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In Meersburg lebte Vinzenz Weiler sechs Jahre mit Juliane Gutemann, genannt Jule, zusammen, sie wollten heiraten, aber einem beruflichen Wechsel zu Porsche nach Weissach hielt die Liebe nicht stand. Juliane heiratete danach ziemlich überstürzt einen gleichaltrigen Österreicher. Nach fünf Jahren in Weissach, möchte Vinzenz wieder einmal in seine alte Heimat zurück. Er wird für zwei Wochen bei seinem Bruder Adalbert in Meersburg wohnen. Wie wird wohl das Wiedersehen mit Jule verlaufen? Zu seiner völligen Überraschung wird er aber von Jule und deren Eltern herzlich empfangen. Als Jule sich wieder vermehrt Vinzenz zuwendet, lebt die alte Liebe wieder auf. Ihr Mann Florian zieht sich total zurück, spricht kaum noch mit Jule und trinkt zu viel. Für Jule ist eine Trennung der einzige Ausweg, sie schaltet einen Anwalt ein. Von nun an beginnt ein Nervenkrieg, der leider keinen guten Ausgang nimmt. Es kommt zu einem Doppelmord mit einer satanischen Planung und einer bestialischen Ausführung. Der eigenwillige Kriminalhauptkommissar Eustachius Sturm übernimmt den Fall, die Beweislage ist schwierig, aber der Zufall hilft.
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Seitenzahl: 327
Veröffentlichungsjahr: 2019
TOD IM SEPTEMBER
TOD IM SEPTEMBER
Ein Bodenseekrimi
Meersburg
B.H.W.
Bernd Heinz Werner
2019
© 2019 BHW Bernd Heinz Werner
Verlag und Druck: tredition GmbH,
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN Taschenbuch: 978-3-7482-9513-6
ISBN Hardcover: 978-3-7482-9514-3
ISBN e-Book: 978-3-7482-9515-0
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Die Summe unseres Lebens sind
die Stunden, wo wir lieben.
Wilhelm Busch
Liebe ist Qual,
Lieblosigkeit ist Tod.
Marie von Ebner-Eschenbach
Ich danke meinem Lektor Daniel Sieber
Oberstudienrat am Carolinum Ansbach
für viele gute Anregungen und Hilfen.
Und ich danke meiner Frau Renate für ihren Mut, mir immer wieder Mut gemacht zu haben, mutig zu bleiben.
Inhalt
Kapitel 1 Turbulenzen
Kapitel 2 Die Suche
Kapitel 3 Blick zurück
Kapitel 4 Meersburg
Kapitel 5 Bei Jule
Kapitel 6 Sturm
Kapitel 7 Zwei finden sich wieder
Kapitel 8 Der Donnerstag
Kapitel 9 Zeit der Entscheidungen
Kapitel 10 Der erste Hinweis
Kapitel 11 Zurück nach Weissach
Kapitel 12 Achim
Kapitel 13 Der Kampf beginnt
Kapitel 14 Eine satanische Planung
Kapitel 15 Die Bergung
Kapitel 16 Letzte Vorbereitungen
Kapitel 17 Es wird enger
Kapitel 18 Eine bestialische Tat
Kapitel 19 Eine schreckliche Nachricht
Kapitel 20 Sturm verhört
Kapitel 21 Das Finale
Kapitel 22 Schachmatt
Kapitel 23 Was bleibt
Nachwort I
Nachwort II
Persönliches Nachwort
Vita
Kapitel 1
Turbulenzen
Der Bodensee liegt unter einem blauen und wolkenlosen Himmel, es ist Sonntag und es ist ziemlich ruhig in Meersburg, typisch für den September, die Nachsaison hat schon begonnen. Tagesgäste kommen dann meist erst gegen Nachmittag. Die Sonne steht bereits schräger und die Tage werden langsam kürzer.
Die diesjährige Sommersaison war großartig, das Wetter war wochenlang sonnig, die Belegungszahlen der Hotels waren außerordentlich positiv und die allgemeine Stimmung war sehr entspannt. Aber nun beginnt ein Schatten sich über das idyllische Meersburg zu legen. Noch kann ihn keiner erkennen, aber er kriecht bereits heraus, langsam und unerbittlich. In den kommenden Tagen wird er da sein und die Menschen in dieser Stadt stark beschäftigen.
Florian Haas schläft erschöpft und lange und wird erst kurz vor zwei Uhr mittags wach, die Sonne scheint ins Zimmer. Nur langsam wird ihm klar, wo er eigentlich ist und dass er in einer übelriechenden Unterwäsche auf seinem Bett liegt. Sein altes und verklebtes Sperma gibt einen scheußlichen Geruch ab, er riecht es und es widert ihn an. Er kommt sich vor wie in einem schlechten Film, die Erinnerung kommt nur Stück für Stück zurück. Er reibt sich die verklebten Augen frei und stiert einen Moment zur Zimmerdecke, sein Atem geht unregelmäßig.
Der erste Aufstehversuch misslingt ihm und er kippt nach hinten ins Bett zurück, beim zweiten nimmt er mehr Schwung und steht dann auf wackeligen Beinen neben dem Bett. Mit langsamen und unsicheren Schritten geht er in Richtung Bad, beim Einstieg in die Duschkabine muss er sich festhalten, eine leichte Übelkeit steigt in ihm hoch. Dann duscht er sich, wechselt die Wäsche und die Kleidung und setzt sich an den Esstisch, er muss sich ausruhen, bevor er weitermacht. Die Schmutzwäsche und die immer noch feuchte Jeans steckt er gleich in die Waschmaschine, die ist jetzt auch voll, er wird sie morgen laufen lassen müssen. Er sieht kurz aus dem Fenster hinunter in den Hof, niemand ist zu sehen, alles ist wie sonst, nur der VW Golf von seiner Schwiegermutter Melly Gutemann steht nicht mehr an seinem angestammten Platz.
Von dem Hinuntersehen vom zweiten Stock in den Hinterhof wird ihm schwindelig. Die Sonne scheint ihm voll ins Gesicht, sie blendet ihn, das mag er nicht. In diesem Augenblick ist ihm alles viel zu hell, seine Augen brennen, er hält die Hand darüber und deckt seine Augen ab. Dann tritt er von dem Fenster zurück und sieht sich in der großen Wohnstube um. Mit einem Blick wird ihm klar, dass die Vergangenheit mit der letzten Nacht für ihn abgeschlossen ist, ab heute beginnt eine neue Zukunft, welche genau, das kann er noch nicht so richtig definieren. Aber alles wird anders werden, gar alles.
Zur gleichen Zeit etwa befindet sich sein Schwiegervater Hannes Gutemann noch auf seiner diesjährigen Radtour mit seinen drei Kameraden. Sie fahren gerade auf dem Bodenseeradweg in westlicher Richtung, bereits auf der schweizerischen Seite in Richtung Konstanz. Den österreichischen Teil des Bodensees haben sie schon hinter sich, das Wetter hält sich bisher sehr ordentlich und auch die weiteren Aussichten sind gut. So, wie es läuft, wird er am Dienstag gegen Nachmittag, wie geplant, wieder zuhause in Meersburg sein.
Die Abende mit den Freunden sind immer sehr gesellig, manchmal werden sie spät. Man hat sich viel zu erzählen und der Wein schmeckt auch auf der anderen Seeseite gut. Hannes wird einige Erlebnisse mit nachhause bringen können, die er dann seiner Melly berichten kann. Morgen, am Montag will er Melly anrufen. Melly ist mit der gemeinsamen Tochter Jule alleine im Haus, das wird schon gut gehen, denkt er. Dieser Florian ist zwar auch im Haus, aber Sorgen macht er sich deswegen gerade keine, es ist ja alles besprochen worden. Darauf will er sich verlassen und die Tour dauert ja auch nur zwei volle und zwei halbe Tage
Am Spätnachmittag dieses Sonntags gegen fünf Uhr sieht man Florian Haas die Steigstraße hinunter und in die Winzer-Stuben hineingehen, die ungarische Bedienung erkennt ihn sofort wieder. Sie mag ihn nicht gerne im Restaurant sehen, er macht in letzter Zeit immer Ärger.
„Mal sehen, wie das heute mit dem geht“, denkt sie, sie hat keine guten Erfahrungen mit diesem Kerl gemacht. Vor etwa zwei Wochen fiel er stockbetrunken im Lokal der Länge nach hin und die Sanitäter mussten geholt werden, die ihn dann behandelten und ihn anschließend nachhause brachten. Man spricht davon, dass seine Frau die Scheidung beantragt habe und dass er wohl die gemeinsame Wohnung verlassen werde oder auch müsse. Und seinen Alkoholkonsum hat er überhaupt nicht im Griff, da wird sie heute aufpassen müssen.
Wie sie an seinen Tisch kommt, erschrickt sie, als sie ihn ansieht. Er sieht schlecht aus, er ist blass im Gesicht, das Weiß in seinen Augen ist gerötet und er wirkt nervös. Sie reicht ihm die Speisekarte, bleibt am Tisch stehen und beobachtet ihn. Sie spürt, dass ihn ihre Nähe stört, aber dann bestellt er ein Weißbier und einen Schweinebraten mit Kartoffelsalat.
Er weiß, dass man in der Stadt über seine laufende Scheidung redet, trotzdem soll man ihn ruhig in der Öffentlichkeit sehen, er will sich nichts anmerken lassen. Morgen, am Montag bis einschließlich Freitag hat er noch Urlaub.
„Jetzt alles locker nehmen“, denkt er sich, „sollen die Leute mich doch anglotzen.“
Als er nach dem Essen den ersten Schnaps bestellt, bringt die Bedienung diesen zwar an den Tisch, weist Florian aber sofort darauf hin, dass es keinen zweiten geben wird. Gut, dann wird er den einen Schnaps eben hier zu sich nehmen, die weiteren Schnäpse wird er sich zuhause gönnen. Da hat er sich einen Vorrat angelegt, alles edle Brände aus Bodenseeobst, gute Brennereien gibt es hier einige.
„Siegesschnäpse sind das,“ spricht Florian Haas vor sich hin, als er das Lokal verlässt, „Siegesschnäpse, jawohl, Siege müssen gefeiert werden, sie sind ohnehin so selten, Prosit.“
Am nächsten Morgen dann vernimmt Florian laute Stimmen unten im Hof und beim Hinuntersehen erkennt er einige Pensionsgäste, die herumstehen und sich lautstark unterhalten. Dann hört er, dass die Türglocke im ersten Geschoß bei seinen Schwiegereltern bimmelt. Kurz darauf läutet es auch in seiner Wohnung. Es ist Montag und er ist allein, er geht zum Fenster und ruft hinunter und fragt, was denn los sei.
„Guten Morgen, Herr Haas, wir möchten gerne frühstücken, aber die Weinstube ist geschlossen, auch der Hintereingang ist zu. Wir bekommen doch immer schon am Montag, trotz Ruhetag, hier unser Frühstück. Wissen Sie, was da los ist?“
Im dem Innenhof zwischen dem Vorder- und dem Hinterhaus hallt es immer stark und die Stimmen hören sich dadurch lauter an.
„Nein, leider weiß ich auch nichts, tut mir leid. Es ist auch sonst niemand im Haus, am besten ist es, sie gehen in ein anderes Lokal und nehmen dort ihr Frühstück ein. Sie können das ja dann mit Frau Gutemann verrechnen. Mehr kann ich Ihnen jetzt auch nicht sagen.“
Er sagt noch, dass er erkennen könne, dass der Golf von Frau Gutemann nicht an seinem Platz stehe und dass er annehme, dass die Frauen zum Einkaufen gefahren sein könnten.
Die Gruppe verzieht sich murrend, das hatte es noch nie gegeben. Sonntags kein Frühstück, o.k., das war auch früher schon so, klar. Aber dann montags auch keines und das ohne eine Ankündigung, das waren die Stammgäste nicht gewohnt. Wie immer hängt hinter dem Glas der Eingangstür zwar das Schild mit den offiziellen Öffnungszeiten und dem ergänzenden Hinweis: „Sonntag und Montag geschlossen“, aber an den Montagen gab es für die Pensionsgäste immer ein Frühstück und immer ausreichend und gut. Also dann bis zum Dienstag, mal sehen.
Hannes Gutemann versucht am Abend des Montags noch zuhause bei Melly anzurufen, aber es nimmt niemand ab. Auch über das Mobiltelefon von Jule kommt er nicht weiter, nur immer der Hinweis: „Der angerufene Teilnehmer antwortet nicht, versuchen Sie es später noch einmal.“ Das versucht Hannes aber dann doch nicht, denn noch macht ihm das keine allzu großen Sorgen, morgen ist er ja bereits wieder in Meersburg, die werden sich halt an ihrem freien Tag einen Ausflug gegönnt haben.
„Und, Hannes, hast du die Melly erreichen können? Steht Meersburg noch?“ Seine Freunde haben ihre eigenen Pflichtanrufe zuhause schon hinter sich gebracht, die Pflicht ist erledigt, jetzt kann es gemütlich werden.
„Nein, ich erreiche niemand, es ist wohl keiner zuhause. Die haben heute ihren freien Montag, da werden sie etwas unternommen haben. Derzeit sind beide nicht sehr gerne im Haus, solange noch der schwierige Florian dort wohnt. Der will noch in diesem Monat ausziehen, dann ist die ganze Chose endlich vorbei.“
„Mit diesem Florian hat deine Tochter auch keine tolle Partie gemacht, aber das muss jeder selbst wissen. Wie man sich bettet, so liegt man.“
Die inzwischen eingeleitete Scheidung ist den Freunden bekannt, darüber sprach man in den letzten zwei Wochen in Meersburg überall. Diesen österreichischen Schwiegersohn mochte man in Meersburg ohnehin nicht. Seit seiner Heirat mit der Tochter von Hannes sah man ihn ziemlich selten und in der Weinstube so gut wie gar nie.
Morgen, Dienstag, wird die letzte Etappe zu fahren sein, was bedeutet, dass heute der letzte gemeinsame Abend ist. Die Freunde prosten sich zu, es ist eine schöne Runde am Tisch, der Wein schmeckt mit jedem Glas besser und auch die Wirtin hat ihre Freude an den junggebliebenen älteren Herren, sie gibt eine Runde aufs Haus aus. Nächstes Jahr, haben sie gesagt, wollen sie wiederkommen.
Der Dienstag beginnt wieder damit, dass schon um halb neun Uhr in der Wohnung von Florian die Glocke läutet. Er ist schon wach und denkt sich bereits, um was es gehen dürfte. Es schaut hinunter in den Hof, da stehen wieder die Pensionsgäste und lamentieren. Florian zieht sich seine Schuhe an und geht hinunter in den Hof.
„Herr Haas, hören Sie uns zu. Das mit Montag verstehen wir gerade noch, aber jetzt am Dienstag ist es dasselbe. So geht das nicht. Was ist denn hier nur los, warum ist niemand von den Gutemanns im Hause?“
Florian drängt alle Fragen zurück, er habe seine Frau Jule und seine Schwiegermutter seit Sonntag nicht mehr gesehen. Einer der Gäste fragt nach Johannes, dem Hannes, den auch alle kennen, Florian weicht aus und weist darauf hin, dass dieser auf seiner jährlichen Radtour sei und heute am späteren Nachmittag wieder zurück sein dürfte.
Dann wird er noch gefragt, ob zumindest die Weinstube heute Abend geöffnet sei, ansonsten müssten sie sich ein anderes Lokal suchen, aber auch da weicht Florian aus, er habe keine Ahnung und ergänzt seine Ausführungen mit dem Hinweis:
„Hören Sie, ich bitte Sie um Verständnis, aber mein Verhältnis zur Familie Gutemann ist derzeit nicht das beste, wir reden kaum miteinander. Wissen Sie, ich lebe in Scheidung mit meiner Frau, ich meine mit der Jule, und ich werde hier auch bald ausziehen. Die Pension geht mich ohnehin nichts an, da habe ich mich nie eingemischt. Entschuldigen Sie mich bitte.“
Einige der Pensionsgäste meinen, dass man die Polizei einschalten müsste, andere entgegnen, dass es jetzt gerade erst neun Uhr sei und dass der Hannes Gutemann ja heute Nachmittag von der Radtour zurück sei, solange könne man schon noch warten. Die Gäste verziehen sich wieder, Florian Haas geht zurück in seine Wohnung, er legt sich auf das Sofa, immerhin hat er diese Woche Urlaub.
Als dann um halb vier Uhr Hannes Gutemann endlich in den Hof radelt, seine Freunde sind gleich direkt nachhause gefahren, stehen einige der Pensionsgäste schon im Hof und warten ungeduldig auf ihn. Florian Haas beobachtet das Geschehen vom zweiten Stock aus. Er sieht, dass die Gäste auf Hannes Gutemann einreden, und wendet sich ab, da will er nicht hineingezogen werden. Aber er bleibt am noch offenen Fenster stehen und kann die lauten und mit aufgebrachtem Ton geführten Gespräche im Hof verfolgen.
„Herr Gutemann, was ist denn hier nur los? Wir sind seit Samstag schon da und wir hatten mit Ihrer Frau und der Jule auch noch gesprochen, da wurde uns aber nichts gesagt. Und stellen Sie sich vor, gestern am Montag war alles zu und heute am Dienstag ebenso. Ihre Frau und Jule sind nirgendwo zu finden und Ihr Schwiegersohn“, sie zeigen nach oben, „weiß auch nichts, er hat angeblich die beiden seit Sonntag nicht mehr gesehen und das Auto Ihrer Frau ist ebenfalls weg.“
Hannes Gutemann runzelt die Stirn und sieht, schon nichts Gutes ahnend, nach oben, Florian weicht vom Fenster zurück, aber Hannes hat ihn schon gesehen. Ihm kommt ein schrecklicher Verdacht, noch weiß er zwar nichts, aber das alles ist für ihn nicht normal. Er beginnt bereits die Entscheidung, die Radtour mitzufahren, zu bereuen. Verdammt, wenn während dieser knapp vier Tage etwas passiert sein sollte, es wäre nicht auszudenken.
Zunächst geht er zu sich in die Wohnung im ersten Stock und sieht nach, aber es ist niemand da, es fällt ihm auch sonst nichts auf, alles ist wie immer. Dann geht er, so schnell er kann, in den zweiten Stock und läutet Sturm an der Wohnungstür, völlig außer Atem steht er dem Florian gegenüber.
„Wo sind sie, rede, wo sind Jule und Melly? Du musst sie gesehen haben. Ich komme rein, geh mir aus dem Weg, Saukerle.“
Florian kann Hannes nicht zurückhalten, der schiebt ihn mit beiden Händen zurück, dann sieht er sich in den Zimmern um, nichts. Auf dem Esstisch steht noch eine leere Schnapsflasche, das Badezimmer ist auch leer. Hannes sieht hinunter in den Hof, der Platz, wo seine Melly ihr Auto stehen hat, ist ebenfalls leer.
„Ich nehme an, dass sie weggefahren sind, der Golf fehlt seit Sonntag. Als ich am Sonntag aufgewacht bin, habe ich das festgestellt. Aber ich habe mich darum nicht gekümmert, die Scheidung läuft ja bereits und Jule ist aus unserer Wohnung schon ausgezogen. Das alles geht mich schon nichts mehr an.“
Hannes steht ihm mit hochroten Gesicht gegenüber.
„Ich warne dich, Bürschle, wenn denen etwas passiert ist und es stellt sich heraus, dass du der Schuldige warst, dann schlage ich dir den Schädel ein, so wahr ich Johannes Gutemann heiße, merke dir das. Ich muss die Polizei informieren.“
Hannes Gutemann geht nach unten, die Gäste im Hof stehen immer noch da und sehen ihn fragend an, hat er eine neue Information?
„Leute, ich weiß auch nicht mehr, Melly und Jule sind nicht im Haus und auch der Golf ist weg. Ich muss die Polizei anrufen, die Weinstube bleibt vorerst geschlossen. Es tut mir sehr leid, aber allein kann ich das Lokal nicht aufmachen.“
Die Gäste gehen kopfschüttelnd durch das Tor hinaus auf den Schlossplatz, sie sind irritiert, was wird dann morgen sein? Die Urlauber interessiert zunächst nur, wo sie ihr Frühstück herbekommen, wer die Zimmer sauber macht und ob man am Abend in der Schönen Fischerin seinen Wein bekommt. Dafür haben sie auch bezahlt und jetzt wollen sie das, was sie sonst immer bekommen haben.
Elementarbedürfnisse älterer Urlauber halt, das sind alles nur Grundversorgungsthemen, mehr nicht. Sorgen um den Verbleib und das Schicksal der beiden Frauen werden erst einmal zurückgestellt, die kommen vielleicht später.
Kapitel 2
Die Suche
Johannes Gutemann ist besorgt, er hat keine guten Vorahnungen. Er versucht zwar diese zu verdrängen, aber sie lassen ihn nicht los. Wenn die Frauen schon am Sonntag mit dem Auto losgefahren sein sollten und heute am Dienstag, es ist jetzt schon fünf Uhr, immer noch nicht da sind, dann muss etwas passiert sein. Sie haben auch keine Nachricht hinterlassen, und dass seine Melly ihre Hausgäste im Stich lässt, das gab es noch nie. Sie kennt die Gäste alle persönlich sehr gut, die kommen seit Jahren, gerade jetzt in der Nachsaison sind es fast immer dieselben.
Hannes Gutemann geht ins Lokal und erkennt sofort, dass der Golfschlüssel nicht am Schlüsselbrett hängt, was ihm zunächst auch einleuchtet. Es wurde alles aufgeräumt, wie das am Samstagabend immer getan wird, wenn zwei Schließtage folgen. Er geht zum Telefon und ruft die örtliche Polizeistation an.
„Hier Gutemann, der Hannes, bist du es, Walter? Ich brauche deine Hilfe. Stell dir vor, ich komme vor zwei Stunden von meiner diesjährigen Radtour um den See zurück und es ist keiner da, niemand. Die Gäste haben mich erwartet, die warten seit Montag auf ihr Frühstück und haben sich beschwert, dass sich niemand um sie kümmert.“
„Hast du schon im Haus nachgesehen, Hannes. Auch oben bei deinem komischen Schwiegersohn?“ Walter Steinmeier ist bekannt, dass die Scheidung von Jule und diesem Florian eingeleitet ist.
„Natürlich, Walter. Ich habe den Florian sofort zur Rede gestellt, denn ich hatte sofort den Verdacht, dass er dahinterstecken könnte, aber der weiß angeblich auch nichts, sagt er zumindest. Jule lebt doch gerade mit dem Kerl in Scheidung, da ist der Kontakt zu uns abgerissen, der wird noch in diesem Monat ausziehen.“
„Das ist alles sehr sonderbar, so kenne ich deine Melly und auch deine Jule überhaupt nicht. Alles liegen und stehen zu lassen und wegzufahren, das gefällt mir nicht. Das passt weder zu deiner Melly noch zur Jule.“
„Walter, ich habe große Sorgen, mehr noch, ich habe Angst, dass denen etwas zugestoßen ist. Wenn sich herausstellen sollte, dass der Florian dieser Nichtsnutz etwas damit zu tun hat, bringe ich ihn um. Eigenhändig, das schwöre ich dir.“
„Ich werde sofort eine Vermisstenanzeige aufgeben, Hannes. Welche Farbe und welches Kennzeichen hat denn das Auto von Melly? Weißt du, was sie anhatten? Weißt du nicht, klar, du warst ja unterwegs. Wer war denn bei deiner Radtour mit dabei, ich brauche auch die Namen und die Anschriften deiner Kameraden. Du weißt, ich muss das alles prüfen lassen, auch dein Alibi, aber das dürfte reine Formsache sein. Dann geht alles nach Friedrichshafen zu Kriminalhauptkommissar Sturm, der ist der Kopf.“
Walter Steinmeier, Kommissar auf der Polizeistation in Meersburg, notiert alle Daten, er wird über die Zentrale in Friedrichshafen eine Suchmeldung aufgeben. Die persönlichen Daten der beiden Frauen sind hinterlegt, die Fotos sind aber nicht mehr aktuell. Hannes wird ihm sofort neuere Fotos vorbeibringen, es sind nur dreihundert Meter bis zur Polizeistation.
Als Hannes von dort zurückkommt, sieht er einige Personen vor der Weinstube stehen, sie diskutieren und zucken mit den Schultern.
„Ich muss Euch sagen, dass die Weinstube vorübergehend geschlossen bleiben wird. Allein kann ich das nicht machen. Ich habe soeben auf der Polizei eine Suchmeldung aufgegeben. Mehr kann ich im Augenblick nicht machen. Wenn Euch irgend etwas zu Ohren kommen sollte, ruft mich bitte an, derzeit muss jeder Spur nachgegangen werden.“
Das wird dem Hannes spontan zugesichert, aber es ist ihm auch klar, dass das Fehlen von Melly und Jule schnell bekannt würde. Das wird wie ein Lauffeuer durch die Stadt gehen. Hannes hofft, dass zumindest dadurch neue Informationen zu erhalten sein könnten.
„Diese Radtour hätte ich nicht machen sollen, die drei Freunde wären auch ohne mich gefahren. Es waren so schöne vier Tage rund um den See und jetzt das.“
Hannes Gutemann geht mit schweren Schritten in die Weinstube, er schreibt mit einem Filzstift auf ein Stück Karton:
Weinstube vorübergehend geschlossen
und hängt es draußen an die Eingangstüre. Hinter ihm sammeln sich ein paar Leute, es sind Nachbarn, wie er beim Umdrehen erkennen kann.
„Hannes, was ist denn los? Die Leute reden davon, dass Melly und Jule verschwunden sind. Du warst auf deiner Radtour, da muss es geschehen sein.“
Hannes regt sich sofort auf, denn er erkennt, dass die Rederei schon begonnen hat.
„Langsam, Leute, macht die Sache nicht noch schlimmer, denn noch ist ja nichts geschehen.“
Aber er macht sich dabei nichts vor, irgend etwas ist sicherlich geschehen, wenn man auch noch nicht weiß, was. Er geht wieder ins Lokal, schließt ab und setzt sich an den Stammtisch. Zur Beruhigung schenkt er sich ein Glas Wein ein, irgendeinen, er trinkt das Glas fast leer und schenkt nach.
Was kann er jetzt tun? Das Telefon läutet, Hannes Gutemann steht auf und nimmt ab.
„Herr Gutemann? Hier spricht Kriminalhauptkommissar Eustachius Sturm von der Kripo Friedrichshafen. Wir bearbeiten gerade ihre Suchmeldung, sie ist bereits raus, aber ich würde gerne zu ihnen kommen, wenn es ginge gleich morgen früh um acht Uhr, ist das für Sie so in Ordnung? Vielleicht ergeben sich schon heute Nacht Hinweise. Wir fragen alle Krankenhäuser und Polizeistationen ab, sollten die beiden Frauen einen Unfall gehabt haben, erfahre ich das.“
„Ja, Herr Sturm, ich werde morgen früh um acht Uhr zu Ihrer Verfügung stehen, muss ich etwas vorbereiten oder herrichten?“
„Sofern Ihnen etwas auffällt, informieren sie mich sofort. Ich gebe Ihnen jetzt meine Mobilnummer, da erreichen Sie mich immer, ich wiederhole: immer. Sollten bei uns hier neue Informationen aufschlagen, rufe ich Sie selbstverständlich sofort an. Ansonsten bringe ich morgen Kollegen von der Spurensicherung mit, die werden sich alles genau ansehen. Ich hoffe, Herr Gutemann, es löst sich alles auf, wenn nicht, läuft ab morgen eine groß angelegte Suchaktion.“
„Ich danke Ihnen, Herr Sturm und eine gute Nacht, ich glaube, meine wird keine besonders gute sein“.
Es ist jetzt kurz nach sieben Uhr abends, Hannes Gutemann schließt die Hintertür zum Lokal und geht über den Hof ins Hinterhaus. Er weiß, dass sich oben dieser Florian aufhält, sofern er nicht weggegangen ist, aber hochgehen und ihn nochmals befragen, will er nicht. Die Geschichte mit diesem Florian und seiner Jule ist einfach vorbei, die Ehe ist hinüber, die Scheidung läuft, diesen Monat wird er ausziehen, dann ist dieses ganze Thema erledigt. Gott sei Dank.
Er nimmt das Telefon in die Hand und wählt die Nummer von Vinzenz Weiler, dem alten und inzwischen wieder neuen Freund seiner Tochter Jule. Nach der Scheidung von Florian haben beide vor zu heiraten, aber es ist nur der Anrufbeantworter dran, er soll es doch später noch einmal versuchen. Dann sucht er die Privatnummer von Adalbert Weiler, dem Bruder von Vinzenz und Rechtsanwalt in Meersburg, heraus und ruft dort an.
„Hier Anika Weiler, mit wem spreche ich?“
„Gutemann, der Hannes, ist am Apparat, guten Abend, Anika. Ich rufe nicht gerne noch nach Feierabend an, aber so wie es aussieht, ist etwas passiert, ist denn dein Mann zuhause?“
„Ja, Hannes, er ist hier, ich gebe ihn dir gleich, aber bitte, mach mir keine Angst, ist etwas mit der Jule?“
„Das sage ich gleich deinem Mann. Hallo, Adalbert, der Hannes ist hier, stell dir vor, was heute passiert ist.“
Und nun erzählt er Adalbert Weiler die ganze Geschichte, wie er zuhause ankam und vom Rad stieg, wie bereits die Pensionsgäste im Hof auf ihn warteten, wie er erfahren musste, dass sowohl Melly als auch Jule seit Sonntag nicht mehr gesehen worden sind und dass das Auto von Melly verschwunden ist. Er erzählt dem schweigend zuhörenden Adalbert, dass die Polizei bereits eine Suchmeldung in Auslauf gegeben hat und dass morgen früh um acht Uhr die Kripo Friedrichshafen zu ihm kommen wird mit Mitarbeitern der Spurensicherung. Er erzählt auch, dass er in der oberen Wohnung war und diesen Florian gestellt hatte, der aber auch keine Auskunft geben konnte oder keine geben wollte.
Adalbert ist entsetzt, er hält sich aber Hannes gegenüber zurück. Er wird gleich nachher seinen Partner Max Vöhringer informieren, der ja den Scheidungsfall Haas gegen Haas auf dem Tisch hat.
„Mein Gott, Hannes, hoffentlich kommen die beiden wieder gesund und heil zurück, man weiß ja heute nie, was so alles geschehen kann. Hast du schon meinen Bruder erreichen können? Anrufbeantworter? Dann versuche es doch später bitte nochmals, auch ich werde versuchen, Vinzenz zu erreichen. Vinz wollte sich mit Jule am kommenden Wochenende in Nussdorf treffen, da hat Vinz bereits ein Zimmer in einer ihm von früher gut bekannten Pension reservieren lassen. Beide wollen sich nicht gemeinsam in Meersburg zu oft sehen lassen, gerade wegen dem Florian und der laufenden Scheidung, du verstehst?“
Hannes versteht, beide reden noch ein paar Minuten, aber als Hannes merkt, dass er beginnt, sich zu wiederholen, beendet er das Telefonat. Später, gegen 22.00 Uhr, erreicht er Vinzenz und erfährt dabei, dass Anika ihn kurz zuvor angerufen habe. Vinzenz ist deprimiert und fassungslos zugleich.
„Weißt du, Hannes, noch ist zwar nichts passiert, aber ich habe überhaupt kein gutes Gefühl und ich weiß nicht, was ich von hier aus denn tun könnte. Bitte informiere mich, sobald die Polizei etwas herausgefunden hat, es wäre nicht auszudenken, wenn beiden etwas passiert wäre. Wir können beide jetzt nur hoffen, dass es doch noch zu einem guten Ende kommt. Gute Nacht, Hannes.“
Als dann später bei Hannes Gutemann das Licht ausgeht, schleicht sich Florian auf leisen Sohlen hinunter in den Keller. Er geht bis ganz nach hinten, seine Taschenlampe leuchtet ihm den Weg aus. Er öffnet den Lattenverschlag und überprüft, ob auf dem feuchten Sandboden eventuell Spuren erkennbar sind, aber der Sandboden ist glatt, der Spaten lehnt wie immer an der Wand. Beruhigt geht er zurück ins Erdgeschoß des Hinterhauses.
Florian Haas geht in die Wohnung zurück, sein Magen meldet sich, aber gegen den Hunger hat er nichts mehr im Kühlschrank, er wird morgen einkaufen müssen. Auch der Vorrat an Schnaps ist aufgebraucht, egal, auch den wird er morgen auf seiner Kaufliste stehen haben.
Morgen ist Mittwoch, da hat er noch Urlaub bis einschließlich Freitag, vielleicht sollte er ein paar Tage wegfahren, nach Bregenz zu seinem Vater, den hat er auch schon lange nicht mehr gesehen. Der wohnt außerhalb der Stadt in Haard. Sein Vater ist in Bregenz als Koch in einem Hotel beschäftigt, er ist in zweiter Ehe verheiratet, seine erste Ehefrau, Florians Mutter, hatte sich damals das Leben genommen, oben im Dachstuhl hatte man sie gefunden. Sie hatte sich erhängt. Im Dialekt haben die Leute gesagt: „Sie ist in den Hanf gegangen.“
Florian war damals schon zwanzig, als das passierte. Der Vater hatte ein Verhältnis mit einer Bedienung aus dem Hotel und seine Mutter hing am Alkohol. Da gab es schlimme Phasen, einmal war sie auf Entzug, aber bald nach ihrer Rückkehr fing sie wieder an. Schnaps, immer wieder Schnaps. Er zog dann aus und bald danach passierte es. Gelegentlich besucht er ihr Grab, Wehmut empfindet er dabei aber nicht.
Er hatte in Bregenz eine kaufmännische Lehre gemacht und konnte danach bei ZF in Friedrichshafen in der Kundenbetreuung eine Stelle bekommen, die er heute noch innehat.
Er wollte damals nur weg, weg von da, wo ihn alle kannten, und auch von den unschönen häuslichen Zuständen. Zu der zweiten Frau seines Vaters, der Monika, hat er eine normale Beziehung, sie kann ja nichts dafür. Die haben dort ein Gästebett, da könnte er übernachten. Hier wird er derzeit nicht mehr gebraucht.
Hannes versucht später noch einmal, Vinzenz telefonisch zu erreichen. Er muss jetzt mit jemandem reden, er hält dieses Alleinsein nicht aus. Als Vinzenz abnimmt, bekommt er zur Antwort, dass Max Vöhringer, von seinem Geschäftspartner Adalbert informiert, ihn gerade vorhin angerufen habe. Beide hatten ein ausführliches Gespräch. Vinzenz spricht leise und klingt deprimiert, das alles kommt ihm bedrohlich vor.
„Hannes, ich mache mir große Sorgen, das sieht für mich nicht gut aus. Ich kann mir nicht helfen, aber seit ich das weiß, habe ich einen Verdacht gegen diesen Florian. Aus meiner Sicht hätte nur er ein Motiv, ich wüsste sonst keinen. Der hat die eingeleitete Scheidung und die Abwendung der Jule von ihm nicht verkraftet, Eifersucht ist immer ein Motiv, du musst morgen die Kripo voll informieren. Mein Gott, wenn den beiden etwas zugestoßen ist, es wäre nicht auszudenken, bei den ganzen Plänen, die ich mit der Jule schon gemacht habe. Hoffentlich geht das gut aus. Danke für die Information und haltet mich bitte auf dem Laufenden, du und auch der Max, beide, bitte. Gute Nacht, Hannes.“
Vinzenz hatte zuvor den Anruf von Max Vöhringer entgegengenommen und war vollkommen konsterniert gewesen. Max hatte versucht, ihn zu beruhigen mit dem Hinweis, dass die Polizei bereits eingeschaltet sei, aber das war für ihn auch keine Beruhigung, sondern nur der Hinweis auf eine ungeklärte Sache in Verbindung mit dem Verschwinden von zwei Personen. Und eine von den beiden war ausgerechnet seine Jule. Wo sind nur die beiden Frauen?
Er denkt an seine wiedergefundene tiefe Liebe zu Jule. Eine kluge und schöne junge Frau, gerade 33 Jahre alt und einziges Kind von Hannes und Melly. Jule und Vinzenz und ihre gemeinsamen großen Pläne. Sollte das alles umsonst gewesen sein?
Kapitel 3
Blick zurück
In diesem Moment erinnert sich Vinzenz noch genau daran, wie er vor gut drei Wochen, an einem warmen Samstag im August, von seinem Wohnort Weissach nach Meersburg gefahren war. Das war damals seine eigene Entscheidung gewesen und diese Heimkehr nach Meersburg hatte dann alles, aber auch alles verändert.
An jenem Samstag vor drei Wochen bemühte sich der Sommer noch einmal besonders. Es ging auf Ende August zu, man wartete schon auf den Herbst. Aber es war ein warmer und windstiller Tag, der Sommer gab sich noch einmal die Ehre und Vinzenz freute dies besonders, da er für zwei Wochen nach Meersburg fahren wollte. Fünf Jahre war er nicht mehr in seiner Heimatstadt gewesen, fünf Jahre hatte er sich geweigert, ja, es sich sogar verboten, dorthin zu fahren. Zu viel war in diesen fünf Jahren geschehen. Zu viel an stark wechselnden Empfindungen hatte er hinnehmen müssen. Jetzt wollte er mit dem Besuch sein Gefühlsleben ordnen und nicht länger im Versteck leben. Sein Entschluss stand fest.
Bei seinem Bruder Adalbert, der in Meersburg zusammen mit einem Kollegen eine Anwaltskanzlei betrieb, würde er für die zwei Wochen wohnen können. Da wird er in der Familie von Adalbert gut aufgenommen werden, da war er sich sicher. Mit Adalbert und seiner Frau Anika hatte er sich immer gut verstanden. Für die drei Kinder der beiden war er der Onkel aus Weissach, der große Onkel, der bei Porsche arbeitet und Rennwagen baut. Dass der Porsche-Onkel kommt, hatten alle drei schon herumerzählt. Vinzenz hatte den drei Buben auch kleine Geschenke eingepackt, natürlich auch drei Porschemodellautos.
Vinzenz Weiler verstaute seinen Koffer und eine Sporttasche in seinem Porsche 911, der Platz hinter den Sitzen reichte dafür aus. Ein mittelgroßer Koffer und eine Sporttasche genügten ihm immer für zwei Wochen Urlaub. Da waren Hemden, Hosen und seine Wäschestücke sauber abgezählt eingepackt, sodass er, ohne dass er etwas hätte waschen müssen, erfahrungsgemäß zwei Wochen damit gut auskommt.
Er war vor rund fünf Jahren von Meersburg nach Weissach gezogen, wo die Firma Porsche ihr Entwicklungs- und Testzentrum hat. Fünf Jahre waren das nunmehr her und seine berufliche wie auch seine private Welt hatten sich in dieser Zeit völlig verändert. Wie diese fünf Jahre so ziemlich alles auf den Kopf gestellt hatten, wurde ihm gerade jetzt beim Aufbruch sehr deutlich klar.
Zuvor war Vinzenz Weiler bei der Zahnradfabrik ZF in Friedrichshafen beschäftigt gewesen. Geboren und aufgewachsen in Hagnau, konnte er nach dem erfolgreich abgeschlossenen Ingenieursstudium bei ZF beginnen. Nach zwei Jahren schon übernahm er eine verantwortliche Position in der Entwicklungsabteilung für die ZF-Automatikgetriebe, weitere Positionen auf der Karriereleiter schienen bereits erkennbar zu sein, da erhielt er das Angebot der Firma Porsche.
Dahinter verbarg sich damals, und das wusste Vinzenz genau, ein ehemaliger Studienkollege, seit ein paar Jahren bei Porsche, den er auf einer Messe wiedergetroffen hatte. Beide hatten sich als Studenten bestens verstanden und nun wollte dieser, dass Vinzenz nach Weissach wechseln solle und hatte das in der Geschäftsführung auch eingefädelt. Das Angebot war einfach großartig und nicht abzulehnen und so hatte er sich für den beruflichen Aufstieg entschieden.
Vinzenz setzte sich in den Porsche und startete die Fahrt nach Meersburg. Er gab in das Navi den Zielort ein und erkannte, dass er in rund zwei Stunden dort sein dürfte. Für den Weg in die Heimat bräuchte er normalerweise kein Navi, so vertraut war ihm die Route, aber er informierte sich immer gern, ob eventuell ein Stau oder ein Verkehrshindernis angezeigt würde, aber heute waren keine Störungen erkennbar, er würde also gegen 14.20 Uhr in Meersburg ankommen.
Meersburg, die schöne und historische Stadt am Bodensee, seine alte Heimat und letzte Wohnstätte. Die damalige Trennung war schwierig gewesen und die folgende Zeit vor allen Dingen im privaten Bereich sehr belastend. Seine große Liebe zu Jule stand auf dem Spiel, beide hegten zwar noch die leise Hoffnung, dass trotz der räumlichen Entfernung vielleicht doch eine Verbindung möglich wäre. Allein, es blieb bei dem Wunsch.
Vinzenz erinnerte sich in diesem Moment, er fuhr gerade auf der A 8 und wechselte am Kreuz Böblingen auf die A 81 in südlicher Richtung, mit einem wehmütigen Gefühl an seine erste Begegnung mit Jule, gerade so, wie wenn es erst gestern gewesen wäre. Jule, eigentlich Juliane Gutemann, war seine Liebe auf den ersten Blick. Er wohnte noch in Hagnau und besuchte gelegentlich seinen Bruder Adalbert in Meersburg. Und da war dieser eine Abend, an dem Adalbert ihn in seine Lieblingsweinstube mitgenommen hatte. Adalbert hatte ihm schon mehrmals von dieser Weinstube erzählt, der Weinstube Zur schönen Fischerin am Schlossplatz im oberen Teil von Meersburg. Oben, wo das Neue Schloss steht, dort wo man von der Seeseite über die Steigstraße hochgehen muss, um von oben dann einen traumhaften Blick über den See zu haben.
Die Weinstube gehörte zu der darüber liegenden Frühstückspension Gutemann. Die Eltern von Jule betrieben die Pension mit acht Doppelzimmern, genauer gesagt, Melly Gutemann, die Mutter von Jule, führte die Pension. Ihr Mann, Johannes, der Hannes, Gutemann, war seit vielen Jahren als Versicherungsmakler tätig. Ein sportlicher und immer noch gutaussehender Mann. Zusammen mit seiner Frau Melly und der hübschen Tochter Juliane galten sie als eine bekannte Traditionsfamilie in Meersburg.
Als Vinzenz damals mit seinem Bruder die Weinstube betrat, fiel ihm sofort dieses blonde und mehr als nur hübsche Mädchen auf, das im Lokal bediente. Adalbert, der hier Stammgast war, stellte Vinzenz dem Mädchen auch sofort vor.
„Jule, darf ich dir meinen Bruder Vinzenz vorstellen, er ist auf Kurzbesuch bei mir. Ich habe ihm schon von deiner Weinstube erzählt. Vinzenz, das ist die Jule Gutemann, die Juniorchefin hier, sei freundlich zu ihr, dann bekommen wir auch den besten Wein.“
Mit einem Blick war es Vinzenz sofort bewusst, dass er sich nicht lange wird bemühen müssen, freundlich zu sein. Denn, wie sich die beiden in diesem Moment in die Augen sahen, öffneten sich gleichzeitig auch ihre Herzen. Der Händedruck war mehr als nur eine Höflichkeit und Vinzenz bekam leicht rote Backen und sein Pulsschlag war an seinem Hals deutlich zu spüren.
Das war der Abend, an dem alles begann. Das Virus der großen Liebe hatte beide erfasst und von da an kam Vinzenz immer öfter in die Weinstube. Bald war er ein gern gesehener Gast im Hause Gutemann. Melly und Hannes Gutemann sahen die Entwicklung zwischen Vinzenz und ihrer Jule mit großer Sympathie und ließen dies Vinzenz auch spüren.
Vinzenz fuhr in diesem Augenblick an Herrenberg vorbei in Richtung Horb, er kam dem „Thema Meersburg“ immer näher, er wurde ernster und angespannter. Das „Thema Meersburg“, wie es Vinzenz gerne beschrieb, war das Resultat seiner beruflichen Entscheidung gewesen, die vollkommen konträr zu seiner damaligen privaten Situation stand.
Es kam damals erst einmal so, wie es kommen musste und wie es das Schicksal vorbestimmt hatte: Vinzenz und Jule wurden ein Liebespaar. Vinzenz war ohnehin Single und Jule hatte zwar eine kleine Beziehung, aber ohne die Ernsthaftigkeit einer Bindung, eher eine Freundschaft, und so hatte ihre Liebe keine Vorbelastungen. Vinzenz suchte sich eine kleine Zweizimmerwohnung in Meersburg, richtete sie gemütlich ein, gleich mit einem Doppelbett, damit auch das klar war und fuhr von da an von Meersburg nach Friedrichshafen ins Büro, vielleicht fünf Kilometer weiter als bislang von Hagnau aus.
Jule hatte inzwischen die volle Verantwortung für die Weinstube übernommen, ihr freundliches Wesen und ihre Herzlichkeit waren der Garant für den stets guten Besuch des Lokals. Kleinere Gerichte und natürlich hauptsächlich die Weine der Winzergenossenschaft Meersburg waren auf der Karte, Sonntag und Montag war Ruhetag, geöffnet war ansonsten von 16.00 bis 23.00 Uhr.
Melly und Hannes mochten Vinzenz wie ihren eigenen Sohn, es war schon fast zu viel an Sympathie vorhanden gewesen. Bei ZF war Vinzenz in größere Projekte eingebunden und war dadurch auch immer wieder unterwegs, aber das waren selten mehr als zwei bis drei Tage.
Zwei Jahre nach seinem Umzug nach Meersburg wurde seine Jule zur Weinkönigin der Region gewählt. Sie war eine ausgesprochene schöne Frau geworden, lockiges blondes Haar, schlank und ihre blauen Augen leuchteten in ihrem freundlichen Gesicht, Vinzenz war stolz auf seine Jule. Beide waren während der Woche in ihre beruflichen Aufgaben eingebunden, aber die Sonntage verbrachten sie stets gemeinsam, oftmals auch mit Melly und Hannes, und der Bodensee mit der gegenüberliegenden Schweiz und den Möglichkeiten im Hinterland boten immer neue Ziele, es war eine beglückende Zeit.
Natürlich war dann auch eine Hochzeit eingeplant, das wurde gern von Melly forciert. Eine Mutter hat da eigene Gefühle und Wünsche und Jule war ihr einziges Kind, da will man den Kreis schließen. Das seit rund 300 Jahren im Familienbesitz stehende Haus lag im nördlichen Bereich des großen Schlossplatzes und bestand aus einem vorderen Haus, in welchem die Pension mit Weinstube untergebracht war und aus einem hinteren Gebäude, wo Hannes Gutemann im Erdgeschoß sein Versicherungsbüro hatte und im ersten Stock die Familie wohnte. Das zweite Geschoß stand zur Nutzung noch frei, da wollte man demnächst einen großzügigen Umbau machen und als Wohnung für das junge Paar herrichten. Pläne wurden bereits gemacht und ein Architekt, ein Freund der Gutemanns, entwarf bereits den Grundriss für die künftige Raumnutzung.
Und genau zu diesem Zeitpunkt, also zur sogenannten Unzeit, erreichte Vinzenz das Angebot aus Weissach. Das war der Hammer schlechthin. Ein Einstellungsgespräch wurde ihm angeboten, aber er wollte Jule noch nicht verunsichern und sagte ihr daher nichts, nahm aber den Termin in Weissach wahr.
Auf der A 81 war wenig Verkehr, er würde bald das Kreuz Hegau erreicht haben, da musste er auf die 98er wechseln. Das war damals auch die Route zum Gespräch bei Porsche, nur in der entgegengesetzten Richtung. Nun aber war seine Spannung wesentlich größer, als damals, obwohl damals schon die große Welt von Porsche für ihn aufregend genug war.