, »wo ist Klemens?«

»Nein, haben wir nicht. Ich habe ihn zum Bäcker geschickt. Butterhörnchen holen. Brötchen sind aufgebacken und noch ofenwarm.«

»Er kennt sich im Dorf doch gar nicht aus«, erwiderte Annabelle, »es ein ganzes Stück bis zur Bäckerei.«

»Er wollte mit dem Wagen ins obere Dorf fahren. Den Bäcker findet er schon. Das Dorf ist nicht so groß. Er war Kriminalist. Im unwahrscheinlichen Fall, dass er den Bäcker nicht findet, wer dann?«

»Wenn Du es sagst«, erwiderte sie, stellte sich hinter Rick, umarmte ihn und drückte ihm einen Guten-Morgen-Kuss auf die licht gewordene Haarpracht. Einen feinfühligen Seitenhieb konnte sie sich nicht verkneifen und kicherte: »Ein paar Haare weniger und Du kannst mit dieser Tonsur ins Kloster eintreten.«