Spirit Animals 4: Das Eis bricht - Shannon Hale - E-Book

Spirit Animals 4: Das Eis bricht E-Book

Shannon Hale

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Beschreibung

Band 4 des spannenden Tierfantasy-Abenteuers! Conor, Rollan, Abeke und Meilin brechen mit ihren Seelentieren gen Norden auf, um die Eisbärin Suka und ihren Talisman zu finden. Es ist eine Reise voller Gefahr und Heimtücke: Die klirrende Kälte und der Hunger zehren an den Kräften. Tiefe Gletscherspalten erweisen sich als tödliche Fallen. Und die Eroberer lassen nichts unversucht, die vier Krieger auszuschalten. Denn auch sie haben es auf den Talisman abgesehen ... Entdecke die Welt der "Spirit Animals": Band 1: Der Feind erwacht Band 2: Die Jagd beginnt Band 3: Das Böse erhebt sich Band 4: Das Eis bricht Band 5: Die Maske fällt Band 6: Die Stunde schlägt Band 7: Der Zauber befreit Band 8: Das Dunkle kehrt zurück Band 9: Die Erde bebt Band 10: Der Sturm naht

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2016Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2016 Ravensburger Verlag GmbHOriginaltitel: Spirit Animals. Fire and IceCopyright © 2014 by Scholastic Inc. All rights reserved. Published byarrangement with Scholastic Inc., 557 Broadway, New York, NY 10012, USA.SCHOLASTIC, SPIRITANIMALS and associated logos are trademarks and/or registered trademarks of Scholastic Inc.Übersetzung: Wolfram StröleLektorat: Maria SchmidtUmschlag: Keirsten Geise, unter Verwendung einer Illustration von Angelo RinaldiVorsatzkarte und Vignetten: Wahed KhakdanAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47708-1www.ravensburger.de

Für meinen Bruder Jeff,der mir einmal gesagt hat,sein Seelentier sei ein Nilpferd– S. H.

GERATHON

Gerathon setzte sich in Bewegung. Seine schwarzen Schuppen, die dick wie Metallplatten waren, schürften über die Steine. Durch das geöffnete Maul zog er die Luft ein und schlug spielerisch mit dem Schwanz.

Leben! Unbändige Kraft erfüllte ihn, während er über den Boden glitt und die Erde unter sich spürte. Das Leben war ein Pulsieren, Zucken, Flattern, Einatmen, es war Bewegung. Neugierig fuhr seine Zunge hin und her. Die Luft schmeckte nach Mensch. Noch mehr Leben! Doch im Moment hatte er keinen Hunger. Tiere hüpften, trotteten und hoppelten hinter ihm her, zitternd vor Angst und doch unfähig, sich seinem Bann zu entziehen. Wenn er eine kleine Zwischenmahlzeit brauchte, reckte er einfach den Hals und schnappte sich ein Känguru oder einen Wildhund. Hunger hatte er seit seiner Flucht noch nicht gehabt, doch verspürte er das Bedürfnis, etwas Lebendiges zu packen und es zu töten.

Er änderte die Richtung und glitt mit übermütigen Wellenbewegungen auf den Menschen zu. Natürlich konnte er sich nahezu lautlos bewegen, aber dazu bestand keine Notwendigkeit. Welches Geschöpf konnte einer zwei Tonnen schweren Kobra entkommen?

Das Wesen vor ihm versuchte es immerhin – es war ein junger Mann mit einem kindlichen Gesicht, der sich mit angstvoll aufgerissenen Augen immer wieder nach ihm umdrehte. Gerathon zischte ausgelassen, denn er war sich der Kraft seiner Muskeln und seines langen, starken Leibs bewusst. Dann richtete er sich auf, spreizte den eleganten Nackenschild und stieß zu.

Leben! Der junge Mann, der zwischen seinen Kiefern hing, zappelte und strampelte und Gerathon spürte seinen hämmernden Puls an der Zunge. Der Mann schrie aus Leibeskräften, während er ihm die Fangzähne in den Rücken schlug. Dick und zähflüssig strömte das schwarze Gift in den jungen Mann hinein und sein Herz pumpte es freundlicherweise gleich zusammen mit seinem Blut durch den ganzen Körper. Er zuckte noch ein wenig, dann erschlaffte er, während sein Herz noch langsam weiterschlug. Gerathon verschlang ihn im Ganzen.

Träge rollte er sich auf dem heißen Korallensand zusammen und genoss das Gefühl des zweiten Herzschlags neben seinem eigenen, das Gefühl des anderen Lebens in ihm, das er durch seine Kraft langsam auslöschte.

Er konnte inzwischen nur noch darüber lachen, wie er jahrhundertelang in seinem Gefängnis aus Stein und Erde getobt hatte, wie die auf ihm lastende Masse ihn gelähmt und das Leben aus ihm herausgepresst hatte. Umso mehr genoss er jetzt die neu gewonnene Freiheit. Von Sonne und Nahrung gestärkt, war er wie berauscht und geradezu zu Streichen aufgelegt. Er konnte unmöglich noch etwas essen, obwohl sein Appetit auf das Leben noch gewachsen war.

Er ließ seine Gedanken wandern und seine gelben Augen verfärbten sich weiß. Im Geiste sah er flimmernde weiße Hitzeflecken, von denen jeder einen Menschen verkörperte. Gerathon kannte diese Menschen so gut wie ein Schäfer seine Schafe.

Seine Wahl fiel auf eine schlafende Frau. Es war leichter, in den Kopf eines bewusstlosen Menschen zu schlüpfen. Die Frau war alt und lebte weit weg in Nilo. Gerathon füllte den Kopf dieser Frau mit seinem eigenen Bewusstsein aus wie Sand einen Krug. Er ließ die Frau aufstehen und aus ihrer Hütte gehen. Die Nacht in Nilo war warm und duftete nach Jasmin. Gerathon konnte das dürre, raschelnde Gras unter den nackten Füßen der Frau förmlich spüren. Der Boden hatte noch die Wärme des vergangenen Sonnentages gespeichert.

Durch die Augen der Frau sah Gerathon vor sich eine senkrecht abfallende Felswand. Er ließ die Frau schneller gehen, immer schneller, bis sie rannte.

Die Frau zuckte, als versuchte sie aufzuwachen. Gerathon zischte wohlig. Leben war Bewegung.

Er trieb die Frau über die Felskante, stürzte mit ihr hinunter und verließ ihr Bewusstsein erst im letzten Moment vor dem Aufprall auf dem Boden der Schlucht.

Es war vielleicht eine Verschwendung, wenn er an seine Pläne für die Zukunft dachte. Aber zuerst musste er sowieso alle Talismane einsammeln und bis dahin hatte er als Großes Tier doch wohl das Recht, sich ein wenig zu amüsieren.

Er hielt den Kopf in den Wind und verzog sein geschupptes Maul zu einem Lächeln.

DIEBSTAHL

Meilin spürte, wie der Südwind ihr in den Rücken blies und sie antrieb. Nicht, dass sie das gebraucht hätte. In ihr brannte seit Kurzem ein Feuer, das sie rastlos machte. Sie waren zunächst durch Zhong geritten und hatten inzwischen den Norden Euras erreicht. Die anderen hatten sich während des endlosen Ritts manchmal beschwert, aber Meilin konnte es gar nicht schnell genug gehen.

Im Fluss neben der Straße spiegelte sich die Sonne, sodass Meilin geblendet die Augen schloss. Hinter ihren Lidern warteten immer dieselben Bilder auf sie.

Das Große Krokodil mit aufgerissenem Maul und tiefschwarzen Augen.

Ihr Vater, bewegungslos und tot.

Meilin öffnete die Augen schnell wieder und gab ihrem Pferd die Sporen.

Der Wind wechselte die Richtung und wehte ihr jetzt von Nordwesten ins Gesicht. Sie fror und rieb sich die Arme.

„Es wird noch viel kälter werden“, sagte Rollan und ritt neben sie. „So richtig unangenehm kalt. Eine Kälte, bei der einem Nase und Zehen abfrieren.“

Meilin nickte.

„Ich hab mal erlebt, wie ein Straßenjunge, ein Nichtsnutz wie ich, einen anderen, wohlhabenden Jungen mitten im Winter dazu provozierte, am eisernen Pfosten einer Straßenlaterne zu lecken. Der Junge blieb mit der Zunge daran kleben – sie fror sofort fest – und der Straßenjunge klaute ihm Mantel und Schuhe.“

„Sag bloß.“

„Tu ich doch, Frau Pandabär!“

„Und der Name des Jungen in deiner Geschichte fängt nicht zufällig mit R an und hört mit n auf?“

„Nein! So gemein war ich nie. Und ich wollte dich nur warnen, weil du diese blöde Angewohnheit hast, an Laternenpfosten zu lecken.“

Meilin hätte fast gelächelt. Seit dem Kampf bei Dineshs Tempel suchte Rollan immer wieder ihre Nähe und sagte oft so alberne Sachen. Wahrscheinlich wollte er sie von ihrem Kummer ablenken. Die Suche nach dem Talisman des Großen Elefanten hatte sie große Opfer gekostet. Meilin hatte sich zunächst allein auf den Weg gemacht, um ihren Vater zu suchen. Dieser hatte im Großen Bambuslabyrinth von Zhong den bewaffneten Widerstand organisiert. Doch kaum hatte sie ihn gefunden, verlor sie ihn für immer: Er wurde vor ihren Augen getötet. Zuerst fühlte sie sich wie betäubt, als wäre in ihr nur eine schreckliche Leere. Doch irgendwann hatten sich ihre Lebensgeister wieder geregt. Und jetzt brannte dieses Feuer in ihr, das sie beständig daran erinnerte, dass der große Schlinger irgendwo frei herumlief – und mordete. Sie durfte nicht zulassen, dass Mitgefühl oder dumme Witze dieses Feuer löschten. Entschlossen trieb sie ihr Pferd zu einer noch schnelleren Gangart an.

„Vor uns kommt eine Kreuzung“, rief Tarik. „Dort sollten wir die Nacht verbringen.“

„Aber es ist noch nicht dunkel“, entgegnete Meilin.

„An der Kreuzung entfernt sich unser Weg vom Fluss“, erklärte Tarik. „Wir müssen die Pferde tränken, bevor wir weiter nach Norden reiten.“

Meilin wollte etwas erwidern, aber Tarik sah sie verständnisvoll und mitfühlend an. Es war derselbe Blick, mit dem auch Jhi sie oft bedachte – weshalb Meilin die Pandabärin meistens im Ruhezustand ließ. Denn sie konnte diesen Blick langsam nicht mehr ertragen. Der Nächste, der sie so ansah, konnte sich auf etwas …

„Meilin?“, fragte Abeke.

„Was ist denn?“, sagte Meilin barsch.

Abeke zuckte zusammen. „Äh, ich wollte nur fragen, ob du mir hilfst, Brennholz zu sammeln.“

„Natürlich helfe ich dir.“

Das flache Gelände um die Straßenkreuzung füllte sich mit Reisenden und Gruppen von Händlern, die ebenfalls hier übernachten wollten. Der Weg Meilins und ihrer Gefährten führte über eine weite, grasbewachsene Ebene im Norden Euras. Sie kamen zwar leider nicht in Glengavin oder bei Finn vorbei, dafür verlief die Reise ausnahmsweise ruhig und ohne Zwischenfälle. Auch einige andere Leute hatten an der Kreuzung ihr Nachtlager aufgeschlagen. Dazu gehörten zwei fahrende Musikanten – ein Lautenspieler, der ständig etwas klimperte, und eine Frau mit einem blauen Schleier, die leise vor sich hin sang.

Sie suchten am Flussufer nach Treibholz und abgebrochenen Ästen. Abeke sagte nichts. Gut. Dann konnte sich Meilin ganz auf das Feuer in ihrer Brust konzentrieren und auf den großen Schlinger, so als wäre sie eine Pfeilspitze und er das Ziel.

Voll bepackt mit Holz kehrten sie zu Tarik, Rollan und Conor zurück, die die Pferde absattelten. Maya, ein Grünmantel aus Eura, legte für die Feuerstelle einen Kreis aus Steinen. Tarik hatte sie gebeten, sich der Gruppe anzuschließen. Sie war zwar einige Jahre älter als Meilin, aber mit ihrem schmalen, blassen Gesicht und den üppigen roten Locken sah sie viel jünger aus.

Als sie jetzt den Ärmel ihres violetten Pullovers hochschob, kam auf ihrem Unterarm ein Tattoo in Gestalt einer kleinen Eidechse zum Vorschein. Mit einem Lichtblitz erwachte der Feuersalamander aus dem Ruhezustand und huschte auf ihre Schulter. Das schwarze, mit leuchtend gelben Flecken übersäte Tier war nur so groß wie Mayas Handteller. Meilin sah Maya mit einem traurigen Lächeln an. Bestimmt war sie über ihr Seelentier genauso enttäuscht gewesen wie Meilin über ihren Panda. Ein Salamander nützte einem im Kampf ebenso wenig.

Meilin und Abeke luden ihr Holz ab. Abeke legte einige Äste in den Kreis aus Steinen, wofür Meilin sie schon zurechtweisen wollte. Zum Feuermachen brauchte man zuerst kleine Zweige, und erst wenn diese brannten, konnte man …

Maya hatte die Hand gehoben. Auf ihrem Handteller bildete sich ein kleiner Feuerball. Sie blies darauf und der Ball flog in das Holz. Augenblicklich brannte es lichterloh.

„Oh!“, rief Meilin.

„Kanntest du Mayas Kunststück noch gar nicht?“, fragte Conor.

Meilin schüttelte den Kopf.

„Dafür kann ich nicht besonders gut kämpfen“, sagte Maya mit einem verlegenen Lächeln. „Ich beherrsche nur diesen einen Trick. Ansonsten bin ich zu nichts zu gebrauchen.“

„Dieser eine Trick könnte im kalten Norden für uns überlebenswichtig sein“, sagte Tarik.

Die verschleierte Sängerin ging an ihnen vorbei. Sie war mit ihrem Laute spielenden Gefährten auf dem Weg zum Wasser. „Ihr reitet nach Norden?“, fragte sie. „Warum denn? Nördlich von hier wird es nur immer noch kälter.“

„Und es gibt Walrosse“, ergänzte Rollan. „Ich will unbedingt eines sehen. Falls sie überhaupt existieren.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass es sie wirklich gibt, Rollan“, rief Tarik. „Das kann ich bezeugen.“

„Elefanten ohne Beine, dafür mit Flossen?“ Rollan lächelte ungläubig. „Das glaube ich erst, wenn ich es mit eigenen Augen sehe.“

„Wir wollen nach Samis“, sagte Abeke zu den Musikanten. „Kennt ihr das?“

„Ach richtig, Samis“, sagte der Lautenspieler. „Ich hätte schon fast vergessen, dass zwischen hier und Arctica noch ein Dorf kommt. Aber warum sollte man denn dort hinwollen?“

„Wir waren einmal dort, Schatz, vor Jahren“, sagte die verschleierte Frau. Sie fasste den Lautenspieler an der Hand und tanzte um ihn herum. „Händler hatten uns gewarnt, dass Fremde in Samis nicht willkommen seien. Aber wir dachten, dann sehnen sie sich bestimmt nach Unterhaltung. Also sind wir hin …“

„Und wisst ihr, was geschah?“, fragte der Lautenspieler. „Wir wurden am Tor abgewiesen.“ Er spielte einen Akkord, wie um seine Worte zu bekräftigen.

Die beiden entfernten sich tanzend.

„Ein Dorf, das Händler und Musikanten abweist?“, sagte Abeke nachdenklich. Sie kraulte die Leopardin Uraza, die neben ihr lag und zufrieden brummte. „In meinem Dorf wären wir ohne Händler aufgeschmissen – wir hätten keine Töpfe und Pfannen, keine Schaufeln, nichts dergleichen. Wir könnten hier ein paar Töpfe kaufen und sie den Einwohnern von Samis schenken, vielleicht gewinnen wir dadurch ihr Vertrauen.“

Tarik nickte. „Gute Idee!“

Er gab ihr ein paar Münzen aus seinem Geldbeutel und Abeke ging sofort los, um die Geschenke zu kaufen. Uraza trottete hinter ihr her.

Wenig später hörte Meilin wütendes Geschrei von der anderen Seite des Lagers. Sie sprang auf und wollte schon Jhi wecken, widerstand aber der Versuchung.

„Sind das Abeke und Uraza?“, fragte sie.

„Bleib hier, ich sehe nach“, sagte Tarik und eilte in Richtung des Lärms.

Doch das Feuer loderte in Meilin. Sie konnte einfach nicht still sitzen. Zusammen mit Rollan folgte sie Tarik. Conor und Maya blieben zurück, um das Feuer zu versorgen und auf ihr Gepäck aufzupassen.

In der Mitte des Lagers wälzten sich zwei Männer auf dem Boden, schlugen wie wild aufeinander ein und zogen sich an den Haaren. Auf Tariks Schulter erschien sein Seelentier, der Otter Lumeo. Mit seiner Hilfe konnte sich Tarik noch geschmeidiger bewegen. Geschickt schob er sich zwischen die Kämpfenden und trennte sie.

„Genug!“, rief er und das Geschrei und die Pfiffe verstummten. „Was ist hier los?“

„Er hat mich bestohlen!“, sagte ein stämmiger, glatzköpfiger Mann, der aus der Nase blutete und dessen Hemd zerrissen war. „Seit Jahren spare ich und lege hier und da etwas zurück. Ich hatte schon fast genug zusammen, um damit nach Hause zurückzukehren, meine Mutter aus der schmutzigen Stadt zu holen und ihr einen Bauernhof auf dem Land zu kaufen. Fast! Da schneidet der Gauner mir den Geldbeutel vom Gürtel ab.“

Der Mann hob einen Hemdzipfel und zeigte die abgeschnittenen Enden zweier Lederriemen, die noch dort hingen.

„Aber ich sage doch, ich war es nicht!“, erwiderte der andere Mann. „Wir reisen seit Jahren zusammen, Bill. Warum sollte ich dich ausgerechnet jetzt beklauen?“

„Das weiß ich doch nicht! Aber du bist der Einzige, dem ich von dem Geld erzählt habe, und wenn du es nicht genommen hast, wer dann?“ Bill setzte sich auf den Boden und weinte in seine Hände. „Ich habe so lange gespart …“

Rollan meldete sich zu Wort. „Dein Freund sagt die Wahrheit. Er hat das Geld nicht gestohlen.“

Meilin sah Essix am Himmel kreisen. Bisher hatte das Falkenweibchen Rollan berühren müssen, um seine intuitiven Fähigkeiten zu stärken. Aber vielleicht war die Bindung zwischen dem Jungen und seinem Seelentier ja endlich gewachsen. Im Ruhezustand hatte Meilin Essix allerdings immer noch nicht erlebt.

Bill hob das tränenverschmierte Gesicht. „Wer war es dann?“

Rollan ließ den Blick über die Händler, Musikanten und Reisenden wandern, die sich um die beiden Kämpfenden versammelt hatten. Es war beklemmend still.

Sein Blick blieb an einem schlaksigen Jungen hängen, der ein weißes Hemd und ein Halstuch trug und mit dem Rücken zur Menge scheinbar sehr interessiert ein Wagenrad betrachtete. Rollan runzelte die Stirn.

„Ich würde bei dem Burschen da drüben nachsehen“, sagte er mit einem Nicken in dessen Richtung.

Tarik packte den Schlaks und drehte ihm die Arme auf den Rücken.

„He, was soll das?“, protestierte der Junge.

„Das ist ein schönes Rad“, sagte Rollan. „Aber ist es wirklich so viel interessanter als eine Schlägerei im Lager? Oder willst du nur nicht auffallen?“

Meilin und ein Händler tasteten den Jungen von oben bis unten ab. Am Stiefel spürte Meilin eine Beule. Sie zog einen dick mit Münzen gefüllten Lederbeutel mit abgeschnittenen Riemen heraus, den sie Rollan zuwarf.

Der Junge wehrte sich schimpfend. Meilin stand mit geballten Fäusten neben ihm. In ihr loderte das Feuer und drohte sie zu verbrennen, wenn sie nicht bald etwas unternahm und dem Schlinger und seinen Anhängern einen Denkzettel verpasste. Vielleicht konnte sie sich ja zunächst an diesem Dieb abreagieren. Tarik hielt ihn allerdings gut fest. Meilin ließ die Fäuste sinken.

Rollan hielt den Beutel an die abgeschnittenen Riemen am Gürtel des Mannes.

„Das scheint zusammenzupassen“, sagte er.

Er gab Bill den Beutel.

„Danke“, sagte Bill leise und drückte ihn an seine Brust.

„An der letzten Kreuzung wurde auch jemand bestohlen“, sagte eine ältere Frau mit zurückgekämmten weißen Haaren und Reitkleidern aus grobem Tuch. „Das warst doch bestimmt auch du, Jarack.“

Der Junge wehrte sich noch heftiger gegen Tariks eisernen Griff.

„Wir Händler haben einen Ehrenkodex“, fuhr die Frau fort. „Du hast ihn gebrochen, Jarack, und bist hiermit aus unserer Gemeinschaft ausgestoßen. Lass dich hier im Norden nie wieder blicken.“

Jarack schien etwas erwidern zu wollen, doch ein Dutzend Händler stellten sich demonstrativ mit verschränkten Armen hinter die Frau. Einige trugen Waffen. Tarik ließ ihn los. Jarack nahm murrend sein Bündel auf und verschwand in der Nacht.

Bill und sein Gefährte gaben sich die Hand. Meilin und Rollan kehrten an ihren Lagerplatz zurück.

„Es geht doch nichts über einen Diebstahl und eine kleine Schlägerei vor dem Abendessen“, sagte Rollan.

Meilin ließ sich ein wenig zurückfallen, um neben ihm gehen zu können, und wollte schon selbst eine witzige Bemerkung machen, damit Rollan lachen und etwas erwidern konnte. So hatten sie sich oft stundenlang unterhalten. Doch diesmal brachte sie kein Wort heraus und spürte nur wieder die Furcht einflößende, sengende Hitze in sich. Sie ging schneller und ließ Rollan zurück.

An der Feuerstelle hatte Conor sich an seinen Wolf Briggan gelehnt und kraulte ihm den Kopf. Maya lag auf dem Bauch, hielt ihren Feuersalamander in der Hand und unterhielt sich mit ihm.

Alle Grünmäntel redeten mit ihren Seelentieren, aber Maya führte mit ihrem Lurch offenbar ein besonders ernstes, wenn auch einseitiges Gespräch. Möglicherweise war sie verrückt, aber eigentlich wirkte sie eher zufrieden und in sich ruhend, ganz anders als Meilin.

Vielleicht konnte ihr Jhi helfen … nein. Meilin ballte die Fäuste und verdrängte den Gedanken sofort wieder. Jhi würde sie nur beruhigen, aber Meilin wollte nicht beruhigt werden. Sie wollte kämpfen! Immer heißer stieg die Wut in ihr auf und verbrannte ihr Brust und Kehle. Sie kniff die Augen zusammen, um nicht zu schreien, und sah wieder ihren Vater vor sich, bewegungslos und mit leerem Blick.

Ein unbezwingbares Schluchzen stieg in ihr auf. Sie öffnete die Augen und weckte Jhi aus dem Ruhezustand.

Die Pandabärin landete auf dem Boden, drehte sich um und blickte sie an. Meilin fand, dass sie merkwürdig aussah. Die schwarzen Beine wollten nicht zu dem weißen Rumpf passen und die schwarzen Ringe um die Augen erweckten immer den Eindruck, dass Jhi traurig dreinblickte. Alles an ihr war rund und kuschelig. In Meilin stieg wieder der Zorn darüber auf, dass sie keine Bindung mit einem wilden, kampflustigen Raubtier eingegangen war.

Aber Jhi starrte sie unverwandt mit ihren silberfarbenen Augen an. Meilin erwiderte den Blick und atmete tief ein. Auf einmal schien alles wie in Zeitlupe abzulaufen.

Sie spürte den kühlen Luftzug, der über die Härchen auf ihren Armen strich, und sah das tiefe Samtblau des Abendhimmels. Die Geräusche schienen sich voneinander zu trennen und sie konnte mühelos verschiedene Stimmen vom Rauschen des Flusses unterscheiden. Sie hörte die vielen Gespräche, die im Lager geführt wurden, die Schritte Rollans hinter ihr und dahinter noch andere, schnellere Schritte. Die Schritte einer Person, die rannte.

Sie drehte sich um. Die Zeit verlief nicht wirklich langsamer. Von Jhis Ruhe erfüllt, nahm sie nur ihre Umgebung so intensiv wahr, dass ihr alles langsamer erschien.

Rollan lächelte sie an. „Was ist?“, fragte er.

Er konnte ja nicht sehen, war hinter ihm geschah. Jarack kam auf ihn zu gerannt. Er hielt ein langes, krummes Messer in der Hand.

„Rollan!“, schrie Meilin.

Die Ruhe Jhis erfüllte sie immer noch. Noch bevor Rollan sich umdrehen konnte, sah sie schon den Stein neben ihrem Fuß, beförderte ihn mit einem Kick in ihre Hand und warf. Sie traf Jarack an der Schulter.

Rollan wich erschrocken vor Jarack zurück und entging seinem Messer nur um Haaresbreite. Meilin war inzwischen losgerannt. Die letzten Meter rutschte sie über den Boden, dann trat sie Jarack gegen die Beine, sodass er das Gleichgewicht verlor. An seinen Bewegungen konnte sie ablesen, dass er kein geübter Kämpfer war – dafür hatte er umso mehr Wut und ein langes Messer. Er würde nicht einfach klein beigeben.

Er stieß zu. Meilin sah den Bogen, den das Messer beschrieb, als wäre er in die Luft gezeichnet. Langsam näherte es sich ihrem Hals. Sie wich ihm aus und griff ihrerseits mit einem Nierenschlag an. Jarack krümmte sich. Mit ihrem nächsten Schlag traf Meilin ihn in die Brust, sodass er keine Luft mehr bekam. Anschließend führte sie einen Handkantenschlag gegen seinen Arm aus. Er ließ das Messer fallen, hielt sich das Handgelenk und warf ihr einen verwirrten Blick zu. Dann machte er kehrt und rannte weg.

Rollan starrte Meilin fassungslos an. Die Ruhe, die Jhi verströmt hatte, verging und die Zeit kehrte wieder zu ihrem normalen Tempo zurück.

„Du warst wahnsinnig schnell“, sagte er. „Wie hast du das gemacht?“

„Ich kam mir gar nicht schnell vor“, erwiderte Meilin. „Nur alles andere lief ganz langsam ab.“

Rollan runzelte die Stirn.

„Tut mir leid, Rollan, du denkst jetzt vielleicht, du wärst genauso gut allein mit ihm fertig geworden und ich sollte mich nicht überall einmischen …“

„Meilin!“, rief er und sie brach ab. Ihr ging jetzt erst auf, dass er ihren Namen die ganze Zeit leise vor sich hin gesagt hatte. „Danke, Meilin.“

„Bitte.“ Sie wollte sich abwenden.

„Nein, im Ernst.“ Rollan zögerte. „Ich … ich war damals auf der Straße immer mit vielen anderen Kindern unterwegs, aber wenn von denen eines zwischen mir und einer warmen Mahlzeit wählen musste, war die Entscheidung klar. Bei euch dagegen … also bei euch habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich … dass ich euch vertrauen kann. Und das bedeutet mir total viel.“

Er lächelte sein typisches, Meilin schon so vertrautes Rollanlächeln. Anfangs war er für sie nur ein namenloser Waisenjunge gewesen. Jetzt war sie selbst Waise – die Mutter bei der Geburt gestorben, der Vater vom großen Schlinger getötet. Auch sie hatte kein Zuhause und musste zusehen, wie sie überlebte. Damit war sie ihm ähnlicher, als sie je für möglich gehalten hätte. Wie tröstlich vertraut seine braunen Augen waren und sein breites, von der Reise schmutziges Gesicht. In der tiefen Leere und Verzweiflung, die sie seit dem Tod ihres Vaters erfüllte, regte sich zum ersten Mal so etwas wie Hoffnung.

Rollan streckte den Arm aus und nahm ihre Hand. Seine Finger waren warm.

Meilins Herz hatte noch nie so laut geklopft.

SAMIS

Den Weg nach Samis konnte man kaum als Straße bezeichnen, so sehr war er von Gras und Gestrüpp überwuchert. Aber die Strecke war auf Tariks Karte eingezeichnet und deshalb vertraute Conor darauf, dass sie schon irgendwohin führen würde.

Als sie das Dorf fast erreicht hatten, entdeckte Conor eine Herde von Karibus. Die grauen Tiere mit ihren großen Geweihen grasten friedlich auf einer Weide und wurden von zwei Männern beaufsichtigt.

„Hirten!“, rief Conor. „Mit denen würde ich mich gern unterhalten.“

„Nur zu“, sagte Rollan, „tu das. Aber gib ihnen bitte nicht den Schieferelefanten oder den Granitwidder, wenn es sich einrichten lässt.“

„Rollan!“, mahnte Tarik leise.

Rollan zuckte nur die Schultern.

Conor war die ständigen Hänseleien gründlich leid. Es war dumm gewesen zu hoffen, die anderen würden je vergessen, dass er den Eroberern im Austausch gegen die Sicherheit seiner Familie den Eisernen Eber überlassen hatte. Sie hatten es weder vergessen noch ihm verziehen.

Er ignorierte Rollan und näherte sich den Hirten.

Die zwei jungen Männer saßen plaudernd im Schatten eines einsamen Baums inmitten von rosa- und lilafarbenen Lupinen.

Conor hatte seinen Hirtenstab dabei. Zwar benutzte er ihn momentan nur als Wanderstock, schließlich hatten sie auf ihren Reisen noch nie Schafe hüten müssen. Aber das dicke Holz lag gut in der Hand und war ihm so vertraut wie das frisch gebackene Brot seiner Mutter und der Geruch von Rauch und das knackende Kiefernharz an der heimischen Feuerstelle. Nach der furchtbaren Schlacht in Zhong und dem schlimmen Streit wegen des Eisernen Ebers gab ihm der Stock in der Hand Sicherheit.

Jetzt hob er ihn beim Näherkommen in die Höhe, um die Hirten als Kollegen zu grüßen. Bestimmt würden sie den Gruß erwidern und ihn dazu einladen, sich zu ihnen in den Schatten zu setzen. Doch stattdessen sprangen die beiden auf und blickten ihm misstrauisch entgegen. Sie waren beide blond und hellhäutig und etwa zwanzig Jahre alt. Ihre dunkelblauen Jacken und braunen Hosen wirkten sauber und neu und waren wie maßgeschneidert für ihre athletischen Körper. Kein Hirte, den Conor kannte, trug so schöne Kleider.

„Guten Tag!“, sagte er. „Ich heiße Conor und ich war selbst Hirte, bevor ich mich den Grünmänteln angeschlossen habe. Meine Familie hatte Schafe in Zentraleura. Hütet ihr Karibus? Ich habe noch nie eine Herde zahmer Karibus gesehen.“

„Und wir noch nie einen Besucher in Samis“, sagte der eine Bursche.

„Überhaupt noch nie“, bekräftigte der andere.

„Wir bleiben nicht lange“, sagte Conor. „Hütet ihr auch manchmal Schafe oder nur Karibus?“

Die Hirten wechselten einen Blick und schwiegen.

Conor spürte, wie seine Gefährten hinter ihm darauf warteten, dass er mit den beiden Kontakt knüpfte. Also holte er Luft und sprach über Schafe und ihre verschiedenen Rassen und stellte detaillierte Fragen nach Ernährungs- und Schlafgewohnheiten der Karibus.

Während er redete, nahm er mit geübtem Auge eine Bewegung im nahen Kiefernwäldchen wahr. Dort schlichen Schatten herum und blitzten Augen auf.

Conor deutete auf das Wäldchen. „Ist das …“

Die Hirten spähten mit zusammengekniffenen Augen in dieselbe Richtung.

„Oh nein, sie sind wieder da!“, rief der eine.

Die beiden versuchten, mit aufgeregten Pfiffen ihre Herde zu sammeln. Die Karibus schreckten hoch und begannen zu laufen. Die Schatten tauchten zwischen den Kiefern auf. Fünf braune Wölfe. Die zottigen, ausgemergelten Tiere rannten hinter dem letzten Karibu her und teilten sich auf, um es von verschiedenen Seiten anzugreifen.

„Briggan!“, rief Conor und schob den Ärmel hoch. Ein kurzer Schmerz fuhr über seinen Unterarm. Der große graue Wolf erwachte aus dem Ruhezustand und sprang auf den Boden. „Da drüben ist ein Rudel Wölfe. Sie jagen die Karibus dieser Leute.“

Briggan heulte.

Die Wölfe hielten inne und einer erwiderte das Heulen. Briggan antwortete. Die Wölfe schienen einen Moment zu überlegen, dann nahm ihr Anführer mit einem kurzen Bellen die Jagd wieder auf. Die anderen folgten ihm.

Briggan knurrte und rannte los. Erschrocken und zugleich fasziniert beobachtete Conor, wie er den Wölfen den Weg abschnitt, noch bevor sie das fliehende Karibu eingeholt hatten. Er warf sich auf den Leitwolf und packte ihn am Genick. Kämpfend wälzten sich die beiden im Gras. Dann trennten sie sich und starrten sich geduckt und mit wütend gefletschten Zähnen an.

Die anderen Wölfe umzingelten Briggan – es stand fünf zu eins. Conor rannte auf sie zu. Da er Briggan geweckt hatte, konnte er viel schneller laufen als sonst. Seine Beine fühlten sich stark und lang an und er spürte, wie das Gras gegen seine Unterschenkel peitschte. Sein Herz hämmerte, den Hirtenstab hielt er fest umklammert.

Doch noch bevor er bei den Wölfen ankam, hörte der Leitwolf plötzlich auf zu knurren. Er lief mit gesenktem Kopf und der Schnauze am Boden im Kreis herum, als jagte er seinem Schwanz hinterher. Es war eine Geste der Unterwerfung, die Conor überraschte. Schließlich hatte das Rudel nur einen einzigen Wolf als Gegner. Andererseits handelte es sich dabei um Briggan, einen der Vier Gefallenen.

Der Leitwolf heulte wieder und kehrte, gefolgt von seinem Rudel, zum Wald zurück.

Briggan trottete zu Conor und ließ sich von ihm drücken und am Nacken kraulen.

„Braver Junge, Briggan“, sagte Conor. „Danke.“

Die Hirten näherten sich ihm staunend.

„Ein Wolf mit blauen Augen“, sagte der eine. „Das ist Briggan, nicht wahr? Der Briggan.“

Conor nickte. Jetzt begannen die Hirten endlich, mit ihm zu reden. Sie erzählten sämtliche Legenden, die sie über Briggan kannten. Dann nahm der eine Conor am Arm. „Komm, das will der alte Henner bestimmt auch hören.“

Während sein Gefährte bei der Herde blieb, eilte er mit Conor zu einem kleinen Tor in dem Palisadenzaun, der das Dorf umgab.

„Henner, das errätst du nie!“, rief er einem Mann zu, der auf der anderen Seite des Tors stand. „Briggan hat unsere Karibus gerettet. Der Briggan!“

Und schon erzählte er, was geschehen war, wobei er die dramatischen Stellen noch ausschmückte.

Henner lächelte durch das kleine Fenster des Tors. „Briggan? Was du nicht sagst! Aber was haben all diese jungen Leute hier zu suchen?“