Stadt des Zorns - Marc Meller - E-Book
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Marc Meller

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Beschreibung

Spiel um dein Leben – im größten Escape-Room der Welt Er nennt sich Janus und hat alles perfekt geplant: Blockierte Straßen und Schienen, eine Stadt im Chaos, Menschen in Todesangst. Aber was aussieht wie ein Anschlag, ist in Wirklichkeit ein Spiel. Und du hast nur eine Chance zu überleben: Du musst besser sein als er, seinen Fallstricken ausweichen und alle Rätsel lösen, um von einem Raum in den nächsten gelangen. Denn Janus hat ein Meisterwerk geschaffen: eine ganze Stadt als Todesfalle. Hannah weiß, was das bedeutet, sie hat als Einzige Janus' letztes Exit-Game überlebt. Hauptkommissar Kappler versucht, Hannah zu retten und den Killer zu stoppen. Doch das Spiel, das in den Katakomben der Stadt beginnt, übersteigt ihre schlimmsten Alpträume ...

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Stadt des Zorns

Der Autor

MARC MELLER ist das Pseudonym eines erfolgreichen Roman- und Drehbuchautors. Am liebsten schreibt er Thriller, in denen das Thema »Angst« in all seinen Ausformungen eine zentrale Rolle spielt. Marc Meller lebt in Köln und Hannover.   Von Marc Meller ist bereits in unserem Hause erschienen:Raum der Angst – Ein Escape-Room-Thriller

Das Buch

Spiel um dein Leben – im größten Escape-Room der WeltEr nennt sich Janus und hat alles perfekt geplant: Blockierte Straßen und Schienen, eine Stadt im Chaos, Menschen in Todesangst. Aber was aussieht wie ein Anschlag, ist in Wirklichkeit ein Spiel. Und du hast nur eine Chance zu überleben: Du musst besser sein als er, seinen Fallstricken ausweichen und alle Rätsel lösen, um von einem Raum in den nächsten gelangen. Denn Janus hat ein Meisterwerk geschaffen: eine ganze Stadt als Todesfalle. Hannah weiß, was das bedeutet, sie hat als Einzige Janus' letztes Exit-Game überlebt. Hauptkommissar Kappler versucht, Hannah zu retten und den Killer zu stoppen. Doch das Spiel, das in den Katakomben der Stadt beginnt, übersteigt ihre schlimmsten Alpträume ...

Marc Meller

Stadt des Zorns

Thriller

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage Oktober 2021 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: plainpicture / © Christian Diehl (Treppe) Umschlagsinnenmotiv: getty images / © SchroptschopAutorenfoto: © Celina FieneE-Book powered by pepyrus.com ISBN 978-3-548-2611-5

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

KAPITEL 48

KAPITEL 49

KAPITEL 50

KAPITEL 51

KAPITEL 52

KAPITEL 53

KAPITEL 54

KAPITEL 55

KAPITEL 56

KAPITEL 57

DANKSAGUNG

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

KAPITEL 1

KAPITEL 1

Ein weiterer Tropfen löste sich von den rostroten, teils brüchigen Backsteinen. Kondenswasser, wie es sich an solchen Orten nun mal bildete. Der Tropfen fiel herab und zersprang beim Aufprall auf den weißen Helm in unzählige kleine Partikel.

Dirk Meier nahm keine Notiz davon. Den Blick auf die in Plastik eingeschweißte Karte gerichtet, schritt er voran, sah kurz auf. Der Strahl seiner Helmlampe zerteilte die matte Dunkelheit. Es war nebelig in dem Tunnel, der Boden nass und glitschig. Hinter ihm ging sein Kollege Jens Radke, er war etwas jünger, kam frisch von der Fachhochschule, wo er Versorgungstechnik studiert hatte. Meier dagegen gehörte zur »Alten Schule«, wie man so schön sagte. Den Beruf von der Pike auf gelernt, zweiter Bildungsweg, Abendschule. Es gab in dieser Stadt kaum jemanden, der die Unterwelt so gut kannte wie er. Die Karte in seiner Hand versicherte ihm, wo sie waren, und vor allem: was sich genau über ihnen befand.

»Es gibt doch auch noch Tunnel aus der Römerzeit, oder? Ich war noch nie in so einem«, sagte Radke.

»Da sind ja auch noch höchstens hundert Meter von übrig. Und der Tunnel dient nur noch den Touristen.«

»Unglaublich, oder? Wenn man sich das mal vorstellt. Die Römer hatten bereits eine Kanalisation, und im Mittelalter haben sie die Scheiße auf die Straße gekippt.«

»Tja, wat willste machen«, sagte Meier in breitem Kölsch. »So ist der Jeck. Vergisst gerne mal die eine oder andere Errungenschaft.« Meier wechselte wieder ins Hochdeutsche. »Um 1880 herum, als die Stadt sich immer weiter ausbreitete, haben die dann mal angefangen, eine Kanalisation zu bauen.«

Meier schaute nach oben zur Decke. Der Strahl der Helmlampe tastete das halbrunde Gewölbe über ihm ab. Sie befanden sich in einem sogenannten Entlastungstunnel, der über drei Meter Deckenhöhe hatte. Er diente dazu, bei starken Niederschlägen die Wassermassen abzuführen und in den Rhein zu leiten. Wenn dies geschah, war der Tunnel bis zur Decke mit Wasser geflutet. Jeder, der sich dann hier aufhielte, wäre verloren. Die Steine, rötlich braun gefärbt und zum Teil mit Moos und Schimmel überwuchert, bildeten eine unebene Fläche. Sooft Meier auch schon hier gewesen war, die Welt im Untergrund faszinierte ihn jedes Mal. Das Kanalsystem hatte sich im Laufe von hundertfünfzig Jahren wie ein Spinnennetz unter der Stadt ausgebreitet.

Meier sah wieder auf die Karte, um sich zu vergewissern, dass sie die richtige Stelle erreicht hatten. Direkt über ihnen schaufelten mehrere Bagger ein tiefes Loch für das Fundament eines neuen Bürogebäudes. Statiker hatten berechnet, dass der Bau dem Tunnel nichts anhaben konnte. Trotzdem, die Kanalisation war zu wichtig, als dass man sie allein den Bauingenieuren überlassen durfte. Hier war eine Expertenmeinung gefragt, und Meier war der Experte.

Er nahm seine schwarze Maglite-Taschenlampe vom Gürtel, schaltete sie ein. Der grelle Strahl, hundertmal stärker als das Licht der Helmlampe, leuchtete in die Tiefen des Tunnels hinein und wurde von der vernebelten Luft reflektiert. Es sah alles gut aus – mit dem bloßen Auge betrachtet. Jens Radke prüfte mit einem Laserentfernungsmesser von einigen Stellen aus die Deckenhöhe. Es schien wirklich alles in Ordnung zu sein.

Da rümpfte der junge Kollege die Nase. »Riechst du das auch?«

Meier schaute ihn fragend an. Im Laufe der Jahre hatte er sich zu sehr an den modrigen Geruch, manchmal nach Fäulnis, gewöhnt. Aber der Kollege hatte recht, es roch noch nach etwas anderem, leicht süßlich. Meier kannte auch diesen Geruch. Er leuchtete wieder mit der Taschenlampe in den Tunnel. Radke nahm ebenfalls seine Maglite vom Gürtel und richtete den Strahl in die entgegengesetzte Richtung, aus der sie gekommen waren. »Womöglich Ratten«, dachte er laut. »Hier verwest doch so einiges, oder?«

Verwesung. Genau danach roch es. Meier ging ein paar Schritte weiter, langsam, den Strahl in den Tunnel gerichtet. Es kam ihm vor, als versuche er, mit Fernlicht durch eine Nebelwand zu schauen. Man konnte nie so genau sehen, was sich dahinter befand. Schritt für Schritt bewegte er sich vorwärts. Aber es war nichts zu erkennen, was seine besondere Aufmerksamkeit erfordert hätte. Keine Ratten. Kein Unrat. Nur wenig Schlamm.

Meier wollte die Suche beenden, als der Strahl der Taschenlampe etwas erfasste. Auf dem Boden, etwa zwanzig Meter entfernt, was war da? Meier konnte es nicht erkennen, also ging er darauf zu.

Und erstarrte.

»Was ist da?«, rief sein junger Kollege, der ihm bis jetzt nicht gefolgt war, aber nun näher kam.

»Bleib, wo du bist«, stieß Meier aus.

»Wieso?« Radke hielt sich nicht an die Anweisung. Meier hörte hinter sich, wie Füße durch eine Pfütze wateten.

»Bleib da«, schrie Meier laut, ohne sich umzudrehen.

Die Schritte hinter ihm verstummten.

Meier starrte vor sich auf den Boden. Dort lagen die sterblichen Überreste eines Menschen. Eindeutig. Schneeweiße Haut hatte das Licht der Taschenlampe reflektiert. Aus den seltsam verschränkten Beinen traten Knochen hervor. Offene Brüche. Der Oberkörper des Toten war mit Stich- und Schnittwunden übersät, die Kleidung regelrecht zerfetzt. Kein Blut, das war längst versickert. Die Leiche lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bauch. Trotzdem war zu erkennen, dass es ein Mann war, mit längeren ergrauten Haaren. Die Finger weit gespreizt, als ob sie sich an den Steinen festkrallten, die Nägel waren abgebrochen. Im Todeskampf schien er mit letzter Kraft versucht zu haben, über den Boden zu robben. Vielleicht, um seinem Mörder zu entkommen. Zwecklos. Der hatte ihm eine Metallstange, ein Moniereisen vom Betonbau, in den Rücken gerammt und ihn damit am Boden fixiert.

Meier schaltete die Taschenlampe aus, um sich von dem furchtbaren Anblick loszureißen. Er schnappte nach Luft, taumelte ein paar Schritte rückwärts, bevor er sich umdrehte und in die entsetzten Augen seines Kollegen sah. Radke war noch ein paar Meter näher gekommen, um zu sehen, was da lag.

»Oh Gott«, entwich es ihm. Er drehte sich ruckartig um und erbrach sich auf den Boden. Radke hustete, stützte sich an der Wand ab.

»Lass uns von hier verschwinden«, sagte Meier und versuchte, seine Stimme nicht panisch klingen zu lassen. Er nahm sein Handy aus der Tasche, sah auf das Display. Fünfundzwanzig Meter Erdschicht über ihnen ließen kein Funksignal durchdringen. Oder doch? Meier griff an seinen Gürtel, nahm das Walkie-Talkie an den Mund: »Stewo eins von Stewo zwölf, kommen.«

Das Funkgerät blieb stumm.

Radke hatte sich etwas erholt von dem Schock. Meier gab ihm per Handzeichen zu verstehen, dass er sich in Bewegung setzen sollte. Sie gingen los, marschierten durch den Tunnel, viel schneller, als sie gekommen waren. Radke stolperte, fiel aber nicht hin.

»Pass auf, verdammt!«, fauchte Meier ihn an. »Schau auf den Boden.«

Es schien, als ob Radke taumelte – wie ein Betrunkener. Das Adrenalin war schuld, die Angst.

»Stewo eins von Stewo zwölf, kommen«, blaffte Meier ins Funkgerät. Seine Stimme überschlug sich beinahe. Aber es blieb still, keine Antwort. Nur das Knacken beim wiederholten Betätigen des Schalters. Durch dieses Gewölbe drang nichts, kein Schall, keine Funkwellen. Sie waren abgeschnitten vom Rest der Welt.

Meier konnte nicht sagen, wie oft in seinem Leben er schon durch diesen Tunnel gegangen war. Aber noch nie hatte er Angst gehabt. Jetzt zitterte seine Hand, in der er das Funkgerät hielt, und er musste aufpassen, es nicht fallen zu lassen. Meier war darum bemüht, sich nichts anmerken lassen, er wollte den jungen Kollegen nicht noch mehr verunsichern. Der alte Hase im Team fühlte sich wie der Kapitän in einem Flugzeug, das in heftige Turbulenzen geraten war, und jetzt ging er durch die Sitzreihen und musste so tun, als wäre nichts. Immer lächeln.

Meier nahm wieder das Funkgerät an den Mund. »Stewo eins, kommen. Verdammt noch mal!«

Immer noch kein Kontakt.

Er watete durch eine Pfütze, den Blick stur geradeaus gerichtet, immer und immer wieder setzte er einen Notruf ab.

Plötzlich ertönte etwas. Es klang wie ein Gongschlag.

Meier blieb abrupt stehen, drehte sich zu Radke um.

Der junge Kollege sah ihn fragend an. »Was war das denn?«

Die Schallwellen hallten immer noch nach. Bis zum nächsten Gongschlag. Wie in einem buddhistischen Kloster, dachte Meier.

Er überlegte. Es musste vom Kronleuchtersaal kommen, der lag nicht mehr weit entfernt. Es fanden im Moment keine Führungen oder Veranstaltungen statt. Oder doch? Meier war sich nicht sicher, das beruhigte ihn ein wenig. Womöglich wurde gerade ein Konzert vorbereitet.

»Weiter«, sagte er mit zittriger Stimme und ging voraus.

Im Kronleuchtersaal, der zu Ehren des letzten deutschen Kaisers Wilhelm des Zweiten hergerichtet worden war, gab es ein Telefon. Seit hundertdreißig Jahren. Ein alter Apparat mit riesiger Wählscheibe und einem uralten Kabel, das nach oben führte, an die Oberfläche.

Wieder ertönte ein Gongschlag.

Das Licht, das vom Kronleuchtersaal in den Entlastungstunnel fiel, wurde heller. Nur noch eine Metalltreppe trennte sie von dort. Meier betrat die erste Stufe, ging nach oben, der Kronleuchter, der an der Decke hing, verbreitete helles Licht. Erst in den 1990er-Jahren war er elektrifiziert worden. Bis dahin hatten ihn sechs Kerzen geschmückt. Der Raum erfüllte den gleichen Zweck wie der Stollen. Er war dazu da, große Regenmengen aufzunehmen, um sie durch die Kanalisation abzuleiten. Heutzutage fanden hier Veranstaltungen statt, Konzerte oder exklusive Feiern, wenn es keinen Starkregen gab. Denn dann wurde der Tunnel nicht gebraucht.

Meier erreichte das Ende der Metalltreppe. Inmitten des backsteinernen Gewölbes stand der Gong. Er pendelte noch langsam hin und her, gab leise Schwingungen von sich. Unweit des Gongs stand ein korpulenter Mann, mit dem Rücken zu ihnen. Er ließ den Klöppel in seiner rechten Hand schwingen. Der Fremde war etwa eins neunzig groß, schätzte Meier, und trug einen schwarzen Anzug in Übergröße. Seine grauen Haare waren schulterlang, und er schien tief in Gedanken versunken zu sein, reagierte nicht auf die beiden Ankömmlinge.

»Hey!«, blaffte Meier ihn an. »Wer sind Sie? Und was tun Sie hier?«

Meier wartete die Antwort nicht ab, ging zu dem über hundert Jahre alten Telefon an der Wand, das durch ein dickes Kabel mit der Außenwelt verbunden war.

Der Anzugträger reagierte noch immer nicht, schwang nur den Klöppel in seiner rechten Hand.

Meier hob den schweren Hörer von der Gabel, drehte mit dem Finger an der Wählscheibe. Außer dem Rasseln der Mechanik war kein Geräusch zu vernehmen. Kein Ton drang aus dem Hörer.

Meier drückte die Gabel mehrmals herunter. Nichts. Er schmetterte den Hörer wütend auf die Gabel, griff zu seinem Funkgerät, das er wieder an den Gürtel gesteckt hatte. Meier war zu hektisch, das Funkgerät fiel ihm aus der Hand auf den Boden. Der Akku sprang ab. Meier bückte sich, hob die Einzelteile auf, fügte sie wieder zusammen. Allmählich ergriff ihn Panik, er wusste, dass hier etwas ganz gehörig falsch lief.

Endlich. Er hatte das Funkgerät wieder zusammengebaut.

Da ertönte ein erneuter Gongschlag.

»Monsieur«, ertönte die sonore Stimme des Mannes, der sich umgedreht hatte. »Würden Sie das bitte unterlassen.«

Meier erstarrte. Er sah in die Mündung einer Pistole, die sein Gegenüber in der linken Hand hielt. Von hinten hatte Meier den Mann älter geschätzt. Sein Gesicht wirkte jedoch wie das eines Dreißigjährigen, er hatte ein Doppelkinn und zwischen seinen verfetteten Wangen eine kleine Stupsnase. Die Haare waren ergraut, ordentlich nach hinten frisiert, und er trug eine randlose Brille. Wenn er keine Waffe in der Hand hielte, hätte Meier geglaubt, es mit einem Musiker zu tun zu haben, Cello oder Kontrabass.

Die Pistole in seiner fleischigen Hand wirkte relativ klein, aber groß genug, um jemanden damit zu töten.

Der Kollege Radke war zur Salzsäule erstarrt. Jetzt richtete der Mann den Lauf der Pistole auf ihn.

»Lassen Sie das Funkgerät fallen«, sagte der Mann in ruhigem, aber ebenso bestimmendem Tonfall. »Sonst erschieße ich Ihren Kollegen.«

Meier ließ los. Erneut krachte das Funkgerät auf den Boden, und der Akku sprang ab. Im selben Moment ertönte der ohrenbetäubende Mündungsknall und hallte von den Wänden wider. Die Wucht des Projektils riss Jens Radke von den Beinen. Meier vernahm nur noch ein hochfrequentes Piepen im Ohr. Der Mann wirkte völlig unbeeindruckt von dem, was er getan hatte, als wäre er für die Folgen seines Handelns gar nicht verantwortlich.

Radke lag auf dem Boden, krümmte sich vor Schmerz und versuchte, den Oberkörper wieder aufzurichten. Dabei streckte er flehend den rechten Arm nach seinem Kollegen aus. Die andere Hand bedeckte die Brust. Blut quoll zwischen den Fingern hervor. Sehr viel Blut. Die Arbeitskleidung war tiefrot durchnässt.

Meier war unfähig, sich zu bewegen. Seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr, er war paralysiert. Er wusste, dass es keine Rettung für den jungen Kollegen gab. Die Kugel hatte ihn in die Brust getroffen, dort sicherlich größere Blutgefäße zerfetzt.

Aber was … was wird aus mir, dachte Meier. Würde er diese Begegnung mit dem Fremden überleben?

Der eiskalte Mörder seines Kollegen ließ den Lauf der Pistole in Richtung Boden sinken, lächelte Meier an, als ob er die Gedanken seines Opfers lesen könnte.

Das Piepen in den Ohren ließ allmählich nach. Jetzt konnte Meier das Röcheln seines Kollegen hören. Radke schien an seinem eigenen Blut zu ersticken. Seine Atemgeräusche wurden leiser, noch leiser. Ein letzter Schwall Blut schoss aus seinem Mund, dann fiel der Kopf nach hinten, das Röcheln verstummte. Der ausgestreckte Arm plumpste auf den Boden.

Jens Radke hinterließ eine Frau, ein kleines Kind und einen Stiefsohn, den sie mit in die Ehe gebracht hatte. Meier konnte es nicht fassen. Wieso? Er sah zu dem Mann, der immer noch die Pistole in der Hand hielt und auf den Boden richtete.

»Warum?«, stammelte Meier. »Warum … tun Sie so etwas? Was haben wir Ihnen getan?«

Der Mann räusperte sich. »Ich heiße Janus.«

Einige Sekunden lang wusste Meier mit dem Namen nichts anzufangen. Doch dann bahnte sich die Erinnerung den Weg durch seine Gehirnwindungen. Janus. Erst jetzt realisierte Meier, dass an der rechten Hand des Mannes ein Finger fehlte, der Zeigefinger. Deshalb hielt er die Mordwaffe in der linken. Der rechte Zeigefinger war oberhalb des ersten Gliedes abgetrennt worden.

Meier wusste schlagartig, wen er vor sich hatte. Auch wenn Janus auf den Fotos, sowohl in der Zeitung als auch im Fernsehen, ganz anders ausgesehen hatte.

»Ich heiße Janus«, wiederholte der Mann mit einem zarten Lächeln auf den Lippen. »Ich möchte ein Spiel spielen. Und dazu brauche ich Ihre Hilfe.«

KAPITEL 2

Hannah starrte gedankenverloren aus dem Fenster und spiegelte sich in der getönten Scheibe. Dahinter zogen Industriegebäude vorbei, teils modern, teils in die Jahre gekommen, dazwischen ein chaotisches Geflecht aus bunten Rohrleitungen. Aus einigen Ventilen entwich weißer Nebel, der sich beim Aufsteigen in der kalten Luft auflöste.

Der ICE, in dem Hannah saß, fuhr mitten durch ein Chemiewerk hindurch. Sie stellte sich vor, wie es dort riechen würde. Nach Lösungsmitteln, Chemikalien. Sie bekam davon nichts mit, die Filter der Klimaanlage funktionierten. Das Chemiewerk war aufgebaut wie eine kleine Stadt, die Gebäude durch asphaltierte Straßen voneinander getrennt. Autos und Fahrradfahrer. Menschen in Arbeitskleidung überquerten Zebrastreifen, Ampeln gab es nicht. Am meisten faszinierte Hannah das Geflecht von verschiedenfarbigen Rohrleitungen, gelb, braun, grau – jede Farbe stand wohl für eine andere Flüssigkeit oder ein Gas, das darin transportiert wurde. Die Rohrleitungen verbanden die Gebäude miteinander, und das ganze System war verwirrend. Ein Spiegelbild von Hannahs momentanem Gefühlszustand. Nervosität, Schmerz, Unruhe. In Hannah hatte sich eine Menge Druck aufgestaut, ihre Ventile funktionierten nicht mehr so gut.

Hannah war von Hannover aus auf dem Weg nach Köln. Ihre vier Jahre ältere Schwester Valerie wohnte dort mit ihrem Mann. Anders als Hannah machte sich Valerie seit jeher kaum Gedanken über die Zukunft oder überhaupt darüber, was im Leben alles passieren könnte. Das Schicksal sei sowieso gnadenlos, lautete ihr Credo. Hannah hatte eine schwere Zeit hinter sich und versuchte, sie noch weiter hinter sich zu lassen. Valerie würde eine große Hilfe dabei sein, ihre unbekümmerte Art färbte meist auf Hannah ab.

Der Zug hatte das Chemiewerk durchquert und fuhr über ein Autobahnkreuz hinweg, lieferte sich ein kurzes Rennen mit der Schwebebahn, dem Wahrzeichen Wuppertals. Dann folgten Felder und Wiesen. Bauern bei der Arbeit. Hannahs Blick verharrte stur auf einem imaginären Punkt in weiter Ferne. Sie hatte sich zu viel zugemutet. Zumindest unmittelbar nach den traumatischen Erlebnissen vor neun Monaten. Vor neun Monaten war es ihr gelungen, aus eigener Kraft einem gefährlichen Psychopathen zu entkommen. Er hatte sie entführt, gefangen gehalten und zu einem Spiel gezwungen – in einem Escape-Room, zusammen mit sieben weiteren Personen, von denen fünf das Spiel nicht überlebten. Die Medien hatten dieser abscheulichen Tat einen Titel verliehen: »Das Massaker von Marienburg«.

Zu schnell sei Hannah ins normale Leben zurückgekehrt, hatten ihr nicht nur Freunde gesagt, sondern auch ihre Therapeutin. Hinzu kam, dass der Psychopath entkommen konnte, immer noch auf der Flucht war. Es bestand die Gefahr, dass er erneut den Kontakt zu ihr suchen würde. Janus – wie er sich selbst nannte – war abgetaucht, in Hannahs Kopf blieb er allgegenwärtig.

»Guten Tag«, ertönte eine Frauenstimme neben ihr. Im Gang stand eine junge Zugbegleiterin in Uniform. Die Augen der Frau verrieten, dass sie wenig geschlafen hatte, was sie aber nicht daran hinderte, freundlich zu lächeln.

»Schichtwechsel«, sagte sie. »Dürfte ich noch mal Ihre Fahrkarte sehen?«

Hannah kramte das Papier aus der Jackentasche und reichte es ihr. Die Kontrolleurin schaute kurz darauf, dann verzog sie das Gesicht, sah Hannah fragend an. »Was machen Sie hier? Das ist ein Ticket für die erste Klasse.«

»Passt schon«, sagte Hannah.

»Wie Sie wollen. Hier wird keiner zu seinem Glück gezwungen.«

Die Kontrolleurin gab das Ticket zurück und ging weiter. Der Großraumwaggon in der zweiten Klasse war höchstens zu einem Drittel gefüllt. Hannahs Schwester Valerie hatte das Ticket gekauft und bezahlt. Erste Klasse, Sitzplatz mit Zweiertisch am Fenster. »Vielleicht sitzt dir ja ein netter Mann gegenüber«, hatte sie gewitzelt. Ihre Schwester sähe es gern, wenn Hannah wieder eine breite Schulter zum Anlehnen finden würde.

Erste Klasse. Valerie legte viel Wert auf Luxus. Sie hatte sich den passenden Ehemann dazu ausgesucht. Tobias Uhlenbrock verdiente viel und war wenig daheim. Als Topmanager in der Pharmaindustrie jettete er permanent durch die Weltgeschichte. Das halte die Ehe am Leben, behauptete Valerie gerne. Wenn die beiden sich sähen, flamme die Leidenschaft auf. In der Zeit der Trennung frage keiner so genau, wie der andere sein Leben gestaltete.

Hannah spiegelte sich in der Scheibe, als sie durch einen Tunnel fuhren. In letzter Zeit hatte sie die Neigung, sich selbst zu analysieren. Immerhin studierte sie ja Psychologie. Nur im Moment nicht. Die Universität hatte ihr ein Jahr Auszeit gewährt, zwei Semester. Die Geschehnisse Anfang des Jahres rechtfertigten dies allemal.

Warum fahre ich zweiter Klasse, dachte Hannah, während sie ihr Spiegelbild betrachtete. Es war kein Versehen gewesen, sie hatte vor dem Einsteigen aufs Ticket geschaut.

Stiller Protest gegen die Affektiertheit ihrer Schwester? Snobismus war Hannah stets fremd gewesen. Trotzdem: Warum verzichtete sie auf eine Dienstleistung, die Valerie bezahlt hatte?

Hannah gab sich mit der einfachsten aller Erklärungen zufrieden: weil sie den Gesichtsausdruck ihrer Schwester genoss, wenn sie aus dem falschen Waggon ausstieg.

Valerie hatte eine besondere Art, ihre Mundwinkel zu verziehen. Sie hob immer nur die eine Seite an, die linke. Valerie stand auf dem Bahnsteig, dort, wo laut Wagenstandsanzeiger die Waggons der ersten Klasse hielten. Ihr Kopfschütteln drückte Unverständnis aus. Mal wieder. Bosco, der Golden Retriever, den sie an der Leine hielt, war ganz aufgeregt, Hannah wiederzusehen.

»Wieso zahle ich so viel für dein Ticket, wenn du es nicht nutzt?«

Hannah grinste. »Weil du es dir leisten kannst.«

Die beiden umarmten sich herzlich, wobei Hannahs Crossbody-Tasche, die über dem Bauch hing, etwas im Weg war. Sie schob sie zur Seite. Mit Handtaschen hatte es Hannah nicht so, die Flexbag lag eng am Körper an und war beinahe diebstahlsicher. Hannah löste sich von ihrer Schwester und kniete sich hin, um Bosco zu knuddeln.

Valerie musterte die Kleidung ihrer Schwester. »Gibt es in Hannover nur noch Secondhandläden?«

Hannah grinste. »Danke. Du siehst auch gut aus.«

»Ich meine es ernst. Morgen gehen wir beide erst mal shoppen.«

Hannah sah an sich herab. »Was passt dir denn nicht?«

Sie trug eine verwaschene Jeans mit Löchern, ein Levis-Sweatshirt mit abblätterndem Aufdruck und ihre Jacke, zugegeben, die könnte wirklich aus dem Secondhandladen stammen. Ein grüner Parka aus alten Armeebeständen.

»Und was ist das für eine Tasche?« Valerie verzog wieder den Mundwinkel, diesmal leicht verächtlich. »Du siehst aus wie ein Tourist auf Malle.«

»Mir gefällt sie«, sagte Hannah. Sie verschwieg, warum sie diese Tasche mitgenommen hatte und keine andere.

Bosco bellte sein Frauchen einmal an, er wollte los.

Die beiden setzten sich in Bewegung, Bosco ging vorneweg. Hannah zog ihren Rollkoffer hinter sich her. Es war viel los auf dem Bahnsteig. Freitagnachmittag, die Leute wollten nach Hause, und die meisten Züge hatten Verspätung. Eine Durchsage folgte auf die nächste.

Hannah musste innerlich schmunzeln wegen der Bemerkung über das Outfit. Ihre Schwester liebte extravagante Kleidung, deren Wert man auf den ersten Blick sah, auch wenn kein Preisschild dranhing. Sie arbeitete als Galeristin, so stand es auf ihrer Visitenkarte. Ihre Ausstellungsräume waren allerdings meistens geschlossen. Wann sie das letzte Mal ein Bild verkauft hatte, wusste niemand.

Heute, nur um ihre Schwester vom Bahnhof abzuholen, trug Valerie eine weiße Stoffhose im Marlene-Dietrich-Stil, der Jahreszeit angepasst einen Pullover in derselben Farbe und darüber eine dunkelblaue Lederjacke im Bikerstyle. Ihre ebenfalls dunkelblauen Manolo Blahnik erzeugten ein charakteristisches Klackern auf dem Steinboden.

»Ich habe einiges fürs Wochenende geplant«, schnatterte sie los. »Es gibt drei neue Restaurants, die du noch nicht kennst. Ich habe zur Auswahl: französische Küche, natürlich einen Italiener und …«

Hannah schnitt ihr das Wort ab. »Lass mich bitte erst mal ankommen.«

»Na klar. Ich dachte, du bist schon hier. Was ist los?«

Valerie ging immer davon aus, dass, wenn man ihr Geschnatter unterbrach, irgendwas los sein musste.

Hannah ging nicht auf die Frage ein. »Ist Tobias wieder unterwegs?«

»Ja. Tokio.« Jetzt wechselte sie schnell das Thema. »Für morgen habe ich geplant, dass wir shoppen gehen und am Mittag in einem Weinlokal ein Häppchen essen. Auch da ist der Tisch schon reserviert. Bosco können wir bei der Nachbarin abgeben.«

»Der arme Hund.«

Valerie lachte. »Er ist gerne dort.«

Hannah fand, dass ihre Schwester eigentlich viel zu egoistisch war, um einen Hund zu halten, der noch dazu viel Auslauf brauchte. Aber sie hatte zum Glück mehrere nette Nachbarn, die Bosco liebten und sich freuten, ihm zeitweise Asyl zu gewähren.

Hannah überlegte, was Valerie gerade gesagt hatte. »Was heißt, da ist ›auch‹ ein Tisch reserviert?«

»Ich habe in allen drei Restaurants angerufen. Du hast also die freie Auswahl.«

Jetzt verzog Hannah die Mundwinkel. Ihr gefiel so etwas nicht. Andere Gäste bekämen ihretwegen keinen Tisch, weil Valerie sich alle Möglichkeiten offenhielt. Hannah kannte ihre Schwester aber gut genug, um zu wissen, dass jegliche Diskussion darüber zwecklos wäre.

Sie traten auf die Rolltreppe, die abwärtsfuhr, wobei Valerie achtgeben musste, dass ihre schmalen Absätze nicht in den Rillen stecken blieben. Sie wippte auf den Fußballen, bis sie unten waren.

Auf dem Weg zum Parkhaus fielen Hannah die Monitore ins Auge, die in der Ladenpassage des Bahnhofs verteilt waren. Meistens wurden Werbebotschaften gesendet, die Bilder wechselten ständig. Jetzt waren Fotos von zwei Männern zu sehen und darunter das Logo der Kölner Polizei. Es sah auf den ersten Blick wie ein Fahndungsaufruf aus, aber dann las Hannah, was darunter stand: Die Polizei bat um Mithilfe. Die beiden Männer, die auf den Fotos zu sehen waren, galten seit drei Tagen als vermisst.

Hannah blieb kurz stehen, um besser lesen zu können, aber schon wechselte das Bild wieder, und eine Frau in Dessous warb für eine bekannte Modemarke.

»Was ist?« Valerie hatte keine Notiz von den beiden Vermissten genommen und sah ihre Schwester vor der Werbebotschaft für Dessous. »Ich kenne einen Laden, wo es die Dinger gibt. Für wen brauchst du denn so was?«

Hannah erwiderte nichts darauf. Sie setzten ihren Weg durch den Bahnhof fort.

KAPITEL 3

Von irgendwoher drang die Stimme von Bette Midler in den Raum, sie sang »The Rose«. Ein trauriges Lied über die Liebe. Der Finger lag sauber abgetrennt vor Hannah auf dem glänzenden Metalltisch. Ein Chirurg hätte es wohl kaum besser hingekriegt, dachte Hannah. Haut und Sehnen waren sauber durchtrennt, lediglich der Knochen war an einer Stelle gesplittert. Das Ergebnis einer ordentlichen Amputation hätte anders ausgesehen, ja, aber nicht, wenn der Chirurg nur eine Gartenschere zur Verfügung gehabt hätte. Frostige Kälte verlieh der Schnittfläche ein marmoriertes Muster. Kein Tropfen Blut.

»Meinst du, man kann ihn wieder annähen?« In seiner Stimme klang nicht mal der Hauch eines Vorwurfs mit.

Hannah räusperte sich. »Ich glaube, nein.«

Er trat einen Schritt näher an den Tisch heran. Hannah blieb ungerührt sitzen. Sie befanden sich in einem kahlen Raum mit spiegelnden Metallplatten an den Wänden. Hannah kannte den Raum, sie war hier schon einmal gewesen. Sie saß an einem Tisch aus Metall, umgeben von elektronischen Geräten. Direkt gegenüber befand sich ein metallener Korbstuhl, an den Stromkabel angeschlossen waren. Wie bei einem elektrischen Stuhl.

Langsam streckte er den Arm nach ihr aus, an seiner rechten Hand fehlte der Zeigefinger. Hannah bewegte sich nicht, sie unternahm nichts. Sie musste Geduld haben, den richtigen Zeitpunkt abpassen, durfte nicht zu schnell reagieren. Er streckte die Hand weiter nach ihr aus, noch weiter. Sein Arm schien immer länger zu werden. Und dann – der Zeigefinger vor ihr auf dem Tisch fing an zu zittern, beinahe so, als wollte er der ausgestreckten Hand entgegenspringen.

Das war der Moment. Es ging blitzschnell. Hannah schnappte zu, bekam seine Hand zu fassen, presste sie auf die Tischplatte. Ihr Arm schnellte in die Höhe, das Küchenbeil blitzte im Schein der Lampe auf. Hannah schlug mit aller Kraft zu. Das Geräusch, mit dem die scharfe Klinge die Handgelenksknochen zertrümmerte und an der Tischplatte abprallte, ließ sie zusammenzucken.

Ein Hund bellte, zweimal.

Hannah fuhr ruckartig hoch. Sie war schweißgebadet, saß senkrecht im Bett, atmete schwer. Dann besann sie sich. Schlaftrunken wanderte ihr Blick hin und her, bis sie realisierte, wo sie war. Nicht zu Hause. Tapete an den Wänden, keine Metallplatten. Sie hielt auch kein Beil in der Hand. Bosco, der sich in der Nacht ins Gästezimmer geschlichen hatte und am Fußende schlief, stand neben dem Bett und sah sie mit treuen Augen an. Hannah wuschelte ihm über den Kopf.

»Alles gut«, sagte sie keuchend, »es ist alles in Ordnung.«

Ihr Pyjama fühlte sich feucht an, auch das Laken und sogar die Bettdecke. Hannah keuchte. Draußen wurde es allmählich hell. Ihr Blick ging zum Wecker auf dem Nachttisch, es war schon halb acht.

Hannah schwang ihre Beine über die Bettkante, stand auf und ging ins angrenzende Badezimmer. Bosco folgte ihr, blieb aber an der Tür stehen. Hannah klappte den Klodeckel hoch, zog die Hose runter und setzte sich. Die Erinnerungen an den Traum vergingen. Hannah stand auf, betätigte die Klospülung, wusch sich die Hände und ging ins Zimmer zurück. Bosco hatte sich wieder ans Fußende des Bettes gelegt und schien zu faul, um noch mal aufzustehen.

Ein schwerer Vorhang verdunkelte den Raum. Hannah schob ihn ein kleines Stück zur Seite, sah nach draußen. Es versprach ein sonniger Oktobertag zu werden. Die Bäume im Garten hatten bereits die meisten Blätter verloren, vom Grün des Rasens war nur noch wenig zu sehen. Hannah liebte den Herbst.

Die Albträume wurden wieder mehr. Hat das was zu bedeuten, fragte Hannah sich. Falls es tatsächlich so kommen sollte, dass er wieder in ihr Leben eindrang – diesmal war sie vorbereitet, in vielerlei Hinsicht. Sie hatte Verbündete um sich geschart. Valerie gehörte nicht dazu. Hannah hatte sie weitestgehend im Unklaren gelassen, weil ihre Schwester nur schwer den Mund halten konnte, immer alles ausplauderte. Und in ihrer Umhängetasche war etwas, das ihr Sicherheit gab. Hannah fühlte sich gewappnet. Es musste sich irgendwann etwas ändern in ihrem Leben. Es musste irgendwann ein Ende haben.

Sie ging zum Bett zurück, legte sich noch mal hin, ließ jedoch die Augen offen und starrte sinnierend an die Decke. Langsam fand sie wieder zu ihrem normalen Atemrhythmus zurück. Eins, zwei. Einatmen, ausatmen. Eins, zwei. Aus dem Bauch heraus, wie ihre Therapeutin es ihr beigebracht hatte. Schließlich schloss sie die Augen, fing an zu summen, die Melodie von »The Rose«. Die Melodie, die sie in ihren Albträumen begleitete.

KAPITEL 4

Nico saß auf dem Radkasten des Transporters und goss einen weiteren Kanister Wasser in den Bottich. Er hatte einige Zeit als Hilfsarbeiter auf dem Bau malocht und gelernt, wie man Zement mit Wasser anrührte. Daher wusste er, dass bei dieser Mischung der Zement innerhalb von Minuten nicht mehr formbar sein würde. Genau das war der Plan.

Nico sah auf seine Armbanduhr mit zerkratztem Deckglas, sie ging genau. Das Timing war entscheidend. Er rührte mit einer akkubetriebenen Bohrmaschine in dem Bottich. Die Konsistenz stimmte. Solange die Mischung in Bewegung bliebe, würde sie nicht aushärten, danach aber unglaublich schnell. Nico schlug mit der flachen Hand gegen die Wand des Transporters, die die Fahrerkabine vom Laderaum trennte.

»Es geht los. Du weißt, wo du halten musst.«

Durch ein kleines Fenster in der Wand ertönte die Stimme seines Freundes. »Ja. Haben wir schließlich tausendmal geübt.«

Der Transporter setzte sich in Bewegung, Nico musste sich festhalten. Moritz, der am Steuer saß, würde eine kurze Panne vortäuschen. Nicht lange und an einer Stelle, wo die anderen Autos an ihm vorbeikämen. Die Autos. Aber keine Straßenbahn.

Nico spürte die Anspannung. Er hatte schon viele Aktionen mitgemacht für eine bessere und gerechtere Welt. Er hatte Häuser besetzt, Wälder vor der Rodung gerettet und sich von Autobahnbrücken abgeseilt. Aber diese Nummer hier wäre das Geilste, an dem er jemals beteiligt war. Es durfte nur nichts schiefgehen, und vor allem durften sie sich nicht erwischen lassen. Wenn ihr Plan gelänge, wären sie berühmt. Über diese Sache würde man deutschlandweit berichten, vielleicht sogar in der ganzen Welt.

Der Transporter ruckelte, wurde langsamer und blieb stehen.

Es war so weit. Nico schaltete die Rührmaschine ab. Von nun an tickte die Uhr. Er öffnete eine Bodenklappe, die das Loch verbarg, das sie selbst in den Transporter geschnitten hatten. Er sah unter sich nur den schwarzen Asphalt, sonst nichts. Wo hatte Moritz gehalten? Nico stockte der Atem. Der Zement härtete mit jeder Minute weiter aus.

Nico kniete sich auf den Boden, steckte den Kopf durch die Klappe, um unter den Lieferwagen zu sehen. Aufatmen. Sie hatten fast die richtige Position, aber knapp vorbei war auch daneben. Nico kam wieder auf die Knie und hämmerte mit der flachen Hand gegen die Rückwand.

»Du musst noch einen Meter zurücksetzen. Einen Meter!«

Der Transporter ruckelte erneut. Von draußen war das Hupen mehrerer Autos zu hören. Nico ließ sich nicht beirren. Er sah durch das Loch im Boden, dann tauchten sie in seinem Blickfeld auf, die Schienen der Straßenbahn.

»Noch ein kleines Stück«, schrie er nach vorne zum Fahrer.

Unter ihm war nun eine Weiche durch die Bodenluke zu sehen.

»Stopp!«, schrie er.

Der Transporter ruckelte, und Nico verlor für einen Moment das Gleichgewicht. Er konnte sich gerade noch an einer Wand festhalten.

»Perfekt«, rief er nach vorne.

Das Hupen von draußen ließ nach. Motorengeräusche waren zu hören, Autos, die vorbeifuhren.

Nico hob den Bottich an. Er war verdammt schwer. Dann lief die immer noch klebrig graue Masse über den Rand und durch die Luke auf die Schienen. Nico schaffte es, den Bottich ganz umzukippen. Der flüssige Zement verteilte sich großflächig über der Weiche.

Geschafft. Nico schob den Bottich mit dem Fuß weg. Sie mussten noch einen Moment warten. Er sah durch die Bodenluke. Von den Schienen im Asphalt war nichts mehr zu sehen, sie waren komplett überschwemmt mit Zement.

»Die Bahn kommt«, ertönte Moritz’ Stimme.

»Moment noch«, sagte Nico. »Einen kleinen Moment müssen wir noch warten.«

Von draußen ertönte das schrille Klingeln der Straßenbahn.

Nico sah auf die Uhr, zählte die Sekunden, bis eine Minute herum war.

»Noch einen kleinen Moment«, rief Nico, der weiter auf die Uhr sah. »Noch nicht.«

Das Klingeln der Straßenbahn kam näher.

»Jetzt! Fahr los!«

Nico hielt sich an einer Stange fest, die normalerweise dazu diente, Ladung in dem Transporter zu fixieren. Moritz fuhr langsam an, musste aber gleich wieder bremsen.

»Rote Ampel«, kam es aus der Fahrerkabine.

Nico ging zur hinteren Tür, wo sie ein kleines Guckloch ins Blech gebohrt hatten. Er sah hindurch. Die Straßenbahn fuhr wieder an, näherte sich der Weiche. Nun würde sich zeigen, ob er alles richtig gemacht hatte und ob das Timing stimmte. War der Schnellbinderzement schon hart genug? Durch das Guckloch sah Nico, wie die Straßenbahn die Weiche passierte. Der vordere Triebwagen schaffte es ohne Probleme, die Metallräder verdrängten den Zement in der Weiche.

»Verdammt«, fluchte Nico. »Wir haben nicht lange genug gewartet.«

Aber dann – die Bahn blieb abrupt stehen.

»Es ist grün«, rief Moritz von vorne.

»Gib Gas, schnell!«, befahl Nico.

Der Transporter fuhr mit einem Ruckeln los. Durch das Guckloch sah Nico, wie sie sich von der Straßenbahn entfernten.

Die Bahn hatte zwei Waggons, die genau in einer Kurve feststeckten und hinter ihr die dreispurige Hauptverkehrsstraße blockierten.

Das Hupkonzert nahm seinen Anfang. Aber es würde noch lauter werden, da war Nico sich sicher. Er grinste bis über beide Ohren. Sie hatten es geschafft.

Die Aktion »Big Saturday« nahm ihren Anfang.

KAPITEL 5

»Was ist da draußen los?« Hannah spürte wieder die innere Unruhe in sich aufsteigen. Das Heulen der Sirenen, das von draußen hereindrang, war zu einer nicht enden wollenden Melodie verschmolzen, die seit gefühlt einer halben Stunde anhielt.

Valerie hatte Hannahs Frage überhört. Sie war zu sehr mit den Auslagen des Juweliers beschäftigt, starrte fasziniert, mit leicht geöffnetem Mund, in die beleuchteten Schaukästen. Wie ein Kind im Spielwarenladen, dachte Hannah. Sie konnte nicht nachvollziehen, warum Luxus und Statussymbole einen so großen Stellenwert bei ihrer Schwester einnahmen. Etwas anderes, das Valerie offensichtlich im Leben fehlte, wurde dadurch womöglich kompensiert.

Hannah glaubte zu wissen, was. Echte Gefühle, Liebe. Valerie war bei ihrer Partnerwahl schon immer sehr anspruchsvoll gewesen, aber weniger nach romantischen Gesichtspunkten. So auch bei Tobias, den sie äußerst schnell geheiratet hatte. Er war zehn Jahre älter als Valerie und sah darüber hinaus noch weitere zehn Jahre älter aus. Von Stress, Termindruck und Überlastung gezeichnet. Als Valerie ihn der Familie vorgestellt hatte, war es Hannah schwergefallen, sich nichts anmerken zu lassen. Tobias war kleiner als Valerie, leicht untersetzt und hatte damals kaum noch Haare auf dem Kopf gehabt. Mittlerweile trug er wenigstens eine Glatze, was ihn etwas cooler aussehen ließ.

Hannah drehte sich um, als der Inhaber des Ladens aus dem Hinterzimmer kam. Er hatte einen etwas seltsamen Gang, wie jemand, der Rückenprobleme hatte und jeden Schritt mit Bedacht tat. Er kam zu dem Tresen, wo Hannah stand, und legte Valeries Uhr, die repariert werden musste, auf ein Tuch aus grünem Samt. Das Armband war aus schwarzem Leder, das Gehäuse aus Gold, zumindest nahm Hannah an, dass es Gold war, sonst hätte sie sich sehr in ihrer Schwester getäuscht. Der Name Patek Philippe auf dem weißen Zifferblatt sagte Hannah nichts, aber sie ging davon aus, dass der Chronograf sehr teuer war.

Der Juwelier war dem Ambiente seines Geschäfts angemessen gekleidet. Er trug einen maßgeschneiderten dunklen Anzug, Krawatte und das dazu passende Einstecktuch. Im Gegensatz zu Valerie, die näher kam, hatte er Hannahs Frage, was draußen los sei, vernommen.

»Ich hoffe, Sie sind nicht mit dem Auto gekommen«, sagte er mit einem Lächeln.

»Doch«, sagte Valerie. »Allerdings. Wieso?« Sie trat zu Hannah und dem Juwelier an den Verkaufstresen.

»Dann sollten Sie Ihren Einkaufsbummel um einige Stunden verlängern«, sagte der Juwelier – immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen. Er schien zu hoffen, dass Valerie die ganze Zeit in seinem Laden verbringen würde. »In der Stadt herrscht das absolute Verkehrschaos, weil mehrere Bahnen ausgefallen sind und die Waggons die Straßen blockieren.«

Valerie schüttelte den Kopf. »Typisch mal wieder: Kölner Verkehrsbetriebe. Wenigstens ist kein Tunnel eingestürzt.«

Jetzt wurde aus dem Dauerlächeln des Juweliers ein breites Grinsen. »Kann ja noch kommen. Man weiß nie.«

Die beiden lachten.

Hannah war nicht nach Lachen zumute. Die innere Unruhe nahm umso mehr zu, je gelassener ihr Umfeld war. Sirenen sowie das Flackern von Blaulicht erinnerten sie an einen der schlimmsten Tage ihres Lebens. Die Zeit, die sie in Geiselhaft verbracht hatte. Als sie um ihr Leben kämpfen und mitansehen musste, wie Menschen vor ihren Augen starben.

Dann, zwei Monate nach den grausigen Ereignissen, als Hannah dachte, das Schlimmste überwunden zu haben, war sie in der Innenstadt von Hannover einkaufen gewesen. Da ertönten wieder Sirenen um sie herum. Ein Feuerwehreinsatz. Urplötzlich überkam Hannah eine Panikattacke. Es hatte sich angefühlt, als erleide sie einen Herzinfarkt. Ihre Lungen waren wie zugeschnürt gewesen, sie bekam keine Luft mehr, und ihr wurde speiübel. Seitdem hasste sie dieses penetrante, aggressive Geräusch eines Einsatzfahrzeugs. Die Tonlage generell. Ihr verging schon jetzt die Lust auf den weiteren Einkaufsbummel.

Valerie schien etwas zu merken. Hannah hatte ihr mehrfach eingebläut, dass sie nicht auf ihren Gefühlszustand angesprochen werden wollte, vor allem nicht in Gegenwart Fremder.

»Komm mal her«, sagte Valerie mit dem typischen Grinsen im Gesicht, das sie aufsetzte, wenn sie Hannah auf andere Gedanken bringen wollte. »Heb mal deinen linken Arm.«

Zögerlich kam Hannah der Aufforderung nach. Der Juwelier begriff sofort. Er hatte bereits die Schatulle für die Uhr auf den Tresen gestellt, um sie einzupacken, jetzt hob er das Schmuckstück von dem grünen Samt auf.

»Darf ich?«, fragte er Hannah mit einem Lächeln.

Eigentlich hätte sie Nein gesagt, war aber gefühlsmäßig nicht in der Lage, zu widersprechen. Mit zarten, sehr gepflegten Fingern, die so etwas jeden Tag machten, legte der Juwelier ihr die Uhr ums Handgelenk und schloss das Lederarmband. »Eine Patek Philippe Calatrava mit achtzehn Karat Goldgehäuse und Saphirglas.«

»Wow«, sagte Valerie. »Die steht dir aber so was von.«

Dem konnte Hannah nicht widersprechen. Die Uhr passte vom Stil her, weil sie schlicht wirkte. Die Ziffern auf weißem Untergrund waren schön geschwungen. Heute hatte Hannah auf ihren Parka verzichtet. Sie trug zur löchrigen Jeans und den Turnschuhen ein innen angerautes Kapuzensweatshirt und dazu einen grob gestrickten, überdimensionierten Schal. Ihre Flexbag hatte sie wie immer an der Seite baumeln.

»Wollen Sie sie gleich anlassen?«, fragte der Juwelier.

»Natürlich lässt du sie an«, antwortete Valerie. »Die sieht schick aus, und ich habe ja schon eine Uhr.«

Valerie streckte den Arm aus und zeigte ihre mit Diamanten besetzte Rolex mit kleinem Zifferblatt. Die Steine glitzerten im Licht des Deckenstrahlers.

Hannah wusste, dass sie eine Rolex wie die von Valerie niemals tragen würde. Übertriebener Luxus und jede Form von Dekadenz waren ihr unangenehm. Die Uhr, die sie jetzt am Handgelenk hatte, strahlte nichts davon aus, egal wie hoch ihr Preis sein mochte.

»Jetzt brauchst du nur noch eine richtige Handtasche«, sagte Valerie schnippisch.

Der Juwelier kommentierte diese Aussage mit einem Grinsen. Ihm schien die Flexbag wohl auch etwas zu gewöhnlich.

Valerie bezahlte mit Kreditkarte die Rechnung für die Reparatur und blieb ansonsten standhaft, kaufte nichts Weiteres mehr. Dann verabschiedeten sie sich, und ein junger Angestellter, ebenfalls in schwarzem Anzug, öffnete ihnen die Tür.

Die Sirenen hallten durch die Fußgängerzone. Gefühlt von allen Seiten. Aber sonst bekam man von dem Verkehrschaos in der Stadt wenig mit. Denn am Anfang der Hohen Straße fuhren keine Autos und keine Bahnen. Hannah fiel auf, dass weniger Passanten als sonst an einem Samstag die Fußgängerzone bevölkerten. Wahrscheinlich standen viele, die kommen wollten, im Stau oder hatten sich entschieden, umzukehren.

Hannah sah auf die Uhr. Weniger, um die Zeit zu erfahren, sondern, um sie eingehend zu betrachten.

»Wie teuer war die?«

»Das willst du nicht wissen«, antwortete Valerie mit einem Grinsen.

»Nun sag schon.«

»Sechstausend. Gebraucht.«

»Sechstausend? So teuer sieht sie nicht aus.«

»Es ist die Marke, Patek Philippe. Bestes Schweizer Uhrwerk. So eine Uhr ist wie eine Kapitalanlage. Ohne Wertverlust.«

Hannah blieb stehen und hielt ihre Schwester am Arm fest. Die beiden sahen sich in die Augen. »Schenkst du sie mir?«

Valerie verzog spontan den Mundwinkel, wie immer auf ihre eigene Art. Nur wirkte sie diesmal eher ungläubig, ob Hannah das wirklich ernst meinte. In ihrer Stimme schwang eine Portion Ironie mit. »Ich soll dir eine Sechstausend-Euro-Uhr schenken? Einfach so?«

»Ja«, antwortete Hannah selbstbewusst.

Valerie überlegte nicht lange. »Okay.«

Beide lachten spontan.

»Okay?«

»Ja, verdammt. Sie gehört dir.« Valerie strahlte, als ob sie diejenige wäre, die eine Uhr geschenkt bekommen hatte. »Erinnere mich zu Hause daran, dass ich dir die Papiere gebe, Garantie und Echtheitszertifikat, sonst nimmt sie kein Juwelier zur Reparatur an.«

»Was, glaubst du, sagt dein Mann dazu?«

»Der merkt das gar nicht.« Sie lachte. »Ich könnte die halbe Einrichtung verticken. Autos, Uhren, Schmuck. Nur den Fernseher nicht und das Sky-Sportabo, das würde er merken. Er lebt in seiner eigenen Welt.«

Mit einem Mal stand ein Thema im Raum, über das sie seit Hannahs Ankunft noch nicht geredet hatten.

»Das klingt jetzt nicht so nach einer prickelnden Ehe.«

Valerie setzte sich wieder in Bewegung. Sie gingen schweigend nebeneinanderher, erreichten nach ein paar Hundert Metern die Abzweigung zur Schildergasse, Kölns größter Einkaufsmeile. Jetzt waren sie etwas näher an einer der Hauptverkehrsadern und sahen in der Ferne die Autos, die sich stauten. Zum Glück waren sie nicht davon betroffen.

»Ich gehe fremd«, sagte Valerie unvermittelt. »Lass uns einen Kaffee trinken, dann erzähle ich dir mehr.« Valerie steuerte zügig ein Café an, das Sitzplätze draußen hatte. Es wurde gerade ein Tisch in der Sonne frei, und Valeries Schritte wurden noch etwas schneller. Hannah folgte. Sie war neugierig geworden.