Spur 24 - Wolfgang Kaes - E-Book
SONDERANGEBOT

Spur 24 E-Book

Wolfgang Kaes

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Vermisst. Verschollen. Und fast vergessen. 31 Jahre war Ellen Rausch nicht mehr in Lärchtal, hatte als Journalistin Karriere gemacht – bis vor zwei Jahren der Absturz folgte. Sie greift nach dem letzten Strohhalm: einer Stelle als Lokalreporterin beim Eifel-Kurier. Statt Politskandale nun das örtliche Schützenfest. Doch dann eine amtliche Bekanntmachung: Eine seit langem verschollene Frau soll für tot erklärt werden. Eine Formalie. Aber kann in einem kleinen Ort wie Lärchtal einfach ein Mensch verschwinden? Ellen schaut genauer hin und deckt eine Geschichte auf, die in der beschaulichen Eifel wohl keiner vermutet hätte ... «Wolfgang Kaes' Romane zeichnen vielschichtig strukturierte und glaubhafte Charaktere, eine komplex ausgelegte Handlung und eine Atmosphäre der lauernden Bedrohung aus. Elektrisierende Spannung!» (Hamburger Abendblatt)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 506

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wolfgang Kaes

Spur 24

Kriminalroman

Über dieses Buch

Vermisst. Verschollen. Und fast vergessen.

 

31 Jahre war Ellen Rausch nicht mehr in Lärchtal, hatte als Journalistin Karriere gemacht – bis vor zwei Jahren der Absturz folgte. Sie greift nach dem letzten Strohhalm: einer Stelle als Lokalreporterin beim Eifel-Kurier. Statt Politskandale nun das örtliche Schützenfest. Doch dann eine amtliche Bekanntmachung: Eine seit langem verschollene Frau soll für tot erklärt werden. Eine Formalie. Aber kann in einem kleinen Ort wie Lärchtal einfach ein Mensch verschwinden? Ellen schaut genauer hin und deckt eine Geschichte auf, die in der beschaulichen Eifel wohl keiner vermutet hätte ...

 

«Wolfgang Kaes’ Romane zeichnen vielschichtig strukturierte und glaubhafte Charaktere, eine komplex ausgelegte Handlung und eine Atmosphäre der lauernden Bedrohung aus. Elektrisierende Spannung!» (Hamburger Abendblatt)

Vita

Wolfgang Kaes, 1958 in der Eifel geboren, war nach seinem Studium der Politikwissenschaft, Kulturanthropologie und Pädagogik an der Universität Bonn zunächst als Polizeireporter für den Kölner Stadt-Anzeiger tätig. Er schrieb Reportagen für den STERN, das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt, das ZEITmagazin und andere. Heute ist er Chefreporter beim Bonner General-Anzeiger.

 

Der Autor wurde im Dezember 2012 vom Medium Magazin als Journalist des Jahres gekürt und im April 2013 mit dem renommierten Henri-Nannen-Preis in der Kategorie «investigative Recherche» ausgezeichnet. Der durch seine Recherche wieder aufgenommene Fall inspirierte ihn zu diesem Roman.

 

Mehr zum Autor und seinem Werk erfahren Sie unter: www.wolfgang-kaes.de

 

Weitere Veröffentlichungen

Todfreunde

Die Kette

Herbstjagd

Das Feuermal

Inhaltsübersicht

WidmungMottoBelgien. Reservée Naturelle Hautes Fagnes1979. Sommer. Westeifel2012. Tag 1Tag 2Tag 8Tag 9Tag 10Tag 11Tag 12Tag 13Tag 17Tag 18Tag 19Tag 23Tag 24Tag 26Tag 27Tag 29Tag 31Tag 33Tag 36Tag 38Tag 42Tag 51Tag 54Tag 55Tag 56Tag 57Tag 58Tag 59Tag 82Tag 86Tag 87Tag 88Tag 89Tag 93Tag 95Tag 106Tag 117Tag 121Tag 137Montag, 19. NovemberDienstag, 20. NovemberMittwoch, 21. NovemberDonnerstag, 22. NovemberFreitag, 23. NovemberSonntag, 25. NovemberDienstag, 27. NovemberMittwoch, 5. DezemberFreitag, 14. DezemberTage, Wochen, Monate SpäterNachwort des Autors: Wie es zu «Spur 24» kamLeseprobe «Endstation»

In Erinnerung an Gertrud Gabriele Lenerz

Verwechsle nicht die Freude am Gefallen

mit dem Glück der Liebe.

Coco Chanel

Belgien. Reservée Naturelle Hautes Fagnes

Schritt für Schritt.

Dreiundzwanzig. Vierundzwanzig. Er zählt die Schritte. Fünfundzwanzig. Um sich abzulenken. Sechsundzwanzig. 50 Schritte hat er sich vorgenommen. Weit genug weg vom Parkplatz.

Weg, weg, weg.

Mehr als 50 Schritte sind unmöglich zu schaffen. Siebenundzwanzig. Unmöglich. Achtundzwanzig.

Er schwitzt. Und friert. Und schwitzt. Und friert. Neunundzwanzig. Dreißig. Die Muskeln und Sehnen seiner Arme und Hände zittern schon wie Espenlaub. Aber das Zählen der Schritte lenkt ihn ab und treibt ihn voran.

Schritt für Schritt. Er hebt beim Gehen sorgsam die Füße, um nicht zu stolpern, über eine Wurzel oder über einen Stein, um nicht auszurutschen auf dem morastigen Waldboden. Zweiunddreißig. Dreiunddreißig.

Er sieht nichts. Nur die blaue Plastikfolie, die schwach im Mondschein schimmert.

Die Taschenlampe steckt in der Außentasche seines Anoraks, aber er kann sie nicht benutzen. Er hat keine Hand frei, um sie zu halten.

Weiter. An nichts denken. Außer ans Zählen. Sechsunddreißig. Siebenunddreißig.

Möglichst geradeaus, hat er sich vorgenommen. Aber das funktioniert nicht. Die Bäume zwingen ihn ständig zu Kursänderungen. Die Last in seinen Armen wächst und wird tonnenschwer. Ein Ast federt zurück und schlägt ihm ins Gesicht. Aber er spürt nichts, außer dem warmen Blut, das Sekunden später aus seiner pochenden Schläfe sickert, über die linke Wange in den Bart fließt und sich auf dem Weg nach unten mit dem kalten Nieselregen mischt.

Weiter! Dreiundvierzig. Vierundvierzig.

Kann nicht mehr, kann nicht mehr, kann nicht mehr. Reiß dich zusammen!

Die Lunge schmerzt, trotz des Adrenalins. Sechsundvierzig. Siebenund… die Last rutscht ihm aus den Händen, einfach so, und klatscht auf den Waldboden.

Die feuchte Plastikfolie ist schuld.

Der Regen ist schuld.

Sie ist schuld.

An allem. Miststück. Elendes Miststück.

Er greift in die Außentasche des Anoraks, schaltet die Taschenlampe ein, macht kehrt und stapft zurück zum Auto, um den Spaten aus dem Kofferraum zu holen.

1979. Sommer. Westeifel

Mannomannomann!

Was für ein abgedrehtes Jahr. Oder?

Nur mal so als Beispiel der 16. Januar: In seinem Privatjet macht sich der Schah von Persien aus dem Staub. Endlich. Ellen streicht sich das Datum rot in ihrem Taschenkalender an. Zwei Wochen später nimmt ein neuer Diktator seinen Platz ein, diesmal einer ohne Operettenuniform. Die Version Turban, Kittel und Sandalen. Ein weißbärtiger, finster dreinblickender Greis namens Ayatollah Khomeini. Der frisch aus dem Pariser Exil in Teheran eingetroffene alte Sack verbietet Zeitungen, schließt Universitäten, proklamiert die islamische Revolution.

Revolution?

So hat sich Ellen die Revolution nicht vorgestellt.

Dafür war bei der Anti-Schah-Demo in Berlin der Student Benno Ohnesorg erschossen worden? Damit jetzt in Teheran die Frauen unterdrückt werden?

Im Nachbarland Irak kommt ein Tyrann namens Saddam Hussein an die Macht (zunächst sehr zur Freude der USA, nach dem Motto: Der Feind unseres Feindes ist unser Freund) und in Großbritannien die Hardcore-Kapitalistin Margaret Thatcher (ebenfalls zur Freude der USA).

1979. Was für ein abgedrehtes Jahr. Oder?

Sowjetische Truppen besetzen die afghanische Hauptstadt Kabul, und die USA und folgsam auch die restliche westliche Welt empören sich kollektiv über die Russen.

Ein fremdes Land zu besetzen ist nämlich nur dann moralisch einwandfrei, wenn man es selber tut. Oder?

Sommer 1979. Was für ein abgedrehter Sommer.

Auch, was sie selbst betrifft.

Nur mal so, für die Statistik:

Gesellschaftslehre: sehr gut

Deutsch: sehr gut

Englisch: gut

Mathematik: befriedigend

Religionslehre: ausreichend

 

Fräulein Rausch, Sie werden schon noch sehen, was Sie davon haben, mich während des Unterrichts ständig zu provozieren. Das betrifft sowohl Ihre unangemessene Kleidung als auch Ihr freches Mundwerk und Ihre merkwürdige Gesinnung …

Merkwürdige Gesinnung.

Fräulein Rausch.

Fräulein!

Dieser kleine, widerliche Spießer.

Merkwürdige Gesinnung.

Na und?

Am 19. Juli 1979 marschieren die Sandinisten unter dem Jubel des Volkes in Nicaraguas Hauptstadt ein und stürzen Diktator Somoza (sehr zum Ärger der USA), während am selben Tag im 9300 Kilometer entfernten Lärchtal in der Westeifel (vermutlich ohne Wissen der USA) das rebellische Fräulein Rausch und 23 weitere Realschulabsolventen den letzten Schultag und die mittlere Reife feiern. Am nächsten Morgen, in der Aula, weist das noch reichlich verkaterte, vor einem Jahr mit überwältigender Mehrheit zur Schülersprecherin gewählte Fräulein Rausch in einer Rede während der offiziellen Abschiedsfeier darauf hin, dass man ja heute gleich zwei Gründe zum Feiern habe: die mittlere Reife und den Sieg der revolutionären Sandinisten in Nicaragua. Keine zwei Minuten später wird Ellens Rede gewaltsam beendet, als der Hausmeister ihr auf Anordnung des Rektors das Mikrophon entreißt. Und nur wenige Stunden später, am späten Nachmittag dieses sonnigen 20. Juli, rüstet sich der 16-jährige Realschulabsolvent Frank Hachenberg am Ufer des Lärchtaler Sees zum sexuellen Sturmangriff auf die gleichaltrige Ellen Rausch, um endlich, endlich, endlich seine Jungfräulichkeit zu verlieren.

Ohne Wissen und Hilfe der USA.

Aber dennoch mit Erfolg.

Was für ein abgedrehter Tag.

Wenn er nur daran denkt, was hier soeben, vor nicht ganz einer Viertelstunde, endlich passiert ist, tatsächlich passiert ist, wird sein Schwanz schon wieder ganz hart.

Das ist ihm peinlich.

Aber sie sieht ja zum Glück nicht hin. Sie liegt einfach nur da, auf dem Rücken, nackt, neben ihm, knapp eine Handbreit von ihm entfernt, ganz entspannt, die Augen geschlossen.

Zum Greifen nah. Frank Hachenberg guckt schnell wieder weg, starrt angestrengt auf die in der Sonne glitzernde Wasseroberfläche und gibt sich Mühe, an etwas anderes zu denken, bis sich sein Schwanz wieder halbwegs beruhigt hat.

Dann fragt er:

«So weit alles okay bei dir?»

Was man so fragt.

Sie antwortet, ohne die Augen zu öffnen:

«Klar, alles okay.»

Was man so antwortet.

«Ellen?»

«Ja?»

«Nimmst du eigentlich die Pille?»

«Meinst du etwa, ich hätte es ohne Kondom mit dir gemacht, wenn ich nicht die Pille nehmen würde?»

Das beruhigt Frank ungemein.

Die Sonne steht schon tief über den Baumwipfeln des jenseitigen Ufers und wärmt ihren Bauch. Sie öffnet die Knie, damit die wärmende Sonne freie Bahn hat, aber nur ein paar Zentimeter, damit Frank nicht gleich wieder nervös wird.

Alles okay? Gar nichts ist okay.

Warum?

Ellen, Ellen, Ellen!

Warum ausgerechnet Frank Hachenberg?

Weil er so lieb und nett ist? Weil er ihr so oft in Mathe geholfen hat? Weil er immer so traurig guckt? Weil er so schüchtern ist?

Aus Mitleid?

Oder etwa aus Dankbarkeit?

Weil er sie auf seinem Moped mitgenommen hat und sie deshalb nicht in der Affenhitze von der Schule mit dem Fahrrad zum See strampeln musste? Oder vielleicht, weil sie ihn erfolgreich überredet hatte, mit ihr zum abgelegenen Ostufer des Sees zu kommen, zu den kleinen Sandbuchten, zu den nackt badenden Spät-Hippies, obwohl Frank doch ganz klar zu diesen Strandbad-Spießern des Campingplatzes drüben am Westufer gehört? Weil er sich anfangs ganz furchtbar geniert hatte, sich vor ihr und den anderen auszuziehen? Oder weil die nackt badenden Spät-Hippies – allesamt schon erwachsen, so um die zwanzig und natürlich nicht aus Lärchtal, sondern von ganz woandersher, wo die Welt groß und frei und bunt und wahnsinnig aufregend ist – abgesehen von ihren Gitarren und den Kassettenrekordern auch immer was zu rauchen dabeihatten und sie Frank überredete, mal einen Zug von dem phantastischen Gras aus Holland zu nehmen und noch einen? Weil sie beide dann, mit zugedröhnter Birne und ganz aus Versehen natürlich, beim Zurückschwimmen in der einsamen Nachbarbucht gelandet waren, die ganze Zeit wie blöd kichernd? Weil er sich dann schon wieder genierte, als sie aus dem Wasser stiegen, obwohl oder gerade weil sie nun ganz alleine waren; Handtuch und Klamotten bei den Hippies in der Nachbarbucht, nur von den tief bis aufs Wasser hinabhängenden Ästen der Weiden am Ufer getrennt; so schüchtern, wie süß, wie süüüß, und sie ihn einfach umarmte, so lange umarmte und auf den Mund küsste, bis seine Erektion ihren Bauchnabel kitzelte?

Weil sie große Lust verspürt hatte, in diesem Moment?

L-U-S-T.

Vermutlich von allem etwas.

Scheiße.

Sie liebt ihn nämlich nicht. Frank Hachenberg ist nett, lieb, hilfsbereit. Nichts zu meckern.

Aber sie liebt ihn nicht. Kein bisschen.

Oder hat sie es nur getan, um dem durchgeknallten Kalle eins auszuwischen? Der erste und bis dahin einzige Mann in ihrem Leben. Der durchgeknallte Kalle hat sie einfach sitzenlassen, vor zwei Monaten, hat die Schule geschmissen, ist einfach weg.

Nach Köln.

Ohne sie.

Ja, tschüs dann. Man sieht sich. Vielleicht. Mal.

Scheiße.

Kalle, du mieses Schwein.

Was jetzt? Soll sie vielleicht ganz ehrlich sein? Soll sie es Frank einfach sagen? Jetzt? Sofort?

Stattdessen sagt sie:

«Hast du schon Pläne? Lehre oder so?»

«Ja. Nein. Also ich mach weiter.»

«Echt? Gymnasium?»

«Ja.»

«Altkirch?»

«Nä. Rheinbach. Internat.»

«Rheinbach? Sind das nicht Mönche?»

«Pallottiner. So was Ähnliches.»

«Internat. Das ist doch wie Knast.»

«Quatsch.»

«Und dann?»

«Was … und dann?»

«Nach dem Abi?»

«Studieren. Mathe und Sport.»

«Wie bitte? Willst du etwa Lehrer werden?»

«Ja. Warum denn nicht?»

«Weil … weil … ich fass es nicht: Du hast die blöde, dämliche Schule doch gerade erst hinter dir gelassen … und du willst schon wieder so schnell wie möglich dahin zurück?»

«Aber das ist doch was ganz anderes.»

«Womöglich willst du auch noch zurück in dieses Kaff hier …»

«Ja, warum denn nicht? Ist doch nett hier.»

«Du meine Güte. Das darf doch wohl nicht wahr sein!»

Sie verschränkt die Hände hinter dem Kopf.

Helpless. Helpless. He-help-less. In der Nachbarbucht plärrt Neil Young mit schwindender Kraft und immer einen halben Ton daneben aus einem Kassettenrekorder, dessen Batterien wohl nicht mehr frisch genug sind, um das Band gleichmäßig über den Tonkopf zu ziehen. Oder das Band ist ausgeleiert, oder der Tonkopf ist lange nicht mehr sauber gemacht worden.

Eine Wirkung, viele mögliche Ursachen.

«Und du, Ellen?»

«Was, und ich?»

«Was hast du jetzt vor?»

«Abi kann ich mir abschminken. Macht mein Vater nicht mit. Kommt nicht in Frage, hat er gesagt. Basta. Ich soll mir gefälligst eine Lehrstelle suchen. Hab ich auch schon getan. Nächsten Monat fange ich an. Ausbildung zur Fotolaborantin und Fotografin. Beim alten Schmitz unten am Marktplatz.»

«Also Passbilder, Hochzeiten, Babys aufm Eisbärfell …»

«Egal. Das steh ich noch durch. Bis ich volljährig bin. Aber nach der Lehre bin ich sofort weg, das ist sicher. Lärchtal wird mich nie wiedersehen.»

2012. Tag 1

Mitten auf dem Schreibtisch lag eine Kopie der Bewerbung, die sie vor zwei Wochen per Mail an den durchgeknallten Kalle geschickt hatte. Ist nur eine Formsache, Ellen. Damit der Hajo Burger das Gefühl hat, er ist eingebunden in die Entscheidungsfindung. Am Ende zählt aber nur: Ich will dich haben. Alles klar?

Alles klar, Kalle.

Ich will dich haben. Mich kriegst du nie wieder.

Karl Malik. Der durchgeknallte Kalle. So hatten sie ihn in der Schule genannt. Der ewige Klassenclown. Der erste Typ in der Klasse mit langen Haaren. Richtig lange Haare und ausgebleichte Jeans und abgewetzte Motorradjacke. Kalle war damals noch vor ihr nach Köln gegangen. Ohne Schulabschluss. Alles klar.

Jetzt war der durchgeknallte Kalle ein gemachter Mann. Und leistete sich nur so zum Spaß eine eigene Zeitung in seiner Geburtsstadt, die er aus Köln fernsteuerte.

Solange es ihm Spaß machte.

Weißt du, ich will mehr Pep. Mehr Profil. Zeitung in der Provinz muss doch nicht automatisch provinziell sein, oder? Der Hajo kriegt das nicht hin. Zuverlässiger Mann. Hat den Laden im Griff. Aber keine Phantasie. Deshalb brauche ich dich. Alles klar?

Alles klar, Kalle.

Hinter dem Schreibtisch saß aber nicht der durchgeknallte Kalle, sondern dieser Mensch namens Hajo, für sie Hans-Joachim Burger. Sein angewiderter Blick, seine gesamte Körpersprache ließen deutlich erkennen, was er von ihr und vor allem von ihrer Bewerbung hielt.

«Ich frage jetzt einfach mal ganz unverblümt, Frau …»

Burger beugte sich vor und warf mit demonstrativ gerunzelter Stirn einen Blick auf das Deckblatt der Bewerbung, als sei ihm leider, leider soeben ihr Name entfallen. «Frau … Rausch. Nur mal so unter uns: Was wollen Sie eigentlich hier?»

«Was wohl? Ich will einen Job.»

«So, so. Einen Job. Irgendeinen Job …»

«Nicht irgendeinen Job, Herr … Burger. Sondern den Job, den mir Karl Malik vor sechs Wochen angeboten hat. Als Lokalreporterin beim Eifel-Kurier. Ist meine Bewerbung, die Sie da vor sich liegen haben, etwa so missverständlich formuliert?»

Klare Kante, Ellen. Von den ersten Minuten deines ersten Arbeitstages wird abhängen, ob dich dieser Mensch jenseits des Schreibtisches in Zukunft mit Respekt behandelt oder wie einen Fußabtreter. Hajo Burger schob die Krawatte ein Stück beiseite, zwängte vier Finger der rechten Hand zwischen den Hemdknöpfen hindurch und kratzte sich hingebungsvoll die Brust. So laut, dass sie das Kratzgeräusch hören konnte. Nur das Flackern der winzigen Augen in dem konturlosen Gesicht verriet, dass Burgers Gehirn derweil auf Hochtouren lief.

Kratz, kratz, kratz, kratz, kratz.

«Nicht, dass Sie denken, ich würde Herrn Maliks Wunsch nicht respektieren, Frau Rausch …»

Ach wo, natürlich nicht.

Die Hand tauchte wieder auf. Genug gekratzt. Die Hand griff nach dem einsamen Kugelschreiber auf der mausgrauen Tischplatte, um sich daran festzuhalten.

«… die Entscheidung ist ja offenbar auch längst gefallen. Was sollen wir noch lange über gelegte Eier reden. Aber ich befürchte, Herr Malik und vor allem Sie, liebe Frau Rausch, könnten vielleicht unterschätzen, was es bedeutet, hier zu arbeiten.»

Liebe Frau Rausch.

«Machen Sie sich da mal keine Sorgen, Herr Burger. Ich bin jetzt seit mehr als 26 Jahren in dem Beruf.»

«Natürlich. Beeindruckende Vita übrigens. Respekt. Und das alles ohne Abitur! Polizeireporterin in Köln, Volontariat in Essen, so weit, so normal. Aber anschließend ging’s ja offenbar nur noch steil bergauf bei Ihnen, soweit ich das hier lese. Du meine Güte! Berlin, München, Hamburg, Illustrierte, Magazine, Enthüllungen, Journalistenpreise. Sie haben diesen Pharma-Skandal aufgedeckt, nicht wahr? Habe ich von gelesen, damals. Investigative Recherche nennt man das, was? Da haben sicher eine Menge Leute bis heute Grund, richtig sauer auf Sie zu sein, stimmt’s? Was mir aus Ihrem Lebenslauf nicht so ganz klarwird: Was haben Sie eigentlich die letzten zwei Jahre gemacht?»

Er lehnte sich entspannt zurück. Das konturlose Gesicht blieb unbewegt, aber die Schweinsäuglein verrieten, was in ihm vorging. Ellen starrte auf die gerahmte Landkarte, die hinter Burgers Rücken über dem Sideboard an der Wand hing. Die Eifel vom Rheintal im Osten bis zu den belgischen Ardennen. Mittendrin ein roter Punkt. Die Stelle, an der sie sich gerade befand. Lärchtal. Der Ort, an dem sie vor 49 Jahren zur Welt gekommen war. Als es noch das Krankenhaus gab. Seit es das Krankenhaus nicht mehr gab, war Lärchtal als Geburtsort in Personalausweisen und Reisepässen und Führerscheinen ausgestorben. Die Kleinstadt, die sie mit 18 Jahren verlassen hatte. So schnell wie möglich.

Nichts.

Gar nichts hat sie gemacht in den vergangenen zwei Jahren. Zumindest zwischen Monat sechs und Monat achtzehn nichts.

Außer.

Die meiste Zeit Rotz und Wasser geheult. Stumm gegen die Wand gestarrt, von morgens bis abends. Anschließend ein halbes Jahr in der Klinik verbracht, nach dem Selbstmordversuch. Bis sie so weit war, aus dem schwarzen Loch namens Hölle zu kriechen.

«Ich habe freiberuflich gearbeitet.»

«Aha. So, so. Verstehe. Mal was anderes.»

Du aufgeblasener Fatzke.

«Frau Rausch, hier ist aber so ziemlich alles ganz anders, als Sie es vermutlich in Ihren bisherigen 26 Berufsjahren kennengelernt haben. Investigative Recherche … so was können Sie hier vergessen. Das hier ist ein Lokalblatt, das einmal die Woche, nämlich mittwochs, in einer bescheidenen Auflage von 14000 Exemplaren erscheint. Haben Sie eine Ahnung, warum die Menschen es kaufen?»

«Sie werden es mir sicher verraten.»

«Gerne. Die Menschen fühlen sich von uns ernst genommen und bei uns gut aufgehoben. Das ist das Geheimnis unseres Erfolges. All die schrecklichen Dinge, die tagtäglich auf diesem Erdball passieren, erfahren unsere Leser doch ohnehin aus der Tagesschau. Oder aus dem Internet. Wir leben hier ja nicht hinterm Mond. Aber wenigstens in Lärchtal ist die Welt noch in Ordnung. Und das spiegeln wir im Blatt. Die Menschen hier geben sich zum Beispiel große Mühe, ein schönes Pfarrgemeindefest zu organisieren. Alle packen mit an. Und dann freuen sie sich, wenn der Eifel-Kurier in seiner nächsten Ausgabe darüber ausführlich in Wort und Bild berichtet. Sie schneiden sich den Artikel aus und heben ihn auf. Manchmal kommen sie auch extra vorbei und kaufen ein paar zusätzliche Exemplare. Die Menschen hier sind stolz darauf, ab und an mit Namen und Foto in der Zeitung aufzutauchen.»

Er nippte an seinem Kaffee.

Sie sagte nichts.

Er hatte ihr keinen Kaffee angeboten.

Er hatte auch nicht angeboten, ihr den Mantel abzunehmen, als sie sein Büro betreten hatte. Mangels Alternativen hatte Ellen den Mantel zu Boden fallen lassen, bevor sie auf dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch Platz nahm. Er hatte ihr dabei zugesehen. Beim Mantelausziehen, beim Platznehmen, beim Beine übereinanderschlagen. Sie unablässig und ungeniert beglotzt, von Kopf bis Fuß, und alles dazwischen.

Nicht wie eine neue Kollegin. Anders.

Anthrazitfarbener Hosenanzug. Sechs-Zentimeter-Absätze. Nicht zu hoch, nicht zu flach. Businesslike.

Für die erste Begegnung mit diesem widerlichen Menschen hätte sie sich besser einen Kartoffelsack übergestülpt.

«Das wird übrigens eine Ihrer Aufgaben sein. Das Spiegeln der gesellschaftlichen Höhepunkte des Jahres. Pfarrgemeindefeste, Schützenfeste, Karnevalssitzungen, Fronleichnamsprozessionen, Schulfeste, Martinsumzüge und so weiter. Falls Sie Wert auf ein regelmäßiges freies Wochenende legen, dann ist der Job nichts für Sie. Können Sie eigentlich fotografieren?»

«Ich bin gelernte Fotografin und Fotolaborantin.»

«Stimmt. Steht ja in Ihrem Lebenslauf. Na ja, ist ja auch heute keine große Kunst mehr, mit den modernen Digitalkameras. Ich mache sogar mit meinem Handy Fotos für die Zeitung. Porträts zum Beispiel. Klick und fertig.»

«Sie möchten also, dass ich fotografiere.»

«Nicht nur das. Ich will, dass Sie schreiben, ich will, dass Sie die Fotos für Ihre Texte selbst machen, ich will, dass Sie Ihre Texte und Fotos am Computer ins vorgegebene Seitenlayout einpassen, Schlagzeilen und Bildzeilen verfassen, und ich will, dass Sie Seiten produzieren, wenn Not am Mann ist. Ist das ein Problem für Sie?»

«Nein.»

«Gut. Dann wäre das geklärt. Drehen Sie sich mal um.»

Ellen Rausch sah ihn verständnislos an.

«Drehen Sie sich einfach mal um! Na los!»

Ellen drehte sich auf ihrem Stuhl um, bis sie durch die Scheibe des Glaskastens hinaus in das Großraumbüro sehen konnte. Burgers selbstverliebte Stimme war ihr von der ersten Minute an unsympathisch gewesen. Diese Stimme aber nun in ihrem Rücken zu spüren, war fast unerträglich.

«Die gläserne Redaktion. Das ist unser Konzept. Ganz vorne, gleich vor dem Schaufenster, der Geschäftsstellenbereich. Kundenorientiert. Lesernah. Anzeigenaufnahme, Leserbriefe. Die drei Damen teilen sich übrigens die Sechs-Tage-Woche selbst ein, die machen selbständig ihre Dienstpläne und ihre Urlaubsvertretungspläne, wunderbar, da muss ich mich gar nicht drum kümmern. Dann der verwaiste Schreibtisch neben der Teeküche. Hab ich zum Glück auch nichts mit zu tun. Alfons Breuer, Außendienstmitarbeiter für das Anzeigengeschäft, selten hier, viel unterwegs, Klinkenputzen bei der Geschäftswelt, soll ja auch so sein. Damit der Rubel rollt.»

Hans-Joachim Burger lachte schallend.

Ellen Rausch schwieg.

«Die übrigen Bereiche werden ja von Herrn Maliks Firma in Köln aus nebenbei gemanagt. Buchhaltung, Controlling, Mahnwesen, IT-Betreuung … alles von Köln aus. Stichwort: Synergie-Effekte. Gedruckt wird ebenfalls extern. Ein Vertragspartner in Altkirch. Auch der Vertrieb ist outgesourct. Kommen wir zur eigentlichen Redaktion. Sehen Sie die lockige Rothaarige mit dem geschmacklosen Blumenstrauß auf dem Schreibtisch? Steffi Kaminski. Unsere Redaktionssekretärin. Hauptsächlich arbeitet sie natürlich mir zu, aber sie erledigt auch Arbeit für die Kollegen. Briefe, die gesamte E-Mail-Verteilung, Terminkalender, Anrufe in Abwesenheit und so weiter. Ich frage mich immer, was sie da auf dem Kopf trägt. Was meinen Sie? Ist das tatsächlich eine Frisur oder eher ein Vogelnest?»

Das nächste dröhnende Lachen traf unvermittelt ihren Nacken. Sie bekam eine Gänsehaut.

«Unsere Steffi. Sie gibt sich zwar viel Mühe, zehn Jahre jünger auszusehen, als sie tatsächlich ist, aber zu ihrem Leidwesen kommt genau das Gegenteil dabei heraus.»

«Wie alt ist sie denn?»

«Keine Ahnung. Müsste ich nachschauen. Anfang fünfzig? Könnte das hinhauen?»

Ellen sah eine Frau, deren Gesicht trotz der Schminke verriet, dass es das Leben nicht immer gut mit ihr gemeint hatte.

«Weiter geht die wilde Fahrt durch die Geisterbahn namens Eifel-Kurier. Dieser blasse, hagere Endfünfziger mit der Silbermähne, das ist Arno Wessinghage. Wenn der morgens kommt, zieht er als Erstes seine Schuhe aus und nimmt ein Paar Lederpantoffeln aus der untersten Schreibtisch-Schublade. Pünktlich zum Feierabend können Sie dann das umgekehrte Schauspiel beobachten. Verrückt, was? Der will schon lange nicht mehr vor die Tür. Nichts mehr recherchieren, nichts mehr schreiben, nicht mehr mit Menschen in Kontakt treten. Aber er redigiert gründlich und produziert die Seiten ordentlich. Auf Wessinghage ist Verlass. Entdeckt jeden Fehler. Ein wandelndes Lexikon. Aber insgeheim sehnt er den Tag herbei, an dem er endlich in Rente gehen kann.»

Der hagere Mann mit den grauen Haaren sah kurz auf, als spürte er, dass über ihn geredet wurde. Ellen nickte freundlich und lächelte. Der Mann senkte augenblicklich wieder den Kopf.

«Nicht im Bild: Anna-Lena Berthold, seit drei Monaten Volontärin. Unser Nesthäkchen. Süße Maus. Frisch von der Bonner Uni. Kunstgeschichte, du meine Güte. Die Anna-Lena haben Sie knapp verpasst. Sie ist nämlich von heute an zwei Monate an der Akademie für Publizistik in Hamburg. Kompaktkursus Journalismus. Kostet uns übrigens ’ne Stange Geld. Ich halte das ja für überflüssigen Firlefanz. Journalismus ist ein Begabungsberuf. Glauben Sie mir: Entweder man ist ein Naturtalent, oder man lernt es nie. Und den Rest kann man ohnehin nur in der Praxis lernen. Aber Herr Malik legt nun mal ausgesprochen großen Wert auf diesen teuren Ausflug nach Hamburg.»

Ellen Rausch hätte Burger zu gerne gefragt, wo und wie er denn den Beruf des Journalisten erlernt hat.

«Last but not least: Bert Großkreuz. Manche nennen ihn auch Bert Großkotz. Ich zum Beispiel.»

Wieder dieses selbstgefällige, dröhnende Lachen.

«Sie meinen den jungen Mann, der gerade telefoniert?»

«Genau. Unser Grünschnabel. Kam vor einem Jahr zu uns. Hat vorher beim Trierischen Volksfreund volontiert. Muss noch viel lernen. Aber er hat wenigstens Talent. Er kümmert sich um die Themen, die junge Leute interessieren. Kultur, Freizeit und solche Dinge. Außerdem um Marketing-Aktionen. Und um unseren Online-Auftritt. Da staunen Sie, was? So was haben wir nämlich auch. Wir leben hier nämlich nicht hinterm Mond. Der kleine Großkotz ist so einer von dieser jungdynamischen Sorte, die ständig Funken schlagen und selbst den banalsten Dingen des Lebens eine total aufregende Seite abgewinnen müssen. Sie können sich jetzt übrigens wieder umdrehen.»

Also drehte sich Ellen wieder um.

«Wie gesagt: Wessinghage erledigt den größten Teil des ganzen Innendienst-Krams, das Redigieren der Texte, die uns die Pressewarte der Vereine reinreichen, das Anlegen und Produzieren der Seiten und so weiter. Ich kümmere mich hauptsächlich um Kommunalpolitik und um lokale Wirtschaftsthemen, das ist natürlich Chefsache. Klar. Das erwarten die Leute auch, dass sich der Redaktionsleiter selbst darum kümmert und sich auch bei den Terminen draußen sehen lässt. Jetzt raten Sie mal, was für Sie noch übrig bleibt, Frau Rausch.»

«Sie haben es mir doch schon verraten: Pfarrgemeindefeste, Schützenfeste, Schulfeste, Fronleichnamsprozessionen, Karnevalssitzungen, Martinsumzüge.»

«Exakt. Großkotz und Blondchen werden Sie allerdings dabei unterstützen. Das schaffen Sie ja gar nicht alleine. Und bei wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen stehe ich selbstverständlich ebenfalls zur Verfügung. Das erwarten die Leute hier vom Redaktionsleiter, dass der sich auch persönlich bei den wichtigen Repräsentationsterminen blicken lässt.»

«Das sagten Sie bereits.»

«Ja. Und ich wiederhole es noch mal. Ich möchte, dass wir uns in diesem Punkt von Anfang an verstehen. Verstehen wir uns hier?»

«Ja, Herr Burger. Wir verstehen uns.»

«Gut. Und jetzt zum letzten Punkt. Ich möchte, dass Sie die Kontaktpflege zur örtlichen Polizeiwache und zum hiesigen Amtsgericht übernehmen und intensivieren. Das kommt derzeit etwas zu kurz im Blatt. Da schlummern durchaus interessante Geschichten. Da können Sie sich echt was aufbauen mit der Zeit.»

Ein journalistisches Eldorado, dachte sie. Und sagte nichts.

Aus dem Prospekt des Amtes für Fremdenverkehr und Wirtschaftsförderung der Stadtverwaltung:

Die Stadt Lärchtal, aufstrebendes Mittelzentrum der Eifel im Westen des Landkreises Altkirch sowie staatlich anerkannter Luftkurort (442 m ü. NN), wurde 992 n. Chr. in einem Schreiben des Kaisers Otto III. erstmals urkundlich erwähnt. Schon im 12. Jahrhundert war Lärchtal ein bedeutender Herrensitz des Johanniter-Ordens. Bereits im Jahr 1292 erhielt Lärchtal ein eigenes Stadtwappen, ferner Marktrechte, eine eigene Gerichtsbarkeit, Bürgermeisterei und Rat.

Der Marktplatz mit dem Löwenbrunnen zählt heute zu den besterhaltenen historischen Fachwerk-Ensembles Westdeutschlands. Er steht komplett unter Denkmalschutz und ist seit 1992 in der internationalen Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten gelistet.

Bei der NRW-Kommunalreform 1969 verlor Lärchtal zwar seine Funktion als Kreisstadt und wurde in den Landkreis Altkirch integriert, zugleich wurden aber die umliegenden, ehemals selbständigen Dörfer Kirchfeld, Neukirch und Sankt Martin eingemeindet, sodass die Stadt Lärchtal heute mehr als 4600 Einwohner zählt.

Als bedeutendes Mittelzentrum der Westeifel verfügt Lärchtal über eine Grundschule, eine Gesamtschule, eine private Fachschule für Kosmetik und Fußpflege, ein Heimatmuseum mit dem Schwerpunkt Zunftwesen des Mittelalters, einen lebhaften Einzelhandel mit breitgefächertem Angebot, zwei Hotels (drei Sterne), vier Pensionen, außerdem Eisdielen, Cafés und Restaurants für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel, einen idyllisch gelegenen Campingplatz am See (27 Hektar Wasserfläche), eine Dreifachturnhalle, die auch als Mehrzweckhalle für gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse genutzt werden kann, acht Tennisplätze, eine eigene Polizeiwache als Außenstelle der Kreispolizeibehörde Altkirch sowie ein Amtsgericht, das zum Landgerichtsbezirk Bonn gehört …

Tag 2

Ardennenweg. Sie haben Ihr Ziel erreicht.

Das Navi über der Mittelkonsole des Alfa Giulietta kannte Lärchtal besser als Ellen, die hier geboren und aufgewachsen war. Aber den Ardennenweg hatte es auch noch gar nicht gegeben, als Ellen ein Kind war. Damals gab es hier weit und breit kein Haus. Nur Äcker und Wiesen. Jedes der Häuschen sah aus wie aus der Fernsehwerbung für Bausparkassen. Verklinkerte Fassaden, Sprossenfenster, Carports aus dunkelbraun lasiertem Fichtenholz, an jedem zweiten ein angeschraubter Basketballkorb, hier und da verwaiste Bobbycars in den Vorgärten. Die beiden Ziffern der Hausnummer 14 waren aus Ton gefertigt, und eine getöpferte Tontafel über dem Klingelknopf verriet:

Hier wohnt die Familie Jacobs.

Gaby riss die Haustür auf, noch bevor Ellen auf den Klingelknopf drücken konnte. Sie strahlte übers ganze Gesicht. Sie trug Jeans, ein weites, rosafarbenes Sweatshirt und an den Füßen weiße Tennissocken und rosafarbene Clogs.

«Ellen! Wie lange ist das her? 20 Jahre? 30 Jahre?»

«31 Jahre, um genau zu sein.»

«Du siehst toll aus. Komm schon rein!»

Diele, Terrakotta-Fliesen, rechts eine schmale Tür – vermutlich das Gäste-WC –, daneben eine Garderobe und eine offene Holztreppe, die nach oben führte, links die Küche.

«Warte, ich nehme dir den Mantel ab. Abends wird’s noch ziemlich frisch draußen, was? Und so was nennt sich Frühling. Sieh dich nur um. Also die Küche haben wir neu, seit einem halben Jahr. Wurde auch Zeit. Da war nämlich noch die erste drin, seit wir das Haus vor 22 Jahren gebaut haben. Aber die offene Theke zum Wohnzimmer hatten wir damals schon. Ich fand das immer sehr praktisch, als die Kinder noch klein waren. Da konnten die im Wohnzimmer spielen, und ich hatte sie auch von der Küche aus im Blick. Oben haben wir das Bad, zwei Kinderzimmer und das Elternschlafzimmer mit Balkon nach hinten raus. Den Dachboden hat sich mein Mann als Arbeitszimmer ausgebaut.»

Im Wohnzimmer lief die Tagesschau. Gaby schaltete den Fernseher aus. «Stell dir vor, der Holzdielenboden hier ist auch schon 22 Jahre alt. Sieht aber immer noch top aus, oder? Wir haben ihn zwischendurch nur ein einziges Mal abschleifen lassen. Übrigens: Ich hab dich am Telefon sofort an der Stimme erkannt. Noch bevor du deinen Namen gesagt hast. Ehrlich.»

«Schön hast du’s hier. Gemütlich.»

«Danke. War aber auch viel Arbeit.»

«Du hast zwei Kinder?»

«Ja. Zwei Jungs. Der große studiert BWL in Köln, der kleine seit einem halben Jahr Informatik in Bonn. War nicht einfach für mich, als plötzlich beide aus dem Haus waren. Aber so ist das eben: Die Kinder werden flügge, und man selbst wird alt. Setz dich doch. Mach’s dir bequem.»

«Das fand ich sehr nett von dir, dass du gleich gesagt hast, ich soll doch vorbeikommen.»

«Das passte aber auch echt gut. Gisbert hat nämlich heute Sitzung im Stadtrat. Mein Mann ist Direktor der Sparkasse hier in Lärchtal. Es gibt auch noch Filialen in Kirchfeld, in Neukirch und in Sankt Martin, aber hier in Lärchtal ist die größte Filiale. Das Mutterhaus sozusagen. Die Sparkasse Lärchtal ist nämlich immer noch eigenständig, da sind wir hier alle ein bisschen stolz drauf. Alle anderen haben ja längst fusioniert. Gisbert sitzt für die FWG im Stadtrat.»

«FWG?»

«Freie Wählergruppe. Das macht er ehrenamtlich. Er ist sogar Fraktionsvorsitzender. Was möchtest du trinken? Ich hab echten Champagner im Kühlschrank. Hat Gisbert geschenkt bekommen.»

«Da sag ich nicht nein. Wenn Gisbert nichts dagegen hat …»

«Quatsch. Der kriegt so viel geschenkt in der Richtung, da verliert der doch völlig den Überblick.»

Gaby verschwand in der Küche und kehrte eine Minute später mit dem Champagner zurück.

«Prost, Ellen. Auf unsere wilde Jugend.»

«Lass uns lieber auf die Zukunft anstoßen, Gaby.»

«Von mir aus. Obwohl ich nicht wüsste, was da jetzt noch Aufregendes kommen sollte.»

Gaby leerte das Glas zur Hälfte, stellte es auf dem Couchtisch ab und schlüpfte aus den Clogs.

«Ich sag’s noch mal, Ellen: Du siehst umwerfend aus.»

«Hör auf. Vor drei Jahren hatte ich noch Größe 38. Jetzt 42. Das sind eine Menge Kilos zu viel.»

«Aber die sind bei dir auf genau die richtigen Stellen verteilt. Steht dir echt gut. Du siehst aus wie so ein richtiges Vollblutweib. Die Männer müssen doch wie verrückt hinter dir her sein.»

«Die Männer interessieren mich im Augenblick nicht.»

«Schau mich doch mal an: Ich bin in den 30 Jahren auseinandergegangen wie ein Hefeteig.»

Mit theatralischer Geste blies Gaby die Backen auf, als müsste sie jeden Moment platzen, und Ellen musste lachen. Gaby war früher eine echte Schönheit gewesen. Fand Ellen, die sich damals echt hässlich fand. Grässlich dürr und knochig. Gaby dagegen sah schon mit 15 wie eine richtige Frau aus. Sie war damals Ellens beste Freundin gewesen – was niemand an der Schule verstanden hatte, Ellen am allerwenigsten. Denn mit Gaby konnte man sich nicht über Politik unterhalten, sie hörte die falsche Musik, zum Beispiel ABBA und solches Zeug, und interessierte sich schon als 14-Jährige ausschließlich für Klamotten und Kosmetik. Aber Gaby verfügte damals über drei Eigenschaften, die Ellen sehr zu schätzen wusste: Sie war ehrlich, verschwiegen und loyal. Ellen konnte sich jederzeit bei ihr ausheulen, ohne dass ihre intimsten Geheimnisse am nächsten Tag auf dem Schulhof die Runde machten. Außerdem hatte Gaby diese wunderbare Art, Ellen zum Lachen zu bringen.

«Und? Erzähl doch mal.»

«Was denn?»

«Da gibt es doch eine Menge! Wie ist es dir ergangen in den letzten 30 Jahren? Warum bist du zurück nach Lärchtal gekommen?»

«Oje. Da gäbe es wirklich viel zu erzählen. Und das meiste davon würde dich schrecklich langweilen. Der Kalle hat mir den Job angeboten, und da ich gerade nichts anderes …»

«Hast du wieder was mit ihm?»

«Mit wem?»

«Na, mit dem Kalle.»

«Wie kommst du denn darauf?»

«Aber du warst doch damals tierisch verknallt …»

«Ja. vor 100 Jahren. Genau drei Monate lang. Dann hat er mich einfach sitzenlassen und ist auf und davon.»

«Und du hast dich daraufhin mit dem armen Frank Hachenberg getröstet, wenn ich mich recht entsinne.»

«Das war doch nur ein einziges Mal.»

«Eben drum. Wahrscheinlich hat ihn das dermaßen traumatisiert, dass er deshalb bis heute keine Frau gefunden hat.»

«Wohnt der etwa auch noch hier?»

«Klar. Frank ist gleich nach dem Studium zurück nach Lärchtal gekommen und hier Lehrer geworden. An der Gesamtschule. Unsere alte Realschule gibt’s ja schon lange nicht mehr.»

Wehmut im Blick. Als trauerte sie der Zeit nach, als sie das schönste und begehrteste Mädchen an der Schule war.

«Wie ist es denn dir ergangen?»

«Mir?»

«Ja, dir, Gaby.»

«Was soll ich da erzählen …»

«Geht es dir gut? Bist du zufrieden mit deinem Leben?»

Gaby leerte das nächste Glas. Als müsste sie erst noch über die richtige Antwort auf die Frage nachdenken. Als hätte sie sich die Frage selbst noch nie gestellt.

«Also … ich hatte ja nie diesen Ehrgeiz, so wie du. Ich meine, beruflich und so. Schon in der Schule nicht. Ich habe die Ausbildung zur Kosmetikerin durchgezogen, weil mir nichts anderes einfiel. Und weil ich glaube, dass eine Frau heute unbedingt einen Berufsabschluss haben sollte. Man weiß ja nie. Aber ich wollte immer nur eines Tages meinen Traummann finden, meinen Märchenprinzen heiraten, ein gemütliches Heim schaffen, Kinder kriegen und glücklich sein. Das ist doch kein Verbrechen, oder?»

«Glücklich sein? Auf keinen Fall. Ist es dir gelungen?»

«Also, wie du siehst, bin ich verheiratet, habe zwei Kinder und ein schönes Haus. Ist zwar kein Palast, aber …»

Gaby kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Denn in diesem Augenblick wurde die Haustür aufgesperrt.

Wie von der Tarantel gestochen sprang Gaby auf, schlüpfte in ihre Clogs und lief dem Mann entgegen, der in der Diele seinen Aktenkoffer abstellte und seinen Mantel aufhängte.

«Wir haben Besuch, Gisbert.»

«Besuch?»

«Ja. Die Ellen hat angerufen, und da habe ich ihr gesagt, sie soll doch auf einen Sprung vorbeikommen.»

«Ellen? Wer ist Ellen?»

«Ellen Rausch. Meine beste Freundin damals in der Schule. Stell dir vor, wir haben uns 31 Jahre lang nicht gesehen.»

Gisbert Jacobs ließ sie stehen und betrat das Wohnzimmer, um den Besuch seiner Frau zu begutachten.

Tag 8

Die erste Woche war wie im Flug vergangen.

Zumindest die Tage. Anders die Abendstunden …

Ellen hatte sie alleine verbracht; abgesehen von jenem zweiten Abend, als sie Gaby besuchte. Und deren Traummann kennenlernte.

Gisbert. Den Märchenprinzen. Acht Jahre älter als ihre Schulfreundin. Langweiler-Anzug. Wichtigtuer-Gehabe. Er sah gar nicht mal so übel aus für sein Alter, mal abgesehen von dem Rettungsring um die Hüften. Aber Gisbert war ein unerträglich selbstverliebter Gockel.

Kaum hatte er Ellen in Augenschein genommen, war seine Ehefrau für den Rest des Abends abgemeldet. Wie ein Pfau in der Balzzeit plusterte Gisbert sich auf, zog den Bauch ein, straffte die Schultern, erzählte von seinen Heldentaten in der Bank und im Stadtrat. Und ließ nicht unerwähnt, dass er Hans-Joachim Burger kenne, sogar ausgesprochen gut kenne, Ellens Chef, den Redaktionsleiter, den Hajo eben: Wir spielen regelmäßig Tennis zusammen, der Hajo und ich. Guter Mann, der Hajo. Macht einen guten Job. Mit dem kann man arbeiten. Ellen Rausch mochte sich gar nicht weiter ausmalen, was das konkret bedeutete, wenn Ratsherr Jacobs, Vorsitzender der Mehrheitsfraktion, mit dem verantwortlichen Leiter des einzigen Presseorgans am Ort zusammenarbeitete. Gisbert holte eine zweite Flasche Champagner aus dem Kühlschrank, öffnete sie mit theatralischer Geste, die wohl Weltläufigkeit signalisieren sollte, füllte Ellens Glas und vergaß, seiner Frau nachzuschenken.

Willkommen in Lärchtal, Ellen. Ich bin der Gisbert.

Mir wäre es lieber, wir blieben beim Sie.

Wieso das denn?

Das gehört zu meiner Vorstellung von Berufsethos. Menschen, mit denen ich journalistisch zu tun habe oder es in Zukunft haben könnte, sieze ich lieber. Ich hoffe, Sie verstehen das.

Ehrlich gesagt: Nein. Ist aber kein Problem.

Er war nicht beleidigt. Vielleicht hatte er schon zu viel Alkohol intus, um beleidigt zu sein. Sehr wahrscheinlich sogar, denn er duzte sie dennoch im Fortlauf des Abends; Ellen hingegen siezte ihn weiter beharrlich, und Gaby lächelte angestrengt und sagte immer weniger. Als es endlich auf zehn Uhr zuging, erhob Ellen sich aus dem Sofa, bedankte sich für den reizenden Abend und verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass sie morgen leider sehr früh rausmüsse und ein anstrengender Tag auf sie warte. Gaby brachte Ellen zur Haustür, Gisbert folgte ihnen. Ellen nahm Gaby in den Arm und drückte sie fest. Als sie sich wieder von ihrer alten Schulfreundin löste, drückte auch Gisbert Ellen an sich und küsste sie auf beide Wangen. Hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen. Und ich hoffe doch, das war nicht der letzte gemeinsame Abend.

Sie nickte stumm und ging. Fürs Erste hatte sie genug vom Aufwärmen alter Freundschaften.

Die weiteren Abende verbrachte sie so wie schon den ersten Abend alleine in ihrem seit zwei Jahren verwaisten Elternhaus im Wald am Westufer des Lärchtaler Sees. Mit einer Flasche Wein und einem Buch. Sie las und trank, bis ihr die Augen zufielen, rappelte sich aus dem Sessel auf, putzte sich die Zähne, stieg die Treppe nach oben und sank in das Bett des Gästezimmers.

Gästezimmer.

Das Gästezimmer war einmal ihr Kinderzimmer gewesen.

Vor ewiger Zeit.

Ihr Vater hatte es nur wenige Tage nach ihrem Auszug in ein Gästezimmer umfunktioniert, indem er sämtliche Dinge, die an seine Tochter erinnerten, in die Mülltonne warf. Zum Beispiel die Poster an den Wänden, die Poster mit den Helden ihrer Jugend.

Che Guevara.

Bob Marley.

Mahatma Gandhi.

Martin Luther King.

Wir haben jetzt ein Gästezimmer …

Hatte ihre Mutter gesagt, als Ellen sie eine Woche nach ihrem Umzug nach Köln anrief. Um fünf Minuten nach elf, in der Gewissheit, dass ihr Vater von Punkt elf bis Punkt zwölf seinen täglichen Rundgang über den Campingplatz machte. Wenn er sich mit dem Rundgang verspätet und selbst ans Telefon gegangen wäre, hätte Ellen sofort aufgelegt.

Wir haben jetzt ein Gästezimmer …

So wie Ellens Vater das Zimmer von Klaus, ihrem kleinen Bruder, augenblicklich in ein Nähzimmer verwandelt hatte, als Klaus mit sechs Jahren an Leukämie gestorben war.

Das Bett, in dem sie nun lag, war immer noch ihr altes Bett. Auch der Kleiderschrank war noch derselbe.

Ellen hätte jede Wette abgeschlossen, dass sie der erste Gast war, der je in diesem Gästezimmer übernachtete. Aber jetzt war es ja auch kein Gästezimmer mehr. Weil sie kein Gast war. Weil ihr das Haus seit zwei Jahren gehörte.

Gelegentlich schrak sie mitten in der Nacht auf und brauchte eine Weile, bis sie begriff, wo sie sich befand. In der Nacht war es hier zwar so still wie an keinem anderen Ort, an dem sie in den vergangenen 31 Jahren genächtigt hatte. Aber an die Geräusche der Tiere im nahen Wald musste sie sich erst wieder gewöhnen.

In der ersten Woche hatte Ellen über die feierliche Einweihung des Erweiterungsbaus des katholischen Kindergartens in Neukirch geschrieben, eine erblindete, aber geistig rege Seniorin an ihrem 100. Geburtstag im Altenheim in Lärchtal besucht und über ihr Leben befragt, das neue Löschfahrzeug der Freiwilligen Feuerwehr in Kirchfeld fotografiert und die Gelegenheit genutzt, das einzige weibliche Mitglied der Feuerwehr, eine 18-jährige Landmaschinen-Mechanikerin, für eine spätere Reportage zu porträtieren.

Arno Wessinghage, der älteste ihrer neuen Kollegen, der mit den Pantoffeln in der Schreibtischschublade, hatte ihr am ersten Tag in einer Engelsgeduld das elektronische Redaktionssystem erklärt, mit dem die Seiten produziert wurden, hatte ihr gezeigt, wie man Fotos importierte, und ihr die spezifischen Layoutregeln der Zeitung beigebracht. Schlagzeilen, Unterzeilen, Zwischenzeilen, Bildzeilen, Zitatkästen, Infokästen.

Ellen mochte diesen großen, hageren, klapperdürren Mann auf Anhieb, seine zurückhaltende, höfliche Art, seine fast schon altmodische Handhabung der deutschen Sprache, die von großer Belesenheit zeugte. Sie half ihm in den nächsten Tagen immer wieder zwischendurch bei der Produktion der Seiten, um möglichst schnell Routine zu gewinnen.

Hans-Joachim Burger ließ es sich nicht nehmen, sämtliche ihrer Artikel persönlich zu redigieren. Anschließend rief er sie stets in sein Büro, um ihr Vorträge über den Lokaljournalismus im Allgemeinen und sein persönliches Verständnis von Lokaljournalismus im Besonderen zu halten. Frau Rausch, ich brauche hier keine Edelfeder. Die Leute bei uns mögen keine Texte, die länger als 60 bis maximal 80 Zeilen sind. Und wenn Sie für 80 Zeilen länger als eine Stunde rumrecherchieren, steht das in keinem Kosten-Nutzen-Verhältnis. Sie müssen hier auch nicht alles bis in die letzten Verästelungen ausrecherchieren. Das können wir uns schon vom Zeitbudget nicht leisten. Klar so weit? Und noch etwas: Verschwenden Sie nicht so viel Gehirnschmalz darauf, einen möglichst gefälligen Texteinstieg zu finden. Einfach die Fakten aufzählen, und aus die Maus. Haben wir uns so weit verstanden? Können Sie das lernen?

Als sie am späten Nachmittag des vierten Tages Burgers Glaskasten verließ und ihre Schritte in Richtung Teeküche lenkte, um sich einen Kaffee zu machen und so wenigstens für ein paar Minuten alleine zu sein, sah Arno Wessinghage von seinem Bildschirm auf. Der Blick signalisierte, dass er ihr etwas zu sagen hatte. Also blieb sie auf dem Rückweg mit dem Kaffeebecher in der Hand neben seinem Schreibtisch stehen.

«Hält er Ihnen da drinnen in seinem Glaskasten Predigten darüber, wie Lokaljournalismus funktioniert?»

«So könnte man das ausdrücken.»

«Wissen Sie, was er damit bezweckt?»

«Ich nehme an, er will mich kleinkriegen, erniedrigen, zermürben, bis ich freiwillig kündige. Was sonst.»

«Das wäre die klassische Position eines Machtmenschen.»

«Welcher Mann in einer Führungsposition ist denn kein Machtmensch? Mir ist noch keiner begegnet.»

«Burger ist vor allem ein Angstmensch. Das Ergebnis kann durchaus dasselbe sein, aber vielleicht hilft es Ihnen, seine Absicht zu verstehen, damit Sie Ihre Seele besser schützen können: Er will, dass Sie allenfalls durchschnittlich schreiben, damit den Lesern hier in Lärchtal oder Herrn Malik in Köln nicht auffällt, wie grottenschlecht seine eigenen Texte sind. In Wahrheit hat er nämlich Angst vor Ihnen. Große Angst.»

«Danke.»

«Nicht dafür.»

«Sie sind ein kluger Mann.»

«Das hat mich leider nicht davor bewahrt, hier zu landen.»

Arno Wessinghage starrte wieder in seinen Monitor und hämmerte auf die Tastatur ein. Die Unterhaltung war beendet.

Daran dachte Ellen Rausch, nachdem sie gegen halb vier in der Nacht vom Heulen eines Waldkauzes geweckt worden war und nicht wieder einschlafen konnte. Schließlich stieg sie aus dem Bett, ging aufs Klo, zog den Bademantel ihrer Mutter über, ging hinunter in die Küche, trank ein Glas Wasser, setzte sich an den Tisch und dachte über den zweitgrößten Fehler ihres Lebens nach. Zurück nach Lärchtal zu kommen und in das verwaiste Haus ihrer Kindheit zu ziehen, war zweifellos der zweitgrößte Fehler ihres Lebens gewesen. Davon war sie in diesem Augenblick felsenfest überzeugt. Und sie dachte darüber nach, wie lange sie hier wohl noch bleiben durfte, bevor sämtliche Chancen auf einen befriedigenden Job in Deutschland für eine 49-jährige Journalistin mit einem zweijährigen schwarzen Loch im Lebenslauf endgültig vertan waren. Und sie dachte darüber nach, wie lange sie wohl noch in diesem verdammten Kaff bleiben musste, bevor sie endgültig durchdrehte. Drei Monate, maximal, dachte sie. In dieser Nacht. Nicht ahnend, dass sämtliche Überlegungen bald hinfällig sein würden.

Schon am nächsten Morgen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

in der Todeserklärungssache Ursula Gersdorff wird um alsbaldige, einmalige Einrückung des nachfolgenden Veröffentlichungstextes gebeten. Es wird ferner gebeten, die in doppelter Ausfertigung zu erteilende Rechnung an uns zu senden.

 

Mit freundlichen Grüßen

(auf Anordnung)

Hausmann

Justizhauptsekretärin

(automatisiert erstellt, ohne Unterschrift gültig)

Amtsgericht Lärchtal

Aktenzeichen: 7 II 15/12

 

Aufgebot

 

Frau Lore Pohl, wohnhaft in Lärchtal-Kirchfeld, Neukircher Str. 7, und Herr Thomas Pohl, wohnhaft in Lärchtal-Neukirch, Gartenstr. 10, haben beantragt, die Verschollene

 

Frau Ursula Gersdorff, geb. Pohl, geb. am 29.01.1955 in Neukirch, deutsche Staatsangehörigkeit, zuletzt wohnhaft: Ardennenweg 31, Lärchtal-Ort (Kreis Altkirch)

 

für tot zu erklären.

 

Die Verschollene wird aufgefordert, sich binnen sechs Wochen nach Veröffentlichung dieser amtlichen Bekanntmachung bei dem oben bezeichneten Gericht, 1. Stock, Zimmer 207, zu melden, da sie sonst für tot erklärt wird.

Alle Personen, die Auskunft über die Verschollene geben können, werden aufgefordert, dies bis zum oben bezeichneten Zeitpunkt dem Gericht anzuzeigen.

Tag 9

Als Ellen Rausch am nächsten Morgen die Redaktion betrat, ließ sich Steffi Kaminski zurück in ihren Bürostuhl fallen und schaltete blitzschnell das Radio auf ihrem Schreibtisch aus. Ai se eu te pego, der Ohrwurm des brasilianischen Sängers Michel Teló, brach mitten im Refrain ab. Steffi Kaminski war noch ganz außer Atem, und sie errötete verlegen.

«Morgen, Steffi. Nanu, wo sind denn alle?»

«Bert ist schon beim ersten Termin und Arno noch kurz beim Zahnarzt. Aber der kommt sicher bald.»

Ellen bewegte ihren Kopf in Richtung Glaskasten.

«Und Burger?»

In Steffis Gesicht machte sich ein breites Grinsen breit.

«Krank.»

«Krank? Was hat er denn?»

«Hat eben angerufen. Er war schon in aller Frühe beim Arzt. Der hat ihn für zwei Wochen aus dem Verkehr gezogen. Am Telefon hat er nicht gesagt, was er hat. Aber das sind garantiert wieder seine Magengeschwüre. Zum Glück ist auf die echt Verlass. Seine Frau wird nachher noch das Attest vorbeibringen, damit ich das nach Köln schicken kann.»

«Und was hat dieser beeindruckende Papierberg auf meinem Schreibtisch zu bedeuten?»

«Die Post. Wenn Burger nicht da ist, macht der Erste, der in die Redaktion kommt, die Post. So ist das hier geregelt. Ist alles schon aufgeschlitzt, aber steckt noch in den Kuverts. Burger will das so. Könnten ja irgendwelche Geheimnisse drin sein. Wenn er zum Beispiel für sich privat wieder einen Journalistenrabatt ausgehandelt hat. Ich mache mir einen Kaffee. Willst du auch einen?»

«Gerne.»

Also machte sich Ellen an das Sortieren der Post und bildete auf ihrem Tisch fünf Stapel: einen für Hans-Joachim Burger, nämlich für jene Post mit persönlicher Adressierung, deren Bearbeitung Zeit bis zu seiner Rückkehr hatte; einen mit den Kulturterminen für Bert Großkreuz; einen für Dietmar Breuer, den Anzeigenvertreter, einen mit Rechnungen und Vertriebsangelegenheiten für die Frauen vorne in der Geschäftsstelle, die besser als Ellen wussten, was davon sie selbst erledigen konnten und was sie an Kalles Firmenadresse in Köln zu schicken hatten. Und einen fünften Stapel mit der Post, über deren Verwendung sie mit Arno Wessinghage sprechen wollte, sobald der von seinem Zahnarzttermin zurückgekehrt war.

Steffi brachte den Kaffee.

«Danke. Was ist das hier?»

Die Sekretärin warf einen schnellen, routinierten Blick auf das Papier.

«Amtliche Bekanntmachung. Wird wie eine Anzeige behandelt. So was erscheint bei uns nicht im redaktionellen Teil, sondern immer auf der vorletzten Seite. Zwangsversteigerungen, öffentliche Ausschreibungen im Straßenbau, lauter so langweiliges Zeugs. So was kannst du immer dem Breuer hinlegen, der kümmert sich dann darum. Warte, ich nehm das schon gleich mit und lege es ihm ins Körbchen auf seinem Schreibtisch …»

«Moment. Ich mache mir noch schnell eine Kopie davon.»

«Mach ich dir schon.»

Steffi suchte deutlich die Nähe zu ihr. Sie rauschte davon, schwang die Hüften zu einem stillen Tanz, vermutlich hatte sie immer noch Michel Telós Ohrwurm im Kopf. Zurück blieb ihre Duftwolke. Steffi Kaminski übertrieb es mit allem: mit ihrem Parfüm, mit ihrer Schminke, mit der Kürze ihrer Röcke, mit der Zahl der geöffneten Knöpfe ihrer Bluse, mit der Lautstärke ihrer Stimme. Vermutlich wurde sie von der großen Lebensangst getrieben, sonst nicht wahrgenommen zu werden. Ellen mochte sie seltsamerweise. Weil sie echt war. Eine Type. Steffi Kaminski hatte Ellen Rausch ungefragt vom ersten Arbeitstag an geduzt, was Ellen gewöhnlich nicht besonders mochte. Sicher gehörte es auch nicht zu den herausragenden Eigenschaften einer Sekretärin, gegenüber Dritten schlecht über den Chef zu reden. Aber im speziellen Fall hatte Ellen sogar Verständnis dafür. Weil Burger seine Sekretärin wie einen Fußabtreter behandelte.

«Hier. Die Kopie.»

«Ich danke dir.»

Ellen hatte das Schriftstück beim ersten Lesen nur überflogen, so wie auch die restliche Post. Nun las sie es konzentriert ein zweites Mal. Und ein drittes Mal.

… in der Todeserklärungssache Ursula Gersdorff …

… haben beantragt, die Verschollene …

Die Verschollene.

Ursula Gersdorff.

1955 geboren. Acht Jahre älter als Ellen.

Ursula. Nie gehört.

Oder?

Gersdorff. Hatte nicht damals der Frauenarzt in Lärchtal so geheißen? Natürlich. Dr. Gersdorff. Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe. Der hatte ihr die erste Pille verschrieben. Und sie vorher so ekelhaft ausgefragt. Ob sie denn schon einen Freund habe. Und was genau sie denn so mit dem mache und er mit ihr? Einmal und nie wieder war sie zu dem gegangen. Anschließend fuhr sie dann immer zu einer jungen Frauenärztin nach Altkirch, auch wenn das mit dem Bus eine Weltreise war.

Aber dieser Gersdorff war doch damals schon uralt gewesen. Das konnte wohl kaum der Ehemann oder der Bruder sein. Vielleicht der Vater? Nein, auch das nicht. Mädchenname Pohl. Geboren in Neukirch. Das Dorf war damals noch nicht eingemeindet, sondern bis 1969 eigenständige Gemeinde.

… zuletzt wohnhaft: Ardennenweg 31, Lärchtal-Ort …

Ardennenweg.

Da wohnte doch auch Gaby Jacobs mit ihrem Märchenprinzen. Im Ardennenweg. Hausnummer 14.

Ellen fuhr ihren Computer hoch, klickte sich zum Online-Telefonbuch, gab die Adresse und den Namen Gersdorff ein.

Dr. Veith und Ewa Gersdorff, Ardennenweg 31 …

Ellen notierte sich die Telefonnummer.

«Steffi?»

«Ja?»

«Sagt dir der Name Ursula Gersdorff irgendwas?»

«Nä.»

«Hast du mal was davon mitgekriegt, dass hier eine Frau verschwunden ist?»

«Eine Frau? Von hier?»

«Ja.»

«Wann soll das denn gewesen sein?»

«Keine Ahnung.»

«Frag doch mal nachher den Arno.»

«Werd ich machen.»

«Weißt du, ich bin ja nicht von hier. Ich komme ja jeden Tag von Altkirch. Da hab ich auch früher gearbeitet. Aber in den fünf Jahren, die ich jetzt hier arbeite, also quasi seit Bestehen des Eifel-Kuriers, ist hier niemand verschwunden.»

«Danke jedenfalls.»

… die Verschollene wird aufgefordert, sich binnen sechs Wochen nach Veröffentlichung dieser amtlichen Bekanntmachung bei dem oben bezeichneten Gericht, 1. Stock, Zimmer 207, zu melden, da sie sonst für tot erklärt wird …

Für tot erklärt? Was war das für eine seltsame Geschichte? Ellen griff zum Telefonhörer. Höchste Zeit, ihre von Burger verordneten und längst überfälligen Antrittsbesuche beim Amtsgericht und bei der Lärchtaler Polizeiwache zu terminieren.

Tag 10

Martin Schulte war ein ausgesprochen attraktiver Mann. Fand Ellen Rausch. Anfang vierzig vielleicht. Groß, schlank, etwas schlaksig in seinen Bewegungen, aber breite Schultern, die klassische Ruderer-Figur. Kluge, freundliche Augen, Lachfalten, Grübchen am Kinn. Feingliedrige Hände. Pianistenhände. Ehering. Eine Spur zu konservativ gekleidet, für Ellens Geschmack. Die übliche Juristen-Uniform: schlichter, anthrazitfarbener Anzug, unauffällige Krawatte, schwarze Schuhe, anthrazitfarbene Socken. Wäre Martin Schulte nicht Deutscher und Amtsgerichtsdirektor, sondern Amerikaner und Schauspieler, dann wäre er in Hollywood die Idealbesetzung des jungenhaften, engagierten Anwalts, der in schier übermenschlicher Anstrengung seinen völlig zu Unrecht angeklagten und natürlich mittellosen Mandanten vor einem grauenhaften Justizirrtum und der Todesstrafe rettet.

Fand jedenfalls Ellen Rausch, auch wenn sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr im Kino gewesen war. Jetzt war es eh zu spät. Denn hier gab es weit und breit kein vernünftiges.

«Prinzipiell ist erst mal der Pressedezernent des Bonner Landgerichts zuständig, was den Kontakt zur Presse anbelangt.»

«Verstehe.»

«Kennen Sie unsere Struktur? Zum Landgerichtsbezirk Bonn gehören die Amtsgerichte Bonn, Siegburg, Königswinter, Waldbröl, Rheinbach, Euskirchen und Lärchtal. Wir hier sind das mit Abstand kleinste Amtsgericht im Landgerichtsbezirk.»

«Interessant.»

«Das ist vermutlich eine historische Reminiszenz an jene Zeit, als Lärchtal noch eigenständige Kreisstadt war.»

«Klingt plausibel.»

«Ich nehme an, da wird man wohl auch aus politischen Gründen nicht dran rütteln wollen.»

«Mhm.»

Ein Jurist eben. Martin Schultes Attraktivität litt bereits gewaltig unter seiner Akkuratesse. Und unter seinem Ehering.

«Analog ist die Bonner Staatsanwaltschaft ebenfalls innerhalb der Grenzen des Bonner Landgerichtsbezirks zuständig», fuhr er fort, und Ellen musste sich zusammenreißen, um nicht zu gähnen.

«Und wie lange sind Sie schon Amtsgerichtsdirektor?», fragte sie, um dem Gespräch eine persönlichere Wendung zu geben.

«Erst seit fünf Monaten. Vorher war ich Vorsitzender des Schöffengerichts beim Bonner Amtsgericht. Ich werde Ihnen also noch nicht allzu Spannendes berichten können.»

«Trifft sich gut. Ich werde Sie nämlich auch nicht viel Spannendes fragen können. Ich bin erst seit zehn Tagen beim Eifel-Kurier.»

Amtsgerichtsdirektor Martin Schulte lächelte. Ein ausgesprochen schönes und freundliches Lächeln. Keine Spur von Überheblichkeit. Das war nicht eben selbstverständlich bei Juristen. Und bei Männern in Führungspositionen ohnehin nicht.

«Ich fürchte, unsere Arbeit hier wird leider auch in Zukunft nicht sehr ergiebig für Ihre Belange sein. Ehescheidungen … aber Sie wissen ja sicher, dass familienrechtliche ebenso wie jugendrechtliche und steuerrechtliche Angelegenheiten nicht öffentlich verhandelt werden. Verkehrsunfälle, Nachbarschaftsstreitigkeiten …»

«… und Todeserklärungen.»

«Wie meinen Sie das?»

«Sie bearbeiten auch Todeserklärungen.»

«Jetzt erwischen Sie mich auf dem falschen Fuß …»

«Nun, wir haben Post bekommen. Von Ihrem Amtsgericht. Ein Aufgebot. Da soll sich eine gewisse Ursula Gersdorff in Zimmer 207 melden, weil sie sonst für tot erklärt wird.»

«Haben Sie zufällig das Aktenzeichen?»

Hatte sie. Ellen Rausch schob ihm eine Fotokopie des Schreibens über den Schreibtisch zu.

«Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Zimmer 207, das ist unsere Rechtspflegerin. Frau Thiel. Sie hat das offensichtlich bearbeitet. Kann ich Ihnen vielleicht etwas anbieten? Einen Kaffee? Oder lieber ein Wasser?»

Ellen schüttelte den Kopf.

Als Martin Schulte das Büro verlassen hatte, sah sich Ellen ungeniert um.

Das Mobiliar sah irgendwie schäbig aus. Wie vom Sperrmüll. Offenbar hatte die Düsseldorfer Landesregierung nicht viel übrig für das kleinste Amtsgericht des Landgerichtsbezirks Bonn, im südwestlichsten Zipfel Nordrhein-Westfalens, nur sieben Kilometer von der belgischen Grenze entfernt.

Auf dem Schreibtisch stand ein gerahmtes Foto. Es zeigte eine hübsche Frau und drei niedliche Kinder, die in die Kamera strahlten. Ob seine Familie schon von Bonn hierhergezogen war? Seine Frau konnte unmöglich begeistert von dem Ortswechsel sein. Es sei denn, sie hatte Reitpferde. Für kleine Kinder war Lärchtal allerdings ein Paradies. Um sich dann spätestens ab 15 in die Hölle zu verwandeln. Aber vielleicht hatte Amtsgerichtsdirektor Martin Schulte ja gar nicht vor, so lange zu bleiben. Möglicherweise war ja schon die nächste Sprosse der Karriereleiter am Horizont sichtbar. Referent im Düsseldorfer Justizministerium, Vizepräsident des Bonner Landgerichts, Senatsvorsitzender am Kölner Oberlandesgericht.

Unter der Garderobe lag ein Basketball. Neben dem Familienfoto auf dem Schreibtisch der einzige persönliche Gegenstand in diesem Büro. Aha, also doch kein Ruderer. Weiter kam Ellen nicht mit ihren Überlegungen. Martin Schulte stand in der Tür mit einer Akte unterm Arm.

Er legte sie vor sich auf den Schreibtisch, nahm wieder Platz und zog die Stirn kraus.

«Tja, Frau Rausch. Sie hatten völlig recht. Glauben Sie mir, ich bin ja nicht erst seit vorgestern als Jurist tätig. Aber eine Sache, die nach dem Verschollenheitsgesetz zu behandeln ist, sehe ich selbst zum ersten Mal …»

«Nach welchem Gesetz?»

«Das Verschollenheitsgesetz. Das hat die nationalsozialistische Regierung unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Kraft gesetzt. Aus naheliegendem Grund. Es regelt das Verfahren, wann, unter welchen Bedingungen und zu welchen Fristen ein Verschollener für tot erklärt werden kann. Im Zweiten Weltkrieg sind zahllose Soldaten der Wehrmacht verschollen. Zum Beispiel während des Russlandfeldzugs. Denken Sie nur an Stalingrad. Ohne identifizierte Leiche gibt es aber keinen Totenschein. Die Ehefrauen und Kinder hätten also nie eine Chance gehabt, an ihre Witwenrente und Waisenrente zu kommen, wenn man die Männer nicht hätte für tot erklären lassen können. Das Gesetz gilt abgesehen von einigen geringfügigen Veränderungen bis heute. Aber wie ich schon sagte: Heute kommt es nur noch extrem selten zur Anwendung.»

«Und welchem Krieg oder welcher Katastrophe ist Ursula Gersdorff zum Opfer gefallen?»

«Tja …» Schulte blätterte in der Akte. «Die Verschollene hat offenbar am Morgen des 21. März 1996 ihre Wohnung in Lärchtal verlassen, um zur Arbeit nach Altkirch zu fahren. Dort ist sie aber nicht angekommen …»

«Nicht angekommen? Hatte sie einen Verkehrsunfall?»

«Offenbar nicht. Sonst würde sie ja wohl nicht als verschollen gelten. Wissen Sie, das Gericht hat lediglich zu prüfen, ob der gestellte Antrag den Buchstaben des Gesetzes entspricht, in diesem Fall des Verschollenheitsgesetzes. Ob zum Beispiel die Fristen korrekt eingehalten wurden. Vernünftigerweise haben die Antragsteller einen Rechtsanwalt hinzugezogen und mit der Formulierung des Schriftsatzes beauftragt.»

«Haben Sie den Namen des Anwalts?»

«Natürlich.» Schulte blätterte zurück und zückte schließlich einen Füllfederhalter. «Eine Kanzlei in Bad Münstereifel. Ich schreibe Ihnen den Namen und die Kontaktdaten auf.»

Verschollenheitsgesetz (VerschG)

Ausfertigungsdatum: 04.07.1939

 

Letzte Änderung: Bundesgesetzblatt Teil III, 17.12.2008

 

§ 1

Verschollen ist, wessen Aufenthalt während längerer Zeit unbekannt ist, ohne dass Nachrichten darüber vorliegen, ob er in dieser Zeit noch gelebt hat oder gestorben ist …

 

§ 2

Ein Verschollener kann unter den Voraussetzungen der §§ 3 bis 7 im Aufgebotsverfahren für tot erklärt werden.

 

§ 3

Die Todeserklärung ist zulässig, wenn seit dem Ende des Jahres, in dem der Verschollene nach den vorhandenen Nachrichten noch gelebt hat, zehn Jahre verstrichen sind …

Nach dem Gespräch mit Schulte hatte Ellen das Gesetz sofort gegoogelt. Es war seltsam beklemmend, ausgerechnet auf der Website des Bundesjustizministeriums einen rechtsgültigen Text zu lesen, den die Nazis Buchstabe für Buchstabe formuliert und zwei Monate vor dem Überfall auf Polen in Kraft gesetzt hatten.

Schon auf dem Rückweg vom Amtsgericht zur Redaktion hatte sie versucht, den Anwalt in Bad Münstereifel zu erreichen. Doch der sei auf Terminen außer Haus und werde heute auch nicht mehr zurückerwartet, hieß es in der Kanzlei. Ellen hatte noch anderthalb Stunden bis zum Termin bei der Polizei, also wollte sie sich in der Redaktion nützlich machen und die anderen entlasten. Aber als sie Arno Wessinghage ihre Hilfe anbot, winkte der nur ab: Kümmere dich um deine Geschichte. Wir schaffen das schon. Bert Großkreuz hatte zwar genickt, als Wessinghage das sagte, allerdings dabei etwas verkniffen geguckt. Offensichtlich passte es ihm überhaupt nicht, Ellens reguläre Pflichttermine übernehmen zu müssen.

Die nächsten Paragraphen des Verschollenheitsgesetzes regelten diverse Sonderfälle: Ab dem 80. Lebensjahr betrug die Frist nur fünf statt zehn Jahre, junge Menschen durften hingegen nicht für tot erklärt werden, solange sie nicht das 25. Lebensjahr erreicht hatten. Verschollene Soldaten konnten frühestens ein Jahr nach Kriegsende für tot erklärt werden, Passagiere von gesunkenen Schiffen oder abgestürzten Flugzeugen sechs Monate nach dem Untergang beziehungsweise drei Monate nach dem Absturz. Zuständig für das Aufgebot war laut Paragraph 15 das Amtsgericht, in dessen Bezirk der Verschollene seinen letzten feststellbaren Wohnsitz hatte.

Den Antrag stellen können (…) der gesetzliche Vertreter des Verschollenen oder aber die unmittelbaren Verwandten (…) Vor der Einleitung des Verfahrens hat der Antragsteller die zur Begründung des Antrags erforderlichen Tatsachen glaubhaft zu machen (…) Ist der Antrag zulässig, so hat das Gericht das Aufgebot zu erlassen. Das Aufgebot muss durch eine geeignete örtliche Zeitung öffentlich bekanntgemacht werden. Das Aufgebot soll ferner an die Gerichtstafel des zuständigen Amtsgerichts angeheftet werden. Die Aufgebotsfrist soll mindestens sechs Wochen betragen …

All dies war ordnungsgemäß geschehen. Nach den Buchstaben des Gesetzes, wie Amtsgerichtsdirektor Martin Schulte es formuliert hatte. Ganz im Sinne der Absicht der Erfinder, die an einer zügigen bürokratischen Abwicklung angesichts des nahenden Krieges interessiert waren.

Aber Ursula Gersdorff war noch gar nicht geboren, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Sie war auch nicht Soldatin der Bundeswehr beim Einsatz in Afghanistan oder an Bord eines gesunkenen Schiffes oder eines abgestürzten Flugzeuges oder als vom Tsunami überraschte Touristin an einem Strand in Südostasien, als sie an einem Märzmorgen vor 16 Jahren spurlos verschwand. Sie war vielmehr wie jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit, von Lärchtal nach Altkirch, vermutlich über die B51 und die A1, wenn sie mit dem Auto gefahren war, 46 Kilometer von Tür zu Tür, je nach Verkehrslage etwa 35 Minuten Fahrtzeit.

Ellen sah auf die Uhr, schulterte ihre Tasche und machte sich zu Fuß auf den Weg zur Polizeiwache. Zum ersten Mal in diesem Jahr schmeckte die Luft nach Frühling. Die italienische Eisdiele und eines der beiden Cafés am Markt hatten bereits Tische und Stühle rausgestellt. Der Marktplatz war wirklich hübsch. Als Jugendliche hatte sie das nie wahrgenommen. Als Jugendlicher interessierte man sich nicht für pittoreske Fachwerkhäuser.

Sie überquerte den Platz und bog in die Poststraße ab. Die Polizeiwache war im Erdgeschoss eines schokoladenbraun gestrichenen, unglaublich hässlichen Betonklotzes untergebracht. Vor dem Eingang parkte ein Streifenwagen. Sie drückte auf den Knopf neben der Tür aus getöntem Panzerglas, und fast auf der Stelle signalisierte ein Summen, dass sie nun dagegendrücken musste, um die Tür zu öffnen.

Ein junger Polizeibeamter in Uniform stand hinter dem Tresen und blickte sie erwartungsvoll an.

«Guten Tag. Mein Name ist …»

«Frau Rausch?»