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Ivana Gobec geht joggen und kehrt nicht mehr zurück. Die Suchaktionen der Polizei bleiben erfolglos. Niemand hat die junge Frau gesehen. Kurz darauf bricht Beat Furrer, Geschäftsleitungsmitglied einer Versicherung, zu einer Geschäftsreise auf. Er kommt aber nie am Zielort an. Zwei Personen verschwinden innert kurzer Zeit in einem kleinen Schweizer Bergkanton. Alles nur Zufall? Der neue Leiter der Kriminalpolizei, Markus Goldbacher, ist bereits in seiner ersten Arbeitswoche gefordert, denn beide Vermissten bleiben spurlos verschwunden.
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Seitenzahl: 218
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Ivana Gobec geht joggen und kehrt nicht mehr zurück. Die Suchaktionen der Polizei bleiben erfolglos. Niemand hat die junge Frau gesehen. Kurz darauf bricht Beat Furrer, Geschäftsleitungsmitglied einer Versicherung, zu einer Geschäftsreise auf. Er kommt aber nie am Zielort an.
Zwei Personen verschwinden innert kurzer Zeit in einem kleinen Schweizer Bergkanton. Alles nur Zufall?
Der neue Leiter der Kriminalpolizei, Markus Goldbacher, ist bereits in seiner ersten Arbeitswoche gefordert, denn beide Vermissten bleiben spurlos verschwunden.
Peter Grau, Jahrgang 1965, wäre wohl nie im Leben auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben, wenn seine Frau an jenem Urlaubsmorgen nicht so lange auf ihren Latte Macchiato hätte warten müssen. So stand er eine Weile vor dem Bahnhof Milano Centrale, bewachte das Gepäck und überlegte als Zeitvertreib, wie man aus diversen Ideen eine zusammenhängende Geschichte konstruieren könnte. Als seine Frau endlich mit dem Kaffeebecher in der Hand zurückkam, hatte er nicht nur die Story für einen Krimi im Kopf, sondern plötzlich auch Lust, diese Geschichte zu Papier zu bringen.
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Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.
Für Janine
Die wichtigsten Personen
Der Kantonshauptort und seine Umgebung
Prolog
Montag, 2. Mai, Vormittag
Montag, 2. Mai, Nachmittag
Dienstag, 3. Mai, Vormittag
Dienstag, 3. Mai, Nachmittag
Mittwoch, 4. Mai
Donnerstag, 5. Mai, Vormittag
Donnerstag, 5. Mai, Nachmittag
Freitag, 6. Mai, Vormittag
Freitag, 6. Mai, Mittag und Nachmittag
Samstag, 7. Mai, Vormittag
Montag, 9. Mai, Vormittag
Montag, 9. Mai, Nachmittag
Dienstag, 10. Mai, Vormittag
Dienstag, 10. Mai, Nachmittag
Dienstag, 10. Mai, später Nachmittag
Mittwoch, 11. Mai, Vormittag
Mittwoch, 11. Mai, Mittag
Mittwoch, 11. Mai, Nachmittag
Donnerstag, 12. Mai, Vormittag
Donnerstag, 12. Mai, Nachmittag
Freitag, 13. Mai, Vormittag
Freitag, 13. Mai, Mittag
Freitag, 13. Mai, Nachmittag
Freitag, 13. Mai, später Nachmittag
Montag, 16. Mai
Dienstag, 17. Mai, Vormittag
Dienstag, 17. Mai, Mittag und Nachmittag
Mittwoch, 18. Mai, 2:36 Uhr
Mittwoch, 18. Mai, Vormittag
Mittwoch, 18. Mai, Mittag
Mittwoch, 18. Mai, später Nachmittag
Donnerstag, 19. Mai, Vormittag
Donnerstag, 19. Mai, Nachmittag
Donnerstag, 19. Mai, kurz vor Feierabend
Freitag, 20. Mai, Vormittag
Freitag, 20. Mai, später am Vormittag
Samstag, 21. Mai
Montag, 23. Mai, Vormittag
Dienstag, 24. Mai, später Nachmittag
Freitag, 27. Mai, Mittag
Sonntag, 5. Juni, Nachmittag
Montag, 6. Juni, Nachmittag
Donnerstag, 23. Juni, Vormittag
Freitag, 24. Juni, Vormittag
Freitag, 24. Juni, später Nachmittag
Markus Goldbacher
Leiter der Kriminalpolizei
Luca Bertoldi
Assistent von Markus Goldbacher
Claudia Weber
Kriminaltechnikerin
Thomas Baumann
Kommandant der Kantonspolizei
Lea Zurkirchen
Empfang / Zentrale der Kantonspolizei
Dominic Bader
Streifenpolizist
Sarah Landolt
Streifenpolizistin
Alexandra Egger
Staatsanwältin
Norbert Sommer
Gerichtsmediziner
Stefan Oberli
Kriminalpsychologe
Ursula Matzinger
Justizdirektorin
Ivana Gobec
Coiffeuse und begeisterte Joggerin
Angela Macarro
Beste Freundin von Ivana Gobec
Urs Nagel
Ex-Freund von Ivana Gobec
Annemarie Michel
Chefin von Ivana Gobec
Sandra Casellini
Arbeitskollegin von Ivana Gobec
Sascha Bolliger
Freund von Angela Macarro
Beat Furrer
Abteilungsleiter Silbertal Versicherung
Barbara Furrer
Ehefrau von Beat Furrer
Florian Tschudi
Geschäftsführer Silbertal Versicherung
Nicole Jufer
Assistentin von Beat Furrer
Luis Favalli
Stellvertreter von Beat Furrer
Sylvia Meyer
Rentnerin und aufmerksame Spaziergängerin
Ivana Gobec drückte die Play-Taste. Dann befestigte sie ihren MP3-Player am türkisblauen Jogging-Shirt. »One, two, three, four, five, everybody in the car, so come on let’s ride«, begann Lou Bega seinen Song „Mambo No. 5“, während Ivana die Strasse hinunter lief.
»A little bit of Monica in my life, a little bit of Erica by my side…«. Es war nicht gerade ihre Lieblingsmusik, aber ein wunderbarer Rhythmus fürs Jogging. Beschwingt erreichte sie schon nach wenigen Minuten den Stadtrand und folgte der Nebenstrasse, die leicht bergauf in den Wald führte. Bei der erstbesten Gelegenheit bog sie auf einen kleinen Fussweg ab.
Trotz angenehmen Temperaturen schien kein Mensch am frühen Abend im Wald unterwegs zu sein. Erst als sie nach einer Dreiviertelstunde eine Weile auf der breiten Waldstrasse lief, sah sie wieder ein Zeichen menschlichen Lebens: Ein grauer VW Golf Kombi stand an der Abzweigung zu einem Forstweg.
Wahrscheinlich jemand, der eine Runde mit dem Hund machen muss, dachte sie, als sie sah, dass das Auto leer war.
Ivana Gobec lief weiter in Richtung der nahe gelegenen Waldhütte. Sie war gut gelaunt, denn sie konnte nicht wissen, wie dieser Sonntagabend enden würde.
Als ich um 7:20 Uhr um die Ecke kam und plötzlich freie Sicht auf das Gebäude hatte, blieb ich kurz stehen und blickte auf das grosse alte Haus. Hier würde ich also voraussichtlich die nächsten Jahre arbeiten. Hier würde ein wesentlicher Ort sein für meinen Neuanfang nach der Trennung von meiner Freundin und dem Wegzug aus der Grossstadt, in der ich aufgewachsen war.
Mit einer leicht nervösen Anspannung brachte ich die letzten hundert Meter hinter mich, passierte das Schild mit der Aufschrift »Kantonspolizei« und öffnete die alte Holztür. Am Empfangsschalter im Eingangsbereich des Gebäudes sass eine junge Frau mit langen blonden Haaren, einer schlichten Brille und Sommersprossen. Sie musterte mich kritisch.
»Guten Morgen, mein Name ist Markus Goldbacher«, stellte ich mich vor. »Ich habe heute meinen ersten Arbeitstag hier und habe um halb acht einen Termin mit Herrn Baumann.«
Sofort hellte sich ihre Miene auf: »Ach ja genau, der Nachfolger von Hans Spörri! Herzlich Willkommen, ich bin Lea. Weisst du: abgesehen vom Kommandanten sind wir hier alle per Du. Du musst einen Moment warten. Bis du deinen Badge hast, kannst du dich im Gebäude nicht allein bewegen. Aber der Kommandant hat mir gesagt, dass er dich um 7:30 Uhr hier abholt.«
Pünktlich um halb acht kam Thomas Baumann, der grossgewachsene Kommandant der Kantonspolizei, zum Empfangsbereich und begrüsste mich mit einem kräftigen Händedruck: »Ah, mein neuer Kripo-Chef. Guten Morgen, Herr Goldbacher, schön dass Sie hier sind.«
Er führte mich in sein Büro im obersten Stock, wo bereits mein Polizeiausweis, die Dienstwaffe sowie Badge und Autoschlüssel für mich bereitlagen. Während ich diverse Formulare unterschrieb, um den Empfang des Materials zu bestätigen, erläuterte er mir die nächsten Schritte.
»Als Erstes werde ich Sie über die wichtigsten Sachen informieren. Anschliessend gehen wir hinunter in den zweiten Stock zum Büro der Kripo. Da haben Sie dann Zeit, Ihr Team kennenzulernen. Heute Nachmittag machen wir miteinander eine Runde durch alle Abteilungen hier in der Kantonspolizei. Ab morgen früh beginnt Ihre Einarbeitung. Wir haben ein Programm zusammengestellt, damit Ihnen in den ersten drei Wochen alle Abteilungen und die wichtigen Leute vorgestellt werden. Besonders wichtig ist mir auch, dass Sie als Neuzuzüger den Kanton besser kennenlernen. Deshalb werden Sie zum Beispiel morgen Vormittag mit auf Streife gehen.«
Er überreichte mir drei Blätter, von denen jedes einen detaillierten Plan für eine Arbeitswoche enthielt. Während ich, etwas überrascht und beeindruckt von der strukturierten Vorbereitung, die drei Wochenpläne grob überflog, fuhr Baumann schon fort: »Das ist natürlich das Schön-Wetter-Programm. Wir hoffen, dass es ruhig bleibt und Ihr Team in den ersten Wochen weitgehend ohne Sie auskommt, damit Sie sich richtig einarbeiten können. Aber falls etwas Wichtiges dazwischen kommt, hat das natürlich Vorrang. Dann verschieben wir halt den einen oder anderen Punkt der Einarbeitung in die letzte Maiwoche. Aber ich hoffe jetzt mal, dass das nicht nötig sein wird.«
Während er mich ernst anblickte, fuhr er fort: »Ich habe Ihnen ja schon im Vorstellungsgespräch gesagt, Herr Goldbacher, dass es bei uns auf dem Land ganz anders ist als in der Grossstadt, in der Sie bisher gearbeitet haben. Natürlich gibt es auch bei uns Kriminalität. Deshalb haben wir ja auch eine Kriminalpolizei. Aber das ist sehr viel harmloser als in der Grossstadt. Meiner Meinung nach haben wir hier im Kanton einen achtsameren und respektvolleren Umgang miteinander als Sie es von der Grossstadt gewohnt sind. Man bringt einander nicht gleich um, wenn es mal eine Meinungsverschiedenheit gibt. Das letzte Tötungsdelikt hier im Kanton liegt Jahre zurück.«
»Wissen Sie, Herr Baumann, die Arbeit in der Grossstadt hat auch ihre Schattenseiten. Fast jedes Wochenende gibt es Schlägereinen und Messerstechereien zwischen betrunkenen Jugendlichen. Zum Glück geht es hier nicht so zu und her.«
»Aber ich bin natürlich schon froh, dass Sie die Erfahrung aus der Grossstadt mitbringen, Herr Goldbacher. Das war ein wichtiger Grund, warum ich Sie ausgewählt habe. Wir sind zwar auf dem Land, aber auch nicht völlig abgeschirmt von der grossen weiten Welt. Verzögert und abgeschwächt spüren auch wir etwas davon, wie sich das Leben in den grossen Städten verändert. Ich hoffe, dass wir dank Ihnen besser darauf vorbereitet sind, was noch auf uns zukommen kann.«
Neben dem ruhigen Landleben gab es einen weiteren Grund, der den neuen Job attraktiv für mich machte. Bisher war ich ein einfacher Mitarbeiter einer grossen Kriminalpolizei gewesen. Im neuen Job war ich nun Leiter der Kriminalpolizei. Ein Karrieresprung, auch wenn es sich um eine sehr kleine Kriminalpolizei in einem kleinen Kanton handelte. Nicht dass ich unbedingt eine solche Karriere angestrebt hatte, aber als sich diese Gelegenheit bot, fand ich die Stelle doch sehr verlockend.
»Lassen Sie uns noch über Ihr Team sprechen«, wechselte Baumann das Thema. »Wie Sie wissen, haben Sie als Leiter der Kriminalpolizei zwei Mitarbeiter, nämlich ihren Assistenten und die Kriminaltechnikerin. Ich habe Sie ja Ende März angerufen und Ihnen gesagt, dass der bisherige Assistent Herr Läubli um eine Versetzung gebeten hat und jetzt bei der Regionalpolizei in Tellingen arbeitet.«
»Warum wollte er denn weg?«
»Nicht dass Sie jetzt denken, das hätte etwas mit Ihnen zu tun! Er kennt Sie ja gar nicht. Herr Läubli ist 62 Jahre alt und arbeitet seit fast 30 Jahren bei der Kantonspolizei, die meiste Zeit bei der Kripo zusammen mit Hans Spörri. Letztes Jahr, als Spörris Pensionierung näher rückte, kam er mit dem Anliegen zu mir, für die letzten Jahre vor der Pensionierung einen ruhigeren Job zu übernehmen. Er wollte das Pensum reduzieren und in einem Polizeiposten in einem der Dörfer arbeiten. Eigentlich wäre mein Plan gewesen, dass Läubli noch hier bleibt bis Sie eingearbeitet sind, und erst dann wechselt. Aber dann hat mich der Chef der Regionalpolizei bei der Kadersitzung Anfang Jahr auf einen ausgesprochen fähigen und motivierten Mitarbeiter aufmerksam gemacht, der vielleicht abspringen könnte, wenn er bei uns keine spannendere Aufgabe bekommt.«
Er machte eine kurze Pause. Wahrscheinlich musste er kurz abwägen, ob er mir jetzt schon sagen wollte, warum der Wechsel so rasch vollzogen wurde. »Wissen Sie, Herr Goldbacher, wir stehen unter grossem Spardruck und müssen in den Dörfern Stellen abbauen. Luca Bertoldi arbeitet jetzt hier bei Ihnen. Läubli hat die Stelle von Bertoldi in Tellingen übernommen und gleichzeitig auf 60% reduziert. So sparen wir 40 Stellenprozente ein. Also eine Win-Win-Win-Situation: Neuer Traumjob für Läubli, neuer Traumjob für Bertoldi und Einsparungen für mich.«
Er informierte mich noch darüber, dass Bertoldi in den letzten Wochen meist hier gearbeitet hatte und von Läubli über alle wichtigen Abläufe, Regelungen und Arbeitsinstrumente informiert wurde.
»Und ausserdem haben Sie ja noch Frau Weber. Sie hat zwar als Kriminaltechnikerin einen unabhängigen Aufgabenbereich, aber sie ist schon ein paar Jahre hier und kennt sich auch ganz gut aus.«
»Bei Frau Weber ist es so«, fuhr er fort, »dass Sie zwar Ihnen unterstellt ist und ihren Büro-Arbeitsplatz im Kripo-Büro hat, aber daneben hat sie natürlich auch noch ihr Labor im Keller. Und Frau Weber arbeitet nicht nur für die Kripo, sondern unterstützt auch die übrigen Abteilungen der Kantonspolizei in technischen Belangen.«
Danach führte mich Baumann zum Büro der Kriminalpolizei, um mir mein Team vorzustellen. Als wir das Büro betraten, waren weder Luca Bertoldi noch Claudia Weber in die Arbeit vertieft. Es war offensichtlich, dass beide gespannt darauf warteten, mich kennenzulernen.
»Guten Morgen miteinander. Ich bringe Ihnen Herrn Goldbacher, Ihren neuen Chef.«
»Hallo miteinander, ich bin Markus«, stellte ich mich vor.
Baumann verabschiedete sich und liess mich mit meinem Team allein.
Das Kripo-Büro war ein grosser Raum mit Arbeitsplätzen für Luca Bertoldi, Claudia Weber und mich sowie einem grossen Besprechungstisch. Ausserdem umfasste mein neuer Arbeitsbereich zwei kleine Besprechungszimmer für Befragungen.
Ich setzte mich mit Luca und Claudia zusammen und erzählte ihnen über mich, meine bisherige Arbeit und über die Gründe, hierher zu wechseln.
Luca Bertoldi war mit 28 Jahren sechs Jahre jünger als ich. Das war mir eigentlich ganz recht. Ich hätte es als grosse Herausforderung empfunden, bei meiner ersten Führungsaufgabe einen 62-jährigen Mitarbeiter mit jahrzehntelanger Erfahrung als Assistenten zu haben.
Ich schätzte Luca auf knapp 1.80 Meter. Seine braunen Haare waren schütter. Er hatte schon fast einen Ansatz zur Glatze, was er mit Schnurrbart und Bart kompensierte. Der muskulöse Körper deutete auf regelmässige Besuche im Fitnesscenter hin.
Als Claudia Weber sagte, sie sei 31 Jahre alt, staunte ich ein wenig. Mit ihren leuchtend rot gefärbten Haaren, dem frech wirkenden Kurzhaarschnitt und den Tätowierungen auf beiden Oberarmen wirkte sie eher jünger als Luca.
Ich sagte noch ein paar Worte über Offenheit bei der Zusammenarbeit, die mir in dem Buch über Mitarbeiterführung, das ich in den letzten Tagen quergelesen hatte, einen guten Eindruck gemacht hatten.
Dann fiel mir die spärliche Einrichtung des Büros auf. »Haben wir hier keine Whiteboards, Pinnwände und Flipcharts?«, fragte ich.
Claudia antwortete: »Hatten wir bisher nicht hier. Ist aber kein Problem. Kann ich besorgen. Wie viele brauchst du?«
»Danke, Claudia, je zwei wären toll.«
»Ist gut. Spätestens Ende Woche sind die Sachen da.«
»Und ist es möglich, eine Landkarte des Kantons an die Wand zu hängen? So gross wie möglich.«
»Darum kann ich mich kümmern«, bot Luca an.
»Super, vielen Dank!«
Den ersten Teil des Nachmittags schleppte mich mein neuer Chef kreuz und quer durch die Kantonspolizei, um mich allen vorzustellen. Baumann wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass meine Erfahrungen aus der Grossstadt sehr nützlich für die hiesige Kantonspolizei sein würden. Ausserdem versprach er allen, dass ich nach der Einarbeitung mit der Kripo-Arbeit sicher nicht voll ausgelastet wäre und die übrigen Abteilungen bei Bedarf unterstützen könnte.
Die Besuche in den einzelnen Abteilungen waren kurz, denn Baumann hatte überall bereits Termine für die nächsten Wochen abgemacht, damit ich die verschiedenen Teams und ihre Aufgaben ausführlicher kennenlernen konnte. Als wir gegen 15 Uhr wieder in sein Büro zurückkehrten, nahm er seinen Mantel und erklärte: »Holen Sie ihre Jacke. Wir haben noch Zeit, rasch einen Besuch bei der Staatsanwältin und beim Gerichtsmediziner zu machen. Wir treffen uns unten beim Empfang.«
Als ich dort ankam, stand er schon bereit. »Frau Zurkirchen haben Sie ja heute Morgen schon kennengelernt.«
»Ja genau. Lea heisst du, nicht wahr?«
Bevor sie antworten konnte, wurde sie durch einen Telefonanruf unterbrochen.
»Kantonspolizei, Zurkirchen, guten Tag… Guten Tag Frau Sonderegger, was kann ich für Sie tun? … Wie sieht er denn aus? … Ist gut, wir schicken so rasch wie möglich jemanden vorbei.«
Ohne Baumann und mich zu beachten, nahm sie Kontakt mit einer Polizeistreife auf. Nachdem sie Standort und Verfügbarkeit geklärt hatte, fragte sie: »Könnt ihr mal in der Fussgängerzone vorbei schauen? Den beiden Verkäuferinnen in der Buchhandlung ist ein Mann aufgefallen, der seit einer Stunde dort auf und ab geht. Sie sagen, er sei nicht von hier. Oder zumindest haben sie ihn noch nie gesehen. Und es wirke, als würde er etwas beobachten oder auskundschaften. Frau Sonderegger, die angerufen hat, meint, er habe es kaum auf die Buchhandlung abgesehen. Aber vielleicht auf eine der Banken, den Juwelier oder das Uhrengeschäft… Eher klein, kurze dunkle Haare, Blue Jeans, schwarze Jacke und eine braune Umhängetasche … Danke und Tschüss.«
Baumann beendete noch kurz die Vorstellung zwischen Lea Zurkirchen und mir. Dann machten wir uns auf den kurzen Weg zur Staatsanwaltschaft.
Die Staatsanwaltschaft befand sich nur zwei Fussminuten vom Polizeigebäude entfernt. Als wir vor dem Haus standen, verliess gerade eine Frau mit langen, blonden Haaren das Haus. Sie war elegant gekleidet und etwa in meinem Alter, also ungefähr Mitte dreissig.
»Hallo Thomas, was willst denn du bei uns?«, fragte sie meinen Chef.
»Guten Tag Alexandra. Eigentlich wollte ich einen Spontanbesuch bei dir machen. Ich wollte dir Markus Goldbacher vorstellen, den neuen Kripo-Chef. Er hat heute seinen ersten Arbeitstag. Aber es sieht aus, als kommen wir ungünstig…«
»Guten Tag Herr Goldbacher. Mein Name ist Alexandra Egger. Ich bin bei der Staatsanwaltschaft in der Regel für die Fälle zuständig, die bei der Kantonspolizei in Ihren Zuständigkeitsbereich fallen.«
»Guten Tag Frau Egger, freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Ich bin leider etwas unter Zeitdruck. Ich habe einen Gerichtstermin. Aber wir haben ja nächste Woche einen Termin, wo wir uns besser kennenlernen können. Da kann ich Ihnen auch erläutern, wie bei uns im Kanton alles organisiert ist. Also, bis dann. Ich wünsche Ihnen einen guten Start, Herr Goldbacher.«
»Sorry und Tschüss Thomas«, sagte sie zu Baumann gewandt und hastete davon.
Mehr Glück hatten wir beim letzten Besuch des Tages, der uns zu Norbert Sommer führte. Der grossgewachsene Gerichtsmediziner mit Glatze und Schnurrbart wirkte ausgesprochen sympathisch auf mich. Er bot mir gleich das Du an und zeigte grosses Interesse an meiner bisherigen Tätigkeit. Insbesondere interessierte er sich dafür, wie die Zusammenarbeit zwischen Kriminalpolizei und Gerichtsmedizin in dem grossen Kanton organisiert war, in dem ich bisher gearbeitet hatte.
Anschliessend erzählte uns Norbert Sommer begeistert von seinem Segelurlaub an der südtürkischen Küste, aus dem er zwei Tage zuvor zurückgekehrt war. Da mein Chef schon mehrmals in der Gegend in den Badeferien war, kam es zu einem lebhaften Gespräch zwischen Baumann und Sommer, zu dem ich wenig beitragen konnte.
Selbstverständlich enthielt mein Einführungsprogramm auch einen Termin mit Norbert Sommer. »Wenn ich mich richtig erinnere, ist der Termin übernächste Woche«, sagte Sommer beim Abschied und ergänzte schmunzelnd: »Ich hoffe, das ist dann für längere Zeit das letzte Mal, wo wir beruflich miteinander zu tun haben.«
Am Dienstagvormittag begleitete ich im Rahmen meiner Einführung eine Polizeistreife. Dominic Bader und Sarah Landolt hatten offensichtlich von Baumann den Auftrag erhalten, mir den Kanton zu zeigen. Das war problemlos in einem halben Tag machbar, denn der Kanton bestand ja nur aus dem Hauptort und rund einem Dutzend Gemeinden. Dazu beträchtliche Landwirtschaftsflächen, grosse Wälder sowie zahlreiche Hügel und Berge. Einerseits ein grosses Gebiet mit zahllosen Möglichkeiten für die Freizeitgestaltung, andererseits eine kleine Bevölkerungszahl. Selbst die Stadt hatte kaum mehr Einwohner als die grossen Quartiere meiner bisherigen Heimatstadt.
Von der Stadt fuhren wir zuerst über die Hauptstrasse nach Tellingen. Diese Strasse war die Hauptverkehrsachse vom Kantonshauptort in die grosse, weite Welt und zurück. Sie führte durch einen Tunnel hinüber ins Klingental und von dort hinunter nach Tellingen, dem Eingangstor in den Kanton.
Auf dem Rückweg nahmen wir die alte Strasse, die dem Flusslauf entlang durch mehrere Dörfer hinauf zur Stadt führte. Anschliessend fuhren wir noch weiter bergauf, jeweils ein Stück weit in die verschiedenen Täler. In diesen Tälern gab es weitere Dörfer, die ich bisher bestenfalls dem Namen nach kannte.
Unterwegs fand ich zufällig im Gespräch heraus, dass es Dominic Bader und Sarah Landolt waren, die am Vortag zur Buchhandlung in der Fussgängerzone geschickt wurden, um der Meldung über einen verdächtigen Passanten nachzugehen. »Ich habe zufällig davon gehört«, sagte ich. »Ich stand gerade bei Lea Zurkirchen als der Anruf kam. Was ist daraus geworden?«
»Wir sahen den Mann, als wir in die Fussgängerzone kamen. Aber dann ging er rasch in eine Seitengasse und als wir dort ankamen, war er verschwunden. Vielleicht täusche ich mich, aber ich glaube, er hat uns gesehen und sich deshalb aus dem Staub gemacht«, erzählte Sarah Landolt.
»Und dann?«
»Wir haben natürlich versucht, ihn zu finden, um ihn zu überprüfen. Aber leider ohne Erfolg. Wir haben dann noch die beiden Verkäuferinnen der Buchhandlung befragt, am Bahnhof und in den umliegenden Quartieren nach ihm gesucht. Aber wir haben ihn nicht mehr gesehen.«
»Wenn er wirklich etwas im Schild geführt hat, ist es uns offensichtlich gelungen, ihn abzuhalten und zu vertreiben. Schliesslich hat es bis heute Morgen keine Meldung über einen Diebstahl oder Einbruch gegeben«, ergänzte Dominic Bader. Es klang, als versuche er, den Misserfolg schönzureden.
Ich konnte seine Selbstzufriedenheit nicht teilen. Aber ich sagte nichts. Man will ja nicht schon am zweiten Arbeitstag als arroganter Besserwisser rüberkommen.
Nach der Kaffeepause fuhren die beiden Streifenpolizisten mit mir durch die Stadt. Sie zeigten mir die Orte, die aus polizeilicher Sicht die grösste Bedeutung hatten. Dazu gehörte insbesondere der Park, wo die Randständigen der Kleinstadt anzutreffen sind. Obschon die Zahl der Alkoholiker und Drogensüchtigen in der Stadt vergleichsweise klein war, kam es immer wieder zu verbalen und tätlichen Auseinandersetzungen.
Natürlich gab es auch Drogenhandel in der Stadt, allerdings in geringem Ausmass. »Das spielt sich meist nicht im Park selbst ab«, erklärte Dominic Bader, »sondern in den umliegenden Quartieren sowie beim Bahnhof. Unser Fokus ist vor allem zu verhindern, dass sich Dealer und Süchtige in den Schulanlagen oder auf Spielplätzen aufhalten.«
Die Diskussion wurde unterbrochen, weil sich Lea Zurkirchen von der Zentrale bei Dominic und Sarah erkundigte, ob ich bei ihnen sei. »Könnt ihr ihn so rasch wie möglich hier vorbei bringen?«, fragte sie. »Wir haben eine Vermisstmeldung, die etwas Ernsthaftes sein könnte.«
Als ich zehn Minuten später ins Kripo-Büro trat, war Claudia Weber gerade daran, die von Luca Bertoldi beschaffte Landkarte an die Wand zu hängen. Sie deutete stumm auf eines der beiden Befragungszimmer. Als sie meinen Blick bemerkte, sagte sie: »Ich dachte, ich hänge die Karte schon mal auf. Vielleicht brauchst du sie schneller als es dir lieb ist.«
Ich klopfte an die Tür des Besprechungszimmers. Luca trat heraus, schloss die Tür hinter sich und informierte mich kurz über den Stand: »Ivana Gobec, eine 28-jährige Coiffeuse, ist heute nicht zur Arbeit erschienen. Weil sie auch seit Tagen nicht in WhatsApp war, sind ihre Eltern und ihre beste Freundin bei ihr zu Hause vorbeigegangen. Keine Spur von ihr. Ein Nachbar hat gesehen, dass sie am Sonntagabend joggen ging. Und seither hat er sie nicht mehr gesehen. Jetzt machen sich die Eltern und die beste Freundin Sorgen und sind hierher gekommen. Ich habe schon beim Kantonsspital nachgefragt. Dort ist sie nicht.«
Zusammen mit Luca betrat ich das Besprechungszimmer. »Das ist Kommissar Goldbacher, der Leiter der Kriminalpolizei«, stellte mich Luca vor. »Und das sind Herr und Frau Gobec, die Eltern, und Frau Macarro, die beste Freundin von Ivana Gobec.«
Ich begrüsste alle und fragte nach den letzten Kontakten mit der Vermissten. Bei den Eltern war es ein Telefongespräch, das schon eine Woche zurücklag. Sie erklärten mir, dass ihre Tochter etwa einmal pro Monat vorbei komme und alle ein bis zwei Wochen anrufe. Angela Macarro hatte Ivana am Samstag gesehen: »Wir haben uns am Nachmittag zum Shoppen und Kaffee trinken getroffen. Am Sonntag haben wir noch ein paar WhatsApp hin und her geschickt.«
»Und seither?«
»Nichts mehr! Das ist sonderbar. Normalerweise haben wir jeden Tag Kontakt. Eigentlich hätte ich früher bemerken müssen, dass etwas nicht stimmt. Aber dummerweise ist mir am Montag das Handy runtergefallen. Ich habe es zur Reparatur gebracht und erst heute auf dem Weg zur Arbeit wieder abgeholt. Deshalb habe ich erst gemerkt, dass sie seit Sonntag nicht in WhatsApp und Facebook war, als mich Sandra Casellini heute Vormittag angerufen hat. Ich habe dann die Eltern von Ivana angerufen.«
»Sandra Casellini…«
»… ist eine Arbeitskollegin von Ivana. Als Ivana heute nicht zur Arbeit kam und auf dem Handy nicht erreichbar war, hat sie mich angerufen, weil sie weiss, dass ich engen Kontakt mit Ivana habe.«
»Hat Ivana einen Freund?«
»Im Moment nicht. Sie hatte einen, aber der hat sie vor etwa drei Monaten verlassen.«
»Geschwister oder andere Personen, zu denen sie engen Kontakt hat?«, wandte ich mich an die Eltern.
Die Mutter begann zu weinen und der Vater erklärte: »Ivana hatte einen älteren Bruder. Aber er ist schon als kleiner Junge gestorben. Er wurde im Kroatienkrieg von Bombensplittern getroffen. Danach sind wir mit Ivana in die Schweiz geflohen.«
»Kann es sein, dass sie spontan für ein paar Tage irgendwo hingefahren ist, ohne jemandem etwas zu sagen?«
»Glaube ich nicht«, sagte Angela Macarro kopfschüttelnd, »das ist nicht ihre Art. Und wenn, hätte sie sicher das Handy mitgenommen.«
»Sind Sie sicher, dass Ivana das Handy nicht bei sich hat?«
»Ja, wir haben es in ihrer Wohnung gesehen.«
»Sie waren in Ivanas Wohnung?«
»Ja, vorhin, zusammen mit Herrn und Frau Gobec. Sie haben einen Schlüssel zur Wohnung. Wir haben uns dort getroffen, in der Wohnung nach Ivana gesucht und dann noch mit dem Nachbarn gesprochen.«
»Mein Kollege hat mir gesagt, dass der Nachbar gesehen hat, dass sie joggen ging. Geht Ivana häufig joggen?«
»Oh ja, mindestens drei Mal pro Woche. Und fast jeden Tag ins Fitness. Sie ist eine richtige Sportskanone.«
»Und wo joggt sie? Hat sie eine Standard-Laufstrecke?«
»Nein, sie braucht Abwechslung. Immer andere Strecken, einmal kurz, einmal lang, manchmal flach und dann wieder eine Strecke, die viel bergauf und bergab geht.«
»Gehen Sie manchmal mit ihr joggen?«
»Oh nein! Ich habe das vor ein paar Jahren mal probiert, aber erstens läuft Ivana viel schneller als ich und zweitens ist Joggen nicht so mein Ding. Ich bin mehr die Tänzerin als die Läuferin.«
Wir notierten uns die Adresse von Ivana Gobec, den Namen des Nachbarn und den Arbeitsort der Vermissten. Ausserdem liessen wir uns einige Fotos von Ivana geben, welche die Eltern und Angela Macarro auf ihren Handys gespeichert hatten. Die Bilder zeigten eine attraktive Frau mit langen schwarzen Haaren. Aufgrund der Bilder hätte ich sie eher ein paar Jahre jünger als 28 geschätzt. Auffallend auf den Fotos war auch der moderne, elegante Kleidungsstil, der einen starken Kontrast zum Erscheinungsbild ihrer Eltern bildete.
Die Eltern überliessen uns den Wohnungsschlüssel. Ich bat die drei, uns sofort Bescheid zu geben, falls sie etwas von Ivana hören würden, und verabschiedete sie mit dem Versprechen, alles zu tun, um Ivana rasch zu finden.
Eigentlich wäre nun Zeit fürs Mittagessen gewesen. Stattdessen setzte ich mich mit Luca und Claudia zusammen, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
»Luca, du gehst beim Coiffeursalon vorbei, wo Ivana arbeitet. Sprich mit der Chefin und den Arbeitskolleginnen. Frag auch nach Kundinnen, die Ivana näher kennen. Und du, Claudia, kommst mit mir zur Wohnung. Vielleicht finden wir dort Hinweise. Anschliessend treffen wir uns wieder hier.«