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Eine Scheidung, eine Affaire, eine große Liebe. Nach einem Attentat in seinem Stammlokal findet Sebastian May seine große Liebe in der Oberschwester Jinjin Wang. Beide begeistern sich für ein späteres Leben in der Heimat von Jinjin, aber das Schicksal will diesen Weg nicht mitgehen.
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Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2020
Später dannin China …
Später dannin China …
Ein Allgäu-Roman
Memmingen
BHW
Bernd Heinz Werner
2020
© 2020 BHW Bernd Heinz Werner
Verlag und Druck: tredition GmbH,
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN Taschenbuch: 978-3-347-00670-6
ISBN Hardcover: 978-3-347-00671-3
ISBN e-Book: 978-3-347-00672-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Du kannst den Himmel vermessen,berechnen der Erde Gebiet,während das Menschenherz sichallen Berechnungen entzieht.
Chinesische Weisheit.
Schwarze Kühe geben auch eine weiße Milch.
Allgäuer Weisheit.
Danke an meinen Lektor Daniel Sieber, sowie auch an Andreas Jordan und Carlos Yau für die vielen Hilfen bei ebenso vielen Details.
Danke auch an meine immer wohlwollend kritische Renate, die diesen Roman begleitet hat.
Inhalt
Kapitel 1 Ein rationales Ende
Kapitel 2 Ein irrationaler Beginn
Kapitel 3 Wladimir I
Kapitel 4 Wolken am Horizont
Kapitel 5 Dreiseitel
Kapitel 6 Wladimir II
Kapitel 7 Augsburg, konkret
Kapitel 8 Strelzow kommt
Kapitel 9 Die Kür
Kapitel 10 Wladimir III
Kapitel 11 Die Begegnung
Kapitel 12 Eine späte Liebe
Kapitel 13 China, Sichuan, Heimat
Kapitel 14 Der Familienschrein
Kapitel 15 Glück und Glas …
Kapitel 16 Ein zu frühes Ende
Kapitel 17 Im Taumel der Ereignisse
Kapitel 18 Eine letzte Mission
Kapitel 19 Zwei auf ihrem letzten Weg
Kapitel 20 Ein Abschied für immer
Nachwort
Vita
Kapitel 1
Ein rationales Ende.
Wie er aus dem Haus geht, wirft er noch kurz einen Blick auf seine Armbanduhr, es ist zehn vor zehn, das könnte gereicht haben. Zwischen neun und zehn kommt immer der Briefträger, das müsste dann heute bereits geschehen sein. Er geht in alten Hausschlappen, es wird ihn schon niemand sehen, ist aber sonst für den Samstag schon angezogen. Für den Samsag eben, also nicht für das Büro, dementsprechend etwas lässiger. Er trägt Jeans, die deutlich zu tief für sein Alter im Gesäß hängen und eines von diesen schwarzen Baumwollshirts, die er immer im selben Geschäft kauft. Da kennt er sich aus, gute Qualität bei mittlerem Preis, das reicht ihm. Aus den früheren, deutlich modischeren Ansprüchen ist er inzwischen heraus, auch gegen sich selbst. Und gerade heute schon gleich zweimal, es ist ihm heute vieles einfach egal, scheiß drauf.
Noch vor ein paar Wochen ging es ihm besser, da war seine Welt auch noch einigermaßen in Ordnung. Das ist jetzt anders, er sieht in den Himmel hinauf. Das Wetter an diesem Samstag ist genauso undifferenziert. Es ist Anfang Oktober, der Sommer ist längst vorbei und der Herbst ziert sich. Ein goldener Herbst sieht anders aus, denkt er vor sich hin, gerade hier im Vorallgäu. Die Morgennebel lösen sich zäh und erst gegen Mittag auf, seine miese Stimmung gar nicht. Früher war alles besser, gar alles.
Er geht zum Briefkasten vorne am Gartenzaun, er sieht schon den Werbemüll aus dem Schlitz herausragen. Er schließt den alten, angerosteten Briefkasten auf und sieht sofort den Brief. Schon am Umschlag und am Fenster des Kuverts, in dem er den Absender erkennt, ist ihm klar: Der Brief ist da. Die letzten Tage hatte er schon auf ihn gewartet, vergeblich. Immer, wenn er abends nachhause kam, schaute er nach, denn er wusste, dass da noch etwas auf ihn zukommen würde, zumindest im Großen und Ganzen, Details mal außen vorgelassen.
Sebastian May arbeitet nun schon seit mehr als zwanzig Jahren bei der Stadt Memmingen und leitet dort inzwischen das Referat Stadtplanung, von Beruf ist er Dipl. Bauingenieur. Daneben ist er noch Stellvertreter von Adalbert Dreiseitel, dem Behördenleiter des Gesamtreferates 5 Bauwesen. Dreiseitel untersteht auch der Bereich Hochbau, in diesem Bereich arbeitet Sebastian mit Dreiseitel bei bestimmten Projekten eng zusammen.
Dreiseitel schickt ihn immer dann an die Front, wenn es unangenehm werden könnte, wenn Presseleute anrufen oder auch schon da sind, und zu einem spezifischen Thema eine Auskunft haben möchten.
Immer geht es dabei nur um politische Themen, kaum um bautechnische Angelegenheiten. Dreiseitel weiß, dass sich Sebastian ganz gut verkaufen kann, dass er intelligent ist und durchaus auch witzig sein kann. Das hilft ihm sehr oft, um aus engen und unangenehmen Diskussionen einen Weg in seichtere Gefilde zu finden.
Diese Position war zwar nie das erklärte Ziel Sebastians gewesen, aber es hatte sich eben im Laufe der Jahre so ergeben. Ein ordentliches Gehalt, dazu ein verhältnismäßig sicherer Arbeitsplatz, das hatte ihn schon überzeugt und schlussendlich bislang auch davon abgehalten, an Veränderungen beruflicher Art zu denken.
Er ist jetzt 52 Jahre alt, im Juni kommenden Jahres wird er 53, da fängt man nichts Neues mehr an, beruflich zumindest. Privat hingegen sieht er schwierige Veränderungen auf sich zukommen, das bedrückt ihn schon. Nicht so sehr die Schwierigkeiten selbst, sondern vielmehr die noch nicht erkennbaren, alternativen Folgerungen, welche sich aus diesen Veränderungen ergeben werden. Das legt sich bleiern auf seine Schultern, dieser Ballast bedrückt ihn und seinen Atem, er verspürt zunehmend diese Last, das ist ihm unangenehm.
Jetzt, wo er den Brief in der Hand hält und zum Haus zurückgeht, schlägt die Kirchturmuhr zehn. Das Leben außerhalb der Stadt in dem überschaubaren, ländlichen Vorort Memmingerberg ist für ihn der Ausgleich zu seinem beruflichen Leben mitten in der Stadt, da genügen ihm schon immer die Wochentage im Bauamt.
Den ganzen Tag über Besprechungen und Sitzungen, Abstimmungen mit Kollegen und Mitarbeitern, auch aus anderen Dezernatsbereichen. Und Protokolle, immer wieder Protokolle und dann noch die Rücksprachen. Solche, die er selbst führen möchte, oder aber andere, die sich an ihn richten. Viel an Kreativität für intelligente Planungsarbeiten selbst bleibt da nicht übrig. Der Job verwaltet ihn, und wenn er ehrlich zu sich ist, belastet ihn das schon lange. Er liebt visionäres Planen und weniger die bürokratische Alltagsarbeit.
Darunter hatte auch sein Privatleben stark gelitten. Viel zu viel Routine, viel zu viel Alltag, viel zu wenig Ausbruch aus den eingefahrenen Geleisen und viel zu wenig Aufbrüche, hin zu neuen Möglichkeiten.
Das mittelgroße Haus haben er und seine Frau Katharina, die sich immer gerne als Ina ansprechen lässt, nunmehr schon seit ihrer Heirat angemietet. Früher hatte hier ein Landarzt viele Jahre eine Praxis betrieben und dort auch selbst gelebt. Nach dessen plötzlichem Tod wollte keiner der Erben das Haus selbst nutzen, aber dann auch wiederum nicht verkaufen, es sollte zunächst erhalten bleiben und vermietet werden. Und die Vermieter versprachen sich einiges von einem Mieter, der sich in Bausachen auskennt, da kann vieles selbst gerichtet oder zumindest fachkundig vergeben werden.
Aber in all den Jahren, es sind inzwischen schon sechzehn an der Zahl, hatte Sebastian lediglich kleine Reparaturen selbst vorgenommen. Zum Mietbeginn hatten beide noch die Überlegung gehabt, das Haus vielleicht später doch noch zu kaufen. Es liegt sehr angenehm, von der Hauptstraße etwas zurückversetzt, eine ziegelgedeckte Garage ist direkt an das Haus angebaut und es gibt ein kleines Holzpodest im Garten unter den Apfelbäumen, den „Tanzboden“, wie Katharina immer sagt. Diesen „Tanzboden“ nutzten beide als Freisitz an warmen Tagen. Aber solche Tage gab es in letzter Zeit immer weniger, weniger wegen des Wetters, vielmehr wegen ihrer doch sehr abgekühlten Beziehung. Die Ehe der beiden durchlebte in den letzten Monaten einen Spätherbst der Gefühle. Beide spürten, dass es dem Ende der Verbindung entgegen ging.
Das Laub hatte schon begonnen, sich zu verfärben und jeden Tag fiel mehr davon ab, das Gras im Garten ist bereits vom Laub zugedeckt und wenn der Wind bläst, wirbeln die Blätter durch die Luft und sammeln sich in den Ecken zu kleinen Häufchen. Wenn man dann das Laub längere Zeit so liegen lässt, beginnt es unten bereits zu faulen, dann wird die Entsorgung schwieriger. Das gibt für ihn dieses Jahr auch noch viel Arbeit, murmelt er vor sich hin, jetzt, wo er allein in dem Haus wohnt, ganz allein.
Er öffnet die Haustür und betritt den Flur. Halt: Schlappen abstreifen, hört er unbewusst Katharina ihm zurufen, wie wenn sie da wäre. Aber sie ist vor etwa drei Wochen komplett ausgezogen. Das war Mitte September gewesen, wie die Zeit vergeht. Aber sie war schon seit einem Jahr nicht mehr bei ihm, sie hatte sich eine kleine Wohnung angemietet und kam nur noch gelegentlich zu Sebastian nach Memmingerberg.
Nicht dass ihn ihr Auszug wirklich überrascht hatte, aber dann doch wiederum schon, just in dem Moment, wo es eben so weit war. Die letzten beiden Jahre waren von schwindender gegenseitiger Sympathie geprägt gewesen. Von Liebe zu reden, hieße die deutsche Sprache zu verdrehen. Man hatte sich zwar immer gegrüßt und sich höflich nach dem Ergehen des anderen erkundigt, aber bei der immer gleichen Antwort schon nicht mehr zugehört. Die Luft in ihrer zwischenmenschlichen Beziehung war entwichen, neue Luft kam nicht mehr hinein und so war es zu erwarten gewesen, dass es zu einem Ende kommen musste.
Nach dem Öffnen des Umschlages ist es dann auch klar. Seine Frau Katharina will jetzt die Scheidung, eine Anwältin hat die rechtliche Vertretung übernommen und bietet ihm in der Kanzlei Dr. Molfenter & Kollegen in Memmingen am Weinmarkt einen noch zu vereinbarenden Gesprächstermin an. Man wolle zunächst versuchen, eine gütliche Einigung zu erreichen und einen unnötigen Streit vermeiden.
Gut, Kinder hatten beide nicht, das Haus war gemietet, es waren keine größeren Vermögenwerte vorhanden. Beide hatten ein Auto, er einen BMW 5erTouring, sie einen Mini, beide vom selben Autohaus und beide Fahrzeuge waren schon ziemlich gebraucht, so wie ihre Ehe eben auch. Eine korrodierende Ehe, an vielen Stellen Rostansätze, überall abgenutzter und spröder Lack.
An einer Fortführung seiner Ehe war Sebastian auch nicht wirklich interessiert, schon gar nicht nach den Vorkommnissen in den letzten zwölf Monaten. Da hatte er viele persönliche Erniedrigungen, aus seiner Sicht auch Beleidigungen, hinzunehmen gehabt. Einen Hass auf seine Katharina empfindet er aber trotzdem nicht, vielmehr aber eine große Gefühlsleere. Manchmal dachte er sich, dass ein Hass auf Katharina vielleicht besser, weil praktischer, wäre, allein, er stellte sich nicht ein. Sein apathischer Gemütszustand war nicht mehr in der Lage, so viel an Energie aufzubringen, um ein Hassgefühl gegenüber Katharina entstehen zu lassen.
Eine große Entmutigung für ein positives Leben hatte ihn ergriffen, er spürte, dass er mehr dahinvegetierte als dass er wirklich lebte. Dieses letzte Jahr hatte ihm eine Menge an Energie geraubt, sein bedrückender Zustand kam nicht von ungefähr.
Dazu kam, dass vor zwei Jahren nach einer Routineuntersuchung bei seinem Hausarzt plötzlich ein erhöhter PSA-Wert festgestellt worden war. In früheren Jahren war er sportlich immer gut unterwegs gewesen. Natürlich war Skifahren im Allgäu Pflicht und die Skipisten lagen ja schließlich vor der Haustür. Alle seine Freunde und auch deren Mädels waren im Winter ständig auf den Pisten gewesen, sei es am Fellhorn, am Iseler, am Grünten, oder sonst irgendwo in Tirol.
Doch seine Katharina fuhr nicht Ski, das lehnte sie ab, so sportlich war sie nicht. Also genoss Sebastian allein mit seinen Freunden die Skifreuden. Katharina war schon immer etwas introvertiert und versank ständig wieder in ihren Büchern. Lesen und immer wieder nur lesen, und dann auch noch immer über das Leben anderer, anstatt das eigene selbst in die Hand zu nehmen und am Leben aktiv teilzunehmen. Darüber gab es immer wieder heftige Auseinandersetzungen zwischen den beiden und später auch den mehr oder weniger vorprogrammierten Streit.
Aber auch im Frühjahr und Sommer war es keinen Deut besser. Sebastian hielt sich in diesen schönen Jahreszeiten mit Radfahren fit, Katharina versank stattdessen in ihren Büchern, ihr Verhalten hatte fast schon etwas Provozierendes an sich. Sebastian hielt ihr bis zuletzt zwar immer noch zugute, dass sie von Beruf schließlich Buchhändlerin war und in einer bekannten Buchhandlung in Memmingen arbeitete, wahrscheinlich wird man da so.
Sebastian hielt sich selbst grundätzlich für gebildet, aber Bücher in Romanform waren nicht gerade sein Gebiet. Über solche Romane dann noch zu sprechen, fiel ihm schwer, er bekam keinen Zugang zu diesem geistigen Metier. Wenn schon Bücher, dann bevorzugte er Bücher mit Themen wie Architektur, Design, Städteplanung oder Materialverwendung. Aber, um über eine solche spezifische Fachliteratur zu reden, fehlte Katharina wiederum die Basis, also gab es schon lange keine gemeinsamen Gesprächsthemen mehr. Vielleicht gerade eines noch, das Kochen.
Gemeinsam kochen und das Gekochte dann auch gemeinsam verzehren, das war wie ein Wurmfortsatz aus guten Zeiten hängengeblieben. Beide suchten ständig neue Rezepte. Sebastian ging mit dem Einkaufszettel auf den Wochenmarkt oder in den Supermarkt, er liebt die diversen Kochvorbereitungen, wenn alle Zutaten geschnitten werden müssen. Zu Beginn des Kochvorganges mussten zuerst in breiter Front sämtliche Zutaten laut Rezept auf dem Tisch liegen, ebenso auch alle Gewürze und alle Pfannen und Töpfe. Er war auch hier ein Planer und Vorbereiter.
Dann kochten beide gemeinsam, man hatte sich auf den ersten Samstag im Monat geeinigt, aber es gab immer öfter lautstarke Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Garzeiten und der Gewürzmengen und überhaupt.
Diese gemeinsame Kocherei ging einige Zeit noch gut, bis vor etwa einem Jahr. Dann wurden beide plötzlich sehr dünnhäutig und nahmen jede Gelegenheit wahr, dem anderen ständig Vorhaltungen zu machen, nur um dabei selbst Recht zu bekommen. Es wurden ständig Argumente von allen bekannten Starköchen herangezogen, von Lafer über Schuhbeck und Wohlfahrt bis zu Henssler, aber es ging immer nur darum, selbst Recht zu bekommen und dabei den anderen schlecht aussehen zu lassen.
Diese Art von Kochen war nicht mehr besonders schön, es lief dann auch aus und an den Wochenenden, wo sonst immer die Kocherei gewesen war, aß jeder irgendetwas für sich und vor sich hin, oder man kam erst gar nicht mehr zusammen.
Dafür nahm der Weinkonsum ganz erheblich zu. Sebastian bevorzugte halbtrockene Weißweine, Katharina erwischte er immer häufiger bei einem preisgünstigen Allerweltrotwein und gelegentlich bei einem Eierlikör, dem „Betthupferl“, wie sie es immer bezeichnete.
Ins Bett hüpfen, zumindest gemeinsam, fand ohnehin nicht mehr statt. Der Grund war damals Katharinas einsame Entscheidung gewesen, getrennte Schlafzimmer einzurichten. Anfangs noch von Katharina mit ihrer logischen Schläue so erklärt, dass sie in ihrem Schlafzimmerchen gerne noch vor dem Einschlafen ungestört in einem Buch lesen wolle. Bei einer Buchhändlerin konnte man das verstehen, aber Sebastian ahnte bereits einen anderen Grund, und als eine zwangsläufige Folge dessen kam dann ja auch der Auszug.
Das Ergebnis der Untersuchung beim Hausarzt hatte zur Folge, dass dieser Sebastian zur weiteren Beobachtung zu einem Urologen überwies, zu Dr. Jakob Niederegger. Dr. Niederegger war ein bekannter Urologe in Memmingen. Die dort durchgeführten Untersuchungen ergaben aber alle acht Wochen steigende Werte und so kam der Zeitpunkt, an dem Dr. Niederegger zwangsläufig die Entnahme von Gewebeproben als letzte Möglichkeit einer exakten Diagnose sah. Von den fünf entnommenen Proben stellten sich dann zwei als harmlos, aber drei als „positiv“ und damit als gefährlich heraus.
Bei Männern ab einem gewissen Alter, und Sebastian war schon in so einem Alter, ist ein Prostatakrebs eine unangenehme und auch gefährliche Erkrankung. Selbst lange völlig schmerzfrei, arbeitet er sich in die Breite, streut aggressiv und führt bei zu später Behandlung dem Tode entgegen. Sein Urologe Dr. Niederegger, mit dem er inzwischen ein freundschaftliches Männerverhältnis begonnen hatte, stellte ihn bei seinem letzten Besuch deshalb auch vor die Frage:
„Herr May, ich erkläre Ihnen heute einmal, welche Behandlungsalternativen wir haben. Nun, wir können den Feind in Ihnen bekämpfen. Da gibt es die Möglichkeit einer sogenannten Chemotherapie, einer Strahlentherapie oder eine Mischung aus beiden. Wir können aber auch Ihren Feind aus Ihrem Körper entfernen, also herausoperieren, was ich bevorzugen würde. Ich kenne da einen guten Spezialisten in einem Nachbarkrankenhaus, da könnten Sie mit gutem Gewissen und Vertrauen die Operation vornehmen lassen.“
Sebastian war unschlüssig, daher fragte er sicherheitshalber nochmals nach.
„Wenn ich mich zur Operation entschließen sollte, Herr Dr. Niederegger, habe ich dann noch Nachwirkungen zu befürchten? Ich meine, ist nach der Operation alles wieder gut oder brauche ich dann noch weitere Zusatzbehandlungen?“
Die Antwort von Dr. Niederegger ergab bei Sebastian einerseits eine Zuversicht, andererseits aber eine große Ernüchterung.
„Wissen Sie, Herr May, in Ihrem jetzigen gesundheitlichen Zustand ist die reine Operation kein wirkliches Risiko. Das Krebsgeschwür in Ihrer Prostata ist noch verhältnismäßig klein, es liegt noch innerhalb des Organs und eine Streuung dürfte noch nicht erfolgt sein. Die Prostata wird also möglichst vorsichtig herausgeschält, aber der Arzt muss dabei versuchen, die darum liegenden Nervenzellen nicht zu beschädigen. Dazu müssen Sie wissen, dass gerade diese Nervenzellen maßgebend für die männliche Erektion sind.“
Sebastian ahnte bereits, was jetzt kommen würde. Er runzelte die Stirn und sah Dr. Niederegger ins Gesicht.
„Sagen Sie, Herr Dr. Niederegger, was passiert, wenn bei der Operation diese Zellen dann doch in eine gewisse Mitleidenschaft gezogen werden?“
„Ja, das ist das Problem, denn das erkennt man erst während oder sogar erst nach der Operation. Danach haben Sie dann zwar einen PSA-Wert von Null und damit ist die gesundheitliche Gefahr weg. Wenn Sie sich aber Gedanken hinsichtlich Ihres zukünftigen Geschlechtslebens machen sollten, dann gibt es natürlich noch diverse Gymnastikanwendungen und eben auch die „blaue Chemie“, Sie wissen, was ich meine, Viagra-Tabletten oder andere eben. Die helfen heute vielen Männern ab einem gewissen Alter, aber der Sex verändert sich dadurch natürlich grundsätzlich. Von der früheren Spontaneität wird nicht mehr viel übrigbleiben, Sex mit der Partnerin muss dann mehr organisiert werden.“
„Wie meinen Sie das, Herr Doktor?“
„Na ja, Sie brauchen eine gewisse Vorlaufzeit, bis das Medikament zu wirken beginnt. Es muss zwischen Ihnen beiden dann schon abgesprochen werden, wann man es macht, verstehen Sie?“
„Nein, noch nicht ganz.“
„Ein vertrauliches Gespräch mit Ihnen und Ihrer Frau Katharina wäre die Voraussetzung, damit Sie beide die Sache verstehen und darauf richtig reagieren. Sex können Sie, das sage ich Ihnen hiermit zu, immer noch haben. Er wird sich aber geregelter, weil geplanter, abspielen. Ich schlage Ihnen vor, dass wir nach der Operation und Ihrer Heilung in meiner Praxis zusammen mit Ihrer Gattin ein vertrauliches Gespräch führen. Ich kann dann Ihrer Frau Katharina im Einzelnen mögliche Hilfen und Tipps geben. Ein gegenseitiges Vertrauen wäre dabei natürlich Voraussetzung.“
Sebastian May traf der Blitz. Er und Katharina, sie schlief schon nicht mehr in dem gemeinsamen Schlafzimmer, beim Urologen in einem Gespräch, in dem es um Sex gehen sollte. Also um gemeinsamen Sex und um Anleitungen zum Geschlechtsverkehr, wo sie ohnehin schon kaum miteinander sprachen. Solch ein Gespräch konnte er sich nicht vorstellen, da würde er vor Scham im Boden versinken. Das war für ihn kein guter Vorschlag.
Nein, das geht nicht, überhaupt nicht, so etwas möchte ich nicht, kapiert das denn der Niederegger nicht? Ist doch nicht so schwer zu verstehen. Sebastian verließ deprimiert die Praxis.
Zwei Wochen später rief Dr. Niederegger bei ihm im Büro an. Er müsse sich jetzt endlich entscheiden.
„Die Zeit drängt, Herr May, und mit so einer Erkrankung spaßt man nicht herum, glauben Sie mir, es muss sein. Eine Woche Krankenhausaufenthalt wird ausreichen, soll ich Sie bei meinem Kollegen anmelden?“
Sebastian willigte am Telefon ein, da er keinen anderen Ausweg aus der Situation sah, denn inzwischen wusste er auch, dass sowohl die chemischen Behandlungen wie auch eine Strahlentherapie vergleichbare Schädigungen an den Nervengeweben hervorrufen können.
Ein OP-Termin wurde ihm auch telefonisch mitgeteilt, in zehn Tagen solle er einrücken, die schriftlichen Unterlagen würde er noch von dem ausgewählten Krankenhaus erhalten.
Als dann der Brief des Krankenhauses eintraf, hatte Katharina, die zufällig wieder einmal im Hause war, diesen schon aus dem Briefkasten geholt und ihm ungeöffnet hingelegt. Aber Sie hatte natürlich durch den Absender, das ausgewählte Krankenhaus in Sonthofen, erkannt, dass Sebastian sich wohl einer operativen Behandlung zu unterziehen hatte. Also fragte Katharina:
„Sag mal, Basti“, sie sagte immer Basti, wenn sie etwas verniedlichen wollte, „was ist denn los mit dir? Musst du ins Krankenhaus? Du hast mir zwar mal erzählt, dass du bei einem Urologen bist und dass du irgendeinen Blutwert hast, der zu hoch ist, aber mehr hast du mir nicht erzählt.“
„Wir reden später drüber, ich brauche jetzt erst ein Glas Wein.“
„Ist es schlimm?“ Die Frage hörte sich sehr allgemein und wenig interessiert an.
„Nee, schlimm nicht, Männersache eben. So, wie ihr Frauen auch eure Problemchen habt, so haben wir Männer unsere.“
Sebastian war angefressen, das ganze Thema war für ihn ein einziger Ärger und Katharina gab sich nicht wirklich interessiert.
„Na gut, dann also später. Du, ich fange gerade ein neues Buch an, mal sehen, ob es mir gefällt. Mein Chef, Alexander Hütter, du kennst ihn ja, hat es mir sehr empfohlen, es geht um eine Trennung nach einer langjährigen Ehe. Viele Frauen machen heutzutage von sich aus Schluss, sie fühlen sich emanzipiert genug, eigene Wege zu gehen. Die heutige Literatur ist voll davon, die Zeiten haben sich total geändert, verstehst du?“
Natürlich verstand Sebastian, aber allem Anschein nach verstand Katharina die eigene Situation nicht, sonst müsste sie doch die Verbindung zwischen dem Zustand ihrer eigenen Ehe und dem Thema des Buches erkennen. Es blieb ihm nur ein Kopfschütteln übrig.
Sebastian trank aus seinem Glas, der Wein schmeckte ihm nicht besonders, vielleicht ändert sich das mit dem zweiten Glas. Es war zehn nach sechs Uhr, Appetit hatte er keinen. Wie kann man auch in so einem Zustand ans Essen denken? Nach dem zweiten Glas Wein wurde er etwas lockerer.
„Ich muss es ihr heute sagen, einfach damit es gesagt ist. Es muss raus, alles, auch das mit dem Sex, vielleicht, je nachdem, wie das Gespräch verlaufen wird. Verdammt, dass gerade mir so etwas passieren muss.“
Er sprach leise mit sich selbst um sich etwas zu beruhigen, der Wein begann ihn ein wenig zu entspannen, er schenkte nochmals nach. Sex war für ihn immer wichtig gewesen und seine Katharina war zumindest zu Beginn ihrer Beziehung auch sehr offen dafür. So zweimal die Woche, mindestens, hatten sie Sex. Im Bett, manchmal sonntags am Morgen, sonst abends, aber auch mal irgendwo, wo es dann schnell zur Sache ging. Vorspiel war zwar notwendig, das hatte er gelernt, war aber nicht so seine Sache, musste halt sein. Tut Katharina erkennbar gut, sie kam dann ganz anders und grunzte wie ein kleines Ferkel. Das gefiel ihm.
Aber mit der Zeit hatte die Lust begonnen, einen abnehmenden Mond um sich aufzubauen, die Libido verkroch sich mehr und mehr und wollte nur noch selten heraus. Da schien es ihm normal zu sein, dass der Sex zwischen ihnen beiden eingeschlafen war. Er hatte sich eine Auszeit genommen, sozusagen. Time out, sagt man im Sport.
„Ina“, er wollte ihr schmeicheln, „könntest du mir jetzt zuhören, wir müssen etwas besprechen, bitte, hörst du mich?“
Katharina kam von nebenan in die Stube, in der einen Hand das Buch und einen halben Apfel in der anderen.
„Erzähl, aber mach es kurz, in dem Buch geht gerade die Post ab, die gehen wild aufeinander los, die Trennung läuft bereits auf vollen Touren. Das war eine gute Empfehlung von meinem Chef, das muss ich ihm gleich morgen sagen, er kennt meinen Geschmack.“
„Also, hör zu, Katharina, und vergesse mal kurz dein Buch. Ich muss kommende Woche ins Krankenhaus nach Sonthofen, die haben eine Spezialabteilung für Prostataoperationen. Weißt du, meine Prostata hat sich einen Krebs eingefangen, der muss raus. Eine Woche Aufenthalt soll ich einrechnen, dann noch eine kleine Nachbehandlung bei meinem Arzt, dann ist es gut und vorbei.“
Katharina las nebenher in ihrem Buch, es musste da wirklich spannend zugehen, sie sah kurz auf. Man sah ihr an, dass sie lieber weiterlesen würde.
„Prostata, aha, das ist doch bei euch Männern irgendwo bei der Blase. Wird herausgenommen, soso, wahrscheinlich nur ein kleiner Eingriff, wird schon gutgehen, ich besuche dich dann mal.“
Die kapiert wieder einmal gar nichts, denkt sich Sebastian, ein Ärger kommt in ihm auf. Weiber sind bisweilen einfach nicht zu verstehen, so, wie jetzt zum Beispiel.
„Ja, aber, so ein Eingriff hat vielleicht Folgen, verstehst du, Nachfolgefolgen, meine ich, und die betreffen dann uns beide. Da hat mir mein Arzt angeboten, dass wir dann gemeinsam bei ihm in der Praxis ein Aufklärungsgespräch führen können, also nach der OP.“
Nun war es heraus, ein gemeinsames Gespräch beim Urologen, er verspürte seinen steigenden Unwillen gegen das, was er da gerade von sich gegeben hatte.
„Jetzt geh erst mal ins Krankenhaus und komm wieder gesund zurück. Dann sehen wir schon, wie es weitergeht, das mit dem Gespräch kann man immer noch machen. Übrigens, das Buch gebe ich dir, sobald ich es ausgelesen habe. Diese Ehe ist hinüber, die ist fertig. Das musst du lesen, du solltest ohnehin mehr lesen, das erweitert den Horizont ungemein, glaube mir.“
Ich brauche keine Horizonterweiterung, verdammt noch mal, dachte Sebastian, was ich brauche ist Verständnis für meine Situation, und auch mehr Zuneigung, oder zumindest Zuspruch, oder Hilfe. Und nach der OP sicher noch viel mehr.
Katherina wandte sich ab und ging wieder zurück. Sebastian hatte auch keine Lust mehr, das Gespräch fortzusetzen, warum auch, es hatte ohnehin alles keinen großen Sinn mehr. Er fühlte sich allein gelassen, der einzige, der seine Situation verstand war wohl Dr. Niederegger
Die OP verlief planmäßig. Schnitt, Entfernung, Nachbehandlung, die üblichen Blasenübungen für das Zurückhalten des Urins usw. Er kam nach neun Tagen wieder nachhause, noch ein wenig geschwächt, die normale Nachsorge bei Dr. Niederegger, dann wieder ins Bauamt. Nur Dreiseitel wusste von der Prostataoperation, für die Kollegen war er in einem Kurzurlaub ohne Ehefrau gewesen, was ohnehin niemanden groß interessierte.
Zu dem vertraulichen Gespräch mit Dr. Niederegger kam es aber nie, denn Katharina hatte seine Abwesenheit benutzt, sich eine eigene kleine Wohnung zu nehmen. Ein paar Möbel hatte sie sich besorgt, ihr Chef, Herr Hütter, dieser blöde Lackaffe, hatte ihr geholfen, die Möbel aufzustellen und das Appartement einzurichten.
„Es ist für mich wie ein Jungmädchentraum, kuschelig und aufgeräumt und ich bin allein, verstehst du, ganz allein und ich kann machen was ich will. Kannst mich ja manchmal besuchen, ich müsste es nur vorher wissen.“
Beide waren auseinander, das war jetzt klar. Zwei einzelne Leben, zwei einzelne Interessensbereiche, zwei Autos, jetzt noch zwei Wohnungen, das gemeinsame Kochen war schon lange eingeschlafen und der gemeinsame Sex ohnehin. Die Luft war jetzt ganz einfach raus, beide hatten einen Plattfuß in ihrer langjährigen Beziehung. Was sollte denn da noch ein Gespräch bei seinem Urologen bewirken? Als er das mit Dr. Niederegger bei seinem nächsten Untersuchungstermin erläuterte, sah dieser seinen Patienten lange und ernst an. Aber dann hatte er Sebastian doch das erste Rezept für eine Packung mit Viagra-Tabletten ausgestellt, man weiß ja nie, meinte Niederegger. In eine Apotheke in der Stadt oder im Ort selbst traute sich Sebastian aber nicht hinein. Leute, die ihn kannten, könnten ihm da eventuell begegnen, das wollte er nicht. Dr. Niederegger kam ihm da sehr hilfreich entgegen:
„Wenn Sie nicht zur Apotheke gehen wollen, kann Ihnen das auch meine Rezeptionistin besorgen, reden Sie mit ihr, die macht das auch für andere Patienten.“
Am nächsten Tag nach Feierabend konnte Sebastian in der Praxis die blauen Hilfsmittel abholen. Versteckt verwahrte er sie im Bad auf und las erst einmal den Beipackzettel und auch die Empfehlungen für eine Anwendung. Auf Nebenwirkungen wurde hingewiesen, ja, muss man halt sehen.
Einmal, und nur zum Versuch, hatte er eine Tablette genommen, aber nichts geschah. Da aber in der Anleitung stand, dass man sein Glied animieren müsse, versuchte er es und zusehends wurde es größer, und, wenn schon mal dabei, machte er weiter und bekam zu seiner Überraschung einen Orgasmus vom Feinsten. Dabei tat es ihm in diesem Moment ganz besonders gut, dass Katharina nicht mit beteiligt war, er hatte zum ersten Mal Sex ohne sie.
Das war die Lösung schlechthin, genauso wollte er es künftig beibehalten, so könnte es gehen. Eine Teilhabe von Katharina an einem gemeinsamen Sexleben schloss er von nun an strikt aus. Es hat sich ausgebumst, liebe Katharina, nix mehr mit Vorspiel, aus und vorbei, basta. Er war selbst überrascht, wie wohl es ihm auf einmal bei diesem Gedanken war.
Dann, vor sechs Wochen, als Sebastian Feierabend machte und nachhause fahren wollte, machte er noch einen kleinen Abstecher in seiner Stammkneipe im Ort, dem Bit am Berg, um mit dem Wirt, der inzwischen sein Freund Michael, genannt Mikel, war, ein Bierchen zu trinken.
Da hatte er schon eine gewisse Vorahnung. Mikel war übrigens der einzige, dem Sebastian von seinem Viagra-Thema erzählt hatte. Es schien, als ob Mikel für ihn Verständnis aufbringen könnte.
Das Bit am Berg war früher einmal in Memmingerberg eine eingesessene, alte Wirtschaft gewesen, dann hörten die Wirtsleute altersbedingt auf und es stand zwei Jahre leer. Es lag am Ende der Bergstraße, die von der Ortsmitte kommt, es gibt eine kleine Baumallee und die Bäume hören direkt am Lokal auf.
Mikel hatte vor einem Jahr, nach seiner Pleite mit seinem Autohaus, versucht, die Wirtschaft zu pachten, was ihm auch gelang. Zum Glück hatte er die alte Einrichtung so gelassen, wie sie war, denn das Geld für neue Möbel hatte er ohnehin nicht. Es waren alte, dunkle Holztische und Stühle, eine schon uralte Theke, ebenfalls dunkel mit viel Messing. Es kamen nur neue, einfache Vorhänge hinein und aufhellende Bilder an die Wände.
Als Biersorte hatte er sich für die Bitburger Brauerei und beim Weizen für das Maiselbräu aus Bamberg entschieden, beide Biere kamen gut an. Es gab kleine Gerichte, meist nur kalte Sachen, Brotzeiten, wie man dazu in Memmingen sagt, und manchmal Weißwürste.
Sebastian verabschiedete sich am Stammtisch und verließ das Bit am Berg. Zuhause angekommen, sah er Katharina vor dem Haus mit ihrem Buchhändlerchef einen Kombi packen. Drei Koffer, eine große Reisetasche, diverse Mäntel und Jacken und noch kleinere Taschen wurden eingeladen, Hütter sah den heranfahrenden Sebastian, verzog etwas sein Gesicht und grinste doof.
Sebastian parkte direkt neben dem Kombi und trat auf beide zu. Katharina unterbrach das Einladen und wandte sich Sebastian zu. Der war sich nicht schlüssig hinsichtlich dem, was da gerade vor sich ging und fragte, wobei er einen leicht ironischen Ton anschlug.
„Hallo, Katharina, du bist ja richtig fleißig, willst du verreisen? Was packst du denn alles ein?“
„Alles, was ich noch brauche, ich hole mir nur meine restlichen Sachen. Die Dinge auf dem Speicher hole ich später mal. Tut mir leid, Basti“ (wieder diese Verniedlichung) „aber ich habe mich vor Wochen nicht nur entschlossen auszuziehen, sondern auch, dich zu verlassen. Wir hatten in letzter Zeit so wenig gegenseitige Zuneigung gehabt, ich glaube, es ist besser, wenn wir das jetzt endgültig regeln.“
Sebastian blieb stehen, das war für ihn in diesem Moment nun doch eine Überraschung. Er runzelte die Stirn.
„Weißt du, was du da tust? So einfach geht aber dann ein Zurückkommen nicht, das muss dir schon klar sein. Du beginnst heute etwas Endgültiges, sind dir die Konsequenzen denn klar?“
„Vollkommen klar, lieber Basti, wir reden einmal in Ruhe über unsere Zeit und über das, was uns in den letzten Jahren abhandengekommen ist. Ich ziehe erstmal zu Alex, ich meine zu Herrn Hütter. In seinem Haus ist eine kleine Einliegerwohnung frei, da habe ich mehr Platz. Alex lebt in dem Haus ganz allein und ich bin dort gut untergebracht, mach dir keine Sorgen.“
Das war es also. Dieser Hütter, dieses Ferkelschwein, hatte seinen Einfluss auf Katharina benutzt, um sie zu sich zu holen, tolle Kombination. Katharina ging auf Sebastian zu und wollte ihn auf die Wange küssen, aber er wich ihr aus und sah direkt in die Augen von Hütter. Der verzog süffisant seinen Mund und zuckte mit den Schultern. Sebastian stand wie angewurzelt da. So war das also, aha, alles vorbereitet, er war zum Zusehen verurteilt.
Viel Glück, konnte er gerade noch denken, aber er brachte es nicht über seine Lippen, dann fuhren beide weg. Katharina winkte noch, irgendwie tat es trotzdem weh. Dann stellte er seinen BMW in die Garage und ging ins Haus, das ab sofort nur noch sein Haus war.
In den folgenden Tagen telefonierten beide miteinander. Das Telefon ist in solchen Situationen wohl das bessere Medium, man sieht sich nicht und kann so eigene Gefühle verstecken. Aber in allen Telefonaten wurde klar, die Trennung war endgültig, die Scheidung sollte jetzt der nächste Schritt sein.
„Du hörst von meiner Anwältin, es sind doch einige Dinge zu regeln. Da muss ein Gericht schlussendlich eine Entscheidung treffen, du weißt schon. Rentenansprüche und Geldausgleich usw., muss halt sein.“
Mit dem heutigen Erhalt des Schreibens der Gegenanwältin musste jetzt ein Verfahren in Gang gesetzt werden, welches das Ende ihrer langjährigen Beziehung besiegeln wird. Keine gute Zeit, aber, und das sah er ein, ein Weiterleben in der zuletzt gelebten Art und Weise wäre eine unwürdige Form gewesen.
Also, sagte sich Sebastian, den Termin bei der Anwältin werde ich machen, dann wird man weitersehen.
„Anwaltskanzlei Dr. Molfenter & Kollegen, was kann ich für Sie tun?“
„Sebastian May am Apparat, ich würde gerne Frau Rechtsanwältin Imhoff sprechen, sie hat mir ein Schreiben geschickt und darin gebeten, sie anzurufen.“
„Moment bitte, ich versuche Sie durchzustellen.“
Er wurde durchgestellt, es dauerte nur ein paar Sekunden.
„Imhoff hier, guten Tag.“
„Ja, Sebastian May am Apparat, guten Tag Frau Imhoff, ich soll Sie wegen eines Termins anrufen.“
„Hallo, Herr May, danke für Ihren Anruf. Nun, ich würde gerne einen Besprechungstermin mit Ihnen vereinbaren. Sie wissen, worum es geht, Ihre Frau will die Scheidung und nun müssen wir eben sehen, wie wir das hinbekommen. In einem solchen Fall ist es immer von Vorteil, dass ich das erste Gespräch nur mit einer Partei, also mit Ihnen führe. Da können wir alle Emotionen außen vorlassen und uns die rechtliche Seite vornehmen. Wann wäre es Ihnen denn passend?“
„Mir wäre ein Termin um die Mittagszeit angenehm, da verliere ich nicht zu viel von meiner Arbeitszeit, kommende Woche wäre für mich günstig.“
„Augenblick, bitte, also nächste Woche, da könnte ich Ihnen den Dienstag um 11: 00 Uhr anbieten, ginge das?“
„Ja, o.k., dann nehmen wir doch diesen Termin. Muss ich Unterlagen mitbringen?“
„Nein, noch nicht, Herr May, wir sortieren erst einmal alles, ich muss mich ja auch erst in den Fall einarbeiten. Ich danke Ihnen, Herr May, also dann bis Dienstag.“
Eigentlich eine sehr angenehme und warme Stimme, kein kalter Klang darin, sogar fast entgegenkommend. Er hatte schon von Scheidungsfällen aus dem Kollegenkreis gehört, dass Frauen in immer mehr Fällen weibliche Anwältinnen als Scheidungsanwältinnen nehmen und dass sich diese Anwältinnen oftmals als unangenehme Emanzen aufspielen und die Ehemänner nicht nur scheiden wollen, sondern einen Vernichtungsfeldzug anzetteln, der einem die Hosen auszieht. Ein solches Gefühl überkam ihn aber nach diesem Telefonat nicht, überhaupt nicht. Dazu war sowohl Inhalt als auch der Gesprächston zu angenehm gewesen.
Sebastian ist deshalb auf den Dienstag schon gespannt. Er wird sich gut anziehen und versuchen, einen sympathischen Eindruck zu vermitteln. Einen eigenen Anwalt will er derzeit noch nicht hinzuziehen. Einer seiner Skifahrerfreunde ist zwar Anwalt, und auch in Memmingen mit seiner Kanzlei ansässig, aber Sebastian weiß in diesem Moment nicht, ob der auch Scheidungen übernimmt. Aber zumindest wird er ihn anrufen, wenn er von Frau Imhoff mehr erfahren hat. Vielleicht kann ihm sein Freund auch nur einen guten Kollegen empfehlen.
Zuhause sieht er noch nach, ob eventuell seine Rechtsschutzversicherung auch Scheidungsfälle umfasst. Den Unterlagen nach ist er sich aber nicht sicher, er wird seinen Versicherungsagenten anrufen.
Der heutige Donnerstag geht im Büro seinem Ende entgegen, er wird bei Mikel noch vorbeischauen und ein oder zwei Bierchen zu sich nehmen. Mit Mikel kann er reden, Sebastian hatte Mikel von der bevorstehenden Scheidung informiert. Mikel hatte seine eigene Scheidung schon vor ein paar Jahren hinter sich gebracht, da könnte sich Sebastian eventuell einige Informationen holen.
So ganz schlecht fühlt er sich heute nicht. Gut, die Situation war eine völlig neue, aber er spürt, dass die eingefahrene Beziehung zu Katharina unbedingt verändert werden muss. Jetzt ist er, zwar mühsam, aber emotional doch so weit, nicht weiter in Mutlosigkeit und Apathie zu versinken. Aber Energie zu etwas Neuem hat er immer noch nicht, dazu war alles zu schnell gegangen, und er muss sich jetzt erst selbst damit zurechtfinden.
Es ärgert ihn auch, dass nicht er selbst, sondern seine langweilige Katharina die Scheidung in Gang gesetzt hatte. Einmal in ihrem gemeinsamen Leben war sie aktiver als er gewesen, die Scheidung hätte eigentlich seine Entscheidung sein müssen.
In dieser Nacht schläft er unruhig, steht zwei, dreimal auf, macht Licht an, trinkt ein Glas Wasser und versucht dann wieder in den Schlaf zu kommen. Dienstag wird für ihn ein wichtiger Tag sein.
Die Anwaltskanzlei Molfenter ist in der Innenstadt, er kann vom Bauamt zu Fuß dorthin gehen. An der großen Eingangstür liest er auf dem Firmenschild die Namen der dort tätigen Anwälte. Seine Anwältin Imhoff heißt mit Vornamen Susanne, der gefällt ihm gut.
„Ich würde sie Susi nennen, wenn ich sie näher kennen würde“, murmelt er vor sich hin und geht hinein. Es ist 10: 57 Uhr, er ist gut in der Zeit. Zu so einem derart wichtigen Termin ist man schließlich pünktlich.
Die Rezeptionistin bittet ihn, im Wartezimmer Platz zu nehmen, aber er sitzt nur kurz, da öffnet sich schon die Glastüre und eine gepflegte Dame begrüßt ihn.
„Guten Tag, Herr May, Imhoff mein Name, nett, dass ich Sie kennenlerne, wir gehen gleich in mein Büro, da sind wir ungestört, ich darf vorausgehen.“
Sebastian ist irritiert. Frau Imhoff hat nicht nur eine angenehme Stimme, sie ist auch äußerst gutaussehend. Gleichgroß wie er, blond, die Haare halblang und leicht gelockt, natürlich businessmäßig geschminkt und elegant gekleidet. Dunkelgrauer, enger Rock, der ihre schlanke Figur hervorhebt, weiße Bluse mit Stehkragen, ein dezentes Goldkettchen um den Hals, schwarze Pumps, er ist beeindruckt.
„Nehmen Sie doch bitte Platz, einen Kaffee vielleicht?“
Frau Imhoff sieht ihn mit einem fast schon betörenden Augenaufschlag an.
„Ja, gerne, Frau Imhoff“.
Mehr bringt er nicht heraus, er verspürt ein Kratzen im Hals. Er fühlt sich überrumpelt, darauf war er nun doch nicht vorbereitet, verdammt.
Dann erklärt ihm Frau Imhoff, an ihren Vornamen Susanne erinnert er sich ständig, den Fall aus ihrer Sicht. Nach den vorliegenden Angaben von Katharina sind größere Vermögenswerte nicht vorhanden, jeder sollte seine persönlichen Sachen behalten dürfen, das Haus sollte er allein weitermieten und dafür sorgen, dass Katharina aus dem Mietvertrag und aus sonstigen Verträgen im Zusammenhang mit dem Haus herauskommt. Es besteht eine Zugewinngemeinschaft, die Zugewinne hatten beide auf eigenen Sparkonten gespart, mit der Rentenversicherung muss man sehen, wie man das dann macht, aber das wäre immer so.
Während des Gesprächs fallen Frau Imhoff ständig die Locken der rechten Kopfseite ins Gesicht und sie versucht, sie stets aus dem Gesicht zu nehmen. Als sie merkt, dass er sie beobachtet, sieht sie Sebastian an, ein Lächeln tritt in ihr Gesicht.
„Wissen Sie, Herr May, nur damit es gesagt ist, ich bin nicht Ihre Feindin. Natürlich vertrete ich zunächst immer die Interessen meiner Mandanten, das ist klar. Aber wenn sich eine Möglichkeit ergibt, einem Rosenkrieg aus dem Weg zu gehen, bin ich immer dafür zu haben.“
Frau Imhoff lehnt sich etwas in ihrem Sessel zurück und sieht Sebastian offen ins Gesicht, als ob sie noch etwas entscheidend Wichtiges fragen wolle.
„Am schwierigsten ist es, wenn Eifersucht ins Spiel kommt, aber das scheint in diesem Fall nicht gegeben zu sein. Es sind auf beiden Seiten keine neuen Partner im Spiel, oder täusche ich mich da?“
Sebastian überlegt kurz, die Sache mit diesem Hütter kann er noch nicht endgültig einstufen.
„Frau Imhoff, auf meiner Seite sicher nicht, auf der Seite von Katharina bin ich mir aber nicht so sicher. Sie lebt seit dem Auszug aus unserem gemeinsamen Haus bei ihrem Chef, Herrn Alexander Hütter, verstehen Sie? Angeblich zwar in einer Einliegerwohnung im Haus von diesem Hütter, aber ich habe schon eine deutliche Vermutung, dass sich hier zwischen den beiden etwas abspielt oder bald abspielen wird.“
Sebastian sieht Frau Imhoff an, diese wiegt mit ihrem hübschen Kopf und schmunzelt leicht.
„Lassen wir das doch mal weg, solange nichts bewiesen ist. Es würde auch den Fortgang des Verfahrens erheblich erschweren. Das mit dem Trennungsjahr spielt heute keine Rolle mehr. Wenn beide Seiten eine Scheidung wollen und die Schuldfrage erst gar nicht gestellt wird, kann ich eine Regelung ohne Schwierigkeiten über die Bühne bringen, das wäre doch auch in ihrem Sinn, Herr May?“
Sie riecht unheimlich gut, weiblich und erotisch. Die Bluse ist bis zum dritten Knopf geöffnet, ansatzweise kann er schon jetzt erkennen, dass die Dame gut bestückt ist. Er sieht auf ihre Hände, an den Fingern trägt sie zwar zwei kleine Ringe, aber er erkennt keinen, der ein Ehering sein könnte. Schätzungsweise ist sie Mitte vierzig, ein richtiges Businessweibchen. So eine Frau muss doch einen Mann oder einen Freund haben, das lassen sich doch die Männer nicht entgehen, oder ist sie am Ende lesbisch? Verdammt, das wäre geradezu fatal. Viel zu schade dafür. Sebastian reißt sich los von diesen Gedanken und wendet sich wieder Frau Imhoff zu.
„Herr May, ich rede in den nächsten Tagen mit Ihrer Gattin, dann melde ich mich wieder, ist das für Sie so o.k.?“
Für Sebastian war das erstmal so o.k. Er trinkt seinen Kaffee aus und Frau Imhoff begleitet ihn bis zu Rezeption. Sie geben sich die Hand, er spürt einen weichen Druck, das ist ihm mehr als nur angenehm.
„Diese Hand werde ich sicher noch ein paar Mal anfassen können“ denkt er. Er nimmt ihren intensiven Blick wahr, er fühlt sich fixiert. So sieht man doch sein Gegenüber in geschäftlichen Gesprächen nicht an, denkt er noch und dann ist er draußen.
Sebastian merkt plötzlich, dass ihm diese enge und verkettete Verbindung zu seiner Katharina doch manche anderen Möglichkeiten über all die Jahre hinweg verwehrt hat. Er verspürt einen gefühlsmäßigen Aufwind, eine leicht erotische Thermik überkommt ihn, auf einmal ist diese Scheidung gar keine große Belastung mehr für ihn.
Die Verteilung dessen, was zu teilen ist, würde sicher einfach zu machen sein. Beide hatten ihren Job, basta. Danach beginnt ein neues Leben, er ist erst 52 Jahre alt und geistig und körperlich fit.
„Neues Leben komm zu mir, ich mache mich bereit.“
„Nach Feierabend muss ich zu Mikel, ich muss ihm von dem heutigen Tag und natürlich von Frau Imhoff, eigentlich von Susanne, erzählen. Da wird er staunen, wenn er erkennt, dass ich gerade dabei bin, mich freizuschwimmen. Wenn nur nicht dieser blöde Hütter noch ins Spiel gekommen wäre. Wenn da etwas laufen sollte, die haben schon eine gemeinsame Wellenlänge gefunden, vielleicht eine Leseerotik oder so etwas.“
Sebastian regt sich etwas auf. Aber viel mehr dann auch wiederum nicht, weil er einfach zu wenig weiß und nun spekulieren müsste, aber das liegt ihm nicht.
Sexuell kann er Hütter schlecht einschätzen, 59 Jahre, hager, graumeliert, durchaus ein Frauentyp. Wahrscheinlich braucht er auch schon Viagra, also nichts von wegen Spontaneität, geschieht der Katharina gerade recht.
Sebastian versucht, eine Eifersucht aufzubauen, aber er merkt, dass ihm dies beim besten Willen nicht gelingt. Er muss sich eingestehen, dass ihm inzwischen Katharina bereits nicht mehr so wichtig ist, so, wie wenn die Zeit mit ihr schon weit weg wäre, sehr weit weg.
Er will sich auch nicht mehr an Einzelheiten erinnern, dafür geht ihm aber Frau Imhoff nicht aus dem Kopf. Als er sich eingesteht, dass er sich in die Anwältin seiner scheidungswilligen Frau ein wenig verknallt hat, steigt ihm eine leichte Röte in sein Gesicht.
„Schluss jetzt mit solchen Fantasien, ich bin doch nicht mehr in der Pubertät.“
Nach zwei Bieren bei Mikel geht es Sebastian schon besser. Mikel hat er gerade informiert, und hat ihm den Ablauf des Gespräches bei der Anwältin erklärt. Zu seiner großen Überraschung kommt jetzt Mikel mit einer Information heraus, die Sebastian vollkommen irritiert, darauf war er nicht vorbereitet.
Mikel erzählt, dass bei seiner eigenen Scheidung vor fünf Jahren seine Frau auch von Frau Imhoff vertreten wurde. Damals war Mikel noch Inhaber einer Kfz-Werkstatt gewesen, Ford-Werkstatt und nebenher noch ein gut laufender Oldtimer-Service. Mikels Frau war bei ihm angestellt und führte das Büro und die Buchhaltung, Kinder hatten sie noch nicht, Mikel war 32 Jahre, seine Frau Evelyn 34 Jahre gewesen. Dann aber kam die Scheidung und das geschäftliche Aus.
„Du, Seb, hör mir zu, diese Imhoff hat mich damals auseinandergenommen, da war ich auf verlorenem Posten. Gut, ich muss zugeben, meine Frau steckte dahinter, und die wollte nicht nur eine Scheidung, die wollte einfach nur Rache. Dummerweise hatte sie mich bei einem Date mit Rosalie erwischt, du weißt schon, Rosalie, die mit der roten Kawasaki, ein steiler Zahn. Sie war auf mich scharf und immer öfter in der Werkstatt. Dann, eines Tages, waren wir mal weg bei Mac Donalds und hinterher noch bei ihr. Da ist es dann passiert.“
Mikel sieht Sebastian ins Gesicht und bemerkt dessen Anspannung.
„Ich kam spät nachhause und bekam dazu noch eine Szene von Evelyn ab, die zu diesem Zeitpunkt aber nur Vermutungen anstellte. Aber das mit Rosalie ging weiter, sie ließ mir einfach keine Ruhe. Es geschah dann, was geschehen musste, Evelyn hat mich mit Rosalie hinten in der Werkstatt erwischt, blöd gelaufen. Sie hätte Rosalie beinahe umgebracht, sie ging mit einem Schraubenschlüssel auf sie los, es gab eine Rauferei, beide Damen trugen Verletzungen davon. Danach Krankenhaus, Fotoaufnahmen als Beweismittel, aber der Schuldige an allem war eben dann ich.“
„Wie ging die Scheidung aus?“ fragt Sebastian, jetzt war er doch ziemlich angespannt und neugierig dazu.
„Du, Seb, ich sage dir, ich kam mir vor wie zwischenzwei Mühlsteinen, chancenlos, wenn du verstehst, was ich meine. Für Evelyn war ich gestorben, es war aus, sie wollte an alles ran, was mir gehörte und die geile Rosalie versuchte zu retten, was zu retten war, und beschuldigte mich als Weiberheld, der nur sein Vergnügen sucht und sich sonst um nichts kümmert. Wie willst du dann dich ordentlich verteidigen, wenn alle gegen dich sind und nur deinen Niedergang wünschen?“
„Und wie ging es wirklich aus?“
„Schlecht für mich, Evelyn wusste natürlich auch von den nicht immer offiziell verbuchten Einnahmen aus dem Oldtimer-Service, und da hatte sie mich in der Hand. Die Imhoff hat das alles mitgespielt, gnadenlos und ohne Entgegenkommen. Als wir dann vor Gericht saßen, war alles schon vorher abgesprochen und vereinbart. Ich allein gegen drei Weiber, die nur eine Stoßrichtung hatten, nämlich mir zu schaden, da hatte ich keine Chance. Auch mein Anwalt war ratlos und nicht wirklich hilfreich.“
Mikel trinkt an seinem Bier, man merkt, dass ihm dieser Fall noch heute zusetzt.
„Dann kamen Zahlungen auf mich zu, Ausgleich für Evelyn, zeitweise noch Unterhalt, dann Umsatzsteuer- und Einkommenssteuernachzahlungen, die Bank wollte auch nicht mehr. Ich musste dann den Laden verkaufen und danach auch noch die Insolvenz anmelden. Es hatte sich auch schnell ein Interessent gemeldet, aber offiziell konnte ich keinen guten Kaufpreis machen, der wäre glatt den Pfändungen zum Opfer gefallen. Der damalige Käufer, du kennst ihn, er ist Stammgast bei mir, zahlt mir noch heute jeden Monat in einen bestimmten Betrag auf die Hand, der mir hilft, das Bit am Berg finanziell halten zu können.“
„Und Frau Imhoff?“ Sebastian ist offensichtlich irritiert.
„Nach der Scheidung war die natürlich aus dem Thema raus. Ich habe sie noch ein paarmal in der Stadt gesehen und auch einmal mit ihr ein Glas Prosecco getrunken, sie war privat ganz friedlich. Sie war auch der Meinung, dass ich da ganz schön vorgeführt worden bin. Und sie meinte auch, dass das ganze Verfahren von dem Hass Evelyns geprägt gewesen wäre, und Evelyn war eben ihre Klientin.“
„Erzähl bitte weiter, das interessiert mich schon sehr, immerhin vertritt Frau Imhoff meine Frau in dem Scheidungsfall gegen mich.“
„Die Imhoff war auch verheiratet, ihr Mann war Golflehrer und hatte immer andere Weiber, irgendwann hat sie die Scheidung eingereicht. Ihr Mann ist danach weggezogen, ich habe ihn nicht mehr gesehen. Ich weiß, dass die Imhoff danach noch mit einem Kerl befreundet war, aber das war nichts auf Dauer, nichts für eine stationäre Verbindung, verstehst du, mehr ambulant. Ich glaube, seit etwa einem Jahr ist sie Selbstversorgerin. Die Imhoff ist eine hübsche Frau, alles da, figürlich meine ich, und auch aus der Scheidung und dem Hausverkauf kam genug Geld, der geht es finanziell mehr als gut, die kann sich aussuchen, was sie will.“
Mikel stößt mit Sebastian an, das frische Pils schmeckt ausgezeichnet.
„Interessant, also du meinst, sie ist nicht grundsätzlich eine Männerhasserin und lässt dies z.B. bei Scheidungen an den Kerlen aus. Ich hatte eigentlich einen guten und sympathischen Eindruck von ihr.“
Sebastian hält seine vormittägliche Bewunderung für Frau Imhoff etwas zurück, das braucht Mikel jetzt nicht zu wissen. Noch war ja auch nichts geschehen, und Träumereien darf man schließlich auch als 52-Jähriger noch haben. Aber jetzt war er noch gespannter, wie es weitergehen würde.
Sebastian fährt nachhause und nimmt sich schlagartig vor, im Hausinneren für mehr Ordnung zu sorgen. Er erkennt plötzlich eine nicht übersehbare Verwahrlosung, typisch nach Junggesellenart. Er überlegt, ob er das Wohnzimmer umstellen und neu möblieren sollte. Man weiß ja nie, gerade jetzt, wo er allein im Haus lebt, ob sich doch einmal Besuch einstellen würde?
Auch mit dem gemeinsamen Schlafzimmer muss etwas geschehen, das neue Einzelschlafzimmer wollte Katharina noch abholen lassen, es gehöre schließlich ihr, hatte sie gemeint. Egal, raus damit, er hat ohnehin keine Erinnerungen an dieses Zimmer, war er doch kein einziges Mal in diesem Raum gewesen.
Und dann natürlich das Bad, ein wenig verkommen war es schon. Neue Handtücher, ein neuer Duschvorhang usw. müssen auf jeden Fall her. Wenn da einmal ein Damenbesuch, es muss ja nicht gleich Susanne sein, vorbeikommen würde, kann das Bad so nicht bleiben. Handwerklich könnte er alles selbst machen, Ideen wären bei ihm auch schon da. Das muss ich machen und zwar bald, denkt er sich.
Die Herbsttage sind noch angenehm mild und sonnig geworden, zumindest wenn sich die Bodennebel verzogen haben, diese schönen Tage muss man genießen. Memmingen im Vorallgäu hat gerne Nebel, das weiß man. Genau genommen kommt der Nebel immer aus der nördlichen Richtung und hört dann meist zwischen Memmingen und Kempten auf. Kempten ist Mittelzentrum im Allgäu und das Allgäu ist klimatisch präziser. Der Oktober hat auch seinen eigenen Charme, aber dann wird es bald winterlicher werden. Das Allgäu hat immer frühe und lange Winter.
Beim diesjährigen Fischerstechen im Stadtbach wäre er beinahe Fischerkönig geworden, nur zwei Kameraden konnten einen größeren Fisch fangen, lange lag er vorne. Wenn man da gewinnen will, muss man schon eine Forelle mit mindestens zwei Kilo erwischen.
Sebastian geht gerne zu traditionellen Veranstaltungen und war deshalb beim jährlichen Fischerstechen immer mit dabei, schon viele Jahre. Einmal im Jahr wird der Stadtbach gereinigt und geputzt und dazu müssen die Fische vorher herausgefischt werden. Beginn ist immer im Juli an einem Samstag um genau 8: 00 Uhr. Kostümierte Fischer aller Altersgruppen „jucken“ in den Stadtbach, die Memminger Ach.Da schreit er selbst den Memminger Traditionsspruch lauthals in die Menge:
„Schmotz, Schmotz, Dreck auf Dreck,Schellakönig, wüeschte Sau“.
Derb geht es da schon zu, Katharina war kein einziges Mal dabei gewesen, das wäre angeblich unter ihrem Niveau, als ob sie etwas Besseres ist.
Vielleicht geht Frau Imhoff, also dann die Susanne, mit, wenn er wieder im Bach steht, im Fischergewand mit Korb und Stecken. Vielleicht ginge sie mit, mal schauen, freuen würde es ihn schon.
Sein Fenster im Büro hat er weit geöffnet, die frische Herbstluft möchte er gerne einatmen, bald wird er das Fenster nicht mehr öffnen können, der Winter zeigt sich gelegentlich schon durch den Morgenreif auf den Wiesen, es geht dann ziemlich schnell.
Im Bauamt schellt das Telefon, auf der Anzeige erkennt Sebastian eine Ortsverbindung.
„May, Bauamt, guten Tag.“
„Hallo, Herr May, hier ist Imhoff, Sie erinnern sich?“
„Hallo, Frau Imhoff, natürlich erinnere ich mich, und zwar sehr genau, was gibt es denn?“
„Ich konnte inzwischen mit Ihrer Gattin reden. Auch sie will keinen großen Streit und will nur schnell die Scheidung und die normalen gesetzlichen Regelungen. Für uns Anwälte kein gutes Geschäft.“
Sie lacht ins Telefon hinein, Sebastian mag dieses helle Lachen, er hat inzwischen begonnen, ein gutes Vertrauen zu ihr zu entwickeln.
„Denn wir leben vom Streiten, wissen Sie. Ich denke, ich setze ein Protokoll auf, also einen Fahrplan für Ihre Scheidung. Sie sollten auch einen Anwalt einschalten, dieser könnte dann mit mir direkt reden, das macht vieles einfacher. Haben Sie einen Anwalt, den Sie beauftragen könnten?“
„Ja, schon, den werde ich fragen, ich weiß nur nicht, ob er Scheidungen macht, aber er könnte mir zumindest einen Kollegen empfehlen.“
„Also, Herr May, ich melde mich wieder, und bis dahin wäre es gut, wenn Sie einen Anwalt an der Hand hätten, der Sie vertritt und mit mir die Einzelheiten aushandeln könnte. Es ist halt immer bei Scheidungen so, dass es was zum Verhandeln gibt und je früher man sich einig wird, desto schneller und desto kostengünstiger läuft der Vorgang auch ab.“
Sie hat schon eine verdammt erotische Stimme, denkt Sebastian, das habe ich schon beim ersten Telefonat gegespürt. Da ist etwas in der Stimme, in ihrem Klang, das erregt ihn. Leichter Belag auf den Stimmbändern, ruhige Sprachführung, sehr konzentriert auf die Sache, sicher eine gute Anwältin.
Er ruft seinen Skifahrerfreund Tommy an, der ist Anwalt, er kennt ihn schon fast zwanzig Jahre. Jetzt merkt er aber, dass er mit Tommy zwar über vieles, aber nie über seine berufliche Tätigkeit gesprochen hatte. Alles zu oberflächlich, denkt er. Nur Skifahren und Pistenerlebnisse, aber keine wirklich privaten Themen. Wie es Tommy wohl privat geht? Er hat keine Ahnung.
Er erreicht Tommy Hartnig, erzählt ihm seine Geschichte und erfährt dabei, dass Tommy natürlich auch Scheidungen übernimmt. Das ist prima, kein weiterer Kontakt erforderlich. Er bittet Tommy, sich mit Frau Imhoff kurzzuschließen und ihm wieder zu berichten. Tommy wird Sebastian noch eine übliche Vertretungsvollmacht zusenden, mit der Bitte, diese zu unterschreiben und zurücksenden.