Spurlos - Robert Klement - E-Book

Spurlos E-Book

Robert Klement

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Beschreibung

Ein Unwetter in den schottischen Highlands, im düsteren Glen Coe, zwingt Tim und Julian, in einem abgelegenen Haus um Unterstand zu bitten. Vor Regen und Sturm sind sie zwar geschützt – doch birgt das unheimliche Mädchen in diesem einsamen Haus nicht noch größere Gefahren? Welches düstere Geheimnis umgibt Aileen? Trachtet sie ihnen womöglich nach dem Leben? Die Atmosphäre wird immer bedrohlicher und es gibt kein Entrinnen … Robert Klement, Meister der Spannung, hat einen faszinierenden Thriller mit realem Hintegrund verfasst, der letztlich soziale Probleme rund um die jugendliche Gewaltszene der Britischen Inseln aufgreift.

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Robert Klement

SPURLOS

DAS DÜSTERE TAL

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Neue Rechtschreibung

© 2020 by Obelisk Verlag, Innsbruck – Wien

Lektorat: Regina Zwerger

Alle Rechte vorbehalten

Druck und Bindung: CPI Books, 25917 Leck, Deutschland

ISBN 978-3-85197-948-0

eISBN 978-3-99128-033-0

www.obelisk-verlag.at

INHALT

Das Mädchen

Die Suche nach Glück

Eine große Liebe

Verräterisches Tagebuch

Panik

Die Sache mit Noah

Nachwort

Der Autor

DAS MÄDCHEN

„He, ihr dort!“

Sie konnten nicht gleich feststellen, woher dieser Ruf gekommen war, und blickten sich suchend um.

„Ja, euch beide mein ich.“

Der alte Mann stand zwischen zwei Felstürmen oberhalb des Hanges. Sein langes Haar leuchtete schneeweiß. Einzelne Strähnen hingen ihm wirr ins Gesicht und wehten im Wind.

„Ihr solltet nicht durch dieses Tal gehen!“ Seine Stimme klang seltsam gepresst. Er stieß die Worte hervor, es schien ihm große Anstrengung zu bereiten.

„Wieso denn?“, rief Tim. Doch da war der Mann plötzlich hinter den Felsen verschwunden.

Die beiden Wanderer hatten kurz zuvor beschlossen, eine Abkürzung zu nehmen, um schneller nach Fort William zu kommen. Tim hatte seine Wetter-App gecheckt, weil plötzlich dunkle Wolken aufgezogen waren.

„Was will der Opa von uns?“, fragte Julian.

Vielleicht war es ein Wildhüter oder der Besitzer des Grundstücks. Es gab in Schottland einige Farmer, die etwas dagegen hatten, dass immer mehr Wandergruppen über ihre Weideflächen trampelten. Es war jedoch weit und breit kein Hinweis zu sehen, der den Durchgang durch dieses Tal untersagt hätte.

Nach etwa einer halben Stunde verdüsterte sich der Himmel völlig. Das Licht über der Heide hatte nun etwas Schauerliches und das welke Gras leuchtete goldbraun.

Sie erreichten einen Fluss, aus dem Dunstschwaden stiegen und das Tal wie unter einer Decke verhüllten. Dort flatterte ein Moorhuhn auf. Plötzlich ertönte ein Brausen. Am Horizont zuckten Blitze zwischen dahinstürmenden schwarzen Wolken und es begann zu regnen.

Tim und Julian hörten ein Grollen, das unheilvoll herankroch und sich zu einem rhythmischen Donnern ganz in ihrer Nähe auswuchs.

Sturm und Regen wurden rasch stärker. Die beiden kamen nur quälend langsam voran. Oft sanken sie bis zu den Knöcheln in Morast und traten auf Steine, die schmatzend im Boden verschwanden.

„Wir sollten umkehren!“, schrie Julian mühsam gegen das Heulen des Sturmes an, doch Tim drängte weiter vorwärts. „Das geht vorbei. Es wird nicht lange dauern.“

Durch den peitschenden Regen waren sie im Nu völlig durchnässt. Die Blitze zuckten jetzt in immer schnellerer Folge über den Himmel. Sie kamen zu einer schmalen Straße. Vielleicht gelang es, ein Auto anzuhalten. Doch es ließ sich keines blicken.

Im Schein eines ungewöhnlich hellen Blitzes erkannten sie ein einsames Haus. Beim Näherkommen hörten sie das heftige Bellen eines Hundes.

Die Fensterläden waren geschlossen. Die drei Stufen, die zur Tür führten, waren so verrottet, dass man Angst haben musste, durchzubrechen. Wo einst die Klingel war, hingen Drähte aus der Mauer, daher trommelten sie mit den Fäusten gegen die Tür. Sofort hörten sie eine forsche helle Mädchenstimme:

„Wer ist da?“

„Wir sind zwei Schüler, wir haben uns verirrt.“

„Ich bin allein und darf niemanden einlassen.“ Der Hund bellte, als wollte er die Tür aus den Angeln heben.

„Wir bleiben nur so lange, bis der Regen nachlässt. Lass uns bitte rein!“ Julian glaubte, man müsse sein Zähneklappern sogar durch die geschlossene Tür hören.

„Ich kann euch nicht helfen. Tut mir leid. Ich …“ Der Rest ging im Tosen des Sturmes unter. Vielleicht half eine kleine Unwahrheit: „Mein Freund hat sich am Fuß verletzt, er kann nicht mehr weiter.“

„Das ist ein mieser Trick. Geht bitte weg von da, ihr macht meinen Hund verrückt!“

„Wie heißt du?“

„Ist doch egal, wie ich heiße. Ihr kommt hier nicht rein.“

Tim wusste instinktiv, dass er sie im Gespräch halten musste. Solange sie antwortete, bestand Hoffnung. „Wir sind hier auf Sprachferien. Ich bin Tim, mein Freund heißt Julian. Wir kommen aus Österreich.“

Es würde vielleicht Vertrauen schaffen, wenn sie wusste, mit wem sie es zu tun hatte. Keine Antwort.

„Sie ist weg“, sagte Tim.

„Scheiße, was machen wir jetzt?“, fragte Julian. Ein weiterer Blitz zeigte, dass weit und breit kein anderes Haus in der Nähe war.

Plötzlich … das Geräusch eines zurückgeschobenen Riegels. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Die schwere, mit Eisen beschlagene Tür ging auf. Das Mädchen hatte größte Mühe, den Hund am Halsband zurückzuhalten.

„Ruhig, Winston, ruhig!“, kreischte es.

Julian nahm zunächst nur ihre Umrisse wahr, da seine Brille angelaufen war. Die beiden bedankten und entschuldigten sich; nach jedem Schritt hinterließen sie Rinnsale, die sich rasch zu Pfützen ausweiteten. Das Mädchen führte sie in ein Zimmer. Im hohen Kamin prasselte ein Feuer.

„Wir bringen die Pizza“, scherzte Julian.

„Hab aber nichts bestellt“, antwortete das Mädchen und zwang sich ein Lächeln ab.

Sie breitete ein Plastiktischtuch über das Sofa und schaltete den Computer aus. Dann ließ sie sich in einen wuchtigen braunen Ledersessel fallen. Sie musterte ihre beiden Gäste mit einer Mischung aus Ungläubigkeit, Belustigung und Wissbegierde. Fast so, wie man ein seltenes Tier betrachtet. Dann hauchte sie mit einem Lächeln:

„Ich bin Aileen.“

In Tims Ohren klang der Name wie eine einschmeichelnde Melodie. Sie hatte große Augen, die sich einem ins Herz bohrten. Das lange, rotblonde Haar umrahmte ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem Kinngrübchen, das ihr einen Hauch von Verwegenheit verlieh. Ihre Handgelenke wirkten zart und zerbrechlich. Sie trug ein silbernes Piercing über der linken Braue, ein schwarzes Sweatshirt und modisch verschlissene schwarze Jeans.

„Ohne wetterfeste Kleider und mit Turnschuhen durch die Highlands. Einfach verrückt!“, sagte Aileen. „Noch nie was von Outdoor-Bekleidung gehört?“

„Ein Regenschirm hätte es auch getan“, sagte Julian und lachte selber am meisten über diesen Scherz.

„Tja, die Wanderung hat sich zufällig so ergeben“, meinte Tim. „Als es zu regnen begann, haben wir gehofft, dass uns ein Auto mitnimmt. Aber wir haben keines gesehen. Es kam bloß ein Motorrad.“

Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und machte einem Ausdruck von Verwunderung Platz, ein leichtes Zittern durchlief ihren Körper.

„Ein Motorrad? Bist du sicher?“

„Klar. Warum?“

Sie starrte einen Moment mit weit aufgerissenen Augen ins Leere, schüttelte den Kopf und bewegte stumm die Lippen.

Die beiden Freunde blickten sich um. Die Einrichtung war karg, doch der Raum strahlte Behaglichkeit aus. An einer Wand reihte sich Buch an Buch in hellen Regalen. An der anderen hingen Landschaftsbilder – von Aileen gemalt, wie sie später erfahren sollten. Die Situation war an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Sie saßen da wie zwei begossene Pudel.

Wie gerne hätte sich Julian gerade diesem Mädchen mit seiner fein zurechtgemachten Strähnchenfrisur gezeigt.

„Ich mache gerade Tee. Wollt ihr auch …?“, fragte Aileen.

Die beiden waren sich einig, dass heißer Tee im Moment genau das Richtige wäre.

Sie hörten, wie Aileen in der Küche Tassen auf ein Tablett stellte und mit den Löffeln klapperte. Winston näherte sich Tim und hechelte.

„Ein Dobermann-Mischling“, sagte Julian mit Kennerblick. „Die sind nicht so wild, wie sie aussehen.“

Das konnte Tim nicht beruhigen. Das Tier mit dem schwarz-braunen Kurzhaarfell wirkte kraftvoll und war beachtlich groß. Aileen kehrte mit dem Tee zurück und nahm wieder Platz.

„Zieht euch aus!“, sagte sie unvermittelt. Als sie das Entsetzen in den Gesichtern ihrer Gäste sah, fügte sie rasch hinzu: „Das nasse Zeug macht euch noch krank.“

„Nein, nein, nicht notwendig“, stammelte Tim und errötete zart.

„Das trocknet auch so“, sagte Julian.

„Ihr braucht euch nicht zu genieren. Ihr seid nicht die Ersten, die es in diesem Tal böse erwischt hat.“

Um Julians Socken hatte sich eine kleine Pfütze auf dem Parkettboden gebildet. Es sah ja wirklich so aus, als wären sie nicht durch dieses Tal gewandert, sondern in ihren Kleidern zu diesem Haus hergeschwommen.

„Ich bringe euch Decken. Zieht euch aus! Ihr holt euch noch eine Verkühlung.“

Die Decken waren flauschig und dufteten nach Lavendel. Aileen zog sich diskret in die Küche zurück und kehrte mit einer Plastikleine zurück. Wenig später hingen die Kleider nahe dem Kamin.

„Milch? Auch Zucker?“, fragte sie.

Aileen war eines von diesen Mädchen, die mit Charme und Anmut Menschen anzogen, ohne sich darum bemühen zu müssen. Ganz ungeschminkt zog sie die Blicke auf sich. Tim und Julian kannten Mädchen, die sich für Selfies dicke Schichten Make-up ins Gesicht spachtelten.

Aileen ging in Fort William zur Schule. Ihre Mutter arbeitete dort im Krankenhaus, ihr Vater war Beamter, sie hatte keine Geschwister. Das Haus war eine ehemalige Bed-&-Breakfast-Unterkunft. Aileens Eltern nahmen schon seit Jahren keine Gäste mehr auf, da immer weniger Touristen durch das Tal von Glen Coe wanderten.

Dann erzählte Aileen von unheimlichen Begebenheiten in den Scottish Highlands. Hier würden häufig selbst erfahrene Tourengänger in den nebeligen und wetterunbeständigen Bergen verschwinden. Fast überall im Hochland wiesen „MISSING“-Plakate auf spurlos Verschwundene hin. Wanderer wurden aufgefordert, wachsam zu sein und Hinweise an die Polizei weiterzugeben. Die Fremdenverkehrsämter des Landes warnten ausdrücklich vor dem unbeständigen Wetter in den Highlands.

„Manchmal kommen Angehörige bei uns vorbei“, sagte Aileen. „Sie zeigen Bilder der Vermissten. Sie sagen, dass die Gegend sehr einsam ist und es doch möglich sei, dass der Gesuchte hier vorbeigekommen ist.“

Mitunter fand man unter Erde, Moos und Heidekraut Kleiderfetzen. Überwuchert, beinahe schon wieder vom Erdboden verschluckt. Kein Ausweis, kein Name gab Hinweis auf eine Person. Nirgends fanden sich Knochen. In seltenen Fällen stieß man auf Spuren der Vermissten. Wanderer entdeckten menschliche Überreste – aufgewühlt von streunenden Hunden, Füchsen oder Wildkatzen. Die schottische Wildkatze mit ihren markanten gelb-grünen Augen und dem buschigen Schwanz galt als harmlos. Gefährlich waren jedoch die zahlreichen Hundemeuten. Die Highlands waren ein beliebtes Jagdrevier. Immer wieder gingen dort Hunde verschiedener Rassen verloren, die sich in den Schluchten zusammenrotteten und Wanderer anfielen.

Julian schlug die Decke enger um sich, als könnte er sich damit vor dem soeben Gehörten schützen. Der Regen prasselte wie ein Trommelwirbel aufs Dach.

„Bei mir seid ihr in Sicherheit“, beruhigte Aileen. „Ein Glück, dass ihr mich gefunden habt.“

Hier saß ein Engel. Vielleicht sogar ihre Lebensretterin? Tim hatte schon oft von vermissten Jugendlichen aus Wien gehört. „Ich habe mich schon immer gefragt, wie Menschen einfach verschwinden können“, sagte er. „Sie verschwinden, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen.“

„Sie sind verschwunden“, sagte Aileen. „Aber sie sind immer da, die ganze Zeit.“

Das verstanden die beiden Freunde nicht. Bevor sie fragen konnten, lieferte Aileen einen Erklärungsversuch. Manche Menschen im Hochland glaubten, die Ursache für diese bedauernswerten Schicksale zu kennen: „Viele Highlander meiden dieses Tal, sie sagen, es sei verflucht.“

Als Aileen vom Mord an ihren Vorfahren erzählte, stockte sie manchmal, als versuchte sie, etwas zu beschreiben, für das es keine Worte gab. Im Glen Coe tötete der Clan der Campbells einst Angehörige der MacDonalds, darunter Kinder, Frauen und alte Männer. Im Morgengrauen eines klirrend kalten Februartages fielen sie über die Talbewohner her und zündeten ihre Häuser an. Fast 400 flohen im Schneesturm ins nahe Lost Valley, wo sie erfroren. Einige MacDonalds, darunter Aileens Verwandte, hatten nur deshalb überlebt, weil sie rechtzeitig gewarnt worden waren.

Das Massaker lastete noch heute auf dem Tal wie ein böser Fluch. Seither hieß es auch „Tal der Tränen“. Manchen erschien der Taleingang sogar als „Tor zur Hölle“. Die Geister der MacDonalds würden mit den später spurlos Verschwundenen noch heute ruhelos im Tal umgehen, hieß es.

Einen Moment lang hockte Aileen da, reglos, mit zusammengepressten Lippen. Dann sagte sie, dass sie den Namen ihrer Vorfahren mit großem Stolz trage und die Campbells für immer hassen würde.

Der folgende Donnerschlag ließ die Gläser in der Vitrine klirren und steigerte die unheimliche Atmosphäre.

Tim wollte das Gespräch in harmlosere Bahnen lenken. An einer Pinnwand hatte er mehrere Fotos mit Basketballspielern entdeckt. Natürlich war ihm auch der