Sphärenspringer - Angela Kämper - E-Book

Sphärenspringer E-Book

Angela Kämper

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Beschreibung

In einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, macht sich eine ungewöhnliche Gruppe auf den Weg, das energetische Gleichgewicht der Erde wiederherzustellen: Ming Chen, Arzt für traditionelle chinesische Medizin, der wissbegierige Rabbiner-Sohn Moshe, die feinfühlige Jihane aus dem Iran, die deutsche Biologielehrerin Rosa, der US-Soldat Jimmy, die tibetische Nonne Nyima und ihr weiser Terrier Sonam. Gemeinsam reisen sie zu kraftvollen Orten wie den Nazca-Linien, dem Berg Kailash, einem hinduistischen Tempel oder den ägyptischen Pyramiden. Sie folgen dem Ruf geheimnisvoller Zeichen und begegnen Wesen, die uns umgeben, aber meist verborgen bleiben. Ihre unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Sichtweisen verschmelzen zu etwas Größerem: einem tiefen Verständnis von Einheit, Liebe und Licht. Was als Mission beginnt, wird zur inneren Reise, für die Figuren ebenso wie für Dich als Leser. Ein Roman, der Wissenschaft, Spiritualität und Mythos verbindet. Du bekommst Fragen geschenkt, die Du zuvor gar nicht kanntest. Gehe mit auf diese abenteuerliche und spannende Reise hinter den Schleier des Vergessens.

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Seitenzahl: 554

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dieses Buch widme ich Astrid Dittmar-Sellin, die mir mir ihrem offenen Herzen und ihrem Lachen im Lebensgarten Steyerberg den Rahmen für einen äußeren und inneren Ort zur Verfügung gestellt hat, an dem ich diese wundervolle Reise unternehmen und aufschreiben konnte.

Mit herzlichem Dank und Liebe ... wo immer Du jetzt bist.

Werner Heisenberg:

"Der erste Trank aus dem Becher der Naturwissenschaften macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott."

Daniel Meurois-Givaudan:

"Alles was uns vereint, lässt uns wachsen. Es lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das subtile Netz der Offenbarung, von der göttlichen Intelligenz gewebt, um den Menschen aus allen möglichen Kulturen zur Bewusstseinserweiterung zu verhelfen."

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Teil 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Teil 3

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Teil 1

1

Ming Chen löste seine drei Finger von der Innenseite des Handgelenks. Herr Wang war ein schlanker, fast zartgliedriger Mann jenseits der siebzig. Sein Puls war für sein Alter außergewöhnlich kraftvoll. Sein Nieren-Qi hatte die Kraft eines gesunden Dreißigjährigen. Es würde Ming Chen leicht fallen, Qi in die Lungen umzuleiten, da in den anderen Energiesystemen ausreichend Lebensenergie vorhanden war.

Ming Chen bat den alten Herrn auf der Liege Platz zu nehmen und es sich dort bequem zu machen. Er sollte nur zuvor sein Hemd ausziehen. Herr Wang bekam einen heftigen Hustenanfall. Wegen seines schweren, nun schon bereits drei Wochen andauernden Hustens war er zu dem Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin gekommen, der über die Grenzen von Chengdu hinaus bekannt war.

Ming Chen arbeitete in der letzten staatlichen TCM-Klinik. Vor zwanzig Jahren hatte es in Chengdu, damals auch schon eine Millionenstadt, noch zwölf weitere TCM-Kliniken gegeben. Im Laufe der Jahre waren sie nach und nach dem rasanten Trend der Chinesen zum Modernen und Westlichen zum Opfer gefallen.

Vor vielen Jahren hatte sich Ming Chen noch über seine Kollegin gewundert. Er fand die Ärztin im Arztzimmer liegend. Sie hing am Tropf und gab sich selbst eine Infusion gegen eine bei ihr aufkommende Erkältung. Kurz zuvor hatte sie noch bei einem sechsjährigen Mädchen erfolgreich eine Akupunkturbehandlung durchgeführt. Das Kind litt unter dem "kalten Gesicht", wie traditionell epileptische Anfälle genannt wurden. Die noch junge Ärztin war über die Stadtgrenzen hinaus bekannt für ihre erfolgreiche Akupunktur-Behandlung von Epilepsie, insbesondere bei Kindern. Und sie selbst nahm nun ein chemisches Pharmazeutikum gegen eine solche Lapalie. Ming Chen hatte schon einige Zeit das Gefühl, dass mit den ungemein beschleunigten gesellschaftlichen Veränderungen in China auch ein aus seiner Sicht unglückseliger Umbruch in der Medizin vor sich ging.

Ming Chen war Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin in vierter Generation. Er hatte auch Schulmedizin studiert, sogar mit großer Freude. Er hatte das umfangreiche Wissen über den physischen Körper und seine Funktionsweisen förmlich aufgesogen. Doch die Anatomie und Physiologie hatte sich stets unter seine eigene Wahrnehmung des Energieflusses im Menschen gelegt. Ming Chen spürte und wusste einfach, dass und wie Qi durch den Körper von Lebewesen fließt – es sei denn, es lagen Energieblockaden oder Qi-Mangel vor. Wie sein Vater, sein Großvater und ein Urgroßvater war er zudem Qigong-Meister. Er konnte die universelle Lebensenergie konzentrieren und über seine Hände in seine Patienten leiten, um die krankmachenden Störungen mit Hilfe des Qiflusses in den Meridianen zu beheben.

Seine Kommilitonen an der medizinischen Fakultät in Chengdu verließen sich lieber auf Apparate und chemische Pharmakologie. Kaum noch einer von ihnen konnte noch das Qi erspüren, geschweige die Energie konzentrieren und verstärken. Für Ming Chen war bei der modernen Medizin die Behandlung von den Händen in den Kopf gerutscht. Computertomografie und Magnetresonanztomografie statt Pulsdiagnose. Antibiotika, Beta-Blocker und Chemotherapie statt Heilkräuter, bewusster Ernährung, Akupunktur und Moxibustion. Aber dieses Rad konnte niemand zurückdrehen. Er hätte sich so sehr ein Miteinander dieser beiden Richtungen gewünscht, aber das alte Wissen wurde mehr und mehr verdrängt.

Ming Chen konnte nur mit innerer Gelassenheit die Zeit an sich vorbeiziehen lassen. Für sich hatte er in der kleinen verbliebenen TCM-Klinik seine Oase gefunden. Still war er meistens, fast schweigsam. Aber Ming Chen lachte auch gerne. Jeden Samstag gönnte er sich eine Zigarre und einen Whisky, dazu für gewöhnlich einen klassischen amerikanischen Spielfilm oder einen Science-fiction – bis dahin hatte seine eigene Verwestlichung gereicht. Er liebte dieses Ritual.

Darüber hinaus faszinierte Ming Chen die Astrophysik. Es bereitete ihm die Vorstellung eine tiefe innere Freude, dass einzelne Planeten in gewaltigem Tempo und unvorstellbar schneller Eigenrotation wie hektische Nomaden durch den Weltraum sausten. Er spürte darin im Großen einen Ausreißer des QiStroms in seinen Patienten. Und dann Chinesen, die auf der abgewandten Seite des Mondes herumliefen. Allein das Bild setzte ihm ein Lächeln in Gesicht und Herz. Was immer die Partei damit vorhatte. Aber Politik war nicht so sein Ding. Nicht weil er Angst gehabt hätte, nein. Sondern weil er sich durch und durch als Taoisten sah. Auch der Archäologie war Ming Chen zugetan. Nur – über sein eigenes Land wurde für seinen Geschmack leider viel zu wenig publik gemacht.

Nun lag Herr Wang auf seiner Behandlungsliege. Herr Wang lebte mit seiner Frau nun schon seit einigen Jahren in der südchinesischen Stadt Guilin in der Provinz Guangxi. Früher hatte Herr Wang mit seiner geliebten Frau in einem Dorf am Fluss Li gelebt. Ehe sich China geöffnet hatte und die Touristen in immer größeren Scharen gekommen waren, war Yangdixiang noch ein beschaulicher Ort gewesen. Der Li schlängelte sich gemächlich um die spektakulären Kalkstein-Karsthügel, die wie unzählige grüne Gugelhupfe steil aus einem Mosaik aus Reisfeldern aufragten. Damals fischten die Fischer auf den schmalen Bambusflößen tatsächlich noch mit ihren Kormoranen ihren Lebensunterhalt aus dem Fluss. Inzwischen dienten die Fischer nur noch als romantische Fotokulisse für die Touristenmassen.

Damals war Herr Wang Geschichtenerzähler, bis vor gut fünfzehn Jahren auf dem Land ein geachteter Beruf. Jeden Tag ging Herr Wang in einem der umliegenden Dörfer auf den Markt - manchmal musste er mehrere Stunden dorthin laufen. Er hatte sein Auskommen und konnte sich und seine Familie, seine Frau und seine zwei Kinder, ernähren. Aber er verdiente niemals genug, um sich ein Boot leisten zu können. Mit einer Bootsfahrt auf dem Li hätte er den Weg zum nächsten Dorf erheblich abkürzen können.

Doch Herr Wang war ein stets freundlicher und bescheidener Mann, der niemals über sein Leben klagte. Er liebte seinen Beruf, er liebte das Geschichtenerzählen. Auf jedem Dorfmarktplatz hatte er seinen festen Platz unter einem Baum und erzählte seine Geschichten von Drachen und anderen mystischen Wesen, aber auch Liebesgeschichten und allerlei Abenteuer. Höchst angespannt schweigend, manchmal unterbrochen von ausprustendem Lachen, manchmal von erstauntem "Ooohhh", lauschten die Marktbesucher seinen Worten. Und wenn er fertig war, gaben sie ihm ein paar Yuan für seine Kunst.

Herr Wang erzählte von Liebe und Leid, von Zwietracht, Verlust, Hoffnung und Versöhnung. Eines jedoch unterschied Herrn Wang von anderen Geschichtenerzählern: Seine Geschichten hatten immer ein offenes Ende. Es lag also in der Verfassung des Zuhörers, ob seine Geschichten einen guten Ausgang nahmen oder nicht. Ob das schöne Mädchen seinen Prinzen bekam oder nicht. Ob der verschlagene Kaufmann Gong in den verzweifelten Ruin getrieben wurde oder ob er noch reicher wurde. Es gelang Herrn Wang, so lebendig zu erzählen, dass die Figuren in den Köpfen seiner Zuhörer zu atmenden Wesen wurden. Sie wurden ihnen so vertraut, dass sie im Kopf nach dem geschickten Erzählende weiterlebten. Jeder ließ die Figuren in seinen inneren Bildern weiter agieren. Seine Zuhörer waren stets sehr zufrieden nach dem Vernehmen seiner letzten Worte. Auf dem Nachhauseweg war jeder Zuhörer durch Herrn Wangs Erzählkunst angeregt seine Gedanken mit seinem für ihn passenden Ausgang der Geschichte zu füllen – und bei manchem auch sein Herz.

Darüber hinaus stießen Wangs ungewöhnliche Geschichten bei den Dorfbewohnern, die alle nur ihre kleine Welt am Fluss Li kannten, viele neue Gedankentore auf. Wo vorher Stillstand im Geist geherrscht hatte, konnten nun wieder Gedanken, Bilder und Qi fließen.

Wie nun bei der Akupunkturbehandlung durch Dr. Ming Chen. Herr Wang hatte nur wenig Geld. Seine beiden Söhne zahlten zwar seine Miete und seinen Lebensunterhalt, aber er selbst hatte keine eigenen Einnahmen mehr. Eine Rente gab es nicht. Und so hatte er wirklich nichts überher. Auch nicht für seine Gesundheitsversorgung oder die seiner Frau. Herr Wang hatte sich geschworen, nur im äußersten Notfall seine Söhne um weitere Unterstützung zu bitten. Sie hatten schließlich ihr eigenes Leben. Und so hatten die beiden Männer eine Abmachung getroffen: Herr Wang bezahlte seine Akupunkturbehandlung mit einer Geschichte.

Ming Chen hatte bereits die ersten Nadeln gesetzt, als Herr Wang fortfuhr: "...und nun musste der Junge irgendwie versuchen, diesen goldenen Sonnenstrahl durch das Nadelöhr zu lenken."

In diesem Moment setzte Dr. Chen eine Nadel schräg von oben sanft, aber bestimmt, hinter die obere Einbuchtung von Herrn Wangs Brustbein, Punkt REN 22, tiān tú, was so viel wie "Himmelsvorsprung" bedeutet.

In Ming Chens Kopf verschmolz der Sonnenstrahl aus der Geschichte mit der Akupunkturnadel zwischen seinen Fingern. Das erzählte Nadelöhr des Jungen legte sich in die kleine knöcherne Bucht von Herrn Wangs Brustbein. Sein eigenes Qi, das er stets sanft in die gesetzten Akupunkturnadeln leitete, ergoss sich immer stärker in die Nadel. Bald war es vollständig mit dem goldenen Sonnenlichtstrahl verschmolzen. Immer stärker wurde der Energiefluss, erfasste Ming Chens Arm, Brust, und bald seinen ganzen Körper. Ming Chen verlor komplett die Kontrolle über das, was hier geschah. Alles sog die Akupunkturnadel auf. Der Qigong-Meister, sonst so geübt in der Lenkung des Qi, fühlte Stück für Stück seine Energie schwinden. Verschwinden durch diese dünne Metallnadel hindurch, die hinter dem Brustbein von Herrn Wang steckte. Dieser Qi-Strom floss immer schneller. Als letztes zog dieser Sog an seinem Kopf. Es fühlte sich an, als würde sein Gehirn eingeschmolzen. Es tat nichts weh, war nicht mal besonders unangenehm. Es war nur höchst fremdartig, seltsam. Und entzog sich komplett seinem Willen.

Dann wurde Ming Chen schwarz vor den Augen.

* * *

Ming Chen findet sich auf einer Art schwarzem Untergrund wieder. Dort liegt er auf etwas, das er nicht kennt, nicht weich, nicht fest. Und er sieht nichts. Es ist stockfinster um ihn herum. Absolut still und dunkel.

Oder doch nicht? Ming Chen versucht sich die Augen zu reiben. Doch er tastet ins Leere. Er spürt sich. Doch er kann sich selbst nicht berühren. Obwohl er sich spürt, spürt er nichts. Seine Wahrnehmung scheint sich allmählich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Der Qigong-Meister beginnt etwas zu sehen. Sehen ist zu viel gesagt. Eher zu ahnen. So wie er das Qi spüren und fast irgendwie sehen kann. Es ist immer noch dunkel, doch zugleich fühlt er alle und keine Farben. Es leuchten die bezauberndsten Pastelltöne auf, als würden immer mehr Sonnen mit pastellenen Strahlen scheinen. Gleichzeitig ist seine Umgebung ohne Farbe, aber ohne schwarz zu sein.

Dann erklingen die weichesten und harmonischsten Töne, die Ming Chen je vernommen hat. Schwingungen, die er fast sehen kann. Töne, vielleicht auch Stimmen dabei, die alles tragen und halten und stützen. Und dennoch ist es still, eine unendlich tiefe Ruhe.

Ming Chen versucht, sich zu bewegen. Er spürt seinen Fuß zwar, aber sieht ihn nicht. Ihm ist als schwebe er im leeren Raum. Gleichzeitig hat er Halt. Er setzt seinen rechten Fuß vor. Und tatsächlich spürt er Halt unter seinem rechten Fuß. Der Halt leuchtet wie in fluoreszierendem Blau unter seinem Fuß auf. Da ist also etwas! Er setzt seinen linken Fuß vor und wieder findet er Halt auf oder in etwas kurz blau Aufleuchtendem.

Es erinnert Ming Chen an fluoreszierende Algen an Strand. Als er mit seiner Frau in Libeng am Strand des Gelben Meeres einmal nachts spazieren gegangen war, leuchteten bei jedem ihrer Schritte in dem feuchten Sand die in Kontakt und Bewegung geratenen Algen grün fluoreszierend auf.

Aber wo er jetzt ist, hier ist kein Sand, kein Strand, kein Wasser. Der Raum um ihn herum ist leer und doch ist der Raum da. Als würde sich dort, wo er etwas berührt oder berühren will, das entstehen, was er braucht - wie jetzt ein Boden unter seinen Füßen, um sich fortzubewegen. So setzt Ming Chen Fuß vor Fuß in dem für seinen Verstand leeren Raum. Jeder Schritt wird von etwas kurz blau Aufleuchtendem sicher gehalten. Nicht im Entferntesten kann Ming Chen begreifen, was hier vor sich geht.

Er tastet vorsichtig mit seinen Händen durch die Luft – ja, oder was auch immer ihn hier umgibt. Das lässt ihn sogar atmen. Es fühlt sich leer, aber zugleich auch flüssig an. Die Bewegungen seiner Hände hinterlassen farbige Schlieren um ihn herum. Dort wo seine Hände durch diese flüssige Leere streichen, wo sie die gallertartige Flüssigkeit zu berühren scheinen, flammt bläulich fluoreszierendes Licht auf. Wie bei seinen Füßen. Aber sich gegenseitig anfassen können sich seine Hände nicht. Als würden sie durch einander hindurchgehen. Als wären sie nicht da – obwohl Ming Chen sie deutlich spürt und nun auch die Auswirkungen ihrer Bewegung als Farbschlieren sehen kann.

Wo ist er nur hingeraten? Was ist mit ihm geschehen?

New York Times

Erneuter Zusammenbruch der digitalen Datenübertragung in Teilen der USA - Weltweites Chaos befürchtet

Erneut sind für vier Stunden nicht nur der Strom ausgefallen, auch jegliche Datenübertragung per Notstromversorgung war unmöglich. Experten rätseln noch immer über die Ursache dieses erneuten kompletten Ausfalls der Energie- und Datenversorgung. Naturereignisse, eine Überlastung des Stromnetzes, Über- oder Unterspannung, Lastabwurf oder Netzfrequenzabweichung können wie bisher ausgeschlossen werden. Diesmal sind von der mysteriösen Störung die Bundesstaaten Ohio, Kalifornien sowie die Städte New York und Detroit betroffen. Wie die fünf Male zuvor trat der Ausfall an allen Orten zum genau gleichen Zeitpunkt auf und verschwand auf die Sekunde genau an allen Orten wieder – als hätte jemand einen ominösen Schalter zunächst abgeschaltet, dann wieder angestellt. Treten diese Ausfälle weiterhin auf werden ein Zusammenbruch des Aktienmarktes, schwerste weltwirtschaftliche Probleme oder gar Zusammenbrüche und zunehmende Unruhen in der Bevölkerung oder gar bürgerkriegsähnliche Zustände befürchtet.

Erste vergleichbare Störfälle im elektrischen und digitalen Netz werden inzwischen aus Deutschland, Großbritannien, China und Australien gemeldet. Die weltweiten Börsen registrieren die ersten Panikverkäufe von Aktien und Anleihen.

China Daily

Zahlungsverkehr weiterhin problemlos

Staatspräsident Xi Jinping und die chinesische Regierung versichern, dass der Zahlungsverkehr durch die digitalen Aussetzer nicht gefährdet ist.

Der fast ausschließlich bargeldlose Bezahlverkehr der chinesischen Bevölkerung wird durch den stundenweisen Ausfall der Geldautomaten oder Kartenbasierten Systeme nicht grundlegend beeinträchtigt. Die Bevölkerung wird angehalten, Ruhe zu bewahren und von Hamsterkäufen abzusehen. Die chinesischen Behörden haben alles im Griff und werden keine Ausweitung der Störungen zulassen. Erste Saboteure wurden bereits festgenommen…

2

Moshe nahm all seine Kraft zusammen und setzte so schnell er konnte einen Fuß vor den anderen. Er rannte und rannte, gefolgt von David, seinem besten Freund aus dem Nachbardorf. Der war jetzt allerdings sein erbittertster Gegner, denn die beiden Jungen waren in die jeweils konkurrierende Fußballmannschaft gewählt worden. Moshe hatte noch eine Körperlänge Vorsprung vor seinem ebenfalls sehr flinken Freund, war aber schon in Schussweite vor dem gegnerischen Tor angekommen. Zwei Laufschritte noch. Dann zog Moshe voll durch. Sein rechter Fuß traf den blauweißen Lederball bilderbuchmäßig mit dem Spann. Der Ball flog einen leichten Bogen und beendete seinen Flug erst, als ihn das Netz abrupt abstoppte.

"Tor! Tor!" schrie Moshe mit breitem Strahlen auf seinem hübschen Jungengesicht. Moshe hatte zwar stark abstehende Ohren, aber diese umrahmten seine feinen Gesichtszüge, aus denen vom Herzen aus geöffnete, schwarze Augen heraus strahlten. Dazu trug Moshe meist ein Lachen in die Welt. Seine Mutter nannte ihn oft "meinen Leuchtstern". Aber auch viele andere Erwachsene im Dorf hatten den Jungen gerne um sich, da sich sein lebendiges Strahlen in jedem Raum ausbreitete, den er betrat.

Nur sein Vater behandelte ihn anders. Anders als alle anderen Menschen, denen er in seinen elf Jahren bislang begegnet war. Sein Vater war Rabbi Joshua Levy, kein orthodoxer Jude, aber ein tiefgläubiger und sehr ernster Mann. Wenn man als Fremder Moshe und den Rabbi zusammen sah, wäre man niemals auf die Idee gekommen, Vater und Sohn vor sich zu haben. Selbst Joshua Levy blickte oft erstaunt auf den Fröhlichkeit und lebendige Leichtigkeit verbreitenden Jungen neben sich. Doch das waren seltene Momente. Meist war der Rabbi in seinem vollen Tagesplan mit zahlreichen Riten gefangen und bemerkte seinen Sohn gar nicht.

Moshe wurde von seinen vor Freude taumelnden Mannschaftskameraden einer nach dem anderen angesprungen, bis der Pulk aus Jungen umkippte und die johlenden Jungen ihren Helden unter sich begruben. Es waren noch zwei Minuten zu spielen und Moshe hatte gerade die 3:1 Führung geschossen. Damit hatten sie so gut wie sicher den Einzug in das große Jugendturnier in Hebron in der Tasche. Zum ersten Mal in der Geschichte des Dorfes Sika.

Die ausstehenden zwei Minuten hielt Moshes Mannschaft den Ball flach. Sie gaben ihn tatsächlich bis zum Abpfiff nicht mehr ab. Der Jubel einer Handvoll Zuschauer und schließlich auch von Moshes Siegermannschaft schwoll bereits an, als der Schiedsrichter noch tief Luft holte, um in seine Pfeife zu pusten.

Moshe strahlte, befreite sich aber mit freundlichem Nachdruck von Händen und Armen, die sich ihm entgegenstreckten. Er musste sich sehr beeilen. In zehn Minuten musste er bei seinem Vater sein. Nachdem er sich losgerissen hatte, rannte er in dem gleichen Affenzahn, wie noch vor wenigen Minuten zum gegnerischen Tor, in die Umkleidekabine. Er duschte sich nur kurz den Schweiß ab. Zum shampoonieren hatte er keine Zeit mehr. Flüchtig abgetrocknet schlüpfte er noch etwas klamm in seine Kleidung. Dann lief Moshe mit seiner Sporttasche auf dem Rücken so schnell er konnte zum Gemeindehaus.

"Wir haben gewonnen, Papa. Wir dürfen nun am nächsten Wochenende zum großen Turnier nach Hebron." platzte es aus aus dem vor Glück leuchtenden Gesicht des Jungen heraus.

"Das freut mich, Moshe." erwiderte sein Vater trocken. "Holst du bitte den Jad1, die Menora2 und meinen Sohar3 aus dem Schrank."

Ohne seinen Sohn weiter anzuschauen reichte er ihm den Schlüssel und vertiefte sich wieder in sein Gebet, das von den typischen rhythmischen Vor- und Rückwärtsbewegungen seines Oberkörpers begleitet war. Der Rabbi hatte die heilige Thorarolle, die nur er anfassen durfte, bereits auf den Tisch gelegt.

Das Dorf Sika hatte keine eigene Synagoge. Es war eine der zahlreichen Ortschaften, die ab 1967 im Zuge der israelischen Besiedlungsmaßnahmen nach der Besetzung des Westjordanlands aus dem Boden gestampft worden waren. Der schmucklose Ort bestand aus überwiegend sandfarbenen, nüchternzweckmäßig errichteten Gebäuden, umgeben von Oliven- und Orangenplantagen. Sika lag im biblischen Judäa, knapp zwanzig Kilometer südwestlich von Hebron. Es befand sich unmittelbar an der so genannten Grünen Linie, der ehemaligen Waffenstillstandslinie zwischen Israel und dem Westjordanland aus dem Jahr 1949, heute ein Grenzstreifen oder eher eine Sperranlage mit Zaun und Militärpatrouillen.

Immerhin wohnte in Sika ein Rabbi. Und Joshua Levy nutzte mit unprätentiösem Selbstverständnis einfach einen Raum im Gemeindezentrum, um sich hier mit Gläubigen zum gemeinsamen Gebet und dem Lesen der Heiligen Schriften zu treffen.

Moshe platzierte den schweren silbernen Thora-Zeigestab mit dem ausgestreckten Zeigefinger zwanzig Zentimeter parallel zu den beiden großen Holzrollen, wie es ihn sein Vater gelehrt hatte. Hier würde sein Vater nachher aus den fünf Bücher der hebräischen Bibel, der Thora, lesen. Die Menora stellte Moshe ebenfalls an ihren Platz und zündete mit den langen Streichhölzern, die er so gerne mochte, die sieben Kerzen an. Den Sohar seines Vaters, das Heilige Buch der Kabbala, in dem weise Rabbiner Auszüge aus der Thora erläuterten, legte der Junge etwas abseits auf dem Tisch ab. Nach dem Lesen der Thora veranstaltete sein Vater einen meist einstündigen kabbalistischen Diskurs über das zuvor Gelesene. Meist wurde dazu auch ein Kapitel aus dem Sohar vorgelesen. Moshe verstand zwar nicht, was die Erwachsenen sprachen, aber er möchte die klare Energie so gerne, die sich dann zwischen den Menschen und auch bei seinem Vater ausbreitete. Außerdem war dies eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen der Junge einmal der Stimme seines sonst so wortkargen Vaters lauschen konnte.

Heute war Moshe aufgedreht, so glücklich, dass er es kaum aushalten konnte. Sie durften zum Turnier. Das hieß, ein Ausflug nach Hebron. In die Stadt. Er wusste nicht, wohin mit all seiner Freude, seiner überschüssigen Energie. Moshe war noch gar nicht wirklich in diesem Raum seines Vaters mit all der Getragenheit und rituellen Ernsthaftigkeit angekommen. Übermütig nahm der Junge den silbernen Jad in die Hand und tippte selbstvergessen mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Tisch. Aber das machte ein klopfendes Geräusch. Das würde seinen Vater in seinem Gebet stören. Also suchte der Silberfinger einen dämpfenden Untergrund für sein Auftippen. Moshe schob den Jad ein wenig vor, sodass er auf dem Pergament der bereits ein Stück entrollten Thorarolle landete. Spiel mit den heiligen Worten der Thora – ein Sakrileg. Doch Moshe war noch derart in den Nachwehen seines Freudentaumels gefangen, dass er das gar nicht bemerkte. Und Moshes Vater war durch sein tiefes Gebet auch nicht wirklich in dem Gebetsraum anwesend, sondern in anderen Dimensionen unterwegs.

Als der Silberfinger schließlich auf einem , "aleph", dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, landete, ging plötzlich von der Thorarolle ein gigantischer Lichtstrahl durch den Raum, zog sich aber augenblicklich wieder in das Heilige Pergament zurück. Von da ab sah Moshe zugleich in Zeitlupe und rasend schnell den Gebetsraum mit dem in ein Gottesgespräch vertieften Vater und die Thora unter sich verschwinden.

* * *

'Papa! Papa!'

Mit einem Mal sind diese Worte in Ming Chens Kopf.

Und erneut: 'Papa! Papa!'

Ming Chen hört die Worte nicht mit seinen Ohren.

Sie sind wie plötzlich einfach drin in seinem Kopf.

Eine Jungenstimme, die nach seinem Vater ruft.

Ming Chen konzentriert sich. Woher kommt die Stimme? Er kann keine Richtung ausmachen. Die Stimme ist einfach in seinem Kopf. Aber der Qigong-Meister spürt etwas neben sich. Nur ein Gefühl. Er dreht sich leicht nach rechts. Dicht neben seinen eigenen frischen Bewegungsspuren sieht er ein diffuses Muster aus blau fluoreszierenden Schlieren.

Ming Chen fokussiert seine Aufmerksamkeit. Da bewegt sich doch was. Nach und nach setzt sich in seinem Kopf ein Bild zusammen: Da liegt ein Junge neben ihm, der verzweifelt mit Armen und Beinen um sich herum rudert. Dabei zieht jede seiner Bewegungen blaue Schlieren in die gallertige Luft.

'Wer ist da? Papa, bist du das?'

Der Junge scheint ihn nicht sehen zu können. Obwohl er inzwischen aufgestanden ist schaut er in andere Richtungen, dann wieder an ihm vorbei oder durch ihn durch. Ming Chen sieht den hübschen Jungen mit den abstehenden Ohren nun klar vor sich. Wobei das Bild sofort verschwimmt, wenn seine Gedanken in ein Analysieren der Situation abschweifen. Offenbar kann er den Jungen sehen, wenn er sich stark darauf konzentriert, der Junge ihn aber nicht.

Ming Chen macht einen Schritt auf den Jungen zu und versucht, ihn vorsichtig an der Schulter zu berühren. Er will das Kind nicht erschrecken, deshalb bewegt er sich ganz langsam. Aber seine Hand fasst ins Leere. Er greift durch das, was er als den Körper eines Jungen vor sich sieht, einfach hindurch.

'Wie zwei Geister...' schießt es Ming Chen durch den Kopf.

'Ich bin kein Geist. Ich bin Moshe. Moshe aus Sika.' antwortet es in Ming Chens Kopf. 'Wer ist da? Wo bist du?'

'Ich stehe direkt neben dir.' Endlich erhält Moshe in seinem Kopf eine Reaktion in dieser seltsamen Dunkelheit. Immerhin ist er nicht allein.

'Dreh dich ein wenig nach links. Da bin ich.'

Ming Chen wedelt heftig mit seinen Armen, um viele Farbschlieren in der Gallerte zu machen.

'Bist du das Blaue da?' kommt es in seinen Kopf.

'Ja, das mache ich. Wenn man sich hier schneller bewegt, dann entstehen diese blauen Farben. Kannst du mich sehen, Moshe? Hinter dem Blau?'

Als Moshe ein wenig die Augen zusammenkneift und sich ganz stark konzentriert, sieht er einen großen Mann neben sich stehen. Er zuckt ein wenig zusammen ob der fremdartigen Erscheinung des Mannes. Moshe hat noch nie einen echten Chinesen gesehen, höchstens in Kungfu-Filmen.

Dann vernimmt der Junge: 'Wo kommst du her, Moshe? Du siehst gar nicht chinesisch aus. Woher kannst du Chinesisch?'

Es lacht in Ming Chens Kopf. 'Ich kann doch kein Chinesisch! Ich wohne in Sika. Das ist in Israel.'

'Aber ich kann dich verstehen. Und du mich wohl auch. Und ich spreche und denke ganz bestimmt chinesisch.'

Und nach einer kurzen Pause fährt Ming Chen fort:

'Was sprichst du denn für eine Sprache. Israelisch?'

Moshe lacht erneut. 'Nein, doch nicht Israelisch. Ich spreche Hebräisch.'

'Kannst du mich sehen, Moshe? Ich heiße übrigens Ming Chen. Und ich komme tatsächlich aus China. Aus einer großen Stadt, Chengdu. Die liegt neben dem gelben Drachenfelsen.'

Was erzählt er denn da? Drachenbilder sind nun überhaupt nicht seine Art. Ming Chen stutzt über sich selbst.

'Ja, ich kann dich jetzt sehen, Herr Ming Chen. Du hast eine weiße Hose und ein langes weißes Hemd an. Und du hast - das ist ja lustig – einen langen schwarzen Zopf.'

Es lacht wieder in Ming Chens Kopf. Der Chinese muss schmunzeln.

El Universal(auflagenstarke mexikanischeTageszeitung)

Das Wunder von Escuinapa: Geheimnisvoller Korkenziehermais

Die Bauern aus aus der Umgebung von Escuinapa de Hidalgo im Bundesstaat Sinaloa trauen ihren Augen nicht: Wie Korkenzieher winden sich die Stängel ihrer Maispflanzen der Sonne entgegen. Wo sonst die kerzengeraden Stängel in Reih und Glied auf den Feldern stehen, bietet sich nun ein bizarrer Anblick: symmetrisch, wie um eine unsichtbare Säule herum gewundene Maisstängel, von dem die Maiskörner ungewöhnlich unsortiert in alle Himmelsrichtungen zeigen. Ein überdimensionaler Korkenzieher neben dem anderen. Ein Kunstwerk? Eine Laune der Natur? Manipulation durch Gentechnik?

Landwirte und Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel...

Hamburger Abendblatt

Verschwundenes Kreuzschiff AIDA nach mysteriöser Odyssee zurück in Hamburg

Kreuzfahrt-Urlauber und Mannschaft gehen völlig verstört, aber gesund von Bord.

Dem Hamburger Abendblatt gelang ein erste Interview mit dem Kapitän des Luxusliners: „So etwas habe ich in meiner 27-jährigen Seefahrtsgeschichte noch nie erlebt. Und ich habe in den Jahren schon einiges gesehen. Von hier auf jetzt sind alle Navigationssysteme ausgefallen. Also nicht nur ausgefallen. Sie zeigten alle nur noch Nonsense-Daten an. Die gesamte Elektronik spielte verrückt. Und im Nu hatten wir komplett die Orientierung verloren. Und außerdem funktionierte kein einziges Handy mehr an Bord. Auch der gute alte Magnetkompass spielte komplett verrückt. Die Nadel dreht sich wie wild nur im Kreis. Und dann war nach 24 Stunden, so plötzlich wie er gekommen war, der ganze Spuk wieder vorbei. Von hier auf jetzt funktionierte alles wieder ordnungsgemäß. Alles völlig verrückt!“

Wie wir vor drei Tagen berichtet haben, war das derzeitig größte Kreuzfahrtschiff auch auf den Überwachungsradars an Land plötzlich verschwunden. Und heute morgen tauchte es ebenso plötzlich wie unerwartet wieder auf. Sowohl die Rederei als auch die Experten für Hochseeschifffahrt stehen vor einem Rätsel.

1Thora-Zeigestab oder Thorafinger, der vermeiden soll, dass beim Lesen die teils jahrhundertealten, handgeschriebenen Schriftrollen mit den Händen berührt, verschmutzt oder beschädigt werden, da die Thorarolle als heilig gilt

2traditioneller jüdischer siebenarmiger Leuchter

3das bedeutendste Schriftwerk der Kabbala, wörtlich: "strahlender Glanz"; es enthält im Wesentlichen Kommentare zu Texten der Tora in Form von Schriftexegesen, Erzählungen und Dialogen, aber auch zur Weltenentstehung und mystischer Psychologie, einschließlich Diskussionen um das Wesen Gottes, Ursprung und Struktur des Universums und der Natur der Seele. Für bereits spirituell wahrnehmende Menschen dient der Sohar als spiritueller Führer, mit dem sie zum Ursprung ihrer Seelen gelangen können.

3

"Ich finde, wir sollten für die Familienaufstellung Jan und Monika nehmen. Die beiden halten ihren Kevin nun schon über sieben Jahre fest. Ja, der Vater Jan hat seinen Sohn gefunden, aufgehängt auf dem Dachboden des eigenen Hofes. Aber die beiden kommen nicht los, vor allem Monika nicht. Und ich glaube, Kevin auch nicht. Sicher, das ist extrem heftig, wenn man seinen eigenen Sohn so findet. Aber vielleicht kommt bei den beiden ja irgendetwas in Bewegung durch das Aufstellen. Ich würde es ihnen so sehr wünschen. Die beiden sind ja auch noch so jung. Und ich glaube, beide wollen eigentlich auch ihr eigenes Leben zurück. Jan ist für mein Gefühl schon etwas weiter. Aber er will auch seine Frau nicht alleine lassen. Und Monikas Traum ist es ja eigentlich Kirschbäume anzupflanzen. Aber es bewegt sich nicht bei ihnen. Die stecken beide so fest. Von außen ist das gut zu sehen."

Christine, Rosas zweiter Coach in der Hospiz-Trauergruppe "Verwaiste Eltern", hatte still zugehört, während sie die Kerzen löschte und die übrig gebliebenen Süßigkeiten zusammenpackte, die sie, wie jedes Mal, zum monatlichen Gruppentreffen auf den Tischen verteilt hatten.

Die Luft im Raum war wie immer nach dem Treffen bleischwer und zum Schneiden gefüllt mit Schmerz, Trauer, Schock, Fassungslosigkeit und Wut. Dreizehn Mütter und Väter hatten hier soeben über zwei Stunden versucht, im Raum des Husumer Hospizvereins ihrer Unfassbarkeit über das Nichtmehrdasein ihrer Söhne und Töchter Luft zu verschaffen, irgendeine Art von Raum zu geben. Die meisten waren versteinert. Vor allem die Eltern, die ihr Kind durch Suizid verloren hatten. Und das waren Dreiviertel in dieser Gruppe.

Ihre beste Freundin Hilde hatte Rosa geraten, während des Erzählens ihrer erschütternden Geschichten und vor Fassungslosigkeit und Schmerz versteinerten Befindlichkeiten stumm in ihrem Inneren Mantren zu wiederholen. Quasi als Gegengewicht zu dieser kaum zu ertragenden Schwere. Hilde hatte ihr Engel und sogar Erzengel vorgeschlagen. Aber Rosa hatte es so gar nicht mit der christlichen Religion. Und Engel? Na ja. Dennoch hatte sie es in Ermangelung einer anderer Lösung einfach Mal ausprobiert. Und es hatte funktioniert. Das stumme Rezitieren der Engelnamen hielt sie raus aus dem bleiernen Dampf, der über der gesamten Gruppe lag. Rosa hatte sogar manchmal das Gefühl, dass die gesamte Atmosphäre in dem Hospizraum ein ganz klein wenig in Bewegung war, wenn sie innerlich die Engelnamen murmelte. Aber sie war sich nicht sicher, ob das nur ihre eigene Wahrnehmung war, weil sie sich so sehr wünschte, hier mit diesen verzweifelten Müttern und Vätern etwas zu bewegen. Drei Engel sollten es sein, hatte ihr Hilde empfohlen. Das hätte die meiste Kraft. Im Laufe der Zeit kristallisierte sich bei ihr eine Kombination aus Kindbettengeln und Erzengeln heraus. Die mochte sie am liebsten. Die gingen ihr am leichtesten über ihre inneren Lippen: Nuriel – Uriel – Raphael. Das innere Rezitieren dieser drei Engel war nun ein fester Bestandteil ihrer Arbeit mit der Eltern-Trauergruppe geworden.

Rosa legte einige Stückchen Weihrauchharz auf die inzwischen glühende Kohlescheibe. Sofort stieg eine dünne Rauchsäule auf, die sich behäbig an der Zimmerdecke verteilte.

"Ja, das ist eine gute Idee. Jan und Monika hängen irgendwo fest. Und jetzt ist unsere Fortbildung noch frisch. Lass es uns ausprobieren. Soll ich sie anrufen und fragen?"

"Ich weiß nicht," entgegnete Rosa nach kurzer Überlegung. "Meinst du, die beiden sind tatsächlich jetzt offen dafür? Ich hatte eher das Bild im Kopf, ob wir die Aufstellung für die beiden beziehungsweise für die drei machen. Aber ohne, dass sie direkt dabei sind. Was hältst du davon, Christine?"

"Du meinst, das funktioniert? Auch, wenn die Betroffenen selbst gar nicht anwesend sind." Etwas ungläubig sah Christine ihre Kollegin an.

"Keine Ahnung. Der Kursleiter hatte das am letzten Tag mal in einem Nebensatz erwähnt, dass er das schon mal erfolgreich gemacht hat. Ich bekam halt dieses Bild in meinen Kopf. Auch sonst sind bei einer Aufstellung sind ja nie alle Personen live anwesend, die platziert werden. Und das funktioniert ja auch. Ich kenne das auch vom Psychodrama. Da wurde ich mal als Mutter gewählt. Ich kannte die Frau natürlich überhaupt nicht. Trotzdem konnte ich in ihre Gefühle und Gedanken schlüpfen und ganz gut die etwas unangenehme Mutter spielen. Damals habe ich mir gar keine Gedanken darüber gemacht, wo das herkam, was ich fühlte oder gesagt habe. Aber es passte. Keine Ahnung, wie das funktioniert. Aber es ging."

"Ja, gut. Lass es uns ausprobieren. Zu verlieren haben wir ja nichts. Entweder es klappt oder nicht. Es kann ja nur besser werden für die beiden. Sonntagnachmittag? Bei mir?"

"Okay. Abgemacht. Da bin ich ja mal gespannt!"

Am darauffolgenden Sonntag trafen sich die beiden Frauen in Christines Haus in Husum. Aus den weit geöffneten Fenstern im großen Wohnzimmer verschwanden gerade die ersten Weihrauchwolken, als Rosa eintrat. Sie schmunzelte.

"Ja, ich bin noch lernfähig," grinste die deutlich ältere Christine zurück. "Die Zettel habe ich auch schon vorbereitet. Stifte liegen hier. Und einen Yogi-Tee habe ich auch schon gekocht. Möchtest du eine Tasse?"

"Super, Christine. Nein danke. Hinterher trinke ich sicher sehr gerne, also den Tee meine ich. Wenn es dir recht ist, würde ich am liebsten gleich anfangen. Ich bin schon ziemlich aufgeregt. Eine Familienaufstellung für jemand zu machen, der gar nicht da ist! Ich bin sehr gespannt, was passiert."

Rosa rieb sich mit einer Mischung aus Verlegenheit und aufgeregtem Tatendrang die Hände.

"Gut Rosa. Dann lass uns loslegen. Hier habe ich uns Platz geschaffen, hier können wir uns ausbreiten."

Christine wies auf den freien Parkettboden vor dem Couchtisch mit den noch leeren Papierzetteln und schloss die Fenster. Der Weihrauch war ins Freie entschwunden und hinterließ eine klare und friedliche Luft.

"Dann lege ich mal den Kevin hin." Rosa schrieb den Namen auf den ersten Zettel und platzierte ihn mittig auf den Parkettboden.

"Monika, die Mutter." Christine sinnierte mit dem beschriebenen Zettel in der Hand. "Monika ist immer noch im Schmerzschock. Auch noch nach sieben Jahren. Kevin war ja auch noch ihr Lieblingssohn, auch wenn sie das niemals offen zugeben würde."

Christine ging drei Schritte vor, auf den Kevin-Zettel zu. Sie schloss die Augen, um sich in Monika einzufühlen.

"Ich sehe Kevin immer noch als kleinen Jungen durch den Garten in meine Arme laufen. Er ist so ein hübsches und fröhliches Kind. Ein Sonnenschein. Zaubert allen ein Lächeln ins Herz. Das ist nicht mein Junge, der sich da umgebracht hat. Den kenne ich gar nicht."

Christine legte den Zettel in ihrer Hand direkt vor den Kevin-Zettel auf den Boden. Die beiden Zettel berührten sich ein wenig.

Rosa beschrieb den nächsten Zettel und schloss ebenfalls ihre Augen: "Ich habe dich gefunden, Kevin. Da drin, an unserem Dachbalken hängend. Mein Sohn. Kevin. Das war so furchtbar. So entsetzlich war das. Ich konnte erst Wochen nachdem wir dich beerdigt hatten weinen. Wenn ich allein auf dem Feld gearbeitet habe. Immer wieder musste ich um dich weinen, meinen Sohn, der mir immer fremder geworden war. Du hattest dich schon so lange zurückgezogen. Ich habe das viel zu spät gemerkt. Bist nicht mehr rausgefahren mit uns zum Angeln. Und du hast nicht mehr wirklich gelacht. Und ich habe nichts gemacht. Ich habe dir nicht geholfen. Ich war so sehr mit dem Hof beschäftigt. Das tut mir so leid, Kevin."

Rosa musste schlucken.

"Ich weiß nicht warum, aber ich glaube, dein Gemüt ist krank geworden. Das hat jedenfalls Doktor Klaudius gesagt. Dass du Depressionen hattest, und aus deiner schwarzen Welt keinen Ausweg mehr wusstest."

Rosa legte Jans Zettel mit etwas Abstand hinter Monikas Zettel, auch Kevin gegenüber.

"Dann gibt es noch den jüngeren Bruder von Kevin, den Malte. Soll ich mit Malte weitermachen?" fragte Christine.

Rosa nickte stumm. Sie sah sich genötigt zu kommentieren, um ihren Verstand etwas aus der aufkommenden Schwere herauszuheben: "Ja. Das geht erstaunlich gut, findest du nicht auch...?"

Christine brummte nur ein kaum vernehmbares "Mmmmmhhh" zurück.

"Ich bin Malte. Kevins kleiner Bruder. Ich finde das alles ganz furchtbar. Es ist als würden wir jetzt seit Jahren mitten auf dem Friedhof wohnen. Die Luft Zuhause ist so dick – zum Schneiden, nicht zum Atmen. Ich krieg hier kaum noch Luft. Dabei ist das mit Kevin schon sieben Jahre her. Da war ich neun! Ich hab meinen Kevin auch sehr gerne gehabt. Er hat mir immer geholfen, bei Mathe und auch so. Auch wenn mich Pietro aus dem Dorf mal wieder verkloppt hat oder geärgert hat. Und ich konnte mit ihm reden. Über alles. Kevin war der einzige, der mich verstanden hat. Der überhaupt zugehört hat. Aber jetzt ist es, als wäre ich gar nicht da. Wie wenn ich mit Kevin gestorben wäre. Als gäbe es mich nicht mehr. Mama ist mehr in Kevins Zimmer als bei mir, diesem schrecklichen Museum voll mit seinen alten Sachen. Ich bin furchtbar allein!"

Christine legte sichtlich betroffen den nächsten Zettel weit hinter den Kevin-Zettel, sehr weit entfernt von den drei übrigen Zetteln. Malte schrie förmlich aus dem so weit von anderen abseits liegenden Zetteln seine Einsamkeit heraus.

Die beiden Frauen standen ein Weilchen stumm jeweils in ihre Gedanken versunken nebeneinander. Sie blickten auf die vier Zettel am Boden, die für vier so schmerzhaft verletzte Wesen, Seelen, dort lagen. In all ihrer Sprachlosigkeit.

"Und jetzt?" fragte irgendwann Christine in das Schweigen hinein.

"Jetzt spüren wir in Kevin hinein. Wie es ihm, seiner Seele geht." antwortete Rosa.

"Fängst du bitte an," kam von Christine.

"Ja, kann ich machen." Rosa atmete ein Mal schwer auf und stellte sich dann auf den Zettel, auf dem in Großbuchstaben KEVIN stand.

"Ich fühle mich so bedrängt. Von euch allen, vor allem von dir Mama. Ich liebe euch. Ich liebe euch alle. Aber bitte lasst mich gehen, lasst mich los..."

Im gleichen Moment stieg ein gleißend weißes Licht von dem Kevin-Zettel aus quer durch Christines Wohnzimmer bis zur Decke auf. Und als sich das Licht wieder in das Papier und tiefer zurückzog, fühlte sich Rosa mitsamt dem Licht aus Christines Wohnzimmer herausgezogen.

* * *

4

Die verbliebenen hohen Stufen des Zikkurats4 hoben sich vor dem hellblauen Himmel ab.

'Wie Treppen für Riesen,' dachte Jihane, die manchmal für ihr Alter noch recht kindlich war.

Ihre 15 Jahre sah man dem Mädchen kaum an, was nicht nur an dem Hidschab5 lag, den sie außerhalb des Hauses tragen musste. Ihre Bewegungen waren eher burschikos, nicht so geschmeidig wie die ihrer Mitschülerinnen. Ihre gleichaltrigen Freundinnen schminkten sich sehr stark. Ihre schwarzen Augen vergrößerten sie durch geschickt gezogene Kajal-Linien und Wimperntusche. Und das Lippenstiftrot betonte trotz der Verschleierung ihre Weiblichkeit so, dass ihnen auf der Straße die Männer nachschauten. Jihane mochte das alles nicht. Weder das stundenlange Schminken noch das Angestarrtwerden. Sie war ein eher sportlicher Typ.

Das Mädchen aus Isfahan spielte leidenschaftlich gerne Tennis. Aber das war nicht immer leicht. Doch Allah sei dank, hatte Jihane eine sehr offen eingestellte Mutter. Anaram Shirvani war eine sehr gebildete Iranerin. Sie hatte noch andere Zeiten im Iran erlebt. Anaram war unter dem Schah in einer wohlhabenden Oberschichtfamilie aufgewachsen. Klavier- und Ballettunterricht, Theater, Konzerte und Kino, Reisen ins Ausland – für Jihanes Mutter war das alles selbstverständlich gewesen. Im Gegensatz zu ihrer Tochter hatte Anaram einiges von der Welt gesehen.

Mit der Rückkehr Chomeinis hatte sich alles verändert. Die iranische Revolution hatte den Frauen viele Freiheiten und Jihanes selbstbewusster und unbeugsamer Großmutter das Leben gekostet. Die einst wohlhabende Familie hatte alles verloren: Villen, Geschäfte und Mietshäuser in Teheran und Isfahan ebenso wie ihre Fabriken und Import-Export-Firmen, die unter anderem Geschäftskontakte mit dem jetzigen Erzfeind USA unterhielten. Gewalt und Erniedrigungen, die die Familie Shirvani hatte erleiden müssen, hatten Jihanes Großvater als gebrochenen und leisen Mann zurückgelassen. Er hatte sich aus dem realen Leben zurückgezogen. Nur durch das Ausblenden konnte er den Schmerz über den gewaltsamen Tod seiner so geliebten Frau ertragen. Ein gläubiger Moslem war er immer schon gewesen, auch zu Zeiten des Schahs.

Umso härter traf ihn das Unglück, das ausgerechnet die Mullahs über sein Land gebracht hatten. Die Ereignisse hatten den gläubigen Mann immer mehr in die geistig-spirituelle Welt gedrängt. Er sah die für ihn wahren Zeichen Gottes, war in Kontakt mit Engeln und anderen Wesen, den Gesandten Allahs. Stundenlang saß er da und starrte vor sich hin. Er sprach kein Wort. Nichts Weltliches interessierte ihn mehr.

Nur die Gegenwart seiner über alles geliebten Enkelin konnte sein Gesicht erhellen. Jihane lud er in seine geistigen Welten ein und das aufgeweckte Mädchen folgte ihm begeistert. Sie liebte die feinfühligen Erzählungen ihres Großvaters, in die sie gemeinsam mit ihm eintauchen konnte.

Jihane war acht Jahre alt, als sie gemeinsam den Anahita-Tempel von Bishapur besuchten. Das kleine Mädchen stand mit seinem Großvater im zentralen Becken der einst riesigen Wasseranlage. Großvater erklärte ihr alles. Dass die Menschen mit Kanälen das Wasser aus dem nahen Fluss hier hinein leiteten. Die vorislamische Göttin Anahita reinigte und energetisierte hier das Flusswasser mit Hilfe des Sonnenlichts. Im Zentrum des Tempels befand sich ein großes Wasserbecken. Es war so ausgerichtet, dass es die meisten Sonnenstrahlen des Tages auffing. Das Sonnenlicht übertrug seine hohe Schwingung auf das im Becken enthaltende Wasser. Anschließend wurde es über ein ausgefeiltes Kanalsystem an die Menschen in der Umgebung weitergeleitet. Das Wasser sorgte für gute Gesundheit der Menschen und ertragreiche Ernten. Jihane konnte das alles bildlich vor ihrem inneren Auge sehen. Sie stand mittendrin.

Nun ging Jihane neben ihrem Großvater auf die pyramidenartigen Stufen des Zikkurats zu. Der Schotter knirschte unter ihren Schuhen. Plötzlich lief Jihane wie gegen eine Wand. Eine sehr weiche Wand, wie aus Watte. Auch ihr Großvater zuckte an der gleichen Stelle leicht zusammen. Jihane ging ein paar Schritte zurück, dreht sich um und prallte an genau der gleichen Stelle wieder gegen die Wattewand. Zu sehen war nichts.

"Jetzt gehen wir in das Energiefeld des Zikkurats," flüsterte ihr der Großvater zu. "Hier genau fängt es an." Und der alte Mann tupfte mit seinen Händen ehrfürchtig auf die Stelle, die seine Enkelin als die Wattewand wahrgenommen hatte.

Jihane war aufgeregt. Sie gingen auf einen höchst energiereichen Ort der Erde zu. Ihr Großvater hatte ihr bereits auf der Fahrt erzählt, dass diese Stufenpyramide von Chogha Zanbil zusammen mit anderen Pyramiden auf der Erde ein starkes energetisches Netzwerk bildet. Sie sei verbunden mit der großen Cheops-Pyramide in Ägypten, mit den Pyramiden der Mayas in Lateinamerika und sogar Pyramiden in China.

"Sieh nur!" sagte der Großvater und zeigte in den Himmel.

Jihane blickte nach oben und sah sofort, was ihr Großvater meinte: Exakt über dem Zikkurat war die Wolkendecke aufgerissen. Aber nicht wie von hohen Winden zerzaust. Nein. Jihane blickte in ein hellblaues Loch, ein sehr helles blau, fast weiß. Der Kreis war genau so groß wie die Grundfläche des Zikkurats. Und in dem hellblauen Himmelskreis spürte Jihane eine Bewegung. Als käme durch das Wolkenloch irgendetwas rein.

Ihr Großvater nickte ihr zu. Die beiden verstanden sich auch ohne Worte. Jihane sah sie nicht wirklich, aber sie spürte ganz deutlich, dass hier Engel und andere Wesen ein und aus gingen. Jihane drückte sich fest an den alten Mann neben sich. "Danke, Großvater!"

Kurze Zeit später nahm das aufgeregte Mädchen die Hand ihres Großvaters und versuchte ihn schneller auf das Zikkurat zu ziehen.

Ihr Großvater winkte freundlich ab: "Nicht so schnell, Liebes. Lauf doch schon vor bis zur Mauer. Nur nicht in die Gänge gehen. Das ist gefährlich...."

Das sportliche Mädchen war bereits lachend losgelaufen, so schnell, dass sie sich ihren Hidschab festhalten musste. Wie sie dieses Ding verabscheute. Das war immer nur im Weg. Natürlich lief Jihane in den ersten Gang hinein, der sich vor ihr auftat.

* * *

'Oh Gott, was ist denn jetzt passiert?'

Rosa steht kaum eine Armlänge vor Ming Chen. Dicht neben der großen Frau sieht Ming Chen einen weiß leuchtenden, in leichtem violett schimmernden jungen Mann.

Rosa bleibt vor Verblüffung unbeweglich stehen. Der Qigong-Meister muss sich sehr stark konzentrieren, um die neu aufgetauchte Frau weiterhin zu sehen. Dann dreht sich Rosa ein wenig um ihre Achse und schreit auf: 'Oh Gott! Kevin! Bist du das?'

Die beiden stehen keine Hand breit voreinander. Rosa weicht einen Schritt rückwärts aus.

'Ja,' antwortet die weiße Gestalt. 'Ich bin Kevin. Ich bin euch so unendlich dankbar. Ich hing die ganze Zeit da unten irgendwo fest. Mutter hat mich einfach nicht losgelassen. Ich konnte nichts machen. Du hast mich endlich in diese Welt mitgenommen. Meinen tiefen herzlichen Dank...'

Rosa spürt einen Schwall zartviolettes Licht von Kevin zu ihr kommen, dann ist im nächsten Augenblick sein weiß-violettes Leuchten verschwunden.

'Keine Angst, du bist nicht allein hier.' sagt Moshe und fuchtelt wild mit seinen Armen durch die gallertige Umgebung und springt wie aufgezogen umher, um sich für Rosa sichtbar zu machen.

Rosa tritt erneut einen Schritt zurück, diesmal, um auf Abstand vor den blauen tanzenden Schlieren vor sich zu gehen.

'Bitte nicht erschrecken. Ich stehe hinter Ihnen. Wenn Sie sich auf uns konzentrieren oder wir uns etwas schneller bewegen, dann können Sie uns sehen. Und Sprechen – das tun wir hier offenbar alle in der gleichen Sprache. Ich bin übrigens Ming Chen. Ich bin auch noch nicht so lange hier.'

Mit wedelnden Händen macht der Chinese Rosa auf seinen Standort aufmerksam.

'Ich bin Moshe.' ergänzt der immer noch wild zappelnde Junge.

'Ach du großer Gott,' staunt Rosa, immer noch erschrocken. 'Bin ich tot? Seid ihr auch tot? Wenn das weiße Wesen da eben tatsächlich Kevin war – der ist schon seit über sieben Jahren tot. Was ist passiert?' Rosa ist völlig durcheinander.

'Ich weiß auch nicht, wo wir hier sind. Der Junge und ich sind auch gerade erst hierhin gekommen. Das einzige, was ich bisher weiß, ist, dass, wenn wir uns auf etwas konzentrieren, dann können wir es blau fluoreszieren sehen. Und man wird auch sichtbar, wenn man sich schnell bewegt. Und ich spüre auch, dass wir hier nicht die einzigen sind.' antwortet Ming Chen ruhig.

'Wir sind offenbar in Yetzirah. Das ist die erste feinstoffliche Welt über Assiah. Und der leuchtende Mann konnte sich offenbar endlich aus dem Zwischenreich befreien, wo die Seelen der Verstorbenen manchmal gefangen sind.'

Moshe spricht genau so ernst wie sein Vater.

'Woher weißt du das, Moshe?' fragt Ming Chen den Jungen verblüfft.

'Keine Ahnung. Ich weiß so was gar nicht. So was weiß mein Vater. Der ist Rabbiner in unserem Dorf.'

Der Gedankenaustausch wird jäh durch das Auftauchen einer weiteren Person unterbrochen. Jihane fällt mitten zwischen die drei.

Sie werden immer geübter im Umgang mit dieser Welt. Moshe und Ming Chen fuchteln mit ihren Armen und Händen durch die Gallerte und stampfen mit ihren Füßen auf, um sich für den Neuankömmling sichtbar zu machen. Rosa fällt schnell in das eigentümliche, aber offensichtlich sinnvolle Gebaren mit ein. Ming Chen erklärt dem iranischen Mädchen ruhig und freundlich die Situation, so weit sie sie verstanden haben, und alle vier stellen sich einander vor.

Nature(Die weltweit führende multidisziplinäre Wissenschaftszeitschrift)

Ist die Magnetuhr verstellt?

Hunderte ertrunkene Störche sind an den Küsten der Äußeren Hebriden (Schottland) angeschwemmt worden. Die großen Zugvögel müssen von ihrer Jahrhunderte alten Route über die Meerenge von Gibraltar abgekommen und weit auf den Atlantischen Ozean hinaus geflogen sein. Ohne Rastmöglichkeiten und unter den harten Wetterbedingungen über dem freien Ozean haben die Störche die Kräfte verlassen. Seeleute berichteten Tage zuvor, dass sie beobachteten, wie Scharen großer Vögel plötzlich wie Steine vom Himmel in die Wogen des Atlantiks fielen. Nun wurden ihre toten Körper an den nördlichsten Küsten Großbritanniens angespült. Ornithologen, Meteorologen und Klimaforscher stehen vor einem Rätsel...

Daily Mirror(britische Boulevard-Tageszeitung aus London)

Fallen uns bald Satelliten auf den Kopf?

Neueste Meldungen aus Sidney und Brisbane, Australien: drei Satelliten im Outback vom Himmel gefallen. Letzte Woche berichteten wir bereits von abgestürzten Satelliten in Sibirien und der Sahara...

4ein mesopotamischer pyramidenartiger Stufentempel

5Traditionelle islamische Verschleierung der Frau durch ein kapuzenartiges Kopftuch

5

Jimmy nahm seine Arme zur Seite, die er schützend über seinen Kopf gelegt hatte. Er rieb sich den Sandstaub aus den Augen – ohne Erfolg. Auf seinen Handschuhen selbst lag zu viel von dem Staub. Er rieb sich mehr Sand in die Augen hinein als heraus. Jimmy ging in den Vierfüßerstand und schüttelte mit dem Gesicht gen Boden heftig seinen Kopf, um sich von der Sandschicht zu befreien. Dann zog er seinen rechten Handschuh aus, um mit den sauberen Fingern seine Augen zu reiben. Aber er blieb dabei so geduckt wie möglich.

Jimmy horchte in die Umgebung. Totenstille. Vorsichtig öffnete er seine Augen. Sein erster Blick fiel auf das Hinterrad des Jeeps. Oder was davon übrig war. Der Jeep stand auf der Felge. Langsam drehte er seinen Kopf in die entgegengesetzte Richtung. Auf dem Felshang, der die Piste säumte, lagen einige Metallteile verstreut. Jimmy spähte dann durch den verbliebenen Spalt unter dem Jeep auf die Piste. Er konnte keine Füße, keine Stiefel erkennen. Keine Bewegung. Auch als er den Kopf geradeaus hob, konnte er auf der Schotterstraße in der Richtung, aus der sie gekommen waren, keinerlei Lebenszeichen ausmachen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange er ohnmächtig gewesen war.

Mit gebeugtem Rücken hinter dem Jeep Deckung suchend stellte er sich langsam auf seine Beine. Jimmy konzentrierte sich auf seine Ohren. Nichts. Es war immer noch absolut still. Aus seiner Deckung heraus drehte er sich um und schaute die Piste in Fahrtrichtung herunter. Auch hier bewegte sich nichts. Etwa fünf Meter vor ihm lag sein Gewehr. Weiter runter der Transporter – oder was von ihm übrig geblieben war. Das Heck war offen, die rechte Seite aufgerissen und die Beifahrertür lag weitab rechts im Graben.

In gebückter Haltung rannte Jimmy auf das Heck des Transporters zu. Unterwegs hob er sein Gewehr auf, das er gleich in Anschlag nahm. Nun nahm er unter dem hoch aufragenden Heck des Wagens Deckung. Jetzt konnte er auf den Jeep zurückblicken.

Oh, nein! Da lag Rodriges, sein Fahrer, mit weit geöffnetem Mund und einem großen Loch im Bauch neben dem Jeep im Pistenstaub. Er rührte sich nicht mehr. Jimmy wusste sofort, dass sein Kamerad tot war. Dazu hatte er in diesem verfluchten Land schon genug Tote gesehen. Der junge Latino war erst vor drei Wochen zu ihnen gestoßen und nun hatte es ihn gleich erwischt.

'Fuck! Der arme Kerl!' schoss es Jimmy durch den Kopf.

Er richtete sich auf und schaute in das Heck des Kleinlasters. Der Wagen war komplett leer. Und er konnte durch die verbliebenen Seitenwände in den blauen Himmel schauen. Alle Lebensmittel, die sie zum äußersten Stützpunkt der NATO-Truppen in den nördlichen afghanischen Bergen bringen sollten, waren weg.

Mit seinem Gewehr im Anschlag schlich er sich an der Beifahrerseite des Wagens entlang. Die Fahrerkabine war komplett verschwunden. Hier hatte die Bombe ganze Arbeit geleistet. Jimmy schaute sich um. Aber nichts war zu sehen oder zu hören. Er musste wohl längere Zeit ohnmächtig gewesen sein. Er konnte sich nur noch an einen gewaltigen Knall erinnern, und dass ihn irgendwas aus seinem Beifahrersitz katapultiert hatte. Seitdem Stille.

Jimmy ging vor den Laster, bis zum Rand der Piste. Über den steilen Hang verstreut sah er den zerfetzten Körper von Mike, der einmal der Fahrer des Lebensmitteltransporters gewesen war. Jimmy gestattete sich Entsetzen und auch Wut. Aber alle weiteren Gefühle waren abgestellt. Schon seit langem. Er war leer. Und mit jedem Tag hier wurde die Leere größer. Wie sonst sollte er auch all das hier ertragen. Mike und Rodriges waren nicht seine ersten Toten. Aber er fand es eben auch wichtig, dass die UN-Friedenstruppen hier in Afghanistan unter all den sich laufend bekriegenden fucking Moslems und Stämmen aufräumten. Irgendjemand musste hier doch für Ordnung sorgen.

Der junge Amerikaner überlegte kurz, was er jetzt machen sollte. Er war ganz auf sich gestellt. Er hatte kein Wasser und nichts zu essen. Die letzten beiden Stunden war ihr kleiner Konvoi an keiner menschlichen Siedlung vorbeigekommen. Es machte also keinen Sinn, zurück zu gehen. Was ihn in Fahrtrichtung erwartete, wusste er nicht.

Kurz entschlossen setzte sich Jimmy auf der Straße in Fahrtrichtung in Bewegung. Der Schotter knirschte unter seinen Militärstiefeln. Sein Gewehr hing am Gurt über seiner rechten Schulter, den rechten Finger am Abzug. Die ansteigende Piste machte eine scharfe Rechtskurve. Uneinsehbar. Jimmys Schultern spannten sich an. Er umgriff das Gewehr mit beiden Händen.

Plötzlich hielt er inne. Da lag etwas auf der Schotterstraße. Etwas großes, schwarzes, weißes. Eine tote Ziege. Sie rührte sich auch nicht mehr. Jimmy ging langsam auf das tote Tier zu. Da vernahm er ein leises Wimmern, fast Weinen. Zuerst sah er eine kleine Sandale, die vor dem Leichnam des Tieres lag. Als er näher kam, erblickte er einen kleinen Kopf, blutverschmiert. Es war ein kleiner Junge, der da weinte. Begraben unter der toten Ziege.

Vorsichtig ging er auf den Jungen zu. Man konnte nie wissen, ob es sich nicht um eine Falle von Partisanen handelte. Angestrengt suchte sein Blick den Berghang über sich ab, sein Gewehr im Anschlag. Er trat einen Schritt zur Seite und blickte ins Tal. Auch gegenüber, in den endlosen Felsen, konnte der Soldat nichts entdecken. Hören könnte er auch nichts – außer dem leisen Wimmern des afghanischen Kindes. Als er schließlich bei dem Jungen angelangt war, war es wieder mucksmäuschenstill.

Jimmy blickte in vor Angst weit aufgerissene Kinderaugen. Der Soldat nahm sein Gewehr von der Schulter und legte es ein wenig abseits ab. Dann rollte er den leblosen Ziegenkörper zur Seite. Obwohl er sehr angespannt war, versuchte er zu lächeln, um dem Kind die Angst zu nehmen. Mit Gesten deutete ihm Jimmy an, dass er sich ihm nun nähern würde, um nachzusehen, was mit ihm los sei. Der Versuch, eine ausweichende Bewegung von dem fremden Soldaten weg zu machen, endete in einem Schmerzensschrei. Jimmy sah sofort, dass das linke Bein des Jungen unnatürlich verdreht war. Das Bein war sicherlich gebrochen. Und am Kopf hatte er eine heftige Platzwunde, die noch immer blutete.

Mit erneuten Gesten versuchte Jimmy dem Jungen deutlich zu machen, dass er liegen bleiben solle und dass er seinen Kopf versorgen wolle. Obwohl er nun schon mit Unterbrechungen zwei Jahre in Afghanistan war, waren "ßalaam" für 'Hallo', "ubö" für 'Wasser' und "Merabaani" für 'Danke' seine einzigen afghanischen Worte. Man hatte und suchte auch nicht den Kontakt zu den Leuten hier. Also sagte Jimmy in einem fort "ßalaam" und zeigte zwischen sich und dem Kopf des Jungen immer hin und her. Dabei versuchte er zu lächeln. Er klaubte aus einer Jackentasche eine frische Mullbinde und ein kleines Fläschen mit Betaisadona zum Desinfizieren hervor. Langsam entspannte sich der Junge.

Jimmy zeigte auf sich und nannte seinen Namen: "Jimmy". Dann zeigte er auf den Jungen und zuckte mit den Schultern und fragendem Gesicht. Das wiederholte er einige Male, bis ein leises "Karim" aus dem Kindermund kam.

Jimmy strich symbolisch über seine Stirn und wies dann mit dem Mullläppchen auf den Kopf des Jungen: "Karim, Merabaani."

Der Junge zuckte nicht mehr zusammen, als sich ihm der Amerikaner näherte. Er nahm ihm die kleine traditionelle Mütze ab und steckte sie in eine Jackentasche. Vorsichtig strich er mit dem violett getränkten Mull über Karims Kopfwunde. Jetzt zuckte der Junge ein wenig zurück. "Merabaani. Merabaani, Karim." Jimmy wusste, dass das Betaisadona auf der Platzwunde brennen musste. Doch der schmale Junge war sehr tapfer. Er zuckte nicht zusammen und verzog auch sonst keine Miene. Nachdem der Amerikaner die Wunde gereinigt hatte, klebte er eine frische Mullbinde mit Pflaster auf Karims Stirn fest.

'Und nun?' dachte Jimmy. Er hatte jetzt den Jungen so weit versorgt, wie es ihm möglich war. Diese verfickten Afghanen hatten seine Kameraden getötet! Dabei hatten sie nur Lebensmittel holen wollen. Doch irgendetwas ihn ihm ließ den jungen Amerikaner innehalten. Der Bruch musste dringend versorgt werden. Er konnte den Jungen ja unmöglich hier auf der Schotterstraße liegen lassen.

Jimmy deutete Karim gestikulierend mit seinen Armen an, dass er ihn jetzt die Straße entlang tragen würde. Der Junge schaute ihn nur mit großen Augen an, schien ihn aber zu verstehen. Er zeigte keine abwehrenden Reaktionen. Kurzerhand schulterte Jimmy sein Gewehr, hob den schmalen Jungen, der noch leichter war als er vermutet hatte, auf und trug ihn vorsichtig vor seiner Brust. Während er mit dem Jungen auf dem Arm die Piste hochging, legten sich langsam zwei dünne Arme um seinen Hals.

Das Ende der Kurve gab den Blick frei auf eine kleine Häuseransammlung in etwa zwei Kilometer Entfernung. Karims Gesicht erhellte sich. Er hob seinen Arm, zeigte in die Richtung und sprach aufgeregt einige für Jimmy unverständliche Worte.

Die Dorfbewohner sahen schon von weitem das sich nähernde eigenartige Gespann. Einige kamen ihnen entgegengelaufen. Die Frauen fielen in ein leises Wehklagen ein. Zwei bärtige Männer nahmen Jimmy den Jungen ab und trugen ihn in der Dorfmitte in ein Haus.

Bald war Jimmy umringt von lachenden Kindern. Die kleinen Kinderhände zupften fordernd an seiner Uniform herum. Die Kinderschar zog den Amerikaner aufgeregt durcheinander redend in ein Haus. Dort werkelten zwei Frauen am offenen Herd. Die Ältere wies ihn an, sich auf einen kleinen Schemel zu setzen und reichte ihm einen Becher heißen Tee, den er dankbar entgegennahm. Die Kinder plapperten hinter seinem Rücken weiter vor sich hin. Die jüngere Frau wurde resoluter und wedelte mit energischen Handbewegungen die Kinderschar aus dem Raum. Nun plapperte sie vor sich hin. Jimmy glaubte zwischendurch ein 'Karim' und ein 'Merabaani' zu verstehen. Auf jeden Fall waren die Frauen ihm gegenüber wohlgesonnen und freundlich. Wie offenbar das ganze Dorf. Das hätte auch anders kommen können.

Jimmy begann, sich zu entspannen. Er spürte jetzt, wie erschöpft er war. Der heiße Tee tat sehr gut. Er legte sein Gewehr neben sich ab und nahm seinen Helm vom Kopf. Er strubbelte sich durch seine vom Schweiß angeklebten Haare. Die beiden Frauen im Raum kicherten laut. Kurz darauf reichte die Ältere ihm einen Teller mit frisch gekochtem scharfem Gemüse und ein Fladenbrot. Er bedankte sich mit einem doppelten "Merabaani" und schlang gierig das Essen herunter.

Jimmy erwachte, noch immer den leeren Teller auf dem Schoß und den Löffel in seiner rechten Hand. Er musste kurz eingenickt sein, oder länger – keine Ahnung. Er fühlte sich wie gerädert. Reflexartig langte er sofort an sein Gewehr. Er war jetzt allein in der Küche. Die beiden Frauen waren nirgends zu sehen. Er setzte seinen Helm auf, erhob sich von dem Schemel und trat mit dem Gewehr vor der Brust vor die Tür. Der Dorfplatz war leer. Jimmy ging langsam zu dem großen Haus, in dem er die beiden Männer mit Karim hatte verschwinden sehen. Ihm fiel ein, dass er ja noch Karims Mütze bei sich hatte. Er fingerte sie aus seiner Jackentasche hervor und trat in das große Haus ein.

Dort lag Karim in der Mitte des Raumes. Sein gebrochenes Bein schien immerhin ordentlich geschient und war offensichtlich einigermaßen fachkundig behandelt worden. Um den Jungen herum wiegten sich etwa fünfzehn Frauen in kräftigem Singsang hin und her.

'Ob die etwa meinten, das gebrochene Bein des Jungen gesund singen zu können?' ging dem Amerikaner durch den Kopf. Trotz seines hochmütigen Gedankens berührte ihn die Szenerie der konzentriert singenden Frauen.

Aus einem Nebenraum vernahm Jimmy das Mittagsgebet der Männer. Von ihm nahm niemand Notiz. So viel Ehrfurcht hatte er doch, dass er die Zeremonie hier nicht stören wollte. Und Karims Mütze einfach auf den staubigen Boden legen, das ging auch nicht. Also setzte sich Jimmy still in eine Ecke des Raumes. Er stellte sein Gewehr ab und schlief sofort wieder ein.

Er fiel in eine Art Wachtraum. Ganz langsam, wie in extremer Zeitlupe, löste er sich vom Boden und entfernte sich schwebend von dem Geschehen. Trotz zeitlosem Gefühls löste er sich immer weiter von der Erde, sah den schmucklosen Raum, in dem die afghanischen Frauen Karim gesund sangen, sich selbst in der Ecke kauernd. Körperlos, zeitlos, realer als in einem Traum entschwebte Jimmy allmählich in das dunkle, schützende Schwarz des unendlichen Raums.

* * *

Als Jimmy aufwacht, ist der Raum leer. Vielmehr ist um ihn herum gar kein Raum mehr. Keine Wände, keine Möbel, keine Menschen.

'Da ist noch jemand!' hört er eine Jungenstimme. Moshe hat den Amerikaner neben sich entdeckt und wedelt sich für den Neuankömmling sichtbar.

Sein reflexartiger Griff nach seinem Gewehr funktioniert nicht. Jimmys blau aufleuchtenden Hände fassen ins Leere, gehen sogar durch einander hindurch.

'Ich bin Moshe. Wer bist du?' klingt es freundlich in Jimmys Kopf.

'Wo bist du denn?' fragt es ungläubig zurück.

'Sie müssen sich auf die blau fluoreszierenden Linien konzentrieren. Dann können Sie den Jungen erkennen.' antwortet Ming Chen.

Es gelingt dem Amerikaner nicht, seinen Verstand wirklich auf die blauen Linien vor sich zu konzentrieren. Es rotiert alles in seinem Kopf. Ist er nicht gerade noch in Afghanistan gewesen? Das erschien ihm manchmal schon verrückt genug. Aber das jetzt hier. Hier ist ja gar nichts mehr...

'Kommen Sie aus Afghanistan?' fragt ihn jetzt eine Frauenstimme. 'Ich bin Rosa, ich komme aus Deutschland.'

'Wieso aus Afghanistan... nein, ich bin Amerikaner. Ich komme aus Chicago. Mein Name ist Jimmy. Jimmy Fulton. Aber – fuck – wo sind wir hier? Was soll das, zum Teufel?'