Sprachen lernen in der Pubertät - Heiner Böttger - E-Book

Sprachen lernen in der Pubertät E-Book

Heiner Böttger

0,0

Beschreibung

Die Pubertät sorgt bei allen Beteiligten seltener für freudiges Staunen, sondern häufiger für Irritationen, Ratlosigkeit und mitunter auch für Sprachlosigkeit. Dagegen richtet sich das vorliegende Buch, möchte Licht in das noch herrschende Dunkel einer äußerst wertvollen Entwicklungsphase bringen und zu einem besseren Verständnis beitragen. Der in zweiter Auflage überarbeitete und aktualisierte Band richtet sich an Studierende, Lehrkräfte, Referendare, Personen in der Lehrkräfteausbildung, Aus- und Fortbildende sowie an Bildungsverantwortliche. Er liefert, kompakt zusammengestellt, wichtige Informationen zur Pubertät und Adoleszenz als sprachsensible Phase und entwickelt, auf der verfügbaren Evidenz aufbauend, konkrete Hinweise für die Gestaltung eines für die Bedürfnisse von Heranwachsenden sensiblen Fremdsprachenunterrichts.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 378

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Heiner Böttger / Michaela Sambanis

Sprachen lernen in der Pubertät

Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen

Univ.-Prof. Dr. Heiner Böttger ist Professor für die Didaktik der englischen Sprache und Lite-ratur an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Sein aktuelles Forschungsinteresse konzentriert sich auf sprachrelevante neurodidaktische Aspekte des Erwerbs kommunikativer Kompetenzen sowie die Bedingungen, die der mehrsprachlichen Entwicklung zugrunde liegen.

Univ.-Prof. Dr. Michaela Sambanis ist Lehrstuhlinhaberin für die Didaktik des Englischen an der Freien Universität Berlin. Zuvor war sie als Projektleiterin am TransferZentrum für Neurowis-senschaften und Lernen (ZNL) der Universität Ulm tätig. Schwerpunkte ihrer Arbeit bilden das Verknüpfen von Didaktik und Neurowissenschaften sowie das Aufschlüsseln von Wissensbeständen für die Praxis des Lehrens und Lernens von Sprachen.

 

Michaela Sambanis und Heiner Böttger verorten sich wissenschaftlich sowohl genuin in der englischen Fachdidaktik als auch als Bindeglied zwischen Fremdsprachendidaktik und Neurowissenschaften. Dies dokumentieren sie insbesondere auch in den Bänden bei NARR zu den internationalen Konferenzen in Eichstätt 2015, Berlin 2017 und Griechenland 2019:

Focus on Evidence I – Fremdsprachendidaktik trifft Neurowissenschaften

Focus on Evidence II – Netzwerke zwischen Fremdsprachendidaktik und Neurowissenschaften

Focus on Evidence III – Fremdsprachendidaktik trifft Neurowissenschaften

 

 

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

Print-ISBN 978-3-8233-8049-8

ePub-ISBN 978-3-8233-0276-6

Inhalt

0. Ein Wort zuvor1. Sprachrelevante neurobiologische Grundlagen1.1 Alles auf Start1.2 Qualitative Änderungen in den Hirnregionen1.2.1 Pruning – gezielte Optimierung1.2.2 Myelinisierung der Großhirnrinde1.2.3 Limbisches System1.2.4 Weitere relevante Veränderungen1.3 Genderunterschiede1.4 Verändertes Schlafverhalten1.5 ZwischenfazitAusgewählte Literaturhinweise2. Kommunikation2.1 Ansprechpartner2.1.1 Eltern und Erziehungsberechtigte2.1.2 Lehrkräfte2.1.3 Peergroup2.1.4 Zwischenfazit2.2 Kommunikation im Jugendalter2.2.1 Funktionen und Merkmale von Jugendsprache(n)2.2.2 Rituelle Beschimpfung und Kurzdeutsch2.2.3 Parasoziale Interaktionen2.2.4 Kommunikation und Mediennutzung2.2.5 Zwischenfazit2.3 Schweigen und Verweigerung: Innere Emigration2.3.1 Sprachlicher Rückzug2.3.2 Gelungene Kommunikation2.3.3 Zurück vom Rückzug2.3.4 Zwischenfazit3. Zugänge und Entwicklungspotenziale3.1 Musik3.1.1 Musikgeschmack, Musik und Emotionen3.1.2 Sprach- und Musikverarbeitung im Gehirn3.1.3 Transfereffekte auf sprachliche Leistungen3.1.4 Effekte von Musik auf die Intelligenz3.1.5 Musik im Fremdsprachenunterricht3.1.6 Musik als Hintergrundreiz3.1.7 Zwischenfazit3.2 Motorik3.2.1 Wachstumsspurt, körperdysmorphe Störung und motorische Entwicklung3.2.2 Bewegungsfreude und Bewegungslernen3.2.3 Sprechmotorik3.2.4 Zwischenfazit3.3 Emotionen3.3.1 Bedarfe und Wünsche Jugendlicher – aktuelle Tendenzen3.3.2 Zwei Systeme und Emotionen im Gehirn3.3.3 Exekutive Funktionen3.3.4 Risikobereitschaft, Selbststeuerung und der Einfluss von Gleichaltrigen3.3.5 Emotionen deuten, Vulnerabilität und Ängste3.3.6 Zwischenfazit3.4 Kognition3.4.1 Beginn der Selbststeuerung3.4.2 Unterstützen der kognitiven Kontrolle3.4.3 Bewusstes Sprachenlernen organisieren3.4.4 Zwischenfazit3.5 Konzentration3.5.1 Arten von Aufmerksamkeit3.5.2 Neurobiologische Aspekte der Aufmerksamkeit3.5.3 Potenziale3.5.4 Aufmerksamkeitsstörungen3.5.5 Didaktische Interventionsmöglichkeiten3.5.6 Zwischenfazit3.6 Kreativität3.6.1 Kreativität unterbinden – ein Gedankenexperiment3.6.2 Kreativität in Gefahr?3.6.3 Academic confidence3.6.4 Jugendliche Lerner stärken3.6.5 Kreativität im Fremdsprachenunterricht fördern3.6.6 Zwischenfazit4. Individuelle Förderung und Unterstützung4.1 Differenzierung und Individualisierung4.2 Korrektur und Rolle des Fehlers4.3 Feedback4.3.1 Teacher feedback4.3.2 Peer feedback4.3.3 Just culture4.4 ZwischenfazitAusgewählte Literaturhinweise5. Fundus Unterrichtspraxis – kommunikative Formate5.1 Spielerische Aufgabenformate: Gamification5.1.1 Elections: Klassensprecherwahl – Mein persönlicher Wahlkampf5.1.2 Newspaper: Ein englischsprachiges Schülermagazin gestalten5.1.3 Role Play: Traveling from King’s Cross London5.1.4 Decision Game: Das Wüstenspiel5.1.5 Decision Game: Lost at Sea5.1.6 Trial: Eine Gerichtsverhandlung nachstellen5.1.7 Exhibition: Eine Kunstausstellung organisieren5.1.8 Radio Play: Das Klassenradio5.2 Musikbasierte Unterrichtsaktivitäten5.2.1 Lieder malen5.2.2 Lieder zu Lebensereignissen5.2.3 Musikbilder erzählen Geschichten5.3 Berücksichtigung motorischer Aspekte5.3.1 Moleküle5.3.2 Bewegungsmemory5.3.3 Zungenbrecher knacken5.4 Emotionen und exekutive Funktionen5.4.1 Ein guter Tag!5.4.2 I’m happy to be in this class with you because …5.4.3 Yes, let’s!5.4.4 Conscience Alley5.5 Kreativität5.5.1 1000 Arten eine Socke zu benutzen5.5.2 Sales pitch5.6 Mindful exercises5.6.1 Einstiegsübung: Atmen lernen5.6.2 Gemeinsame Übung in der Klasse: Bodyscan5.6.3 Kurze Einzelübung: Notizen machenLiteraturverzeichnisSachregister

0.Ein Wort zuvor

Sie ist Anlass für Missverständnisse, Konflikte, Stigmatisierungen, enttäuschte Erwartungen und veritable BeziehungskrisenBeziehungskrisen. Gleichzeitig ist sie eine wahre Brutstätte von KreativitätKreativität und Genialität, von inneren wie äußeren Veränderungen und Neuschöpfungen. Sie ist Evolution und Revolution in einem.

Die Rede ist von der PubertätPubertät sowie der AdoleszenzAdoleszenz, der Grauzone zwischen Jugend und Erwachsensein. Sie bilden einen eigentlich beeindruckenden Entwicklungszeitraum, der aber, anders als z.B. die frühkindliche EntwicklungEntwicklung als ebenfalls beeindruckende Phase, nicht unbedingt für freudiges Staunen sorgt, sondern für Irritationen, Ratlosigkeit und mitunter auch Sprachlosigkeit.

Vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse und Theoriebildung, vielfältiger Beobachtungs- und Befragungserfahrungen, empirischer Untersuchungen, insbesondere der Fremdsprachendidaktik und der Erziehungswissenschaften, sowie unter Bezugnahme auf neurowissenschaftliche und ausgewählte psychologische Befunde entstand dieses Buch. Es erhebt in aller Bescheidenheit den Anspruch, zu einem besseren Verständnis dieses einzigartigen Entwicklungszeitraums beizutragen und auf dieser Grundlage den sonst oftmals eher intuitiven Handlungshinweisen für den Fremdsprachenunterricht sich auf Wissensbestände stützende zur Seite zu stellen.

Das Buch setzt bei einer Auseinandersetzung mit Wissensbeständen an, schlägt Brücken zur Praxis des Fremdsprachenunterrichts und geht dabei zahlreichen Fragen nach: Welche Prozesse laufen im Gehirn von TeenagernTeenager ab? Wie gelingt die Kommunikation mit Jugendlichen trotz scheinbarer Abgrenzung? Was bedeutet Sprache für Jugendliche und ihre IdentitätsentwicklungIdentitätsentwicklung? Welchen Einfluss haben PeersGleichaltrige, Peers auf den sprachlichen Lernprozess? Welche Inhalte sind für Heranwachsende relevant und damit memorierbar? Welche Rolle spielen EmotionenEmotionen, KreativitätKreativität und Strategien? Welche Rolle spielt Musik im Leben von Jugendlichen und welches Potenzial besitzt sie fürs Sprachenlernen? Wie sieht letztlich ein altersgerechter Fremdsprachenunterricht aus, welchen Prinzipien folgt er?

Diesen und weiteren Fragen stellen wir uns – und wir stellen uns ihnen ausgesprochen gerne. Denn eine gesicherte Vorinformation ist diese: Die PubertätPubertät ist eine der Lebensphasen mit dem größten Entwicklungspotenzial.

Das starke Motiv für uns beide als ehemalige Lehrkräfte und jetzige Lehrkräftebildner, als Autoren und Wissenschaftler, uns um diese spracherwerbssensible Phase zu kümmern, deren Potenzial wider besseren Wissens unterschätzt wird, ist die Sackgasse, in der vor allem die schulische Sekundarstufe steckt. Entwicklungspsychologisch, neurowissenschaftlich und auch fachdidaktisch zielgruppenorientiertes Fremdsprachenlehren und -lernen zu erforschen und zu organisieren ist immer noch eine Sisyphosaufgabe.

Wir gehen holistisch heran, wollen Grundlagen legen, dazu Zugänge und Entwicklungspotenziale aufzeigen, für das Sprachenlernen relevante Besonderheiten dieser einzigartigen Entwicklungsphase beleuchten und diese erklären. Wir möchten einerseits dafür sensibilisieren, dass manche pubertären Verhaltensweisen der HirnentwicklungHirnentwicklung zuträglich sind, dass aber andererseits auch nicht alles durch Umbauarbeiten im Gehirn zu entschuldigen ist: In manchen Fällen spiegeln z.B. die Streitbarkeit und Grenzüberschreitungen von Jugendlichen einfach nur die Erwartungen oder Befürchtungen von Erwachsenen, die es mit Pubertierenden zu tun haben.

Letztlich berühren wir im Zuge unserer Auseinandersetzung auch die methodische Ebene, wollen Aufgabenformate anbieten, die den gesicherten Befunden entsprechen und Lehrkräften, Referendaren, Studierenden, Personen in der Lehrkräfteausbildung sowie Leiterinnen und Leitern von Sprachkursen für Jugendliche Anstöße geben, um das Potenzial dieser besonderen Entwicklungsphase (neu) zu entdecken, es im Fremdsprachenunterricht zu entfalten, Freude, Gemeinschafts- und Erfolgserlebnisse im Unterricht zu ermöglichen.

Gegen Ermüdung, Entmutigung und manchmal sogar Verzweiflung der Fremdsprachenlehrkräfte zu wirken, ist lohnend. Über demokratische Unterrichtsstrukturen, Kollaboration, Kooperation und Partizipation sind Verständnis, Toleranz und Vertrauen gegenüber den sprachenlernenden Jugendlichen zu erreichen, und sie ermöglichen einen einfachen Haltungswechsel. Dieser wiederum bildet den Ansatzpunkt, den wir nach eingehender Auseinandersetzung mit dem Kenntnisstand und als langjährige Praktiker empfehlen. Das vorliegende Buch möchte, über den Weg des erweiterten Verständnisses für das, was in dieser besonderen Entwicklungsphase vor sich geht, dazu ermutigen, von einer mehr oder weniger resignierten oder auch defizitorientierten Sichtweise von PubertätPubertät und AdoleszenzAdoleszenz Abstand zu gewinnen und sie durch eine stärkenorientierte Sichtweise zu ersetzen.

Das „Wort zuvor“ möchten wir mit einem Wort des Dankes abschließen: Wir danken all jenen, die uns in Lehrveranstaltungen an der Universität, bei Unterrichtsbesuchen, Vorträgen, Kongressen usw. durch ihr Interesse, ihre Fragen und Erfahrungen immer wieder neu zum Nachdenken und zum Nachforschen bringen. Die Tatsache, dass dieser Band nun in einer zweiten Auflage erscheint, zeigt, wie viele engagierte Menschen es gibt, die sich für die Stärken und Potenziale des Jugendalters fürs Sprachenlernen interessieren. Das freut und beeindruckt uns zugleich.

 

Berlin/Eichstätt, im Sommer 2020

 

Heiner Böttger

Michaela Sambanis

1.Sprachrelevante neurobiologische Grundlagen

Die Veränderung der jugendlichen Psyche in der PubertätPubertät ist für Außenstehende, insbesondere für Eltern und Lehrkräfte, kaum nachvollziehbar, da sich einerseits die Motivlagen der Jugendlichen nicht rational erklären lassen und da andererseits die individuelle Entwicklungsgeschwindigkeit des jugendlichen Gehirns nicht konstant und in allen ArealenAreale gleichmäßig verläuft. Es ist eine programmierte Metamorphose vom Kind zum Erwachsenen mit massiven Umbauprozessen im adoleszenten Gehirn.

AdoleszenzAdoleszenz definiert in etwa den Lebensabschnitt zwischen der späten Kindheit und dem Erwachsenenalter. Sie ist vom Geschlecht, der Kultur, der Ernährung und anderen Faktoren abhängig. Sie umfasst ganzheitlich die physische und mentale EntwicklungEntwicklung zum selbstständigen, verantwortungsbewussten Erwachsenen.

Umso wichtiger ist es, dass sich alle für die sprachliche Bildung dieser AltersgruppeAltersgruppe Verantwortlichen um ein Basiswissen aus vielerlei Perspektiven bemühen, also holistische Kompetenzen aufbauen. Dazu gehören neben Erkenntnissen der Sprachendidaktik die der Sprachenneurodidaktik, der Neurowissenschaften sowie der Spracherwerbswissenschaft und der Entwicklungspsychologie. So entsteht eine Grundlage für begründetes, durchdachtes, professionelles sprachunterrichtliches Handeln basierend auf klaren Beweisen, nicht auf Vorurteilen, Mythen und unreflektierten Präferenzen.

Sichtbar, somit beobachtbar und spürbar, sind Veränderungen in der Psyche der sich wandelnden und entwickelnden Kinder. Diese völlige gedankliche Neuorientierung der heranwachsenden Jugendlichen hängt mit einem biologischen Erdrutsch in deren Gehirn zusammen, einer grundlegenden Reorganisation (Giedd et al. 1999: 861ff.; vgl. auch Giedd 2004: 77ff.). In dieser Zeit ermöglicht es die große Plastizität, also die Anpassungsfähigkeit und Veränderbarkeit des adoleszenten Gehirns, dass sich Einflüsse von außen in besonderer Weise prägend auf kortikale Schaltkreise auswirken können. Die Anpassungsfähigkeit ist in der Tat enorm: Ein Verlust von Synapsen durch Verletzungen kann mit dem bestehenden Netzwerk ausgeglichen werden. Auch Sprachlerneffekte sind zu beobachten – der Muttersprachenerwerb ist abhängig von einer umfassenden SynaptogeneseSynaptogenese, die später durch die Reduktion gestärkt, stabilisiert und effizient gemacht wird. Dieses Netzwerk bildet dann die Grundlage für das weitere Fremdsprachenlernen unter institutionalisierten Bedingungen nach dem Alter von etwa vier bis fünf Jahren, wenn die EntwicklungEntwicklung der Muttersprache bezüglich Grammatik und Wortschatz im Großen und Ganzen abgeschlossen ist (vgl. Böttger 2016: 76).

Es entstehen somit sowohl ganz erhebliche Chancen für jede Art von Bildung, insbesondere sprachliche Bildung und Erziehung (vgl. Konrad et al. 2013: 425), jedoch auch hohe Anforderungen an das weitverbreitete geringe Verständnis der Verantwortlichen für diesen Aspekt von PubertätPubertät. Einfache Erklärungen bilden nicht annähernd die Komplexität dieses zerebralen Umbruchs ab.

Alles im pubertierenden Gehirn entwickelt sich hormonell bedingt unterschiedlich stark und schnell, passt nicht mehr in das weitgehend vorhersehbare, berechenbare, ausgeglichene und harmonische Gleichgewicht der Kindergedankenwelt. GeschlechtshormoneGeschlechtshormone sind ab etwa dem zehnten bis zwölften Lebensjahr die Verursacher des scheinbaren GefühlsGefühle- und Gedankenchaos. Sie leiten die körperliche ReifungReifung bis hin zur Geschlechtsreife ein. Wie genau der Umbau- und Reorganisationsprozess abläuft, ist nicht abschließend geklärt. Für das Sprachenlernen relevante, bereits gesicherte Erkenntnisse und Aspekte werden im Folgenden geklärt. Diese umfassen auch den sprachlichen Beziehungsaufbau, die IdentitätsentwicklungIdentitätsentwicklung im kommunikativen Kontext, das Sprachselbstbewusstsein, die Kontrolle sprachlicher Produktion sowie kommunikativ-soziale Kompetenzen.

1.1Alles auf Start

Zu einem nicht exakt vorhersehbaren Zeitpunkt beginnt die Wandlung vom Kind zum Jugendlichen (vgl. Harley 2018: 109ff.). Das Hirn weist generell eine hohe Dichte an Rezeptoren für SexualhormoneSexualhormone auf, die so auch während der AdoleszenzAdoleszenz dort neuronale ArealeAreale beeinflussen, zumal sie in dieser Zeit ansteigend aktiviert werden.

Verantwortlich ist dafür in erster Linie der Hypothalamus, der das Ausschütten der HormoneHormon initiiert (vgl. Sambanis 2013: 69). Er ist der kleinere Teil des ZwischenhirnsZwischenhirn und steuert die biologischen Grundfunktionen des Körpers (vgl. Böttger 2016: 94): Atmung, Nahrungsaufnahme, Blutkreislauf. Zu Beginn der PubertätPubertät sendet der Hypothalamus chemische Signale an die Drüse Hypophyse, damit diese Botenstoffe ausschüttet, die wiederum u.a. die Produktion der SexualhormoneSexualhormone Östrogen und TestosteronTestosteron bei Mädchen bzw. Jungen beeinflussen. Der genaue Zeitpunkt ist individuell unterschiedlich und abhängig von weiteren Faktoren, beispielsweise den vorhandenen Fettreserven bei Mädchen.

Der Hypothalamus (1) befindet sich im Bereich der Sehnervenkreuzung. Er ist ein wichtiges Bindeglied zwischen Nervensystem und Hormonsystem, erreicht die Größe eines Fünf-Cent-Stücks und wiegt ca. 15 Gramm. Durch den Hypophysenstiel (2) (Infundibulum) besteht eine Verbindung mit der Hypophyse (3) (HirnanhangdrüseHirnanhangdrüse), die wie ein Tropfen hängt. Die Hormonausschütung verläuft ab dort als Kettenreaktion wie folgt: Spezielle HormoneHormon aktivieren in den Eierstöcken bzw. Hoden die Produktion von Östrogen und TestosteronTestosteron, zwei SexualhormonenSexualhormone (4). Diese wirken erneut auf den Hypothalamus und beeinflussen den Sexualtrieb.

Abb. 1

Hormonausschüttung

Hormonausschüttung (nach Tefi) (angepasst) © Shutterstock

1.2Qualitative Änderungen in den Hirnregionen

In der AdoleszenzAdoleszenz entsteht durch die Reorganisationsprozesse bis etwa zum 30. Lebensjahr ein Ungleichgewicht zwischen reiferen subkortikalen und unreiferen präfrontalen Hirnstrukturen. Dies betrifft insbesondere das früher reifende limbische System, das auch das BelohnungssystemBelohnung, Belohnungssystem beinhaltet, und das im StirnlappenStirnlappen sitzende Kontrollsystem (siehe Abb. 2). Dies ist mit tiefgreifenden emotionalen und kognitiven Veränderungen verbunden. Letztere umfassen auch die exekutiven Funktionen (vgl. 3.3.3), die Denken und Handeln kontrollieren, und so erst auch z.B. eine flexible Anpassung an neue sprachliche Herausforderungen in neuen sprachlichen Kontexten ermöglichen (vgl. Casey et al. 2010).

Abb. 2

Nichtlineare Reifungsprozesse von subkortikalen und präfrontalen Hirnarealen

Nichtlineare Reifungsprozesse von subkortikalen und präfrontalen Hirnarealen (Casey et al. 2008)

Die, an der gesamten körperlichen EntwicklungEntwicklung gemessenen, immer noch unreifen synaptischen Netzwerke im jungen Gehirn verantworten so die verminderte kognitive und emotionale SelbstregulationSelbstregulation und damit auch einen zeitweisen Kontrollverlust, auch in sprachlicher Hinsicht.

Das Spannungsfeld KognitionKognition – EmotionEmotionen ist für die PubertätPubertät konstituierend: Das Denken Pubertierender ist durch die sich erst entwickelnde neuronale Verbindung und Integration von limbischem System und präfrontalem Kortex geprägt. Ist wenig Erregung vorhanden, werden die Denkprozesse über den StirnlappenStirnlappen gesteuert (= kalte Kognition), bei starken EmotionenEmotionen werden Entscheidungen über das limbische System gesteuert (= heiße Kognition).

Besonderes Augenmerk verdient, auch in spracherzieherischer Hinsicht, die emotionale EntwicklungEntwicklung (vgl. 3.3). Natürliche Stressoren führen zu positiven Auswirkungen auf Anforderungen und Lernprozesse, jenseits einer gesunden Grenze verändern sie jedoch neuronale Strukturen, beispielsweise durch intensive AngstAngst/ anxiety, Angsterkrankungen, exzessiven Stress, soziale Be- bzw. Verurteilung. Ab dem frühen Sprachenlernen bis zum Ende der PubertätPubertät führen positives FeedbackFeedback und Erfolge zur gesunden SelbsteinschätzungSelbsteinschätzung und Selbstregulierung.

Die ReifungReifung des Gehirns von der Kindheit bis in die AdoleszenzAdoleszenz ist ein höchst dynamischer Gesamtprozess (vgl. Abb. 3) als Resultat vieler unterschiedlicher Einzelprozesse. Um zu verstehen, was diesbezüglich in der PubertätPubertät vor sich geht, ist zunächst ein Blick zurück in die EntwicklungEntwicklung des kindlichen Denkorgans bis zum Eintritt in die Pubertät notwendig.

Abb. 3

Entwicklungsphasen

Entwicklungsphasen (nach Böttger 2016: 60) (erweitert)

1.2.1Pruning – gezielte Optimierung

Schon bald nach der Geburt ist die Höchstzahl der Nervenzellen im Gehirn erreicht (ca. 60 Milliarden). Es fehlen nun noch größtenteils die verbindenden Synapsen. Die Zahl der in den ersten Lebensjahren entstehenden Synapsen erreicht mehrere Billionen und bildet mit den Zellen ein dichtes Netzwerk (vgl. Böttger 2016: 63). Es repräsentiert anatomisch die ungeheure Lernfähigkeit dieser frühen Altersspanne, die die Aufnahme von unzähligen Eindrücken und Impulsen ermöglicht. Dies geht zu Lasten von Konzentrationsfähigkeit und präziser Handlungseffizienz, die erst mit der EntwicklungEntwicklung in der PubertätPubertät erreicht werden können. Im Alter von etwa zehn Jahren wird die steile Synapsenentwicklung eingebremst. Die Atrophie ungenutzter ZellverbindungenZellverbindungen, die gegenüber der bisherigen Entwicklung nicht auffallend war und jetzt ein Gleichgewicht erreicht hat, nimmt schlagartig zu: Die Dysbalance kehrt sich um, die Entwicklung schaltet nun von Quantität auf Qualität und zwar nutzungsabhängig.

Use it or lose it heißt das neue Prinzip der HirnentwicklungHirnentwicklung, also Benützen oder Verlieren von neuronalen Verbindungen – Letzteres wird auch Pruning (engl., von Zurückschneiden, Stutzen) genannt. 30000 Nervenverbindungen werden pro Sekunde während der PubertätPubertät rückgebaut, umgerechnet also über 2,5 Milliarden täglich.

Dies geht einher mit einer Zunahme des Zellkörpervolumens. Bis zum Ende der AdoleszenzAdoleszenz sind es 50 Prozent aller seit Erreichen des Maximums bestehenden Synapsen. Das bedeutet einen massiven Substanzverlust (vgl. Abb. 4), jedoch zu Gunsten qualitativer Verbindungen, die nutzungsabhängig bestehen bleiben.

Wenngleich die Synapsendichte im Frontalhirn, dem Entscheidungszentrum hinter der Stirn (vgl. 1.2.2), nach der PubertätPubertät abgenommen hat, ist das Volumen des Gehirngewebes jedoch gleich geblieben (Blakemore 2006: 163).

Abb. 4

Volumenänderung im Gehirn

Volumenänderung im Gehirn (nach Giedd et al. 1999: 861ff.)

Der Optimierungsprozess war lange unbekannt, wurde noch länger unterschätzt und sogenannte „pubertäre“, nicht immer rational erklärbare Verhaltensweisen Jugendlicher wurden ihm zugeordnet. Jedoch handelt es sich dabei um eine Erhöhung der Hirnleistungsfähigkeit durch die Entfernung überflüssiger und energieverbrauchender Leitungsmuster (vgl. Abb. 5). Parallel verstärken sich die synaptischen Verbindungen, über die häufig und intensiv elektrische Impulse übertragen werden.

Abb. 5

Synaptische Verbindungen vom 10. Lebensjahr (links) bis zum Ende der PubertätPubertät (rechts)

Synaptische Verbindungen vom 10. Lebensjahr (links) bis zum Ende der Pubertät (rechts) (nach Geo kompakt 45/2015: 48)

1.2.2MyelinisierungMyelinisierung der Großhirnrinde

Die PubertätPubertät setzt ein während eines bereits nach der Geburt begonnenen Reifungsprozesses, der parallel zum Pruning verläuft: die MyelinisierungMyelinisierung. Die graue Substanz der Großhirnrinde, bestehend aus den Neuronen (Nervenzellen), reift bis zum Alter von 14 Jahren, dann fällt die Reifungskurve bereits ab. Ihre langen Nervenfortsätze bzw. -fasern, die Verbindungsleitungen, zwischen wenigen Millimetern und bis zu einem Meter lang, werden sukzessive mit einer eiweißhaltigen Fettschicht ummantelt, dem Myelin (vgl. Böttger 2016: 66; Konrad et al. 2013). Myelin ist hell, nahezu weiß, und wird deshalb auch als weiße Substanz bezeichnet. Wie die isolierende Ummantelung eines elektrischen Kabels sorgt die Myelinschicht einerseits für Schutz der Fortsätze (Axone), andererseits aber auch für eine höhere Leitungsgeschwindigkeit ohne Verlust der neuronalen Impulse. Diese kann bis über 400 km/h erreichen.

Anders als lange angenommen, ist die Zeit der PubertätPubertät auch eine Zeit der sich schnell und steil entwickelnden Potenziale. Durch die MyelinisierungMyelinisierung werden Verbindungen zwischen Hirnarealen, auch solchen, die weiter auseinanderliegen, effizient.

Die MyelinisierungMyelinisierung verläuft zuerst über die primären sensorischen und motorischen ArealeAreale des Kortex, insbesondere solche für das Hören, Sehen und Fühlen, sowie Bewegungen. Erst in der PubertätPubertät sind am Ende dieser EntwicklungEntwicklung alle Teile des präfrontalen Kortex mit den anderen Hirnarealen verbunden. (Böttger 2016: 91)

Diese EntwicklungEntwicklung hat demnach eine festgelegte Richtung, von posterior nach anterioranterior, von hinten nach vorne. Denken allgemein, kognitive Fähigkeiten, aber auch Sprachaufnahme, -verarbeitung und -produktion beschleunigen sich mit dieser Entwicklung. Insbesondere der präfrontale Kortex, der StirnlappenStirnlappen, wird weitgehend neu organisiert (vgl. Abb. 6).

Der präfrontale Kortex, auch Stirnhirn genannt, operiert kognitiv, antizipativ, exekutiv und evaluativ: Wichtige, nicht nur für das Sprachenlernen relevante Entscheidungen werden hier getroffen. Der „CEO des Gehirns“ aktiviert beim Sprachenlernen neue Hirnareale, in denen nach

Übung und Wiederholung sprachliche Informationen gespeichert werden, Handlungsplanungen und Entscheidungen stattfinden sowie Antizipationen, das Vorhersehen von Handlungen, ablaufen. Übungen führen zu Automatisierung/Habitualisierung: Neue Verhaltensmuster aktivieren zu Lernbeginn größere ArealeAreale im Kortex. Je häufiger neue Muster wiederholt werden, desto stärker bildet sich der belegte Bereich im Kortex zurück, die neuen Erfahrungen werden in subcortikale Bereiche und damit in das Unbewusste verlagert. Der präfrontale Kortex entwickelt sich am langsamsten und erst zuletzt vollständig. (Böttger 2016: 46)

Wenn er dann vollständig entwickelt ist, die synaptischen Verschaltungen, die Kortexbereiche untereinander sowie die tieferen Bereiche des Gehirns zu einem Konnektom zusammenführen, dann sind auch die kognitiven Prozesse und Exekutivfunktionen im präfrontalen Kortex feinabgestimmt (vgl. Barkovich 2000; Benes et al. 1994).

Abb. 6

Dynamischer Umbau der grauen Substanz durch MyelinisierungMyelinisierung

Dynamischer Umbau der grauen Substanz durch Myelinisierung (nach Gogtay et al 2004: 8178)

1.2.3Limbisches System

Der Prozess des qualitativen Umbaus hat auch seinen Preis. Er führt zunächst zur Spezialisierung, einer Art finetuning motorischer Fähigkeiten, auch im Bereich der Sprache. Das Neurotransmittersystem des Gehirns, verantwortlich für die Übertragung der Impulse von einer Nervenzelle auf andere durch Botenstoffe, verändert sich.

So erhöht sich bei der Aussicht auf BelohnungBelohnung, Belohnungssystem beispielsweise die KonzentrationKonzentration des im Volksmund und populärwissenschaftlich fälschlicherweise als „Glückshormon“ bezeichneten Neurotransmitters DopaminDopamin im StirnlappenStirnlappen, dem präfrontalen Kortex, und vermindert dessen LeistungsfähigkeitLeistungsfähigkeit. Gleichzeitig steigt sie im Nucleus accumbens mit seinen Dopaminrezeptoren an. Dopamin ruft GefühleGefühle der MotivationMotivation, der Euphorie und der Vorfreude hervor und überschwemmt das Gehirn buchstäblich.

Das „Übermannen der GefühleGefühle“, RisikobereitschaftRisikofreudigkeit, -bereitschaft und der Drang nach Anerkennung durch die peergroup hat seinen Ursprung dort im (meso)limbischen System: Vom Mandelkern (AmygdalaAmygdala), der die Information von außen verarbeitet, wallen sie ungefiltert und häufig unkontrollierbar hervor (vgl. Abb. 7). Durch diese während der AdoleszenzAdoleszenz typischerweise erhöhte Aktivität der Amygdala bei der emotionalen Reizverarbeitung können variable Gefühlszustände (vgl. Kap. 3.3) korrelieren, so z.B. verminderte AufmerksamkeitAufmerksamkeit oder impulsive Reaktionen auf Stressoren: Von himmelhoch jauchzend bis zutiefst betrübt reicht die emotionale Spanne. Dies schließt mögliche depressive Affekte mit ein (vgl. Spear 2010).

Das limbische System ist vor allem eine funktionale, weniger eine anatomische, Einheit und gehört zu den ältesten Teilen des Gehirns. Im limbischen System wird deutlich repräsentiert, wie eng Lernen, Gedächtnis, MotivationMotivation und GefühleGefühle zusammenhängen. Es ist eine ringförmige Anordnung verschiedener Hirnareale mit Filterfunktion: Sie entscheiden hauptsächlich, ob und welche Inhalte verarbeitet werden, sodass diese dann gegebenenfalls langzeitlich in der Großhirnrinde abgespeichert werden können. Dabei spielen EmotionenEmotionen, Motivationen, Relevanz und Präferenzen eine entscheidende Rolle (Böttger 2016: 55).

Erst im Alter zwischen 20 und 25 ist der präfrontale Kortex so weit ausgereift, dass er emotionale Affekte gezielt unterdrücken kann (vgl. Abb. 7a und b). Da Jugendliche in der AdoleszenzAdoleszenz tendenziell stärker ihr bereits gereiftes limbisches System nutzen (vgl. Sambanis 2013: 70f.), rangieren emotionale Verarbeitungen somit vor kognitiven. Der Verstand hat den Rest des Gehirns quasi noch nicht im Griff. Strategische, langfristige Planungen sind weitgehend noch nicht möglich. Für das Sprachenlernen liegt in dieser Erkenntnis ein Hinweis auf entsprechende Aufgabenformate (vgl. Kap. 5).

Abb. 7a und b

EntwicklungEntwicklung der kognitiven Kontrolle in der Adoleszenz (a) bzw. nach der Adoleszenz (b)

Entwicklung der kognitiven Kontrolle (nach Geo kompakt 45/ 2015: 47)

Die Fähigkeit, sich in andere zu versetzen, die eigene Perspektive zu verändern, ist vor der PubertätPubertät teils schon ausgeprägt. Während der Pubertät nimmt sie ab, mit dem Grad der HirnreifungHirnreifung dann erst wieder zu (vgl. 3.3.5). EmpathieEmpathie ist hochgradig sprachenrelevant – besonders auch in kommunikativen und interkulturellen Kompetenzen erhält sie Bedeutung. Die Beurteilung und Interpretation der Resultate dieses Perspektivwechsels allerdings ist meist noch geprägt durch den emotionalen Filter des limbischen Systems und weniger durch KognitionKognition.

1.2.4Weitere relevante Veränderungen

Interhemisphärische Relaisstation: der Balken

Das Corpus callosum ist ein neuronaler Faserbalken, der die Hemisphären im Gehirn verbindet. Auf der Suche nach weiteren Wachstumsmustern des sich entwickelnden Gehirns vor und während der PubertätPubertät ist festzustellen, dass sich dieses Hirnareal vor und während der Pubertät stark entwickelt, sich aber gleich anschließend abschwächt.

Für Eltern und Lehrkräfte ist die Erkenntnis von hohem Interesse, dass diese Ergebnisse Studien zum Spracherwerb stützen, die eine Abnahme der Fähigkeit, neue Sprachen zu lernen, propagieren (Thompson et al. 2000).

Hormonelle Besonderheiten

Das HormonHormon Oxytocin ist u.a. verantwortlich für die Verstärkung sozialer Bindungen (vgl. Steinberg 2008) sowie die Selbstwahrnehmung während der PubertätPubertät. Ein großes Bestreben Jugendlicher ist, selbstbewusst und somit gelassen aufzutreten. Dies prägt sich auch im Sprachgebrauch aus (vgl. Kap. 2).

Eine kleine Drüse im Zentrum des Gehirns, die Epiphyse oder auch ZirbeldrüseZirbeldrüse genannt, produziert das HormonHormon Melatonin, das den Tag-Nacht-Rhythmus steuert. Während der Wachstumsphase erzeugt es jedoch bei pubertierenden Jugendlichen Müdigkeit gleich einem Jetlag, d.h. in vielen Fällen mit einer Verzögerung von bis zu zwei Stunden gegenüber den „normalen“ Zeitabläufen (vgl. Sambanis 2013: 86).

Dies erklärt die jugendliche Tendenz, länger aufbleiben zu wollen. Der Abbau des HormonsHormon geschieht wiederum mit gleicher Verzögerung, was morgendliche Müdigkeit und Schlafmangel zur Folge hat. Auf diesen Umstand sind institutionalisierte Bildungseinrichtungen nicht eingestellt, sie verlegen sogar teils den Unterrichtsbeginn wegen organisatorischer Notwendigkeiten (Busfahrpläne etc.) noch weiter in den frühen Morgen. Neben sich unweigerlich einstellenden Konzentrationsmängeln, die sich nicht nur auf das Sprachenlernen auswirken, sind erhöhte Reizbarkeit und Anfälligkeit für depressive Stimmungen (vgl. 3.2.1 und 3.3.5) erheblich lernkontraproduktiv.

Kortex

Die zerebrale Reorganisation wird in Untersuchungen mit EEGElektroenzephalographie (Elektroenzephalographie) ebenfalls deutlich. Dabei können zunehmende kognitive Fähigkeiten in der AdoleszenzAdoleszenz in Studien zur neuropsychologischen Intelligenzforschung mit Fokus auf die MyelinisierungMyelinisierung des präfrontalen Kortex belegt werden (Tamnes et al. 2010, 2012). Mit fortschreitender Adoleszenz zeigt sich beim Vergleich von Wellenfrequenzen eine starke Tendenz zur LeistungsfähigkeitLeistungsfähigkeit des StirnlappensStirnlappen und damit der Effizienz kognitiver Funktionen des beinahe Erwachsenen. Messbar ist gleichzeitig eine Abnahme des Glucose-Stoffwechsels, die diese Entwicklungsrichtung unterstützt (vgl. Spear 2010: 7).

1.3Genderunterschiede

Die MyelinisierungMyelinisierung verläuft bei jungen Männern und Frauen bis zum Alter von etwa 18 Jahren leicht unterschiedlich ab und nivelliert sich dann in etwa. Abb. 8 verdeutlicht dies grob. Von erheblichem Interesse dabei ist der Umstand, dass sich dieser Prozess besonders in den für die SprachverarbeitungSprachverarbeitung verantwortlichen Hirnarealen niederschlägt. Lese- und SchreibkompetenzenSchreibkompetenzen wie auch feinmotorische Fähigkeiten, z.B. Handschrift, entwickeln sich ganz erheblich früher und schneller bei Mädchen. Diese Unterschiedlichkeit gleicht sich ab 18 Jahren dann aus, wenn nicht vorher eine genderspezifische Stigmatisierung stattfindet (vgl. Böttger 2016: 96).

Abb. 8

Genderabhängige MyelinisierungMyelinisierung

Genderabhängige Myelinisierung (nach Blakemore 2006: 165)

Die Aktivität in den beiden Hemisphären verdient ebenfalls Berücksichtigung bei der Unterstützung und Planung von Lernprozessen bei Jugendlichen: Im Alter von 14 bis 17 Jahren sind deutliche Unterschiede nachweisbar. Sie bestehen bei Mädchen vor allem in der klar effizienteren, funktionell symmetrischer organisierten Aktivierung der Hirnhälften zur Lösung sprachlicher Aufgaben. Obwohl das weibliche Gehirn durchschnittlich 13 Prozent kleiner und leichter ist, kann es insbesondere durch die beidseitige Aktivierung der Hemisphären 20 bis 30 Prozent mehr Hirnanteile für Sprache erschließen (vgl. Harasty et al. 2000: 404f.). Dies gilt insbesondere für die Sprachwahrnehmung, auch für außersprachliche Zeichen. Jungen nützen, wenn auch viel eingeschränkter, ebenfalls die rechte Hemisphäre, da ihnen sonst wesentliche Sprachinformationen verschlossen bleiben.

Auch EmpathieEmpathie kann sich durch den Miteinbezug entsprechender ArealeAreale bei Mädchen früher ausprägen, was beim metaphorischen Lesen sichtbar wird. Jungen hingegen verwenden stärker eine einzige Hirnhälfte, sie arbeiten hypothetisch demnach mit nur einer einzigen Aufgabenstellung effizienter (Böttger 2016: 87).

1.4Verändertes SchlafverhaltenSchlafverhalten

Während der PubertätPubertät ändert sich bei den Jugendlichen der Schlaf-Wach-Rhythmus ganz erheblich. Diese Veränderungen führen dazu, dass, wie gesagt, der übliche frühe Beginn der Schul- und Ausbildungszeiten oft durch Müdigkeit und Passivität geprägt ist (vgl. Scheidt et al. 2000). Der Grund dafür liegt vor allem im nächtlichen Schlafdefizit, das wiederum von einem späteren Zubettgehen als in der Kindheit herrührt. Jungen sind davon häufiger betroffen als Mädchen, außerdem nimmt es in der AdoleszenzAdoleszenz stetig zu (ebd.).

Speziell zu Beginn der PubertätPubertät, etwa im Alter von zehn bis elf Jahren und noch vor den ersten sichtbaren physischen Veränderungen (vgl. Sadeh et al. 2009), verschiebt sich das SchlafverhaltenSchlafverhalten schubartig. Zunächst geschieht dies etwa um durchschnittlich 50 Minuten Richtung Mitternacht. Dazu reduziert sich die durchschnittliche Schlafdauer um 40 Minuten, später dann um bis zu zwei Stunden (vgl. Hansen et al. 2005). Nächtliche Aufwachphasen betreffen in dieser Zeit vor allem Jungen, weniger Mädchen. Es ist anzunehmen, dass sich die pubertätsrelevanten neuronalen EntwicklungenEntwicklung in psychischer wie physischer Hinsicht früher an der Schlaforganisation als an körperlichen Veränderungen diagnostizieren lassen. Unregelmäßiges Schlafverhalten, wie z.B.

Einschlafschwierigkeiten und langes Wachliegen,

morgendliche Aufwachprobleme sowie

überlanges Ausschlafen bis in den Nachmittag an Wochenenden,

ist eine erste Beobachtung, die vor allem Eltern machen und beurteilen können sollten. Dieses veränderte SchlafverhaltenSchlafverhalten ist in der Phase der PubertätPubertät jedoch kontraproduktiv: Wo wegen der großen physischen Veränderung eigentlich Erholung und Schlaf notwendig wären (vgl. Randler et al. 2009), wird nächtliches Aufbleiben als erwachsen empfunden. Neben diversen, kontrollierbaren Gründen für spätabendliches Agieren (späte Hausaufgaben und Lernphasen sowie Internetkonsum) gibt es einen rein biologischen Grund für das mangelnde Müdigkeitsgefühl.

Das HormonHormon Melatonin, auch „DunkelhormonDunkelhormon“ (vgl. 1.2.4) genannt, wird bei Lichtmangel bzw. einsetzender Dunkelheit ausgeschüttet. Es sendet das Signal zum Müdewerden an den Körper. Der Spiegel erhöht sich individuell unterschiedlich nachts bis auf das Zwei- bis Dreifache. Während der PubertätPubertät geschieht dieser Vorgang individuell deutlich verzögert (vgl. Carskadon et al. 1998), das Einsetzen von Müdigkeit erfolgt verspätet.1

Im in der Regel gegen 8 Uhr morgens beginnenden Schulunterricht wirkt nun die innere Uhr gegen das vorgegebene Programm, für die Jugendlichen ist es subjektiv beurteilt noch nachts bzw. sehr früh morgens vor dem eigentlichen Aufstehen. Vergleichbar ist der körperliche Zustand zu dieser Zeit mit dem Jetlag-GefühlGefühle von Flugreisenden nach Asien. Mangelnde LeistungsfähigkeitLeistungsfähigkeit, lange Reaktionszeiten, Lustlosigkeit (Drake et al. 2003), Launenhaftigkeit, HyperaktivitätHyperaktivität, Nervosität, Konzentrationsmangel und gedankliche innere Emigration, passives Verhalten, kurze Einschlafphasen sind die Folge, was dann wiederum zu schlechteren schulischen Leistungen und Leistungsnachweisen führen kann (vgl. Randazzo et al. 1998; Wolfson/Carskadon 1998). Negativ beeinflusst werden durch das sich aufbauende Schlafdefizit die nachschulischen Zeiten am Nachmittag bzw. Abend. Vorbereitungen aller Art auf den kommenden Tag werden deshalb zunehmend erschwert (vgl. Mercer et al. 1998), es kommt zu einem buchstäblichen Teufelskreis mit der Tendenz einer psychisch-physischen Abwärtsspirale. Sie äußert sich in der Regel durch Mangelzeiten an Schlaf im Lauf der Woche und ausgiebigen kompensativen Schlafphasen an den Wochenenden.

Der Schlafbedarf ändert sich in der Lebensspanne deutlich, der ideale Schlafbedarf bei Pubertierenden liegt bei etwa 9,5 Stunden. Die zumeist unter der Woche nur erreichten sechs Stunden hingegen sind eindeutig zu wenig:

Abb. 9

Verschobener Biorhythmus bei TeenagernTeenager

Verschobener Biorhythmus bei Teenagern (nach Hirshkowitz, M. 2015, National Sleep Foundation)

Die Konsequenzen für die Organisation und Struktur von Schule und Unterricht liegen buchstäblich auf der Hand: Biologische EntwicklungenEntwicklung und erhöhte schulische wie gesellschaftliche Anforderungen, inklusive des sozialen peer-Drucks, bedingen sich gegenseitig sowie, möglichweise verstärkend, ungünstige Schlafgewohnheiten. Eltern, Lehrkräfte sowie Bildungsverantwortliche spielen eine ganz erhebliche Rolle bei dem nötigen Umstrukturierungsprozess, der vor allem zunächst zeitlichen Reorganisation schulischer Abläufe. Schlafbedürfnisse gilt es zu priorisieren, da sie sich positiv wie negativ auf Lernprozesse und -erfolge auswirken, so auch beim (Fremd-)Sprachenlernen. Ganz konkret benötigen TeenagerTeenager während der PubertätPubertät Hilfe bei ihrer zeitlichen Strukturierung und Priorisierung des Tagesablaufs. Genügende Pausenzeiten und leistbare Aufgaben entlasten. Letztlich können auch Ärzte pubertierenden Jugendlichen helfen, bewusst eine gesunde Einstellung zu Schlaf zu entwickeln.

Solche Konsequenzen umfassen die Ganztagsschule (vgl. Hansen et al. 2005) sowie einen um das Schlafverzögerungsquantum verschobenen, um ca. eine Stunde später beginnenden Unterricht (vgl. Roenneberg et al. 2004), sowie in der Folge auch später am Vormittag stattfindende Leistungstests. Bis hin zur methodischen Ebene wirken sich die nötigen Anpassungen aus – rezeptive, musische, körperlich langsam aktivierende Aufgaben in Gruppen mit inhaltlich noch geringem Schwierigkeitsgrad sollten vor anspruchsvollen kreativen und kognitiven Aktivitäten stattfinden.

Im häuslichen Umfeld und unter elterlichem Einfluss sind einige Voraussetzungen günstigstenfalls schlaf- und somit (sprach)lernleistungsförderlich: Ruhige, stressfreie und medienarme abendliche Atmosphäre mit routinierten Abläufen, etwas abgedunkelten Räumlichkeiten bzw. geringen Anteilen an Computerspielen, Videokonsum oder auch intensivem Lernen. Bläuliche Lichtquellen bei Smartphones, Tablets und PCs sowie NikotinNikotin, Alkohol und Koffein wirken kontraproduktiv beim Einschlafen bzw. schlafstörend (vgl. DAK 2018).

Sogenannte Lichtduschen am Vormittag, u.a. durch das partielle Verlegen des Lernortes nach draußen, und sportliche Betätigungen am Frühabend sowie leichtes Abendessen hingegen beeinflussen das SchlafverhaltenSchlafverhalten positiv. Ein kurzer Nachmittagsschlaf (maximal 30 Minuten) und möglichst äquivalentes Schlafverhalten am Wochenende, natürlich mit den altersgemäßen Ausnahmen, sind gleichermaßen positiv zu bewerten.

Auf der unterrichtsmethodischen Ebene lassen sich die Veränderungen im Schlafverhalten ebenfalls berücksichtigen: So genannte Schlaftagebücher helfen Jugendlichen, nachts gute Bedingungen für das Lernen tagsüber zu schaffen. Durch die niedergeschriebene Erinnerung an Träume und bewusst wahrgenommene Wachzeiten kann die eigene Schlafgewohnheit reflektiert und Ruhe- und Wachzeiten rhythmisiert werden. Für das Fremdsprachenlernen bietet sich die Verarbeitung der Niederschriften z.B. in individuellen lyrischen oder musikalischen Textformen wie Songs, Raps, Poems etc. an. Für die Jugendlichen der Sekundarstufen empfehlen sich bei einem gleitenden, flexiblen und späteren Unterrichtsbeginn vor allem rezeptive Phasen: Selbstgewählte Hör- und Lesetexte z.B. helfen beim Start in den Sprachlerntag, der dafür länger dauernd darf.

Tests jeder Art - ob diagnostisch oder zur Benotung - sind nach den ersten Stunden des Vormittags ebenfalls fairer und erfolgversprechender.

1.5Zwischenfazit

Die Vermutung liegt nahe, dass das jugendliche Gehirn durch die Dysbalance zwischen EmotionEmotionen und KognitionKognition gezielt auf spezifische Erfahrungen vorbereitet wird. Dies würde ebenso klare und Orientierung gebende Lernformen, aber auch die vorsichtige Heranführung an spezifische flexible und offene Lernformen erfordern. Um dieses besondere Lernfenster zu nutzen, müssen kognitive Anforderungen leistbar sein. Zudem sollte der negative Effekt von passivem TV-, Internet- und Videokonsum sowie der mögliche positive Effekt eines gezielten Prunings, z.B. durch Sport, Musik und geistige Anforderungen bewusst gemacht werden.

Als BezugspersonenBezugspersonen mit der Dysbalance (sprach-)erzieherisch professionell umzugehen und zu einer Balancierung beizutragen, ist zudem für die Jugendlichen berufsvorbereitend und wirkt bezüglich extremen psychischen Schwankungen hin zu Depressionen und gar Schizophrenie prophylaktisch (zu AngsterkrankungenAngst/ anxiety, Angsterkrankungen in der PubertätPubertät vgl. 3.3.5).

Dazu darf jedoch das erwachsene Gehirn nicht als Zielzustand angesehen werden, der erreicht wird, indem man die pubertäre Phase als defizitär ansieht und irgendwie absolviert, sondern ihre Potenziale gezielt nutzt (vgl. Konrad et al. 2013: 429).

Ausgewählte Literaturhinweise

Böttger, H. (2016). Neurodidaktik des frühen Sprachenlernens. Wo die Sprache zuhause ist. Stuttgart: utb.

Giedd, J.N./Blumenthal, J./Jeffries, N.O./Castellanos, F.X./Liu, H./Zijdenbos, A./Paus, T./ Evans, A.C./Rapoport, J.L. (1999). Brain Development during Childhood and Adolescence: A Longitudinal MRI Study. In. Nature Neuroscience2 (10): 861–63.

Hansen, M./Janssen, I./Schiff, A./Zee, P.C./Dubocovich, M.L. (2005). The Impact of School Daily Schedule on Adolescent Sleep. In. Pediatrics115 (6): 1555–61.

Sambanis, M. (2013). Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften. Tübingen: Narr.

2.Kommunikation

In diesem zweiten Kapitel soll die Kommunikation der pubertierenden Jugendlichen in den Blick genommen werden. Ihre Ansprechpartner, die Art und Weise des mündlichen und schriftlichen Ausdrucks sind sowohl für die sprachliche EntwicklungEntwicklung in der Muttersprache als auch in allen anderen Sprachen relevant. Besonders die institutionalisiert wie auch außerschulisch erlernte Kinder- und Jugendkultursprache Englisch ist betroffen, denn ein nicht unerheblicher Teil konstituiert die Jugendsprache (vgl. 2.1.3 & 2.2.1). Die Problematik der Vermittlung von englischsprachigen Standards im Unterricht entsteht für die AltersgruppeAltersgruppe dann, wenn ihre Sprech-/Schreibintentionen mit den schulisch vermittelten Sprachmitteln nicht ausgedrückt werden können. Der Stil, das „Wie“ des Sprechens und Schreibens sowie das Register pubertierender Jugendlicher, also das „Wann/In welcher Situation“, „Mit wem“ und „Wie“, spielen in der Regel keine unterrichtliche Rolle, müssen aber dennoch immer wieder involviert werden. Die Nicht-Berücksichtigung der jugendlichen Sprachebene lässt sonst schnell eine Schieflage gegenüber den literarischen Texten sowie Sachtexten entstehen, die für eine sprachliche Vorbildwirkung exemplarisch vorgehalten werden müssen. Jugendliche sehen die verwendete Sprache als eine künstliche, erwachsenenorientierte Ausdrucksmöglichkeit, die sie zwar verstehen lernen, jedoch nicht anwenden. In den typischen Rückzugsphasen, in denen TeenagerTeenager keinerlei Kommunikation aufrechterhalten wollen, verstärkt sich der sowieso vorhandene Unterschied.

2.1Ansprechpartner

Das Spektrum der Ansprechpartner der pubertierenden Jugendlichen erweitert sich nach der Kindheit schnell. Neben den Eltern bzw. den Erziehungsberechtigten und Familienmitgliedern als feste Bezugsgröße sind es zwei Gruppen, in denen sich die sozialen Netzwerke der Jugendlichen zügig entwickeln: Lehrkräfte und die peers, die Gleichaltrigen. Die Bewertung aller drei Gruppen bleibt positiv, einzig die dominante Rolle der Eltern bzw. der Familie ändert sich. Sie wünschen sich Unabhängigkeit und viele Kontakte, wollen aber auch den sicheren Hafen der Familie und Freunde nicht missen. Dies sind die neuen Prioritäten (vgl. Abb. 10).

Abb. 10

Werte Jugendlicher

Werte Jugendlicher (nach Albert, M. et al. 2015, Shell Jugendstudie)

2.1.1Eltern und Erziehungsberechtigte

Noch in der Kindheit die absoluten Orientierungsfixpunkte, ab Beginn der PubertätPubertät scheinbar und zunehmend „entthront“ – so ändert sich, zugespitzt ausgedrückt, die Rolle der Eltern und Erziehungsberechtigten. Während der ersten Lebensjahre standen die Eltern uneingeschränkt im Mittelpunkt, im Kindergartenalter sowie in der Grundschule nahmen der Einfluss und die Vorbildwirkung der Erzieherinnen und Lehrkräfte deutlich zu, ohne die Leitposition zu stark zu beeinflussen. Am Ende richten Kinder ihre AufmerksamkeitAufmerksamkeit auf Gleichaltrige und ihre eigene Stellung innerhalb dieser Gruppe. Die Eltern werden bewusst zu Gunsten des Einflusses der AltersgenossenAltersgenossen in den Hintergrund geschoben.

Als Vorbilder in Bezug auf kommunikative Mittel, wie Wortwahl, Register, Stil etc., werden Eltern ebenfalls durch peers ersetzt, die diese Rolle übernehmen. Paradox, aber zutreffend: Pubertierende Jugendliche erwarten nicht, dass Eltern sich nun auf das Sprachniveau der gleichaltrigen Freunde begeben, dies wird in der Regel eher als peinlich empfunden (vgl. 2.2.2).

Als Kommunikationspartner sind Eltern dennoch weiter wichtig, nur die Inhalte der Gespräche ändern sich. Auf Ablehnung stoßen – eine Parallele zur mangelnden jugendlichen Akzeptanz von unterrichtlichem Befehlston – eindringliche Bitten, Aufforderungen, verbale Einbahnstraßen ohne partnerschaftliche Replikmöglichkeit. Dies erkennen Eltern nicht immer und fühlen sich persönlich in der ehemals so engen Beziehung herabgesetzt. Dies und die Enttäuschung, dass die gewohnte familiäre Idylle mit den klaren Hierarchien sich nun ändert, führt schnell zu Auseinandersetzungen, die ausufern können: Streitigkeiten, verbale Provokationen, Grenzüberschreitungen, letztlich Wut und Tränen bei allen Beteiligten, das ist ein Teufelskreis hauptsächlich von Fehlkommunikation, den es zu unterbrechen gilt.

Die eigene Einstellung, die verantwortliche Haltung den Kindern gegenüber und das eigene, auch verbale Verhalten neu zu überprüfen, fällt verständlicherweise schwer. Dabei geraten Eltern häufig in typische kommunikative Verhaltensmuster, die diesen Prozess zusätzlich belasten:

Überstarke Bindung wirkt kontraproduktiv. Die scheinbare Ablösung der eigenen Kinder durch übertriebene, sich mit den Problemen der Kinder identifizierende „Wir“-Formulierungen zu kompensieren und sich damit auf die gleiche Stufe zu begeben, verunsichert die Jugendlichen. Starke Kontrolle und Einschränkungen der Unabhängigkeitsbestrebungen sind ebenfalls ungünstig, um Kommunikation und Kontakt aufrechtzuerhalten.

Elterliche unterschwellige Projektionen eigener Wünsche sind schwer zu entdecken. Jugendliche jedoch spüren sie schnell, denn unter dem Deckmäntelchen von liberalem Loslassen wird übergroßes Interesse durch ständiges Nachfragen und unterschwellige Botschaften transportiert. Schuld und schlechtes Gewissen sind das Resultat, deren ursächliche EntwicklungEntwicklung Jugendliche zurückverfolgen können. Eine unbeschwerte Kommunikation mit den Eltern ist dann kaum möglich.

Überfordernd wirken letztlich Desinteresse, Gleichgültigkeit und zu früh und zu viel übertragene Selbstständigkeit. Der gesuchte Rat als willkommener partnerschaftlicher Kommunikationsanlass entfällt hierbei.

Patentrezepte für eine gelungene Kommunikation zwischen Eltern und pubertierenden Jugendlichen gibt es nicht. Wesentliche Aspekte gelungener Ansätze sind jedoch partnerschaftlich ausgerichtete Gespräche, inhaltlich relevante Diskussionen auf Augenhöhe ohne „Verlierer“, sichere, souveräne Gelassenheit und Aushalten von Provokationen, permanentes, verlässliches und nachhaltiges Ernstnehmen der Anliegen der großen Kinder sowie elterliches Bewusstsein des Dilemmas der Jugendlichen zwischen Kontaktwunsch und Abgrenzung.

2.1.2Lehrkräfte

Schule und PubertätPubertät scheinen auf den ersten Blick nicht recht zueinander passen zu wollen. Vorgegebene, systematische Progressionen der Curricula trotz aller IndividualitätIndividualität, Leistungsdenken und überbordende vermittelnde methodische Verfahren haben allen Reformbemühungen widerstanden. Die Stellvertreterinnen und Stellvertreter der Institution Schule, die Lehrkräfte, müssen, oft auch gegen ihre erklärte Überzeugung, diese in der Sekundarstufe aller Schularten noch nicht altersgerechte Ausrichtung von Lernmanagement an der Unterrichtsfront möglichst glaubhaft erhalten.

Das hierarchische Prinzip sowie mangelnde Individualisierungsmöglichkeiten stehen jedoch in Widerspruch zu neurobiologischen und auch modernen pädagogischen und didaktischen Erkenntnissen. Auch wenn diese universitär vermittelt wurden und als Lehrkompetenzen quasi vorliegen, stehen strukturelle und organisatorische Belange bei Lehrkräften häufig im Vordergrund und lassen unterrichtliches Handeln nicht zu.

Jugendliche, die sich ausdrücken wollen, müssen zuhören, und selbst wenn sie das nicht können, müssen sie so tun als ob. Die disziplinarischen Mittel, die Notengebung an der Spitze, reichen nicht immer aus, um die extrinsische MotivationMotivation zu gewährleisten. Das Ergebnis sind enttäuschende, frustrierende und verärgernde Kommunikationen, die alle Beteiligten nicht wollen.

Die Lösung liegt trotz aller Einschränkungen bei den Lehrkräften selbst. Ihnen stehen umfassende professionelle Kompetenzen zur Verfügung (vgl. Böttger/BIG-Kreis 2007). Sie besitzen deshalb äußerst relevante

Reflexionskompetenzen, um verbale Entgleisungen nicht persönlich zu nehmen, zugewandt und freundlich zu bleiben, Vorwürfen ernsthaft zu begegnen, Ratschläge nur gefragt zu erteilen, gezielt Gesprächstechniken einzusetzen sowie individuell Zutrauen und Vertrauen zu signalisieren.

didaktische Kompetenzen für einen offenen, fordernden und fördernden Unterricht (siehe Kap. 5), mit Raum und Zeit für KreativitätKreativität, Experimente und Strategien.

Die genannten Punkte beziehen sich auch und zuvorderst auf jede Fremdsprachenlehrkraft. Gerade beim sprachlichen Paradoxon, dem Unterschied in den kognitiven muttersprachlichen Fähigkeiten und dem sich entwickelnden Wissen auf der einen Seite sowie der noch reduzierten fremdsprachlichen PerformanzPerformanz auf der anderen, wird dies deutlich: Großzügigkeit, Fehlertoleranz, Vermittlung von Erfolgserlebnissen und Achtsamkeit sind didaktische Aspekte eines altersgerechten Fremdsprachenunterrichts. Verantwortlich zu kommunizieren, vor allem die Kompetenzunterschiede in der Fremdsprache nicht als Machtmittel zu missbrauchen, sind unverzichtbare Gelingensbedingungen.

2.1.3Peergroup

In erster Linie ist eine peergroup eine in der Regel mehr oder weniger große Gruppe von Gleichaltrigen und Gleichgesinnten, in der sich wiederum „beste Freundinnen und Freunde“ sowie „Kumpel“ finden, mit denen Cliquen oder Banden gebildet werden. In der Regel bedeutet peer auch eine Art Gleichstellung, jedoch sind klare Hierarchien mit Anführern keine Seltenheit. Die peergroup wird weiter definiert durch die räumliche Nähe ihrer Mitglieder, durch ähnliche Interessenslagen, abgrenzende äußerliche Zeichen sowie durch einen eigenen Sprachstil (vgl. 2.2).

Mit Blick auf die altersbezogene Sprachproduktion ist wegen des Strebens nach Selbstbewusstsein bei Pubertierenden das gezielte Verwenden besonders lässiger, „cooler“ Jugendsprache zu beobachten. Bei deutschsprachigen Jugendlichen ist dies z.B. der Ersatz deutscher Begriffe durch englische Ausdrücke (vgl. Böttger 20162).

Sie bewirken die weitere Abgrenzung von der bestehenden Erwachsenengeneration, dienen gleichzeitig aber auch als Kollektivsprache der peergroup. Die Bewertung der eigenen Persönlichkeit durch die Gruppe Gleichaltriger ist wichtig, die scheinbar gleichgültige Wortwahl und „coole“ Sprachverwendung diesbezüglich relevant. Lehnwörter aus dem Englischen ersetzen dabei deutsche Begriffe:

1.

lyrics

Songtexte

11.

party

Feier

2.

trouble

Ärger

12.

friends

Freunde

3.

fresh

frisch

13.

crazy

verrückt

4.

nice

schön

14.

spot

Ort

5.

track

Liednummer

15.

bag

Tasche

6.

easy

einfach

16.

skill

Fähigkeit

7.

shit

Scheiße

17.

smooth

geschmeidig

8.

style

Stil

18.

homie

Kumpel

9.

game

Spiel

19.

mum/dad

Mama/Papa

10.

peace

Friede

 

20.

screen

Bildschirm

In einer Vergleichsuntersuchung konnte Böttger (20162): 3) feststellen, dass nahezu alle befragten peers die jeweils deutsche Entsprechung kannten, nicht jedoch die befragten Erwachsenen. Ähnlich verhielt es sich mit den sprachlichen Präferenzen bei folgenden Auswahlmöglichkeiten:

1.

____________________, ich habe genug Geld dabei.

No worries/Keine Sorge

 

 

2.

Oh ____________________ , ich habe mein Handy im Bus liegen lassen.

   shit/verdammt

 

 

3.

____________________ Jacke, steht dir gut!

  Coole/Schöne

4.

Ich habe mir ein neues ____________________ für die PlayStation 4 gekauft.

            game/Spiel

 

 

5.

Wir gehen in ____________________ , willst du mitkommen?

     einen Club/eine Diskothek

 

 

6.

____________________ handelt von seiner Jugendzeit im Ghetto, ich

 Der Song/Das Lied

habe mir ____________________ angeschaut.

    die Lyrics/den Liedtext

 

 

7.

Hey ____________________, ich komme heute früher von der Schule nach Hause.

    Mum/Dad

    Mama/Papa

 

 

8.

____________________ (zusammen), wie geht es euch?

 Peace/Seid gegrüßt

 

 

9.

Das ist doch ____________________ , ich glaube, dass er lügt.

      bullshit/Schwachsinn

Die englische Sprache spielt in zweierlei Hinsicht eine besondere Rolle in der PubertätPubertät: Zum einen sind es die oben genannten Entlehnungen aus dem Englischen, die die Identifikation und Zugehörigkeit zu einer Gruppe quasi mit Schlüsselwörtern ausweisen. Abseits vom vermittelten Standardenglisch des Englischunterrichts sind es aber auch die teils durch Varietäten veränderten englischsprachigen Song- und Raptexte, die neben dem Musikstil eine Abgrenzung zu Erwachsenen ermöglichen (zu Musik im Jugendalter vgl. 3.1). Ihre teilweise grenzüberschreitenden, sexistischen, gewaltverherrlichenden lyrics sind dabei nicht gleichzusetzen mit einer internalisierten Haltung, sondern verbales Experiment, Abenteuer und Protest.

2.1.4Zwischenfazit

Vom Nahen zum Fernen – dieses logische didaktische Prinzip zeigt sich auch bei der EntwicklungEntwicklung pubertierender Jugendlicher. Gerade war es noch die Familie, dann plötzlich sind es die gleichaltrigen Freundinnen, Freunde und Kumpel, die die Sicht auf die Dinge bestimmen. Gewohnheiten, Rituale und vertraute Kommunikationsstränge scheinen, insbesondere für die Eltern, zu reißen. Jedoch ist der Rat zu Gelassenheit und Aufrechterhalten des Kontakts ein weiser, denn die Kommunikation zwischen den Jugendlichen und ihren erwachsenen BezugspersonenBezugspersonen ist nicht beendet, sondern hat sich nur qualitativ entwickelt – in Richtung Gleichberechtigung. Dies verändert auch und vor allem allgemein Unterricht, ganz speziell den Fremdsprachenunterricht. In ihm führen demokratische Aufgabenformate zunehmend zu mehr Partizipation, auch wenn das Paradox für den Jugendlichen besteht, nicht alles fremdsprachlich ausdrücken zu können, was muttersprachlich möglich wäre. Dem Wunsch nach fremdsprachlicher Realisierung von Redeintentionen durch gezielte Unterstützung, z.B. Scaffolding, nachzukommen, ist eine der wichtigsten und schwierigsten Lehrkompetenzen.

Ausgewählte Literaturhinweise

BIG-Kreis (2007