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Simones Urlaub wird zur Story.
Eine Story wie keine zuvor –
die ihr eigenes Leben bedroht.
Schlafen, lesen, flanieren – so stellt sich die Investigativ-Journalistin Simone Roux ihren Camping-Urlaub in einer Kleinstadt der Auvergne vor.
Und sie teilt das Leben anderer Gäste auf dem Campingplatz. Da ist der Drahtbürsten-Hund mit seinem Frauchen. Die glückliche Familie mit ihren drei Kindern, die regelmäßig die üppige Natur am Fluss gegen die Enge ihrer Stadtwohunng tauschen. Das wetterfühlige Geschwisterpaar, das versucht, Simone zu adoptieren.
Dann wird eines der Kinder umgebracht – und zum ersten Mal in ihrem Berufsleben ist Simone nicht nur Reporterin, sondern auch »Hinterbliebene«; wie die Eltern, wie die Geschwister des Kindes. Doch ihr eigener Kummer macht sie stur: Sie kann zur Aufklärung beitragen, denn als Journalistin hat sie gelernt, andere Fragen zu stellen als die Detektive.
Und dann ist da der Polizist André Carpentier. Bald zeigt er mehr als bloße Anerkennung für Simone und ihre Arbeit. Aber will sie das überhaupt?
»Stadtwildnis« ist ein Kriminalroman, der eine leise Geschichte von Trauer und Kraft erzählt. Begleitet Simone durch diese »Stadtwildnis«.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Über die Autorin
StadtwildnisDie Reporterin
Copyright © 2025 Annemarie Nikolaus
Lizenz
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1
Simone Roux verließ die Nationalstraße und gleich darauf tauchten am Horizont die Doppeltürme der zwei großen Kirchen von Moulins auf; das eine Turmpaar hell, das andere dunkel. Sie waren noch immer die höchsten Gebäude dieser Kleinstadt in der Auvergne. Kleinstadt – und einer der größten Orte im Departement Allier: In einer Gegend, in der es mehr Vierbeiner als Zweibeiner gab, konnte man keine wirklichen Städte erwarten.
Nach einem aufreibenden Jahr in der Redaktion des »Midi Libre« in Montpellier war es der perfekte Ort für einen perfekten Urlaub: lesen, schlafen und flanieren.
Eine Viertelstunde später folgte Simone den Schildern zu einem Campingplatz am Ufer des Allier. Er lag in Sichtweite der Brücke, die ins Zentrum von Moulins führte, und war doch ein abgelegenes Idyll unter hohen Bäumen. Mehrere gut ausgestattete Grillplätze luden zu Geselligkeit. Allerdings gab es so früh im Jahr nur wenige mutige Camper. Lediglich zwei Wohnwagen und ein großes Hauszelt standen auf dem Platz.
Simone registrierte sich am Eingang und rollte dann nahezu lautlos den Kiesweg entlang. Der erste Wohnwagen wirkte mit seinen geschlossenen Fensterläden, als sei noch Winterpause. Vor dem zweiten Wohnwagen kläffte sie ein angeleinter Hund an, der wie eine Kreuzung aus einer Drahtbürste und einem Mops aussah. Neben dem Hauszelt hing Kinderkleidung auf einer Wäscheleine. Mindestens zwei Mädchen gab es in der Familie, denn die Röckchen, die zwischen Jeans, T-Shirts und Schlafanzügen hingen, waren unterschiedlich groß.
Sie war doch nicht verrückt, dass sie Ende April zum Zelten fuhr: Sogar Leute mit kleinen Kindern taten das.
Das Zelt schwankte und beulte sich an einer Seite aus. Dann rollte sich ein Junge unter dem Rand des Zelts ins Freie und rannte quer über den Rasen. Er hinterließ eine flatternde Zeltbahn, weil er bei seiner Aktion die Heringe herausgerissen hatte.
»Jonathan!« Eine blonde Frau riss den Reißverschluss der Tür auf. »Jonathan, ich krieg dich!«
Der Junge stoppte abrupt am Kiesweg, direkt neben Simones langsam rollenden Auto. Seine Augen weiteten sich vor Schreck.
Sie hielt an und sprang heraus. »Hast du dir etwas getan?«
Er steckte zwei Finger in den Mund und schüttelte den Kopf. »Nein, alles okay«, nuschelte er zwischen den Fingern hervor.
Der Junge ging zwei Schritte bis in die Deckung des Sanitärhäuschens.. »Sie verraten mich nicht, Mademoiselle, nein?«
Simone zögerte. Aber was sollte sie sich einmischen? Passieren konnte ihm hier auf dem Zeltplatz nichts. Sofern er nicht jemandem vors Auto lief. Doch diese Gefahr bestand nun auch nicht mehr.
»Jonathan!« In der Stimme der Frau schwang ein Lachen. »Wo bist du jetzt?«
Ihr Ruf tönte über den Platz und der Drahtbürsten-Hund begann wieder zu kläffen. Hoffentlich tat er das nur, wenn er allein war.
Simone grinste den Jungen an. »Du bist mir was schuldig.« Sie stieg wieder ins Auto.
Jonathan kreuzte die beiden Finger, die er eben im Mund gehabt hatte, und hielt sie hoch. So etwas wie »Pfadfinder-Ehrenwort« hieß das vermutlich.
Simone fuhr wieder an, im Rückspiegel den Jungen im Auge. Er drückte sich an die Wand und schlich bis zur Ecke des Häuschen. Dort blieb er stehen. Als die Frau wieder nach ihm rief, sprang er mit Indianergeheul aus seiner Deckung und warf sich hysterisch lachend ins Gras.
Amüsiert parkte Simone ihr Auto am entlegensten Ende des Platzes. Als Erstes holte sie ihren Klappstuhl aus dem Kofferraum und stellte ihn auf die Wiese. Sie öffnete die Kühlbox, nahm eine angefangene Flasche Bordeaux heraus und holte das Wasserglas, das sie auf der Mittelkonsole des Wagens stehen hatte.
Mit dem gefüllten Glas in der Hand setzte sie sich und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Im April wurde man angeblich schon braun: Die Kollegen sollten ihr den Urlaub ansehen, wenn sie in die Redaktion zurückkam. Zwar trieben ein paar Wolken am Himmel, deren Ambossform ihr mit einem Gewitter drohte. Aber dafür war es noch nicht windig genug.
Als sie halb ausgetrunken hatte, holte sie ihre Strickjacke aus dem Auto. Vier Uhr – sie sollte bald anfangen, ihr Zelt aufzubauen.
Sobald das Glas leer war.
Sie rückte den Klappstuhl ein Stück weiter, damit er wieder in der Sonne stand. Dreihundert Tage im Jahr hatte sie es eilig; jetzt war Urlaub. Mit geschlossenen Augen nippte sie weiter an ihrem Wein.
»Brauchen Sie Hilfe, Mademoiselle?«
Sie riss die Augen auf. »Was?«
Vor ihr stand ein dunkelblonder Mann in Shorts und ärmellosem T-Shirt, auf dem Arm ein Mädchen mit blonden Zöpfen. Er deutete zu ihrem Kofferraum. »Brauchen Sie Hilfe beim Zelt-aufbauen?« Das Mädchen wand sich in seinem Arm und er setzte es ab. »Ihre Tasche da sieht nicht so aus, als ob es nur ein Iglu wäre.«
»Ja, also ...« Es war ja nett gemeint, aber ein Zelt aufzubauen war wirklich keine Kunst. Mussten Männer immer denken, sie käme nicht allein zurecht?
Bevor sie sich für eine Antwort entschieden hatte, streckte er ihr seine Hand entgegen. »Ich bin Mathieu Prevôt. Und das ist Christine, unsere Jüngste.« Er langte nach dem Mädchen, das gerade davonstolpern wollte. »Bleib hier, Schatz. Maman wird sauer, wenn sie schon wieder waschen muss.« Waschen musste Maman allerdings auf jeden Fall. Auf dem T-Shirt prangte neben dem Kopf von Winnie Pooh unübersehbar ein großer brauner Fleck – Schokoladeneis vermutlich.
Simone nannte Mathieu ihren Namen. »Gehören Sie zu dem Hauszelt dort?«
Er nickte mit leuchtenden Augen und nahm Christine Huckepack. Offensichtlich ein glücklicher Mensch. Dann fragte er noch einmal, ob sie Hilfe zum Zelt-aufbauen bräuchte.
Simone winkte ab. Das Mädchen auf seinen Schultern war als Vorwand gerade recht; so brauchte er sich nicht abgewiesen zu fühlen. Ein beleidigter, muffliger Nachbar wäre lästig. Auch wenn der Platz groß war, man lief sich unweigerlich doch über den Weg.
»Oh, Christine ist kein Problem. Ich bin in zwei Minuten wieder hier.« Mathieu packte sie an den Beinchen und lief mit ihr Huckepack zurück zu seinem Zelt.
Simone trank hastig ihr Glas leer und stellte es wieder ins Auto. Dann packte sie in aller Eile die Zelttasche aus. Als sie das Außenzelt ausbreitete, hielt sie inne. Sie hatte doch Zeit! Was fiel ihr ein, dass sie das Zelt stehen haben wollte, bevor Mathieu zurückkam? Sie hatte hier niemandem etwas zu beweisen. Und wenn er den Hammer schwingen und Heringe einschlagen wollte, dann sollte er das nur tun.
Sie füllte ihr Glas wieder und trank es halb aus. Dann spannte sie mit vier Heringen den hinteren Teil des Zelts, bevor sie begann, die Glasfiberstangen einzufädeln.
Zwei Minuten? Sie grinste – es war mindestens schon eine Viertelstunde vergangen.
Sie hatte die drei Zeltstangen durch die Schlaufen gezogen, das Zelt aufgerichtet und schlug gerade den letzten Hering für das Außenzelt ein, als Mathieu wieder auftauchte.
»Sie sind ja schon fertig.« Er lächelte ein wenig verlegen. »Es tut mir leid. Kinder – na, Sie wissen schon, wie das ist.«
Nein, wusste sie nicht. Und ihre Zukunft sah auch nicht vor, es jemals herauszufinden.
Simone lächelte zurück. »Noch nicht ganz fertig. Aber diese neumodischen Zelte sind wirklich völlig simpel aufzubauen.« Sie zog die beiden Reißverschlüsse auf und rollte die Türbahn nach oben.
»Unseres ist bald zwanzig Jahre alt. Aber es übersteht jeden Sturm. Ich muss nur manchmal die Stangen wieder zurechtbiegen. Die sind aus Metall, wissen Sie. Eine Stange ist inzwischen sogar geschweißt; geht auch.« So stolz wie er klang, hatte er die vermutlich selber geschweißt. Er griff nach der zusammengefalteten braunen Folie. »Ich helfe Ihnen. Wie wird das befestigt?«
Mit seinem Eifer brachte er sie in die peinliche Lage, dass es ungezogen wäre, ihn zurückzuweisen. Und da er nicht einmal wusste, wie er mit dem Innenboden umgehen sollte, hielt er sie nun auf.
Simone unterdrückte einen Seufzer. »Der Boden ist nur für den vorderen Bereich. Breiten Sie ihn hier aus.« Sie zeigte ihm die Ösen, an denen die Folie befestigt wurde. »Ich bringe das Innenzelt.«
Sein überraschter Blick sagte ihr, dass er den Packen nicht einmal als Boden erkannt hatte. Er faltete ihn auseinander und kniete sich darauf, um ihn am Außenzelt zu befestigen. Das immerhin machte er richtig.
»Vielleicht sollten wir uns doch mal ein neues kaufen. Mit den Kindern ist es ein Drama, wenn es regnet. Die Mädchen haben noch jedes Mal eine ihrer Puppen auf der Erde liegen lassen, bevor sie schlafen gingen. Eine neue kaufen hilft nicht viel über den Kummer.« Er setzte sich auf den Zeltboden und zog die Knie an. »›Kinder tauscht man auch nicht aus‹, hat sich Maëva empört. Und dann das Hin und Her vom Schlafsack zum Frühstückstisch und zurück. Pfützen im Zelt und die Füße voller Schlamm.«
Das allerdings konnte sie sich gut vorstellen. Noch zwei Jahre zuvor hatte sie auch so ein Zelt gehabt. In einem Sturm an der Atlantikküste war es zusammengebrochen und dann war da nichts mehr zu retten gewesen. Sie hatte das schwere Ding guten Gewissens entsorgt.
Simone begann, das Innenzelt einzuhängen; Mathieu stand auf und half ihr. Dabei erzählte er, dass sie in Clermont-Ferrand in einem viel zu kleinen Appartement wohnten und deshalb von Frühling bis Spätsommer in den Ferien hier am Allier zum Zelten kamen, damit die Kinder mehr Freiheit hatten. »Unter uns wohnt ein Ehepaar, das viel Verständnis hat. Aber eine Zumutung ist es für die alten Leute doch.« Er seufzte.
Gleich würde er ihr erzählen, dass sie für ein eigenes Haus sparten und wie lange es noch dauerte, bis sie sich das leisten konnten. Was sollte sie dazu sagen?
»Mathieu?« Jonathans Mutter stand vor dem Zelt. »Sie sind also die Verschwörerin.«
Sie lachte über den ratlosen Blick ihres Mannes. Jonathan hatte ihr von seiner Begegnung mit Simone erzählt. Und offensichtlich munter ausgeschmückt.
»Ich bin Mireille. Aber so gut wie die singe ich nicht.« Sie streckte Simone die Hand entgegen.
So gut sang sie nicht? Ach so!
Simone grinste. »Kein Wunder, wenn Ihr Mann den anderen Teil des Namens für sich hat.« Witze über die Namen hatten die beiden bestimmt schon hunderttausend Mal gehört, aber sie lachten trotzdem.
Entgegen ihrer Erwartung holte Mireille ihren Mann keineswegs zum Essen. Stattdessen halfen sie ihr beide, die Luftmatratze aufzupumpen und das Zelt fertig einzurichten. Schließlich lud Mireille sie noch zum Abendessen ein.
Die beiden waren nett und sie hatte selber nur noch ein paar Reste von der Fahrt. Eltern, die ihren Kindern Freiheit zugestanden, maßregelten sie bestimmt nicht wegen ihrer Tischsitten. So gab es keinen Grund abzulehnen.
Nach einem Blick zum Himmel, der sich inzwischen bezogen hatte, nahm Simone ihre Regenjacke und folgte den beiden. Der Drahtbürsten-Hund kläffte wieder, als sie sich dem Wohnwagen näherten.
»Morgen hat er sich an Sie gewöhnt; dann bellt er nicht mehr.« Mireille drückte ihr ein Glas Weißwein in die Hand. »Das ist Maëva«, stellte sie ihr das zweite Mädchen vor, das wohl fünf oder sechs Jahre alt war.
Simone hockte sich vor sie hin. »Gehst du schon in die Schule?«
Maëva reckte sich. »Ich kann lesen und rechnen.« Also keine Schule; sie lernte zu Hause. Das passte zu dem Bild, das sie von den Eltern hatte.
Bevor sie weiterreden konnte, fasste Jonathan nach ihrem Arm. »Morgen zeige ich Ihnen mein bestes Geheimversteck. Wenn Sie wollen.«
Sie schmunzelte über seinen Eifer. »Dann ist es aber nicht mehr geheim.«
»Doch. Ich weiß, dass Sie es niemandem verraten werden. So wie heute Mittag.« Der Junge himmelte sie an; daran gab es keinen Zweifel.
»Oha!« Mathieu schob Jonathan auf einen Stuhl. »Sie haben eine Eroberung gemacht. Dieses Geheimnis teilt er nicht einmal mit Mireille.«
Sie knickste vor Jonathan. »Ihr adelt mich, edler Herr; und so werde ich Euer Geheimnis mit meinem Leben hüten.«
Jonathan krauste die Stirn und sah zu Mathieu hoch. »Was ist ›adeln‹, Papa?« Vermutlich war Jonathan mehr bei den Indianern zu Hause als im Mittelalter.
Der Tisch unter der großen Esche war mit Porzellan und Glas gedeckt. Angesichts von Mireilles Menü war schnell klar, warum sie Wert auf Stil legte: Das einzig Simple waren die Würstchen für die Kinder und das gegrillte Fleisch. Aber schon die drei Saucen hatte Mireille mit viel Aufwand selbst gemacht: Zum Entzücken der Kinder kamen sie in drei verschiedenen Farben: hellgrün, orangerot und cremeweiß. Es gab Krabbencocktail als Vorspeise und für die Kinder stattdessen Spaghetti mit Sauce Bolognaise. Zum Fleisch und den Würstchen servierte Mireille einen großen Topf Ratatouille aus allen Gemüsen, die dazugehörten, sowie gebackene Kartoffeln vom Grill. Für den Nachtisch hatte sie Törtchen mit frischen Erdbeeren und Bananenscheiben belegt und geschmolzene Schokolade darüber gegossen. Unter den Bedingungen des Campingplatzes musste sie den halben Tag mit der Zubereitung verbracht haben. Es war köstlich.
Jonathan half Christine beim Essen: Zuerst, indem er ihr das Würstchen klein schnitt; dann, indem er die Hälfte selber aß. Als Mathieu die Augenbrauen hochzog, zuckte er die Achseln. »Ich habe Christine gesagt, dass es nachher Schokoladentörtchen gibt. Die mag sie sowieso lieber als Wurst.«
Mireille verdrehte die Augen und brachte Christine ein zweites Würstchen. Christine stach die Gabel ins Würstchen, faltete die Hände vor der Brust und blickte zum Baum hoch. »Amen.«
Die Prevôts hatten erst nach Jonathans Geburt geheiratet. Bis dahin hatten sie eine Wochenend-Beziehung geführt, weil Mireille in Paris als Dozentin an der ENA – École nationale d’administration – arbeitete und Mathieu bei Airbus in Toulouse als Entwicklungsingenieur. Mathieu versuchte dann vergeblich, eine Stelle in Paris zu bekommen – die Arbeit für die Luftwaffe in Clermont-Ferrand war das Beste, was er fand, um näher bei seiner Familie zu sein. Und Clermont-Ferrand war es geblieben, nachdem Mireille ihre Stelle an der École nationale aufgegeben hatte.
Mireille bekam einen sehnsüchtigen Blick in ihre Augen, als Simone von ihrer Arbeit als Redakteurin im Politik-Ressort des »Midi Libre« erzählte. Sie vermisste ihre Lehrtätigkeit; Clermont-Ferrand konnte ihr nichts bieten. Ersatzweise hatte sie sich auf das kulturelle Leben der Stadt gestürzt und schrieb für mehrere Zeitungen darüber.
Nach dem Essen begleitete Mathieu die Kinder zum Sanitärhäuschen und sorgte dann dafür, dass sie in ihre Schlafsäcke krochen.
Mireille zündete währenddessen zwei Gaslampen an und öffnete eine weitere Flasche Rotwein.
»Unter den Sternen sitzen und Wein trinken stand auch auf der Liste meiner Urlaubsbeschäftigungen.« Simone hob ihre Hand zum Himmel. »Allerdings fehlen heute die Sterne.«
»Mir ist es recht, wenn es heute Nacht regnet.« Mireille zog sich einen warmen Pullover über, bevor sie sich wieder setzte. »Dann können wir darauf hoffen, dass morgen die Sonne scheint.«
»Was unternehmen Sie mit den Kindern, wenn es tagsüber regnet?«
»Moulins bietet einiges, wo die Kinder den Tag verbringen können. Und mit den Einkäufen verbrauchen wir auch eine Menge Zeit.« Mireille grinste. »Bis wir alles Spielzeug und alle Kleider in den Supermärkten durchgestöbert haben, ist der halbe Tag vorbei. Manchmal teilen wir uns, Mathieu und ich: Christine kann man nicht lange in ein Museum mitnehmen. Obwohl gerade Moulins auch ihr etwas zu bieten hat.«
»Das Museum für Film- und Theater-Kostüme.« Welches kleine Mädchen war nicht dafür zu begeistern, sich Prinzessinnen-Kleider anzuschauen?
Aus dem Zelt kam Mathieus Lachen. Eins der Mädchen kicherte; Jonathan schien zu protestieren. Gleich darauf erklang Mathieus Stimme wieder, nun im Tonfall eines Lesenden. Was für ein netter Mann: Er kümmerte sich um die Kinder, damit seine Frau ein wenig Mädchen-Zeit hatte. Mit drei Kindern und ihren abendlichen Kultur-Terminen hatte Mireille bestimmt nicht viel Zeit für sich selber.
Mireille fragte und Simone erzählte von ihrer Arbeit. Sie hatte einige Jahre aus dem Ausland berichtet, bevor sie die feste Stelle im Politik-Ressort des »Midi Libre« annahm. Dort, wo es um Macht ging, war Zeitung immer noch eine Männerwelt.
Mireille kannte die Mächtigen gewissermaßen von der anderen Seite, aus ihrer Zeit an der ENA. Zwei Männer – potentielle Kandidaten für die nächste Wahl –, die Simone vor kurzem interviewt hatte, waren vor Jahren Mireilles Studenten gewesen und sie hatte einiges über sie zu erzählen.
»Das hätte ich vorher wissen sollen.« Das Interview mit dem ambitionierten Mann vom PCF, über den Mireille eine derbe Anekdote erzählte, wäre für den zum Fegefeuer geworden.
Dieser Urlaub ließ sich ausgesprochen unterhaltsam an. Inzwischen war sie auch ein wenig betrunken. An diesem Abend konnte sie es sich erlauben; bis zu ihrem Bett waren es nur zehn Schritte.
Mathieus Stimme verklang. Gleich darauf kam er zu ihnen. »Habt ihr mir noch etwas übrig gelassen?« Er hielt die Flasche gegen das Licht einer Gaslampe. »Mireille, du hast unsere Nachbarin betrunken gemacht!«
»Nein, das meiste habe ich selber getrunken. Simone wird noch nach Hause finden.«
Mathieu schenkte den Rest in sein Glas. »Schlaftrunk!«
»Untersteh dich, mir jetzt schon einzuschlafen!« Mireille gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Das war das Signal, die beiden allein zu lassen. »Ich will nicht nur zurückfinden; ich will auch trocken ankommen.« In den letzten zehn Minuten war es deutlich windiger geworden.
»Oh ja, das wird heftig. Kommen Sie, wir helfen ihnen schnell, eine Regenrinne zu graben.« Mathieu sprang auf und holte einen Spaten aus dem Van. So wie er sich plötzlich benahm, schien tatsächlich Eile geboten.
Eine Regenrinne im Gras? Das konnte doch nicht erlaubt sein; deswegen hatte sie weder Schippe noch Spaten mitgenommen. Aber die Prevôts hatten tatsächlich eine Rinne hinter ihrem Zelt.
Mireille holte zwei Regenjacken. »Wir nehmen die Windlichter mit.« Sie reichte Simone eines.
Mathieu lief einmal um Simones Zelt herum, dann begann er, an der höher gelegenen Seite zu graben. »Haben Sie eine Schippe? Sie könnten den Zeltrand zuschaufeln.«
Weil Simone verneinte, holte Mireille ein Kinderschippchen. Und sie ließ nicht zu, dass Simone ihr die Schippe abnahm.
Während die beiden gruben, stand sie da: Sie hatte nichts, womit sie helfen konnte. Ratlos und von Minute zu Minute nervöser knetete sie ihre Hände.
Mathieu sah auf, nachdem er eine Seite abgegraben hatte. »Haben Sie noch mehr Heringe? Dann sichern Sie das Zelt mit den Schnüren.«
Sie hatte keine der Schnüre benutzt: Es gab nichts Nervigeres als in der Dunkelheit über einen unsichtbaren Hering oder eine Zeltschnur zu stolpern.
Aber Mathieu hatte recht. In einem Sturm brauchte sie die. Das Zelt bewegte sich schon jetzt unter den heftiger werdenden Böen. Sie holte ihren Gummihammer und die restlichen Heringe aus dem Auto und begann abzuspannen.
Zehn Minuten später platschte der erste fette Tropfen auf die Hand, mit der sie den Hammer schwang. Die Hälfte der Schnüre hatte sie gespannt.
Sie richtete sich auf und blickte ganz überflüssigerweise zum Himmel. Der nächste Regentropfen traf ihre Nase; sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Das war’s dann wohl. Danke für die Hilfe. Jetzt müssen Sie schleunigst zurück, damit Sie nicht Wasser in Ihr Zelt tragen.«
Mathieu zog seine Kapuze hoch. »Kein Problem, Simone. Schlafen Sie trotz des Gepladders gut.« Er griff nach Mireilles Hand.
Simone zog einen Reißverschluss auf. »Ich liebe es, wenn der Regen aufs Zelt trommelt.« Sie nutzte den Moment, den die beiden noch mit ihren Lampen in Sichtweite waren, um ihre eigene Gaslampe anzuzünden. Dann zog sie schnell den Reißverschluss zu und ließ sich neben der Kühlbox auf den Stuhl fallen.
Urlaub! Sie holte eine verknautschte halbe Tafel Schokolade aus der Box; im Urlaub konnte sie ununterbrochen essen.
Gleich darauf veranstaltete der Regen einen Trommelwirbel auf dem Zeltdach. Simone schloss die Augen, knabberte an der Schokolade und lauschte dieser Musik.
Später schlüpfte sie in ihren Schlafsack und las im Schein der elektrischen Zeltlampe, bis die Batterie zu schwach wurde.
2
Als Simone erwachte, war es noch nicht richtig hell, aber die Vögel zwitscherten schon. Wenn es für die Spatzen trocken genug war, um den Tag zu beginnen, konnte sie auch aus ihrem Nest kriechen.
Sie zog den Reißverschluss des Schlafsacks auf – und schloss ihn sofort wieder. Es war entschieden zu kalt zum Aufstehen; sie griff nach ihrem Lesegerät. Wenn sie diesen Krimi fertig gelesen hatte, war es immer noch früh genug für den Tag.
Drei Kapitel später wachte der Drahtbürsten-Hund auf und kläffte wie ein Irrsinniger. Laut Mireille hieß das, es war ein weiterer Gast auf dem Campingplatz angekommen. Oder mehrere. Aber dass niemand den Hund zum Schweigen brachte, hieß wohl, er war ganz allein. Armes Kerlchen.
Bald darauf ging es am Sanitärhäuschen geschäftig zu. Der Hund hatte sicherlich jeden auf dem Platz geweckt. Mathieus Stimme war unverkennbar und auch der helle Klang von Maëvas Lachen.
Simone machte den nächsten Temperaturtest: Immer noch nicht viel wärmer. Nach dem Unwetter war es auch kein Wunder. Aber wenn sie nicht bis mittags warten wollte, konnte sie geradeso gut sofort aufstehen.
Noch im Schlafsack schlüpfte sie mit einigen Verrenkungen in die Socken und die Jeans. Dann zog sie schnell ihren warmen Pullover über und verließ das Innenzelt. In der Thermoskanne gab es noch einen Rest kalten Kaffee, den sie schaudernd trank. Danach suchte sie ihre Sachen für die Dusche zusammen.
Es waren tatsächlich neue Gäste angekommen. Gleich hinter dem Eingang parkte ein Campingwagen in einem Design des letzten Jahrhunderts und auf der Wiese gegenüber davon bauten zwei junge Männer ein Zelt auf. Zu schade, dass der Weg zur Dusche sie nicht in deren Nähe brachte, um diese Leute kennenzulernen.
An einem der Waschbecken stand Jonathan und half Christine beim Zähneputzen. Und das als Junge – beeindruckend.
»Nach dem Frühstück zeige ich Ihnen mein Versteck.« Auf die Idee, dass sie vielleicht keine Zeit hatte, schien er nicht zu kommen.
Eigentlich wollte sie als Erstes einkaufen fahren. Aber angesichts seiner enthusiastisch blitzenden Augen sagte sie zu.
Christine schob Jonathans Hand mit der Zahnbürste beiseite. »Ich komme mit!«
Er verdrehte die Augen. »Es ist geheim.«
»Aber ich verrate es doch niemandem.« Sie verzog ihr Gesicht, als plane sie einen Tränensturm.
»Das glaube ich dir.« Mit gerunzelter Stirn biss Jonathan sich auf einen Knöchel. »Aber wenn ich dich heute mitnehme, will Maëva auch mit. Wenn wir beide zusammen mit Simone weggehen, weiß sie, was wir vorhaben.«
Christines Gesicht verkrumpelte sich für einen Augenblick noch mehr, aber dann nickte sie. »Ich bin fertig.« Sie nahm die Zahnpastatube und rannte zum Zelt zurück.
»Das war knapp.« Jonathan blickte ein wenig ratlos auf die Zahnbürste in seiner Hand. »Wie lange brauchen Sie zum Frühstück?«
»Ich habe noch nicht einmal geduscht.« Nun begann Jonathans Gesicht zu krumpeln. »Ich komme zu euch, sobald ich fertig bin.« Sie hob zwei Finger und überkreuzte sie, wie sie es von ihm gesehen hatte.
»Okay.« Er schoss davon wie der Blitz.
Außer einem Stück Baguette mit Schinken hatte Simone gar nichts mehr, was sie frühstücken konnte. So begnügte sie sich damit, die Gummi-Baguette mit neuem Kaffee aufzubessern. Während sie das nächste Kapitel las, trank sie die Thermoskanne halb aus. Dann riss sie sich von dem Buch los und ging zu den Prevôts.
Jonathan lief vor dem Zelt auf und ab, während Christine darum bettelte, dass er ihre Puppe in einem Lastwagen durch die Gegend fuhr. Als Simone kam, leuchtete sein Gesicht auf. Dann griff er nach der Schnur am Lastwagen. Nun, da Simone gekommen war, hatte er offensichtlich Nerven genug, um mit seiner kleinen Schwester zu spielen.
Mathieu begrüßte Simone mit einem Augenzwinkern. »Jonathan hat noch keine Ahnung, was er sich damit eingebrockt hat, dass er mit Ihnen alleine weg will.«
Jonathan schien ihn nicht gehört zu haben, aber Maëva. »Er nimmt uns morgen mit. Hat Christine gesagt.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte sie herausfordernd an, als erwarte sie Widerspruch.
Offensichtlich hatte Christine ihren Mund nicht halten können. Schöne Aussichten für Jonathans großes Geheimnis.
Mireille kam aus dem Zelt, ein Geschirrhandtuch über der Schulter und eine Waschschüssel voll schmutzigem Geschirr in den Händen. »Sie kommen genau richtig, Simone. Jetzt komme ich gegen Jonathans Ausreden nicht mehr an.«
Simone öffnete den Mund, um zu sagen, dass sie warten konnte, bis sie fertig waren. Da sah sie das Grinsen in Mathieus Gesicht: Mireille hatte gar nicht die Absicht gehabt, Jonathan zum Abwaschen zu kommandieren.
Sie griff nach Jonathans Arm. »Machen wir uns auf den Weg?«
»Oh ja.« Für einen Augenblick wirkte er verwirrt; er schien völlig im Spiel mit Christine aufgegangen zu sein. So ein großer Bruder war der Traum jeden Kindes.
»Dort entlang.« Ans hintere Ende des Campingplatzes, an ihrem Zelt vorbei. Wohin auch sonst? Ein paar hundert Meter in die andere Richtung lag schon die Brücke, die in die Innenstadt von Moulins führte. Dahinter musste man vermutlich länger laufen, um unberührte Uferzonen zu finden.
Es gab keinen richtigen Pfad, um hinter ihrem Zelt den Platz zu verlassen, aber in der Hecke waren die Büsche an einer Stelle halb verkümmert. Dort zwängten sie sich durch. Sie hätten auch den offiziellen, gepflasterten Pfad zum Ufer nehmen können, aber das war für einen zehnjährigen Jungen natürlich viel zu bieder.
Hinter der Hecke kam ein schmaler, dürftig bewachsener Streifen Erde. Eine dünne Spur zeigte an, dass er regelmäßig als Trampelpfad benutzt wurde. Wahrscheinlich stammte er von Katzen, die hier auf die Jagd gingen.
Jonathan lotste Simone nur ein paar Schritte Richtung Ufer, dann blieb er stehen und legte einen Finger auf seinen Mund. Als sie nickte, zeigte er auf einen Baum. Dort saßen zwei Vögel an einem Nest, der eine bunt gefiedert. Erstaunlich, dass sie ganz still waren. Gab es Vögel, die auf diese Weise vermeiden wollten, dass ihr Nest entdeckt wurde? Sie wusste nicht einmal, was für Vögel das waren.
Jonathan winkte sie weiter.
Nach ein paar Schritten flüsterte sie ihm ihre Frage zu.
»Papa sagt, es seien Dompfaffen.« Er zuckte die Achseln, als sei er nicht sicher, ob Mathieu sich wirklich auskannte.
Kurz darauf zeigte er ihr am Rand eines Schilffelds das Nest eines Bodenbrüters, in dem drei gesprenkelte Eier lagen. »Wenn ich groß bin, werde ich Orni... Vogelkundler.«
Er machte drei Vogelstimmen nach und lachte erst über ihre ratlose Miene; dann verriet er ihr, welche Vögel er imitiert hatte. »Musiker ginge auch, wenn es mit der Vogelkunde nicht klappt. Maman spielt Querflöte. Die hört sich auch manchmal an wie singende Vögel.«
»Wenn du ein Instrument spielen willst, musst du wohl bald anfangen zu lernen.«
»Ich weiß.« Er zuckte wieder die Achseln; es war ihm wohl doch nicht so wichtig. Ein Berufsziel reichte in seinem Alter auch.
Dann standen sie direkt am Ufer und Jonathan zeigte auf die Enten, die er in den Tagen zuvor stundenlang beobachtet hatte. »Es ist so spannend! Haben Sie gesehen, wie der sich gerade was vom Grund geholt hat?« Er deutete auf einen großen Erpel mit geradezu majestätischem Gehabe. »Wie lange er den Kopf unter Wasser halten konnte? Manchmal habe ich gar keine Zeit, bis zu meinem Versteck zu kommen. Dann sitze ich hier und schaue, bis ich von drüben die Glocken höre und weiß, dass Maman mit dem Essen fertig ist. Aber nicht heute.« Er nahm sie an der Hand und führte sie weiter.
Jonathan war ein unglaublich aufgeweckter Junge und er zeigte ihr auf diesem Spaziergang Unzähliges, an dem sie alleine gedankenlos vorbeigegangen wäre. Nein, schlimmer – sie hätte es überhaupt nicht gesehen. Wenn sie diese Erkundung mit ihm ausgeschlagen hätte, hätte sie wirklich etwas versäumt.
Dann wurde der begehbare Pfad zwischen Allier und Gesträuch ganz schmal. Wenn der Fluss Hochwasser führte, war hier gewiss alles überschwemmt. Der Sand war weich und nachdem Simone zum zweiten Mal mit einem Fuß tief eingesackt war, zog sie ihre Schuhe aus. Der feuchte Sand war bitterkalt, aber da die Füße nun eh nass waren, machte es keinen Unterschied mehr. Sie würde sich eben noch einmal unter die heiße Dusche stellen.
Jonathan störte es nicht; er trug Gummistiefel. Jetzt wusste sie warum. Weil der Campingplatz Wiese war und nicht verschlammte, hatte sie keine eingepackt. Wahrscheinlich besaß sie ihre alten Gummistiefel nicht einmal mehr; sie hatte sie seit Ewigkeiten nicht gesehen.
Der Weg zu seinem Versteck war sehr viel weiter als sie erwartet hatte. Kein Wunder, dass er es geheim halten konnte. Nach einer Dreiviertelstunde führte er sie in eine Art Hain: Direkt am Allier gelegen, wurde er von riesigen Weiden gesäumt; mit ihren ins Wasser reichenden Ästen bildeten sie einen dichten Überhang.
Aber dies war nicht Jonathans »geheimstes« Versteck: Das wäre viel zu einfach für den gewitzten Jungen.
Danach wurde es immer abenteuerlicher. Zwischen Gestrüpp hindurch ging es hinunter in einen Graben, der wie ein trocken gefallenes Bachbett wirkte. Oder es war ein ehemaliger Abwassergraben, der inzwischen zugewachsen war.
Den ersten Teil des Grabens gingen sie durch scharfkantiges Schilf und Simone presste ihre Arme vor die Brust, um sich nicht zu schneiden. Jonathan war mit seiner Jeans-Jacke passender gekleidet als sie in ihrem empfindlichen Seidenhemd.
Er blieb ein paar Schritte vor ihr stehen und beobachtete sie mit geneigtem Kopf und zusammengezogenen Augenbrauen.
»Du hast vergessen, mir die Kleiderordnung für unseren Ausflug zu diktieren.« Sie brach einen Schilfkolben ab. »Christine kannst du hier nicht herbringen. Unmöglich.«
Er feixte. »Ich habe nicht die Absicht. Es gibt genug, was ich ihr stattdessen als mein Versteck andrehen kann.« Er wies zurück zum Hain.
Als sie ihn erreichte, nahm er ihr den Schilfkolben aus der Hand. »Den können Sie nicht zum Campingplatz mitnehmen. Es wäre verräterisch.«
»Wieso verräterisch? Sind wir so nahe an deinem Versteck?« Jonathan blickte zur Seite. »Es gibt doch noch mehr Schilfinseln hier.«
Er zog die Schultern hoch und gab ihr den Kolben zurück. »Vielleicht ist es doch egal.«
»Wie weit ist es noch?«
»Nicht mehr weit.« Seine Stimmung hatte sich verändert; er klang plötzlich muffelig. Neben einem Baumstamm, der mitten im Graben lag, kletterte er die Böschung hoch.
Sie folgte ihm, legte die Hand auf seine Schulter und stoppte ihn. »Ich habe dich geärgert, nicht wahr?«
Er grunzte, aber wenigstens schüttelte er ihre Hand nicht ab.
»Da! Du weißt besser als ich, was es braucht, um dein Geheimnis zu wahren.« Sie hielt ihm den Schilfkolben hin. »Es tut mir leid. Aber du brauchst dich nicht gleich wie ein Macho zu benehmen.«
Und sie verhielt sich gerade wie eine Frau, die den Mann besänftigen will, weil sie sich für seine schlechte Laune verantwortlich fühlt. Wie blöd war das denn?
Jonathan griff nach ihrer Hand, nicht nach der Pflanze. »Hier herauf.« Er dirigierte sie zu einem Dickicht, das auf den ersten Blick aussah, als seien die Sträucher an die drei Meter hoch. In Wirklichkeit wuchsen sie auf einem kleinen Hügel und verbargen ihn.
Mit der freien Hand bog er Äste für sie beiseite und hielt sie fest, bis sie vorbei war, damit keiner zurückschnappte und ihr ins Gesicht schlug.
Mitten in diesem Dickicht gab es plötzlich eine freie Stelle, auf der nur ein paar Moose wuchsen. Zwei Schmetterlinge tanzten in den Sonnenstrahlen, die ihren Weg hierher fanden.
Jonathan ließ sich ins Moos fallen. War das hier sein Versteck? »Was haben Sie vorhin damit gemeint?«
»Womit?« Sie setzte sich neben ihn.
»Mit dem Macho. Maman sagt das auch manchmal. Wenn sie sauer ist, weil Papa ihr erklärt, wie das, was sie gerade macht, besser geht.«
»Oh!« Fast hätte sie sich auch noch dafür entschuldigt. »Das war, weil du ...« Sie schloss die Augen. Sie konnte ihm nicht damit kommen, dass er anscheinend schlechte Laune hatte. Kein Mann gab das zu. Auch nicht, wenn er erst zehn war. »Weißt du nicht, was ein Macho ist?«
Er stützte sich auf einen Ellenbogen. »Einer, der alles besser weiß?«
»Nein, einer, der denkt, er müsse uns Frauen sagen, wie es richtig gemacht wird.« Diese Art von Erklärung sollte er verstehen.
Tat er wohl nicht. »Aber wenn er doch recht hat?« In seinem Blick lag jedoch mehr Unglauben als Ratlosigkeit. Verstanden und verworfen.
»Es gibt selten nur einen richtigen Weg.« Sie deutete auf das Gelände hinter ihnen. »So wie hier. Wir nehmen diesen Weg, weil du ihn für den besten hältst. Aber wir könnten auch anders an dein Ziel kommen. Richtig?«
Jonathans Gesicht leuchtete auf; jetzt hatte er sie besser verstanden. Aber was fiel ihr ein, ihm hier Vorträge zu halten! Das war doch nicht ihre Sache.
»Hast du deine Mutter nie gefragt, was das Wort bedeutet? Oder deinen Vater?«
Er wurde rot. »Wenn die beiden sich streiten, mischt man sich besser nicht ein. Und dann vergesse ich es.«
Es war wirklich falsch, diese Diskussion mit dem Jungen zu führen. Schon gar, wenn es dabei um Streit zwischen den Eltern ging. Selbst wenn er harmlos war.
Jonathan zog sie zu einem großen Baum am Rand der Lichtung, an dem außer der Höhe nichts Besonderes zu sein schien. Doch dann zeigte er ihr wieder ein Nest, ziemlich weit oben, in einer Astgabel nahe dem Stamm. Ein schwarzer Vogel mit gelbem Schnabel saß dort; den kannte sogar sie.
Er zog sie vom Baum fort und flüsterte: »Wir sind noch eine Weile hier. Vielleicht lange genug, dass ich sie schlüpfen sehe.« Er biss auf seinem Knöchel herum. »Also, natürlich sehe ich sie nicht schlüpfen so weit oben. Aber ich könnte sie dann hören. Das wäre toll.«
»Weißt du nicht auch in Clermont-Ferrand, wo es Vogelnester gibt?«
»Sicher.« Aber das war nicht dasselbe; natürlich nicht. Er brauchte es nicht erst zu erklären.
Jonathan nahm sie wieder an der Hand und dann ging es den Hügel hinab. Er hatte ihr das Nest zeigen wollen; deshalb hatte er diesen mühsamen Weg gewählt.
»Wie hast du das nur geschafft, in der kurzen Zeit alles zu erkunden?«
»Mittlerweile weiß ich, wo ich etwas finde. Auf dem Rückweg können wir einen anderen Weg gehen. Der ist auch interessant.« Er begann wieder zu erzählen und die Spannung zwischen ihnen war ausgestanden.
Ein paar Meter hinter dem Hügel kamen sie an eine efeuüberwachsene Mauer aus ungefügen grauen Steinen. Durch hohe Brennnesseln gingen sie an ihr entlang. Es war mehr als eine Mauer; es war der Überrest eines Gebäudes. Am Ende gab es eine niedrige Öffnung, zu niedrig und auch zu schmal für eine reguläre Tür. Aber hinein ging es dort trotzdem und merkwürdigerweise schien es keinen anderen Eingang gegeben zu haben. Die Mauer war ungewöhnlich dick; wohl das Doppelte von Simones Armlänge. Vermutlich waren das die Reste eines uralten Vorratskellers, dafür gebaut, das ganze Jahr über die gleiche Temperatur zu haben.
Nachdem er durch die Öffnung gekrochen war, brachte Jonathan eine Taschenlampe hervor und beleuchtete diesen Eingang für sie.
Dann schwenkte er das Licht durch den Raum: Die Decke war nur zur Hälfte intakt und dort von Efeu überwuchert, wo an ein paar Leisten und den Überresten zweier Balken nur noch Putzreste hingen. Ein Fenster gab es nicht, auch kein zugemauertes; das wenige Licht kam durch die spärlichen Löcher in der Decke.
»Ein feines Versteck hast du hier, Jonathan.« Simone schritt den Raum ab und betastete die Wände. Die Oberfläche war bröckelig; die war mal verputzt gewesen. »Aber es fehlt an Einrichtung.«
»An Einrichtung?«
»Ja.« Sie packte ihn am Arm und deutete in die Mitte des Raumes. »Hier gehört ein Tisch hin und etwas zum Hinsetzen.«
Selbst im dürftigen Schein der Taschenlampe war seine Überraschung unübersehbar. »Wo soll ich einen Tisch herbekommen?«
»Keinen richtigen Tisch natürlich.« Sie schmunzelte. »Obstkisten aus dem Supermarkt.«
»Die würden die hergeben?« Aufregung färbte seine Stimme; die Idee begeisterte ihn.
»Warum denn nicht? Sie schmeißen die eh weg.«
»Würden Sie mir dabei helfen?« Vor Aufregung bekam seine Stimme einen kleinen Kiekser.
»Da du mich mit deinem Geheimnis geehrt hast. Aber ich wäre bestimmt nicht die einzige, der das Spaß macht.« Sie nahm ihm die Taschenlampe aus der Hand und tastete die Wand gegenüber dem Eingang ab. »Hier könnten ein paar Steine für ein Fenster herausgenommen werden.« Die Wand war unangenehm klamm und ihr lief eine Gänsehaut über den Rücken, als sie sich mit der Schulter dagegen lehnte. »Überleg dir, Mathieu einzuweihen. Für die groben Arbeiten.«
»Nein!« Jonathan riss ihr die Taschenlampe regelrecht aus der Hand. »Wir müssen gehen. Es ist gleich Mittag.« Er lehnte es ab, etwas mit seinem Vater zu unternehmen, das so deutlich unter die Rubrik »Männersache« fiel?
Er kroch nach draußen. Dann leuchtete er ihr wieder, damit sie ebenfalls hinausfand, ohne sich irgendwo zu stoßen. »Sie haben versprochen, das Versteck niemandem zu verraten.« Er klang immer noch hart.
»Ich habe nicht die Absicht.« Simone gab ein Lachen von sich, um die Stimmung zwischen ihnen zu retten. »Ich würde überhaupt nicht hierher finden.«
Jonathan gab sich keine Mühe, seinen Unglauben zu verhehlen. Und doch war es so. Erst recht, falls er für den Rückweg einen anderen Weg wählte.
»Zum Campingplatz finde ich natürlich zurück; ich brauche ja nur zum Allier zu gehen. Aber hierher?« Sie lief voraus, hinunter zum Fluss.
Gleich darauf ging er neben ihr. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass Sie Ihr Wort halten.«
Am liebsten hätte sie ihn jetzt gefragt, warum es ihm so wichtig war, das Versteck geheim zu halten ... Ihr Reporter-Instinkt war noch nicht im Urlaub angekommen ... Seine schroffe Antwort war ein deutlicher Hinweis darauf, dass dies mehr war als ein Kleiner-Jungen-Spleen. Aber Jonathan selbst zu fragen, wäre gewiss verkehrt.
Sie nahm sein Friedensangebot gerne an. »Ich fahre nachher einkaufen. Würde es dir gefallen, wenn ich ein paar Kisten auftreiben könnte?«
Jonathan strahlte über das ganze Gesicht; das war Antwort genug. »Sie sind ganz prima, Simone.« Seine Augenlider flatterten. »Vielleicht könnten Sie sie in Ihrem Wagen lassen? Oder in Ihrem Zelt?« Damit niemand etwas davon mitbekam.
Das war einleuchtend. »Natürlich. Warum sollten wir sie hin und her tragen!«
Jonathan packte sie plötzlich am Arm. »Hier entlang.«
Sie kamen wieder an einen Graben. Hier standen Pfützen auf dem Grund. Jonathan sprang hinein und ließ das Wasser bis zu seinen Knien hochspritzen. Dann wartete er auf Simone und half ihr anschließend auf der anderen Seite die Böschung hinauf.
»Gibt es auch einen wirklich einfachen Weg?«
»Mögen Sie diesen nicht?« Er zeigte auf eine kleine, rosa blühende Pflanze. »Die können Sie pflücken und in Ihr Zelt stellen, wenn Sie möchten.«
»Ich mag keine Schnittblumen. Sie sterben so schnell.« Sie schwenkte den Schilfkolben. »Dies hier hält sich.«
Er war ihr ausgewichen und sie wiederholte ihre Frage nach einem anderen Weg, aber Jonathan zuckte die Achseln. Was wohl hieß, dass es für ihn keinen anderen gab.
3
Zum Mittagessen fuhr Simone in die Innenstadt von Moulins. Die Place d’Allier am Fuß von Sacré-Cœur war eigentlich kein Platz, sondern eine breite Straße mit einem zugeparkten Mittelstreifen. Sie war trotzdem attraktiv, denn sie war voller Leben. Auf beiden Seiten gab es kleine Geschäfte, Bars und Restaurants.
Bei »Mamma Rosa« aß sie ein Carpaccio und Steinpilz-Tortelloni. Dann fuhr sie nach Yzeure.
Der Ort wirkte wie ein Stadtteil von Moulins, war aber immer noch eigenständig. An der Ausfallstraße nach Süden gab es einen großen Carrefour, ein Sportgeschäft und gegenüber einen Schuhmarkt. Die Gummistiefel erstand sie im Sportgeschäft; der Schuhmarkt hatte überhaupt nur hässliche und trotzdem teure Schuhe. Die aktuelle Schuhmode eben. Vielleicht war das der Grund, warum sich lediglich eine Handvoll Kunden auf der riesigen Fläche verloren. Sie trug auch lieber schlichte Ballerinas und Sneaker.
Genau genommen war der Carrefour ein Einkaufszentrum, in dem es neben dem Supermarkt selber und einem McDonald’s zahlreiche Läden gab, die das Warenangebot ergänzten: Apotheke, Juwelier, Telefonladen, Optiker, Schuster ...
Nach dem Einkauf fragte sie an der Kasse des Supermarkts nach Obstkisten, aber der Mann gab sich ahnungslos und schickte sie zum Service-Schalter. Die beiden Frauen, die dort arbeiteten, waren hilfsbereiter als der Kassierer, aber auch die schickten sie weiter. Schließlich landete sie – nach zehn Minuten zu Fuß – an der Rückfront des Gebäudes bei jemandem, der für das Lager zuständig war.
Alain Mercier, dieser Lagerleiter, war freundlich und jung; jünger als sie selber. Trotzdem war er der Chef. Aus einem Impuls heraus erzählte sie ihm, wofür sie die Obstkisten benötigte.
»So etwas wie ein Baumhaus.« Sein Blick ging zur Decke; er hatte wohl selber eines gehabt. »Aber das baut man in dem Alter entweder mit seinem Vater oder mit seinem Freund.«
Simone schmunzelte. »Dieser Freund, das bin dann wohl ich. Jonathan muss seinen Vater mit seinen kleinen Schwestern teilen.«
Auch das war vermutlich ein Grund, warum die Prevôts Jonathan so viel Eigenständigkeit zubilligten. Und wohl kein Junge in diesem Alter würde zugeben, dass er lieber gehätschelt werden wollte. Schon gar nicht, wenn er zwei kleine Schwestern hatte, denen gegenüber er sich sehr erwachsen fühlte.
Während Mercier in seinem winzigen Büro Kaffee aufsetzte, ließ er sich beschreiben, wie groß Jonathans Gemäuer war. »Was haben Sie für einen Wagen?«
Sie sagte es ihm und er schüttelte den Kopf. »Da bekommen Sie nichts rein. Ich sag Ihnen was: Lassen Sie mich das machen. Ich kann einen unserer Vans vollladen. Ich muss nur wissen, wo ich die Kisten abliefern soll.«
»Am Campingplatz natürlich.«
»Und Sie tragen die dann Stück für Stück durchs Gelände? Ist das nicht weit? Sie hätten es bequemer, wenn ich die direkt ablade.« Er nahm eine Tüte Milch aus dem kleinen Kühlschrank an der Rückwand des Büros. »Zucker habe ich keinen. Aber Sie sehen mir auch nicht so aus, als würden Sie Ihren Kaffee mit Zucker ruinieren.«
»Was?« Sie klappte ihren Mund schnell wieder zu.
»Habe ich unrecht?«
Sie lachte und schüttelte den Kopf.
Er stellte zwei Tassen zur Milch auf den Tisch und gleich darauf war der Kaffee fertig.
Er schenkte ein und schob die Milchtüte zu ihr. »Aber der Typ für Milch sind Sie.« Flirtete er etwa mit ihr? War sie ihm denn nicht zu alt? »Wie machen wir es denn nun? Ich arbeite immer bis um vier.«
»Das muss ich Jonathan entscheiden lassen.« Sie wollte den Mann keinesfalls vor den Kopf stoßen. Schließlich bekam sie von ihm genau das, was sie sich vorgestellt hatte. »Ich habe ihm mein Wort gegeben, dass das Versteck sein – unser – Geheimnis bleibt.«
»Jungen in dem Alter!«
Sie unterdrückte ein erleichtertes Aufatmen. Er war nicht beleidigt; gut. »Ich würde gerne ein paar Kisten mitnehmen. Drei oder vier passen noch zu den Einkäufen ins Auto.«
»Und dann sehen wir weiter?« Seine Augen funkelten vergnügt. »Jonathan wird dann schon merken, welche Mühe es macht, alles durch die Gegend zu tragen. Und dass er mit drei Kisten nicht weit kommt.«
Sie nickte. »So ungefähr. Erst einmal soll er sehen, dass es tatsächlich möglich ist, sein Häuschen einzurichten.«
»Wie weit ist es denn überhaupt vom Zeltplatz entfernt?«
Ganz langsam trank sie ihren Kaffee aus. Darauf würde sie gewiss nicht antworten.
Als sie die Tasse absetzte, grinste er sie an. »Das ist natürlich ein Teil des Geheimnisses.« Er nahm ihr das Schweigen wirklich nicht übel.
»Also kann ich ein paar Kisten mitnehmen?«
»Sicher. Kommen Sie.« Er nahm einen Post-it-Block von seinem Schreibtisch und schrieb ihr seine Telefonnummer auf.
Sie steckte den Zettel in die Seitentasche ihrer Handtasche. »Ich muss mein Auto holen. Es steht vorne auf dem Parkplatz.«
Er grinste wieder. »Wie gesagt, ich bin bis um vier hier.«
Wollte er damit sagen, dass er nicht bereit war, notfalls ein paar Minuten zu warten? Unwillkürlich blickte sie auf ihre Armbanduhr. Es war tatsächlich sehr viel später als sie gedacht hatte. Aber das würde sie schaffen.
Eine halbe Stunde danach fuhr sie auf den Zeltplatz. In der Zwischenzeit waren drei neue Zelte und zwei weitere Campingwagen dazugekommen. Die jungen Männer, die am Morgen ihr Zelt aufgebaut hatten, standen an einem der großen Grills und eine dicke graue Qualmwolke zog über den Platz. Sehr geschickt waren sie offensichtlich nicht.
Sie hielt nach Jonathan Ausschau, während sie langsam zu ihrem Zelt fuhr. Aber die Prevôts waren allesamt unterwegs. Keine Wäsche auf der Leine und die Stühle zusammengeklappt.
Eines der neuen Zelte stand direkt gegenüber ihrem. Ein junger Mann streckte seinen Kopf heraus, als sie parkte, und musterte sie ausgiebig. Unwillkürlich ballte sie die Fäuste über seine Unverfrorenheit.
Als sie den Kofferraum öffnete, um auszuladen, kam er auf sie zu. »Ich bin Michel!« In einer Hand schwenkte er eine Weinflasche, in der anderen hielt er einen Korkenzieher. »Trinken Sie mit uns einen Schluck auf gute Nachbarschaft?«
Da durfte sie wohl nicht direkt Nein sagen. »Wer ist ›uns‹?«
»Suzanne und ich.« Gut. Wenn er mit Freundin da war, dann hatte er es nicht auf sie abgesehen.
Aber eilig hatte sie es trotzdem nicht. Direkt gegenüber – da war zu befürchten, dass sich die beiden um sie kümmern wollten, damit sie nicht so einsam war. Schließlich zeltete man nur allein, wenn einem dafür der Partner fehlte. Oder so ähnlich. »Ich räume erst meine Einkäufe weg.«
Sie brachte ihre Einkäufe ins Zelt, verstaute Milch, Joghurt und Käse in der Kühlbox und öffnete eine der Mineralwasserflaschen. Währenddessen klappten die beiden einen Campingtisch auseinander und stellten zwei Stühle Seite an Seite auf. Dann brachte Michel noch eine große Kühlbox heraus.
Auf den Tisch kamen eine große Tüte Kartoffelchips, eingeschweißtes Salzgebäck, Wegwerf-Becher, Pappteller und die Weinflasche. Sehr umweltfreundlich war das alles nicht.
Schließlich hatte Simone keinen Vorwand mehr und ging zu ihren neuen Nachbarn.
Suzanne und Michel Dubois: Sie waren Geschwister, kein Paar. Dabei sahen sie sich überhaupt nicht ähnlich.
Michel war gewiss schon jenseits der Dreißig; und machte trotzdem zusammen mit seiner Schwester Urlaub? Beeindruckend.
Sein erneuter abschätzender Blick war zwar nicht aufdringlich, aber trotzdem eindeutig. Da hatte sie sich womöglich zu früh in Sicherheit gewogen. Er schob ihr einen der Stühle hin und setzte sich dann auf die Kühlbox.
Suzanne schien noch sehr jung, wirkte aber nicht so, als erlaube sie jemandem, auf sie aufzupassen. Angesichts der leuchtend blauen Augen war ihr schwarzer Pagenkopf mit Sicherheit gefärbt. Schwarz umrandet waren auch die Augen und auf ihren Lippen fanden sich die Spuren dunkler Farbe; sie schien auf einem Gothic-Trip zu sein.
Suzanne stand kurz vor ihrem Bac und wollte studieren, wusste allerdings noch nicht recht, was. Entweder etwas mit Sprachen oder etwas Technisches, Luftfahrtingenieurin zum Beispiel. Michel lächelte milde, während Suzanne sich über ihre Studienwünsche begeisterte.
Bevor Simone Michel fragen konnte, was er von Beruf war, überrollte Suzanne sie mit ihrer Wissbegier. Um dann wieder zu ihren eigenen Berufswünschen zurückzukehren. Inspiriert von Simone fügte sie den Gesichtspunkt hinzu, dass Sprachkenntnisse eine ideale Voraussetzung wären, als Auslandskorrespondentin zu arbeiten. Chinesisch wäre bestimmt besonders lohnend.
Michel verdrehte die Augen, doch mittlerweile war er ihr trotzdem sympathisch. Eigentlich verhielt er sich tadellos. Nach den ersten spekulativen Blicken hatte er nicht einmal angedeutet, dass er an ihr interessiert sein könnte. Er hatte auch nicht die üblichen Fragen gestellt. Aber vielleicht dachte er, dass es keine Rolle spielte, ob sie in einer Beziehung lebte, solange sie auf dem Zeltplatz allein war.
Simone trank ihren Wein in winzigen Schlucken und setzte den Becher nach jedem Schluck wieder ab. Keiner der beiden sollte auf die Idee kommen, sie müssten eine weitere Flasche öffnen. Während sie schließlich die letzten Tropfen im Pappbecher kreisen ließ, kamen die Prevôts zurück.
In dem Augenblick, als die Kinder ausstiegen, schien sich schlagartig der ganze Zeltplatz zu verwandeln. Der Drahtbürsten-Hund hatte die Vorderpfoten auf dem Fenster seines Wohnwagens und bellte aus Leibeskräften. Die beiden Mädchen fegten übermütig lachend zum Sanitärhaus. Mireille folgte und ging mit Christine in eine Toilette. Mathieu lud währenddessen den Van aus und Jonathan half ihm gleich darauf.
Es war der perfekte Augenblick, um sich zu verabschieden. Simone trank den letzten kleinen Schluck und stellte den Becher auf den Tisch. Sie bedankte sich und erklärte, dass die Prevôts sie erwarteten.
Suzanne sah enttäuscht aus. Nun war sie der Gelegenheit beraubt, Simone für sich zu beschlagnahmen. Sie war wohl nicht so glücklich, mit ihrem Bruder zu zelten.
Jonathan kam ihr auf halbem Weg entgegen. »Wir waren in einem Klostermuseum.« Das Museum der Visitantinnen vermutlich. Die Visitantinnen waren ein Klosterorden – der Orden von der Heimsuchung Mariens –, der Anfang des 17. Jahrhunderts in Annecy gegründet worden war. 1990, als das Moulinoiser Kloster vor der Auflösung stand, war das Museum eingerichtet worden. Der Gedanke dahinter war wohl gewesen, auf diese Weise die Kunstschätze des Ordens zu bewahren.
Er verzog das Gesicht. »Gold und Silber und so. Langweilig.«
Simone lachte. »Aber gelernt hast du dabei sicher trotzdem etwas.«
Da lachte Jonathan auch. »Sie sind doch eine typische Erwachsene. Sie denken wie alle anderen als Erstes daran, was ich lernen kann.«
»Aber nicht nur.« Sie hakte ihn unter. »Du wirst gleich sehen.«
Sie nahm ihn zu ihrem Auto mit und öffnete den Kofferraum. Mit einer schwungvollen Geste zeigte sie auf die vier Kisten. »Die ersten Möbel für deine Villa.«
» Génial ! Sie sind echt grandios, Mademoiselle.«
»Mademoiselle? Waren wir nicht schon weiter?« Sie kräuselte die Nase. »Du solltest deinem Haus übrigens einen Namen geben. Alle Häuser, die etwas auf sich halten, haben einen.«
Jonathan blickte zum Zelt zurück und seufzte. »Es ist zu spät heute Abend – Simone.« Allerdings. Es wäre dunkel, bevor sie zurückkämen.
»Wir können morgen ganz früh losziehen. Wenn ihr nichts anderes vorhabt oder deine Eltern das erlauben.«
»Mit Ihnen zusammen lassen sie mich bestimmt auf dem Zeltplatz zurückbleiben.«
»Wir haben aber noch etwas zu entscheiden.« Sie setzte sich auf ihren Stuhl und bat Jonathan mit einer Geste, sich daneben im Gras niederzulassen. Sie sollte sich wirklich einen zweiten Stuhl zulegen. So viel Platz nahmen diese zusammenklappbaren Stoffdinger nun auch wieder nicht ein.
»Wo ich die Kisten herbekommen habe, gibt es noch viel mehr davon. Und einen jungen Mann, der sehr hilfsbereit ist. Ich habe ihn wohl an seine eigene Kindheit erinnert.« Sie erzählte ihm besser nicht, dass Mercier das Ganze für ein Vater-Sohn-Projekt hielt. »Wenn du magst, lädt er sich einen Van voll mit Kisten und bringt sie direkt zum Häuschen. Jedenfalls so nahe, wie man heranfahren kann.«
Jonathan legte die Stirn in Falten. »Woher weiß er, wie er zu meinem Versteck kommt?« Er klang schon wieder misstrauisch.
»Weiß er nicht. Wir müssten es ihm natürlich beschreiben.«
Die Falten auf Jonathans Stirn vertieften sich weiter. »Ich habe nicht gedacht, dass Sie es ihm verraten haben, Simone.« Aber genau so reagiert; vielleicht war es ein Reflex gewesen. »Er kann die Kisten doch hier abliefern.«
»Und wir tragen sie dann nach und nach ins Haus.« Wenn sie jetzt versuchen würde, ihn davon abzubringen, käme sie vermutlich nicht weit. Er musste selber darauf kommen, dass das nicht klug war. »Es muss uns nur gelingen, deine Schwestern fernzuhalten. Oder hast du es dir anders überlegt? Nimmst du sie mit?«
Sie erntete einen vorwurfsvollen Blick. »Sie sind viel zu klein. Und außerdem müssten wir dann auf beide gleichzeitig aufpassen.« Vermutlich wäre das nicht einfach.
Gerade jetzt war Christines Kreischen bis zu ihnen zu hören. Mathieu hielt sie an den Armen und schien auf sie einzureden; offensichtlich erfolglos. Maëva ging auf die beiden zu und warf ihnen etwas vor die Füße.
Christine hörte auf zu kreischen. So war das also: Die Schwestern hatten sich darüber gestritten, was wem gehörte oder wer womit spielen durfte.
»Das wäre wie eine Herde Katzen hüten, oder?«
Jonathan seufzte. »Sie sind schon nett. Aber mit Christine kann man wirklich nur Babyspiele machen.« Er stand auf. »Ich geh dann mal wieder. Wann frühstücken Sie morgen?«
»Ich glaube, wir müssen uns danach richten, wann ihr frühstückt.«
Er zuckte die Achseln. Vermutlich plante er, sich noch vor dem Frühstück davonzuschleichen. Auf diese Weise wäre er sicher, dass ihn seine Schwestern nicht bedrängten.
Wenn es nur nicht wieder regnete. Im Westen türmten sich schon wieder Gewitterwolken auf.
4
Simone erwachte wieder vor Sonnenaufgang. Es war kühl, auch im Innenzelt. Sie zog einen langärmeligen Pullover über den Schlafanzug, bevor sie sich aus dem Schlafsack schälte und Kaffee kochte.
Die Nacht war sternenlos und dunkel und es war still. Um diese Zeit zirpten nicht einmal die Grillen und die Vögel schliefen auch noch.
Als es dämmerte, ging in dem altmodischen Campingwagen, der am Vortag angekommen war, das Licht an. Dann ging ein Mann mit schweren Schritten zum Sanitärhäuschen. Der Drahtbürsten-Hund kläffte empört, aber er beruhigte sich gleich wieder. Als eine Toilettentür zuschlug, begann ein Vogel zu zetern. Was schlief er auch in dem Baum direkt daneben?
Bald darauf erwachte das Leben auch in dem Zelt ihr gegenüber. Suzanne kam kichernd mit einem Wasserkanister heraus. »Alles nass!«, rief sie ins Zelt zurück. »Wisch den Tisch trocken.« Das würde ihnen nicht viel nützen; ihre Stühle waren sicher auch nass.
»Guten Morgen!« Simone schwenkte ihre Thermoskanne. »Magst du eine Tasse, bevor dein eigener fertig ist?«
Suzanne nickte und dann kam sie mit einem Pappbecher über den Weg.
Heiß und kein Henkel – wie ungeschickt. Simone schenkte den Becher nur halb voll, damit sich das Mädchen nicht die Finger verbrannte. »Gestern im Carrefour habe ich Plastikgeschirr gesehen, ganz billig.«
»Plastikgeschirr ist doof. Da muss man ja ständig abwaschen.« Suzanne hielt den Becher direkt unter dem Rand fest und trank vorsichtig den ersten Schluck. »Wer den Kaffee erfunden hat, sollte den Nobelpreis bekommen. Aber wahrscheinlich gibt es keine Kategorie dafür.« Sie rümpfte die Nase.
»Chemie.« Simone hielt ihr die Kanne hin. »Kannst du nicht deinen Bruder zum Abwaschen schicken?«
»Michel?« Suzanne senkte ihre Stimme. »Er ist imstande und zerbricht die Plastikteller. Gabeln kriegt er jedenfalls klein, so schnell kannst du gar nicht gucken.« Sie stellte den Becher auf Simones Tisch, schwenkte einmal den Kanister und ging dann Wasser holen.
Simone starrte auf den Becher: Sollte etwa sie den wegwerfen? Sie stellte ihn auf den Tisch der Geschwister. Der war zwar von einem Wasserfilm bedeckt, aber vielleicht weichte der Becher nicht gleich von unten durch und Suzanne konnte ihn noch gebrauchen.
Michel kam aus dem Zelt und wedelte ihr mit einem Geschirrhandtuch einen Gruß zu. »Hier muss man nachts wohl alles ins Zelt stellen.« Sein Blick ging über den Platz, während er auf dem Tisch hin und her wischte. »Wir waren offensichtlich die einzigen, die das nicht wussten.«
Ehe sie das kommentierte ... Sie wies zum Eingang des Zeltplatzes. »Der Kiosk öffnet gleich. Soll ich euch etwas mitbringen?«
Michels Gesicht leuchtete auf. Hoffentlich verstand er das nur als simple nachbarschaftliche Freundlichkeit. Sie hatte immer noch nicht gelernt, keinem Mann den kleinen Finger zu reichen. »Croissants und Chocolatines?« Er ließ das Handtuch auf dem Tisch liegen und verschwand im Zelt. Mit einem Zehn-Euro-Schein überquerte er den Weg zu ihr. »Danke.«
Auf dem Rückweg vom Kiosk machte Simone einen Umweg am Zelt der Prevôts vorbei. Das einzige Geräusch dort war ein leises Schnarchen. Jonathan würde keineswegs vor dem Frühstück der Familie kommen.
Ein Windstoß ließ sie zum Himmel blicken: Es zog sich wieder zu.
Aber für den Notfall hatte sie jetzt Gummistiefel und falls sie in dem Gemäuer einen Regenguss abwarten mussten, würden sie wenigstens herausfinden, wie wasserdicht es war.
Sie kochte noch mehr Kaffee, aß ihre zwei Croissants und wappnete sich mit Geduld und ihrem Lesegerät: Der historische Kriminalroman, der in Japan spielte, ließ sich recht spannend an.
Während sie das zweite Kapitel las, wurde es rund um das Zelt der Prevôts lebendig. Zuerst tauchte Mathieu auf, eine Stofftasche über der Schulter, und ging zum Kiosk. Dann kam Jonathan aus dem Zelt, den Wasserkanister in der Hand. Er winkte ihr zu und zog die Schultern hoch. Das war wohl als Entschuldigung gemeint, dass er sie warten ließ.
Drei Kapitel später schließlich stand Jonathan mit fröhlicher Miene vor ihr, Mireille an seiner Seite. »Guten Morgen, Simone«, sagte sie. »Ich habe gehört, ihr habt einen großen Plan für heute.«
Jonathan hatte etwas preisgegeben? Wie erstaunlich. Er nickte und sein Lächeln war noch breiter als zuvor.
Simone erwiderte das Lächeln. »Das ist etwas übertrieben. Wir fangen erst an mit dem Planen.«
Mireille legte ihre Hand auf Jonathans Schulter. »Zum Mittagessen zurück, ist das klar?«
»Absolut, Maman.«
»Mittagessen auch für Sie, Simone. Sie werden gewiss nicht zum Kochen kommen. Jonathan wird die Zeit bis zur letzten Sekunde ausnutzen.«
Jonathan hüpfte von einem Fuß auf den anderen und dann zum Kofferraum. Simones Blick kreuzte den von Suzanne; das Mädchen winkte amüsiert. Sie dachte vermutlich, sie habe sich Jonathan aufhalsen lassen.
Michel beobachtete Jonathan, als der Junge den Kofferraum öffnete und die Kisten herausholte. Dann sagte er etwas zu seiner Schwester und sie hieb ihm lachend auf den Arm.
Jonathan stellte zwei Kisten vor Simone ins Gras und holte die anderen beiden. »Fertig?«
Sie zog ihre Gummistiefel an und schloss das Zelt. Jonathan schlug natürlich wieder den Pfad durch die Hecke ein, statt den befestigten Weg zum Fluss zu nehmen.
Wie am Vortag gingen sie den Katzenpfad hinunter zum Allier und dann das Ufer entlang. An dem alten Graben wurde es mühsam, denn mit zwei Kisten in den Händen konnten sie nicht klettern.
»Maman dreht mir den Hals um, wenn sie die Jeans schon wieder waschen soll.« Jonathan setzte eine Kiste ab. »Ich muss die einzeln auf die andere Seite bringen.«
Simone stellte ebenfalls eine Kiste auf die Erde. »Wir haben Urlaub! Solange es nicht regnet, haben wir Zeit genug.«
.Mit ihren Gummistiefeln hatte sie einen stabileren Tritt als am Vortag. Aber sie brauchte lange: Bevor sie mit ihrer Kiste die Böschung auf der anderen Seite erklommen hatte, brachte Jonathan schon seine zweite.
»Sie bluten ja!« Er klang erschrocken.
Simone besah sich ihre Hände. Nur ein kleiner Kratzer am linken Handgelenk; vermutlich von einer der Metallklammern, mit denen die Kisten zusammengehalten wurden.
»Tut es sehr weh?« Er hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt.
Sie winkte ab. »Kein Problem. Ich habe einen wirksamen Tetanus-Schutz.«
Seine Stirn blieb in Falten. Vielleicht hatte er nicht verstanden, was sie damit sagen wollte. Er zog eine Packung Papiertaschentücher aus der Hosentasche und gab sie ihr. »Ich hole inzwischen Ihre zweite Kiste.«
Sie drückte ein Taschentuch auf den Kratzer. »Was für eine Art von Abenteuer wäre das, wenn alles glatt ginge?«
Er nickte, aber er seufzte. Vermutlich hatte er es sich einfacher vorgestellt.
Dann ging es den kleinen Hügel hinauf und wieder hinunter; anscheinend gab es keinen guten Weg außen herum.
Schließlich standen sie vor dem Gemäuer.
Ein Tropfen traf Simone auf die Stirn. »Es regnet.«
»Ach was!« Jonathan winkte nonchalant ab. »Jetzt haben Sie doch auch Gummistiefel.« Aber nicht einmal eine Kapuze an ihrem Pullover.
Sie schoben ihre Kisten nacheinander durch die Öffnung und krabbelten hinterher.
Jonathan schaltete seine Taschenlampe ein und leuchtete auf die Kisten. »Ist das jetzt unser Tisch oder sind das unsere Stühle?«
»Unsere Hocker.« Simone grinste ihn an. »Feine Leute setzen sich nicht auf einen Tisch. Oder es ist ein Stuhl, wenn wir alle vier übereinander stellen.«
Jonathan stellte eine Kiste hochkant. »Reicht doch!« Er setzte sich darauf und bewegte sich vorsichtig hin und her. »Nicht so stabil.« Das klang enttäuscht.
»Wir brauchen mehr.« Simone stapelte die anderen drei Kisten aufeinander und setzte sich darauf. »Aber für den Anfang ist das schon mal was.«
Jonathan schwenkte das Licht der Taschenlampe durch den Raum. »Ich stelle mir gerade vor ...« Das Licht blieb stehen. »Ein Regal mit all dem, was ich in den letzten Tagen gesammelt habe. Maman will es nicht im Zelt haben. Sie sagt, es ist im Weg.«
»Womit sie vermutlich recht hat.«
Er zog einen Flunsch. »Christines Puppen sind auch im Weg.«
»Aber dir kann Mireille es sagen. Du bist groß genug, es einzusehen; deine Schwester nicht.«
Die Falten kehrten auf Jonathans Stirn zurück.
Simone drückte seine Schulter. »Bestimmt ist es ganz schön schwierig, der Älteste zu sein.«
»Wie viele Geschwister haben Sie, Simone?«
»Gar keine.«
»Oh!«
»Meine Mutter durfte nach mir kein Kind mehr bekommen.«
»Ich finde es schön, Schwestern zu haben. Ich zeige ihnen alles, was ich weiß.« In seinen Augen glitzerte der Schalk. »So wie Ihnen. Und wenn sie groß sind, werde ich sie beschützen. Ich passe auf, dass niemand sie unglücklich macht.«
Es gab eine Zeit, da hätte sie einen großen Bruder für diese Art von Beschützen gut gebrauchen können.
»Ein Regal an dieser Wand für deine Sammlungen. Der Tisch.« Sie stellte zwei Kisten nebeneinander und die anderen beiden darauf. »Nochmal mindestens vier für einen zweiten Stuhl. Sechs für jeden Stuhl wären bequemer. Zwanzig Kisten vielleicht?«
»Zwanzig?« Der Schock in Jonathans Stimme war unüberhörbar.
»Ich habe die Telefonnummer von Monsieur Mercier. Wenn er gleich nach Feierabend kommt, können wir gegen fünf alles haben, was wir brauchen.«
»Zwanzig Kisten ... Fünf Mal den Weg hin und zurück.« Jonathan begann, sich Gedanken zu machen. Er würde bald auf die richtige Schlussfolgerung kommen. »Monsieur Mercier bringt sie zum Campingplatz?«
Sie ignorierte die Frage. »Wenn er nichts anderes zu tun hat, sicher gleich heute. Bestimmt aber morgen. Er klang sehr hilfsbereit.«
»Gut!« In Jonathans Stimme lag ein Zögern, als wollte er eigentlich noch etwas sagen.