Stahlberg & Co. - Rainer Imm - E-Book

Stahlberg & Co. E-Book

Rainer Imm

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Beschreibung

Während seine Eltern im Urlaub sind, kümmert sich Marek Stahlberg um deren Videothek. Hier kommen Filmliebhaber aus allen Schichten und Lebensbereichen vorbei, es wird diskutiert, Kaffee getrunken, philosophiert. Doch die Existenz der Videothek ist gefährdet. Eine Heuschrecken- und Spekulantenplage zieht übers Land. Die kleine Kiezgemeinschaft will sich ihren anachronistischen Ort partout nicht nehmen lassen und stemmt sich mit Ideenreichtum gegen die scheinbare Übermacht... „Sorglosigkeit ist das Glück des kleinen Mannes.“ Doch was, wenn dem nicht so ist und alles auf dem Spiel steht? Im Falle von Marek Stahlberg und der Videothek seiner Eltern und überhaupt der ganzen kleinen Kiezgemeinschaft heißt das: Den Immobilienhaien alles entgegenstellen, um weiterhin hier wohnen und leben zu können. Auch mit geringem Einkommen – sofern das überhaupt da ist – und ohne große Aussicht auf Erfolg. Der Reigen ist eröffnet. Doch ganz so wehrlos, wie es scheint, sind sie eben nicht. Rainer Imms Buch – spannend, kraftvoll und mit viel Humor erzählt – ist eine Hommage an die Freundschaft und an den Film. Vor allem aber an unwiederbringliche Orte der Gemeinschaft und des Austauschs – und an die Kraft der Kleinen gegen die Großen. In einer immer harscher werdenden Realität schlägt er märchenhafte Töne an und spürt damit dem Autor Nick Hornby und den Filmemachern Ken Loach und Aki Kaurismäki nach.

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Seitenzahl: 389

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Stahlberg & Co.

Für Ecke und Ramona

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout:

fototypo.de

Lektorat / Korrektorat: Ralf Diesel

ISBN: 9-783-958-942-41-7

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2022

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Der Roman wurde gefördert durch ein Stipendium des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg.

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Personenregister am Ende des Buches.

„Irgendjemand muss doch erzählen, in welchem Schlamassel die Menschen stecken und wie sie dennoch ihre Würde wahren.“

(Aki Kaurismäki)

Inhalt

Freitag, 7. Juni

Samstag, 8. Juni

Mittwoch, 12. Juni

Donnerstag, 13. Juni

Freitag, 14. Juni

„Paterson“

Freitagabend, 14. Juni

Samstag, 15. Juni, Vormittag

Der Tübinger Schandfleck soll weg

Samstag, 15. Juni, Nachmittag

Sonntag, 16. Juni

Montag, 17. Juni

Dienstag, 18. Juni

Samstag, 22. Juni

„Angels‘ Share – Ein Schluck für die Engel“

Samstag, 22. Juni, 16 Uhr

Sonntag, 23. Juni

Montag, 24. Juni

Mittwoch, 26. Juni

Freitag, 28. Juni

Samstag, 29. Juni

„Die üblichen Verdächtigen“

Montag, 1. Juli

Dienstag, 2. Juli

Mittwoch, 3. Juli

Donnerstag, 4. Juli

Freitag, 5. Juli

Samstag, 6. Juli

„Sacco und Vanzetti“

Sonntag, 7. Juli

Montag, 8. Juli

Dienstag, 9. Juli

Mittwoch, 10. Juli

Donnerstag, 11. Juli

Freitag, 12. Juli

Montag, 9. September

„Lola rennt“

Dienstag, 10. September

Freitag, 13. September

Samstag, 14. September

Sonntag, 15. September

Montag, 16. Dezember

Mittwoch, 18. Dezember

Personen

Danksagung

Freitag, 7. Juni

„Der Adler hat stets die meiste Zeit verplempert, wenn er versucht hat, von den Raben zu lernen.“

(aus: „Dead Man“)

„Mensch, Stahlberg, was ist denn los mit Ihnen? Sie sind so renitent. So kenne ich Sie gar nicht.“ Windhorst hatte tatsächlich ein schiefes Gesicht, ein windschiefes. Albernes Wortspiel, Marek schmunzelte trotzdem. Ein unsymmetrisches, um es gesellschaftsfähiger auszudrücken. Sarah hatte Marek schon öfter damit genervt. Der unangenehme ältere Bruder von Claus Kleber, hatte sie gesagt und böse gelacht. Sehr ungewöhnlich für sie, die ach so brave und zuvorkommende Bankangestellte. So komplett gegen alle Vorurteile war sie, sympathisch und einfühlsam. Eigenschaften, die bei Umfragen zu typischen Wesenszügen von Bankern wohl als letzte – wenn überhaupt – genannt werden würden. Marek hatte Windhorsts Aussehen noch nie interessiert. Aber sie hatte vollkommen recht. Wie der frühere Moderator des heute-journal hatte auch Windhorst zwei völlig verschiedene Gesichtshälften.

Wie aus der Zeit gefallen, nein, wie von allen guten Geistern verlassen saß er hinter seinem aufgeräumten, aseptischen Schreibtisch, auf dem nichts lag außer einem lächerlich kleinen Tablet. Sein Vorgesetzter trug wie immer eine Fliege, heute in Bordeaux. Dazu ein weißes Hemd, graues Sakko und dunkle Hose. Eine Fliege! Wer trägt heute noch eine Fliege? Marek und Mode, das waren zwei Galaxien, die nichts voneinander wussten. Mode war nicht in seinem aktiven Gedankenschatz. Mehr noch: Das Thema war für ihn nie existent gewesen. Heute stach ihm diese Fliege allerdings ins Auge und verursachte zusammen mit diesem ganzen Arrangement aus Büro, Kleidung und Kölnisch Wasser körperliche Schmerzen. Windhorst verströmte tatsächlich den Duft älterer männlicher Kunden der Videothek aus Mareks Kindertagen, die sich verstohlen in Richtung „Filme für Erwachsene“ verdrückten. Aber es waren nicht wirklich dieses Gesicht, diese Fliege, dieses Duftwasser und dann noch das bayerisch gerollte R, was Marek nervte, es war, als ob über die letzten Wochen hinweg ganz langsam ein Schleier weggezogen würde. Mit jedem Gespräch, mit jedem Meeting wurde er ein wenig mehr gelüftet, und zum Vorschein kam ein immer größeres Stück Verlogenheit und Falschheit. Das ganze Elend, das man am liebsten vollständig und für immer und ewig verbergen würde. Je schöner und aufwändiger der Schleier, desto abscheulicher und widerwärtiger das zu Verhüllende. So kam es ihm inzwischen vor. Als wäre er all die Jahre mit einer rosa Brille durch die Bank und ihre Abteilungen geschwebt. Natürlich wusste er um diese Brille … irgendwie. Aber abnehmen hatte er sie auch nicht wollen. Schließlich erschien Macht, Verantwortung und Geld hinter rosa Gläsern noch schöner und attraktiver. Bis jetzt! Dabei gab es keine Initialzündung oder kein besonderes Ereignis. Die Zweifel an den Geschäften der Bank und ihrer Seriosität schlichen sich vielmehr mit der Zeit immer mehr ein und setzten sich fest wie Stacheln unter der Haut. So sehr, dass er Fehler machte, die ihn im Nachhinein selbst überraschten. Er war einfach nicht mehr bei der Sache.

Nein, stimmte gar nicht: Wenn er so nachdachte, gab es sehr wohl Anlässe, um an der Integrität dieser Bank zu zweifeln. Nadelstiche, die sich zu einer Perforation summierten und zur Reißlinie wurden, an der wie ein Stück Papier auch das Vertrauen riss. Als hätte er diese Vorkommnisse verdrängt, um seine Psyche und sein Magengeschwür zu schonen. Nicht nur einmal war er heftig mit seinem militant inkompetenten Vorgesetzten aneinandergeraten, als er bestimmte Bewilligungen und Nichtbewilligungen von Krediten in Frage stellte. Warum wurden dem weit überschätzten 3D-im-Internet-Start-up Geld und Kredite hinterhergetragen, obwohl es seit Jahren keinen einzigen traurigen Cent verdient hatte? Während Rahim Burhan vergeblich um 5.000 Euro Starthilfe für seinen Traum eines mobilen Wurstverkäufers bettelte.

„Sie wissen doch, Corporate Finance ist eine der Schlüsselverantwortlichkeiten einer Bank – unserer Bank. Bei allen anderen wichtigen Bereichen, wie Asset Management, Financial Engineering, Research Trading und so weiter, geht es hier bei uns in dieser Abteilung hauptsächlich um die Kunden. Und was wären wir ohne unsere Kunden? Die Beratung über Finanzprodukte ist …“

Das übliche Geblubber, das Marek über sich ergehen lassen musste. Und dann dieses übergriffige, rollende R. Wie hasste er es, wie ein ungezogener Schüler vorm Direx sitzen und sich den abgenutzten Vortrag anhören zu müssen. Wie konnte sich Windhorst bei seinem eigenen Gelaber nicht selbst langweilen? Derselbe Inhalt seit … wie lange eigentlich? Seit ewig. Marek kannte den Vortrag seit jetzt acht Jahren, schon am ersten Arbeitstag hatte er ihn ertragen müssen. Aber er würde ihn auch dieses Mal überstehen, er hatte ja bald frei.

Wie auf Stichwort holte Windhorst ihn aus seinen Traumwelten zurück, indem er einige Dezibel lauter wurde: „… schließlich haben Sie ja ab Montag Urlaub. Nehmen Sie ihre hübsche Partnerin mit – welche Abteilung nochmal? Sales, oder? – und fahren Sie in den Süden, in die Sonne. Erholen Sie sich gut und kommen Sie mit frischem Elan wieder zurück. Nichwahr!“

Nicht die Sonne, nicht der Süden, sondern die Videothek daheim, die jährliche Urlaubsvertretung, wenn die Eltern ins Allgäu fahren, und ohne Sarah. Windhorst wäre allerdings der Letzte, den Marek darüber informieren würde.

„Wäre doch gelacht, wenn unsere Zusammenarbeit und unser Verhältnis nicht wieder harmonisch werden würden. Oder, Stahlberg?“ Die letzten beiden Worte brüllte Windhorst im Stil eines Kompaniechefs beim Morgenappell. Die verquere Art eines Offiziers, einen Soldaten kameradschaftlich motivieren zu wollen. Fehlten nur noch diese Kampfsport-Schulterklopfer hormonüberladener Buddys. Selten, aber verlässlich blitzte Windhorsts Vergangenheit als Z-Sau auf. So hatten Marek und die anderen Wehrdienstleistenden Zeitsoldaten genannt. „Jawoll, ich habe gedient.“ Das hatte er seinem zukünftigen Vorgesetzten beim Bewerbungsgespräch auf die gleichlautende Frage amüsiert und nicht ernst geantwortet. Volltreffer, der Job war ihm sicher. Was eine schmerzende Ironie des Schicksals, denn Marek hatte den Barras gehasst. Vom ersten Tag an hatte er es gehasst, Soldat zu sein. Trotzdem hatte er sich dazu entschlossen. Zivildienst lang, Bund kurz, Studienbeginn ein Semester früher. So einfach war das.

Harmonisch! Was ein Zynismus. So lange man Windhorsts Erwartungen entsprach, nach seiner Pfeife tanzte, war alles harmonisch. Dann, und nur dann. Sehr einseitig, das Ganze. Wie hatte Marek nur mitmachen können, all diese Jahre? Warum wachte er jetzt erst auf?

Dabei hatte er doch schon als Kind Grundsätze gehabt, wenn man das so bezeichnen konnte. Er wollte nie Profisportler, Astronaut oder IT-Spezialist werden, er wollte etwas Sinnvolles tun. Dabei bestand das Sinnvolle damals darin, Kinder vorm Verhungern und Tiere vorm Aussterben zu retten. Wahrscheinlich war das der Urgrund für die Wahl seines Studienfaches, weil schon sein Kinderhirn begriffen hatte, dass man für diese Ziele Geld brauchte und vor allem Menschen, die damit umgehen konnten.

War das außergewöhnlich? Marek wusste es nicht, er selbst hatte sich immer als ganz normal und nicht aus der Menge herausragend gesehen – in keiner Beziehung und auf keinem Gebiet. Mit seinen etwas über einen Meter achtzig war er durchschnittlich groß und hatte eine durchschnittliche Figur, er war weder sehr sportlich noch hager oder adipös. Auch seine Hobbys waren normal gewesen, er spielte Fußball, Basketball, fuhr Skateboard, Mountainbike, kannte sich einigermaßen mit dem PC aus und las Bücher. Er hatte Freunde und fiel nicht besonders durch Aufsässigkeit oder Lethargie auf. Verlässlich und verbindlich wollte er allerdings schon als Kind sein. So hatte er – wenn es nötig war und er wusste, dass seine Eltern nur fragten, wenn sie wirklich Hilfe brauchten – eher in der Videothek ausgeholfen, als sich abends mit der Clique zu treffen.

Sein Chef stand auf, prüfte den Sitz seiner lächerlichen Fliege, zog sein Sakko in einer bemitleidenswerten Routinehandlung über sein voluminöses Gesäß und reichte Marek die Hand in einer übertriebenen Freundlichkeit, die er nur bei einem seiner letzten Coachings gelernt haben konnte. Statt eines Lächelns gelang ihm nur eine künstliche Grimasse. Das musste er unbedingt noch üben, zusammen mit seinem sicher unanständig teuren Management-Trainer. Jetzt genau diese Bemerkung, diesen gut gemeinten Tipp raushauen und ihn in Verlegenheit bringen, das wär’s. Stattdessen gab Marek ihm kurz die Hand, drehte sich um und ging wortlos hinaus. Auch nicht schlecht, dachte er bei sich. Ganz okay. Kurz blitzte die Erinnerung an mindestens zwei Kollegen auf, die im Urlaub ihre fristlose Kündigung per Einschreiben erhalten hatten. Na und? Im Moment freute er sich einfach nur auf zuhause, auf das Treffen mit seinen Eltern vor ihrer Abfahrt, auf die Videothek und sogar auf die Stammgäste, die schon längst Teil der Einrichtung waren. Mediathek, nicht mehr Videothek – würde ihn sein Vater an dieser Stelle verbessern. Er würde seine Eltern überraschen. Marek hatte sich Gedanken gemacht und ein Konzept ausgearbeitet. Dieses Mal würde er sie überzeugen.

Samstag, 8. Juni

„Das wird mal eine schöne Stadt.“

„Sweetwater wartet auf dich.“

„Irgendeiner wartet immer.“

(aus: „Spiel mir das Lied vom Tod“)

„Und wann ist es dann soweit? Wann treffe ich deine Eltern?“, fragte Sarah in die Sonne. Sie hielt ihr Gesicht mit geschlossen Augen im besten Wärmewinkel ins Licht. Dem viel zu warmen Frühjahr war der nicht weniger warme Frühsommer gefolgt. Die Singvögel-Männchen waren immer noch lautstark und sehr früh auf der Suche nach einer Partnerin. Rhododendren standen in Blüte, zusammen mit Waldreben, Margeriten und Eisenhüten, die ihre Kelchblüten genau wie Sarah ihr Gesicht Richtung Sonne reckten.

Vor einem halben Jahr war sie kurzerhand aus Frankfurt nach Schmitten im Taunus gezogen. Die rund 45 Kilometer Fahrt zur Arbeit steckte sie locker und gerne weg im Tausch gegen Natur, frische Luft, Aussicht und dieses zwar etwas in die Jahre gekommene, aber trotzdem komfortable Haus, das sie von einem Kunden auch noch günstig mieten konnte.

Sie grinste in die Sonne, weil sie unbesehen wusste, dass Marek ihr Gesicht studierte. Dann strich er mit der Rückseite seiner Finger über ihren Nacken, die sonnengewärmten Backen, das Jochbein und die Augenbrauen.

„Nix da, du willst dich nur bei meinen Eltern einschmeicheln, womöglich um meine Hand anhalten und die Mitgift aushandeln“, feixte er.

„Na und? Bis du das auf die Reihe kriegst, bin ich längst im Klimakterium.“

„Womit die Frage nach dem Nachwuchs dann auch geklärt wäre.“

„Vorausgesetzt, ich würde warten, bis sich der Herr endlich dazu entschließt. Für ihn es ist ja schon zu …“ – ihr schien das passende Wort zu fehlen – „… zu gefährlich, mit seiner Angebeteten zusammenzuziehen.“

Sie hatte ja recht. Irgendwie. Marek hätte schon längst seine pervers teure Wohnung in Frankfurt-Bockenheim aufgeben und zu ihr ziehen sollen. Angeboten hatte sie es ihm bereits bei ihrem Einzug. Weniger Platz als in seiner winzigen Wohnung würde er hier auch nicht haben – bei einem Bruchteil der Miete. Er hatte sich zurückzogen und Ausreden gehabt, die noch nicht einmal originell oder kreativ waren. Sie seien doch erst seit ein paar Monaten zusammen, und dieser ganze Sermon. Ein Wunder, dass sie ihn nicht sofort in die Wüste geschickt hatte.

Sarah hatte ihre langen, schwarzen, leicht gelockten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, was ihre Nase noch mehr betonte. Sie selbst mochte sie überhaupt nicht leiden, Marek schon. „Mein Gesicht ist zu schmal für diese Nase“, so ihr Standardsatz.

Tatsächlich erhielt sie dadurch eine gewisse Strenge, die ganz und gar im Gegensatz zu ihrem aufrichtigen, zuvorkommenden Wesen stand. Dann noch ihr dunkler Teint. Und als Gipfel ihr nordischer Nachname: Johansson. Ein Kontrast, der Gesprächspartner regelmäßig ungläubig die Stirn runzeln oder unsicher auflachen ließ. Ein Eisbrecher in jedem Fall. Mit „Irgendwo im Genpool haben sich wohl ein paar Gitanos reingeschmuggelt“ brachte sie neugierige Zeitgenossen durcheinander. Mit „Roma“ stellte sie Begriffsstutzige bloß, und mit „Zigeuner“ beschämte Sarah sie fast. Selber schuld, aber hinterher war es ihr trotzdem peinlich, denn Scherze auf Kosten anderer waren eigentlich nicht ihr Ding. Eigentlich.

„Ich hab es dabei, soll ich es dir mal vorstellen?“

Sie grinste noch breiter. „Schön abgelenkt, Herr Stahlberg! Aber mich interessiert dein Konzept tatsächlich.“ Sie nahm ihr Gesicht aus der Sonne, öffnete ihre schwarzbraunen Augen und lehnte sich Kaffee schlürfend im Gartenstuhl zurück. Immer noch war Marek irritiert, denn sie schlürfte laut und hemmungslos. Sie schlürfte Tee, Kaffee, Suppen – alles, was heiß und trinkbar war. Daran würde er sich nie gewöhnen können. Zuhause war sie in dieser Beziehung tatsächlich ohne Hemmungen. Das gehöre in der japanischen Küche zum guten Ton. Es sei kulinarischer Kult und nicht verhandelbar, denn Schlürfen veredle den aromatischen Genuss und kühle die kochend heiße Speise oder das heiße Getränk auf eine bekömmliche Temperatur. Basta. Schließlich habe sie nach dem Studium ein paar Monate in Japan verbracht. Wie Dr. Jekyll zu Mister Hyde wird, konnte sie sich dagegen in Gesellschaft problemlos von der eigenwilligen Schlürferin zu einem zivilisierten Menschen wandeln und ihren Kaffee oder ihre Vorspeisensuppe völlig geräuschlos zu sich nehmen – sogar mit einem ganz normalen Löffel.

Sie stellte die Tasse ab und legte ihre langen Beine – sie war fast so groß wie Marek – auf seine Oberschenkel. „Lass hören! Allerdings …“ – sie hob Zeigefinger und Augenbrauen gleichzeitig hoch – „… das heißt nicht, dass unser Jour fix ausfällt.“

Da auch Sarah begeisterte Kinogängerin war und Filme liebte, hatten sie vereinbart, jedes Wochenende abwechselnd den jeweils anderen mit einem Film zu überraschen. Marek hatte für heute „Jesus Christ Superstar“ ausgewählt. Nie würde er ihren Termin ausfallen lassen. Heute schon gar nicht, denn er freute sich sakrisch auf das Filmmusical. Nicht weil er gläubig oder religiös war, ganz im Gegenteil, sondern weil er schon als Schüler völlig geflasht gewesen war von der Musik und den Tanzszenen. In dieser Zeit begann er sich für Rockmusik zu interessieren und Deep Purple wurde zusammen mit den Doors und Eric Burdon seine Lieblingsband. Nicht gerade der Geschmack seiner Klassenkameraden, wahrscheinlich hatte er einfach zu viel Zeit mit den Stammkunden der Videothek verbracht.

Würde er einen Musikfilm machen, dann genau so. Damals war der Wunsch in ihm aufgekommen, sich an der Filmhochschule in München zu bewerben. Es musste mindestens fünfzehn Jahre her sein, dass er ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Da Sarah in ihrer Freizeit in einer Contemporary Dance Group tanzte, war sich Marek sicher, dass er mit der Rockoper von 1973 einen Volltreffer landen und sie ihn hinterher mit bester Laune dafür belohnen würde. Marek stürzte den Espresso mit einer kurzen Handbewegung hinunter, nahm die Kladde und zog die ausgedruckten Blätter heraus.

„Die Situation kennst du schon. Früher gab es zigtausend Videotheken, 2007 waren es noch rund 4.000, jetzt sind es nur noch ein paar hundert in ganz Deutschland. Gründe sind logischerweise das Internet mit Netflix, Amazon Prime, Apple TV … die ganzen Streamingdienste halt. Das weiß man ja alles.

Meine Eltern waren in den 1980er-Jahren mit die Ersten in meiner Heimatstadt Tübingen, zeitweise haben sie noch eine zweite Videothek in der Nachbarstadt Reutlingen betrieben, die schon längst wieder geschlossen ist. Sie versuchen alles, um den Laden einigermaßen am Laufen zu halten. Was natürlich immer schwerer wird.“

„Wie schaffen die das nur? Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass heute überhaupt noch irgendwer Videos ausleiht – als Kassette, DVD, Blu-ray oder in welcher Form auch immer?“ Sarah schüttelte fast konsterniert den Kopf.

„Du würdest dich wundern, die Gründe sind vielfältig, manchmal abstrus, aber meistens durchaus nachvollziehbar. Mit der Digitalisierung kommen sogar neue dazu. Viele haben schlichtweg Angst vor Überwachung, sie wollen keine Spuren im Netz hinterlassen. Bei anderen ist die Internetverbindung einfach zu langsam. Und einigen filmbegeisterten Stammgästen ist der Laden zur zweiten Heimat geworden. Sie kommen fast jeden Tag und verbringen viel Zeit dort bei Kaffee und Bier. Und da setzt mein Konzept an. Es geht um Diversifikation und um Zusatzangebote. Es gibt natürlich Ideen und Möglichkeiten genug, die andere Videotheken auch schon praktizieren: von der Lotto-Annahmestelle über Imbiss und Poststelle bis hin zum Tagescafé. Es muss halt zu meinen Eltern passen.“

„Aber vorher könnte man doch erst mal das Angebot genau anschauen und checken, ob die Videothek Stahlberg es nicht online stellen könnte. Wenn das überhaupt funktioniert oder Vorteile hat.“ Sarah zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, vielleicht ist das sogar kontraproduktiv.“

Marek gefiel, dass sie bei der Sache war und so spontan ebenfalls nach Lösungen suchte.

„Genau! Habe ich alles auch aufgeführt. Die Videothek ist tatsächlich schon online, aber nur mit einer kleinen Homepage – eher Alibi als Arbeitsmittel. Man kann da noch viel mehr tun, gerade was das Angebot betrifft.“

Doch plötzlich wurde er nachdenklich, rieb sich über das unrasierte Gesicht. Marek hatte es schon immer genossen, sich am Wochenende nicht rasieren zu müssen. Und auch Sarah strich an Samstagen sein Kinn öfter als an Wochentagen. „Ein glatter Kinderpopo gehört nicht in das Gesicht eines Mannes“, hatte sie breit grinsend gesagt, und nicht zuletzt deshalb hatte Marek vor Kurzem begonnen, einen speziellen Rasieraufsatz zu benutzen. Ohne es zu wissen, war sich Sarah da einig mit Karl, einem Stammgast der Videothek. Seit jetzt zwei Wochen rasierte sich Marek einen Dreitagebart. Windhorsts verwunderte Blicke ignorierte er. Angesprochen hatte ihn sein Vorgesetzter bisher aber noch nicht. Dieser Feigling!

Auch jetzt ließ Sarah ihren Zeigfinger über Mareks Kinn streichen. Dieses schabende Geräusch … „Und was beschäftigt dich jetzt?“

„Ach, die Ideen sind gut, und ich bin überzeugt, wir könnten es schaffen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie sich überhaupt helfen lassen wollen.“

„Im Allgemeinen oder nur nicht von dir, als ihr Sohn?“

„Sowohl als auch. Sie sind zu stolz, fast schon stur. Zu Recht ja auch, weil … bisher haben sie es immer selbst geschafft, kurz vorm Abgrund … irgendwie und mit übermenschlichem Einsatz.“

Marek holte ein Blatt mit Zahlenreihen hervor. „Ich würde sogar investieren. Monatlich oder einmalig mit einem größeren Betrag.“ Er zeigte ihr seine Berechnungen. Sarah war angetan von den Ideen Mareks. Doch was nützten sie, wenn seine Eltern nicht wollten? Eine Lösung würden sie heute nicht finden.

Sie hatten begonnen, Alkohol zu trinken – Marek Bier und Sarah Wein – und nebenher den Grill anzufeuern.

„Viele von den Stammgästen kenne ich, seit ich als kleiner Stöpsel ausgeholfen habe. Na ja, eher den Ablauf gestört als geholfen.“ Marek lachte amüsiert auf. „Ich bin ja in dem Laden aufgewachsen. Und ziemlich bald habe ich dann tatsächlich mitgearbeitet. Die Filmverrückten waren meine Familie. Eine ungewöhnliche, abstruse Familie mit einzigartigen, kauzigen Typen.“

Mareks Gesicht wurde heiß und begann zu glühen – zusammen mit der Grillkohle. „Eine illustre Gesellschaft mit einem Meister im Minigolf, Welt- oder vielleicht auch nur Kreismeister, keine Ahnung, aber gleichzeitig ehemaliges Mitglied der RAF, der soll sogar im Knast gesessen haben. Dann ein Marxist, dessen original Che-Guevara-Barett nie seinen Kopf verlässt. Wahrscheinlich schläft er sogar damit. Eine Flaschensammlerin, die fast internationale Sportkarriere gemacht hätte … Ach, ich könnte dir so viel erzählen.“

Mareks Geschichten standen Schlange. „Erst im letzten Jahr gab es einen Polizeieinsatz mit SEK und allem Drum und Dran, weil die Polizei einen der drei alten RAFler bei uns vermutete. Du weißt schon, die mit den Banküberfällen, die seit dreißig Jahren flüchtig sind. Sie hatten vermutet, dass Ernst-Volker Staub, Daniela Klette und Burkhard Garweg sich ausgerechnet in Tübingen versteckten, zumindest einer davon. Allen Ernstes.“ Marek schüttelte immer noch ungläubig den Kopf. „Allerdings finde ich die Idee gar nicht so schlecht. Sich da zu verstecken, wo es keine Sau vermutet – nämlich mitten drin.“

Während er Nackensteaks und Würste wendete, erzählte er Anekdoten und Geschichten. Sarah amüsierte sich und war verdutzt – gleichzeitig. Trotzdem sah er, wie sich langsam eine Enttäuschung bei ihr ausbreitete. Er wusste, dass sie nur darauf wartete. Ein Kollege hatte ihm gesteckt, dass sie den Urlaubsantrag schon vorbereitet und sogar schon grünes Licht von ihrem Vorgesetzten signalisiert bekommen hatte. Sie musste ihn nur noch einreichen. Trotzdem konnte Marek ihr diese verdammte Frage nicht stellen. Nicht beim Grillen, nicht beim Essen und auch nicht danach beim Espresso. Der Film versöhnte sie ein wenig oder lenkte sie ab. Dachte er. Als ihr aber danach Kuscheln lieber war als der übliche Sex, wusste Marek, dass sich auch bei ihr Zweifel eingeschlichen hatten.

Mittwoch, 12. Juni

„Wenn du es nicht mehr aushältst, gibt es nur zwei Dinge, die du tun kannst: Einatmen und Ausatmen.“

(aus: „Herzflimmern“)

„Geld macht nicht glücklich, das sagt der Typ vom Arbeitsamt mir ins Gesicht. Ich fasse es nicht … immer noch nicht.“

„Jobcenter heißt das doch jetzt, oder?“ Marek bereute sofort sein Klugscheißen. Nicht die beste Strategie, um zu beruhigen.

„Darum geht es jetzt doch gar nicht.“ Karl war aufgebracht, er zitterte sogar ein wenig. „Egal ob Arbeitsamt, Arge oder Bundesagentur für Arbeit … Der hat sie doch nicht mehr alle.“

„Wahrscheinlich wollte der doch nur …“ Marek versuchte, etwas Druck aus dem Kessel zu nehmen.

„Sitzt da fett hinter seinem Schreibtisch und will mir etwas von Geld erzählen“, fiel Karl ihm ins Wort. „Mir … von Geld erzählen … ein Schreibtischhengst, der noch nie etwas von Klassischer Geldtheorie gehört hat. Oder davon, dass Geld ein allgemeines Äquivalent ist und es als solches den Warenaustausch vermittelt. Es unmittelbar den Wert gesellschaftlicher Arbeit verkörpert und …“

Marek hatte seine Hand auf Karls Schulter gelegt. Tatsächlich fuhr der dadurch ein wenig herunter und schaute sich verwundert um, als wäre sein Publikum plötzlich abhandengekommen.

„Stimmt doch aber auch“, setzte Karl trotzig nach. „So einen Quatsch kann wirklich nur einer verzapfen, der noch nie wirklich Geldprobleme gehabt hat.“

Endlich machte er seine Pause, seine Marx-Pause, wie die Kumpel die unüblich lange Bedenkzeit nannten, die er zuweilen einschob, um nachzudenken und um eine möglichst reflektierte Antwort zu geben. Eine Antwort, die auch Nicht-Marxisten verstehen sollten.

„Glücklich!“ Karl schüttelte angewidert den Kopf und verfiel in seinen Diskussionsmodus, in seinen aggressiven Diskussionsmodus: „Die Leute wollen einfach nur überleben, wollen teilhaben am normalen Leben, sich auch mal ein Schnitzel vom regionalen Metzger kaufen und nicht das Massenfleisch von Aldi. Einfach mal hier auf den Sportplatz gehen, sich ein Bier, eine Wurst gönnen. Vielleicht mal ins Kino, in ein Kneipenkonzert. Ist das denn zu viel verlangt? Glück ist doch erst die nächste Stufe, die sie erreichen wollen. Sorglosigkeit wäre schon das höchste der Gefühle.“

Marx-Pause. Und dann: „Sorglosigkeit ist das Glück des kleinen Mannes.“ Er lachte bitter auf, und nach der Wut kam die Resignation. „Vom wachsenden Wohlstand dieses verfluchten Neoliberalismus profitiert doch nur ein Teil der Bevölkerung. Und der wird sogar immer kleiner. Die Menschen leben unter zunehmend unsicheren Bedingungen, bedroht von Abstieg und Armut. Das ist doch der Skandal, dass soziale Ungleichheit …“

Plötzlich stockte er, sah auf. Marek war nicht sein Publikum, ihm musste er das schon lange nicht mehr verklickern. Er winkte frustriert ab. „Und dann sagt dieser Wichtigtuer mir ins Gesicht, Geld allein macht nicht glücklich.“ Ungläubig starrte er durch Marek hindurch. „Den hammse doch programmiert“

Marek kannte Karl, seit er als Schüler hier in der Videothek seiner Eltern ausgeholfen hatte, seit jetzt über zwanzig Jahren. In Wirklichkeit noch länger, schließlich hatte er auch seine Kindheit im Laden verbracht. Bis auf die üblichen Abnutzungsspuren hatte Karl sich nicht wirklich verändert. Wie alle Männer Mitte fünfzig hatte er zugelegt, vor allem in der Körpermitte, während Beine und Arme dünner geworden waren – quasi umgekehrt proportional. Er war natürlich angegraut. Jedenfalls dort, wo die Haare unter dem Barett hervorlugten. Ob Karl eine beginnende Glatze hatte oder ob sein Haar oben dünn wurde, konnte Marek nicht sagen. Nackt, ohne sein Barett, hatte Marek ihn nie gesehen. Jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern. Sogar im Sommer schob Karl es höchstens ein wenig nach hinten, um seiner Stirn Platz und Luft zu verschaffen. Ohne diese Kopfbedeckung würde ihn wahrscheinlich sogar hier in der Videothek niemand erkennen. Wie … wie hieß doch dieser deutsche Sänger und Songwriter, der nie ohne Schildkappe zu sehen war? Erst vor Kurzem hatte ihn ein Paparazzo oben ohne ablichten können. Und, oh Gott, seine Fans waren geschockt gewesen, wie schrecklich alt er doch wirkte, so ganz ohne Haare. Forster, genau, Mark Forster hieß er. Karl hatte nur halbherzig mit dem Kopf genickt, er kannte ihn nicht und Marek wusste, dass sein Interesse an diesen Schnulzensängern, die seiner Meinung nach nicht weit weg waren von den Helene Fischers und – noch schrecklicher – von den Florian Silbereisens dieser Welt, gegen Null ging, sogar ins Negative. Marek schüttelte sich angeekelt, denn darin war er mit Karl einer Meinung, und alleine der Gedanke an Volksmusik ließ ihn frösteln.

„Alles in Ordnung bei dir?“ Karl schien ehrlich besorgt. „Bist du krank? Schüttelfrost?“

„Nein, alles okay. Ich hatte nur … Ach nichts.“ Er stapelte Videotapes, DVDs und Blu-rays von einer Ecke der Verkaufstheke zur anderen. „Na und? Konnte er dir helfen? Der Arbeitsberater oder wie das heute heißt.“

Karl rieb sein unrasiertes Kinn. Marek hatte sein Gesicht noch nie glatt und ohne Stoppeln gesehen. Revoluzzer und glatt rasiert, das ging einfach nicht zusammen. Marek hatte das schon damals als Aushilfe gelernt.

„Jetzt rate mal! Ein Lagerarbeiter, Mitte fünfzig, mit Rücken und einer bewegten Vergangenheit in Gewerkschaft und Betriebsräten. Da stehen die Personaler doch Schlange, die reißen sich doch um mich. Jetzt muss ich nur noch das beste Angebot auswählen.“

Karl zog kurz die Mundwinkel hoch. Unnötig, denn der Sarkasmus funktionierte auch ohne falsches Lächeln. Dann ließ er seinen Kopf hängen, sein Rücken wurde runder, und als hätten sich die Kunden abgesprochen, war es plötzlich ruhig in der Videothek.

Marek hatte sein Leben lang hier gejobbt. Er wusste, wie der Hase läuft. Vor allem hatte er schon früh gelernt, zur richtigen Zeit seine Klappe zu halten. Senf passt zu Wiener Würstchen, und nur zu Wiener Würstchen, sagte sein Vater üblicherweise, auch heute noch. Er war sein Lehrmeister im kommunikativen Schweigen gewesen. Dieses Schweigen, das Frauen verrückt machte oder zur Weißglut brachte. Dieses Schweigen, das Teil der männlichen Unterhaltung war und für mehr Verbundenheit und Nähe sorgte als stundenlange Gespräche.

Karl saß gebeugt an seinem Platz und atmete tief durch. Ein Kunde kam, grüßte Marek kurz mit einem Handzeichen und verdrückte sich in Richtung Spielfilme. Andere gingen hinaus mit einem Kopfnicken, ohne sich für einen Film entschieden zu haben.

Karl schob die leere Flasche über die Theke. „Sei so gut und gib mir noch eine.“

Marek nahm ein Bier aus der Kiste, öffnete es und stellte es vor Karl. Der hob es kurz prostend hoch und trank wie nach einem Ultra-Marathon. „Marek, es muss was passieren. So geht das nicht weiter.“

Schweigen. Dann schaute sich Karl um, nach links, nach rechts. Er setzte an, holte tief Luft und sagte … nichts. Er kratzte stattdessen am Etikett der Bierflasche. Dann ein zweiter Anlauf. Leise, sehr leise für seine Verhältnisse. „So geht das einfach nicht weiter. Irgendetwas muss hier langsam mal passieren.“ Jetzt hielt er sein Bier in beiden Händen und fixierte es.

Marek nahm eine Flasche für sich selbst, suchte den Öffner, fand ihn nicht mehr und katapultierte den Kronkorken mit Hilfe einer anderen Bierflasche weg, setzte an und trank. Karl auch. Wie abgesprochen, spiegelgleich.

„Ich kann nicht mehr, ich bin einfach nur noch müde.“ Karl pulte am Etikett und produzierte kleine Kügelchen.

Marek war ausnahmsweise mal froh, inzwischen nur noch einen einzigen Kunden hier zu haben. Einer, der auch noch alleine zurechtkam, ohne klugzuscheißen oder sich als Kenner oder Kinohistoriker aufzublasen. Es musste etwas passieren. Was meinte Karl? Marek dachte an all die Diskussionen hier am Tresen. Daran, was alles schief lief in diesem Land, über die Ungerechtigkeiten; was man tun könnte; dass den Worten langsam wieder Taten folgen müssten. Sascha, ein anderer Stammgast, blies sich dabei immer besonders auf, gefiel sich in der Rolle des zündelnden Sympathisanten der frühen RAF. „Die Motivation, die Aktionen der Anfänge, nicht die Anschläge und Morde später. Darum geht es doch!“, predigte er unermüdlich. „Kaufhäuser anzünden ja, aber nicht Menschen.“ Das ging sogar Sascha zu weit.

Musste sich Marek Sorgen machen? Er verdrängte diese Gedanken, dachte an Sarah, an ihre Gespräche. Schmunzelte. So eine ganz andere Art der Kommunikation. Er sah auf Karls gebeugten Kopf, auf diese eine speckige Stelle auf dem kubanischen Barett. Dort, wo sein stolzer Besitzer es über Jahrzehnte mit Zeigefinger und Daumen anfasste und in Position schob. Würde Sarah ihn hier besuchen? In der abgewirtschafteten Videothek seiner Eltern? Hier, an dieser Theke, an der die Loser dieser Welt abhingen – so würden sie seine Bankerkollegen beschreiben, dieses arrogante Pack, um es mit den Worten Karls zu sagen, das noch nicht einmal einen Bruchteil des hier versammelten Filmwissens hatte. Alles Loser, die nichts hatten außer den anderen Verlierern, die hier ebenfalls täglich ihr Bier tranken. Nichts außer sich selbst und Mareks Eltern, die schon längst den Laden hätten schließen sollen, ihn aber irgendwie am Leben hielten – mit Überstunden, mit Gürtel-enger-Schnallen, mit Verzweiflung, Stolz, Mut und mit Wahnsinn. Sarah, die wohlbehütet aufgewachsene Tochter eines Beamtenpaares, sie würde hier scheitern, würde nicht zurechtkommen. Nicht weil sie arrogant oder hochnäsig war, nein, einfach weil sie zu … zu nett war. Schon klar: Nett war die kleine Schwester von scheiße, aber nett war auch dieses Unbedarfte, dieses ungewollte Verschließen gegenüber anderen Welten, in denen es nicht so liebevoll geordnet und sorglos zuging wie in gehobenen Mittelschichtsfamilien, mit Eltern, die in Finanzämtern und Schulbehörden verantwortungsvolle Positionen bekleideten. Konkreten Kontakt mit solchen Menschen hatte sie doch nur in ihrer Kindheit und Jugend gehabt. Einmal im Jahr zu Zeiten der Vesperkirche, in der sie und ihre Familie sich engagiert und „Arme und Reiche, Junge und Alte, Menschen, wie sie sind,“ – so oder so ähnlich war sicher der Wortlaut des Prospektes – in der Kirche bedient und ihnen Mittagessen serviert hatten. Allerdings müsste er ihr auch eine Chance geben und sie einladen. Bisher hatte er es nicht getan. Um sie zu schonen? Sich selbst? Er wusste es nicht. Unterschätzte er sie? Immerhin blitzten auch bei ihr immer wieder Sarkasmus, Ironie und Spott auf, zwar meist nur, wenn sie zu zweit und ohne Publikum waren, aber immerhin.

Marek fischte aus dem Stapel der zurückgegebenen DVDs eine heraus, legte sie in den Player ein und drehte die Lautstärke von stumm auf laut: Karls Lieblingsmusikvideo: „Rory Gallagher – Irish Tour ’74“. Dann arbeitete er konzentriert weiter und buchte wortlos die abgegebenen Videos zurück.

Karl hob den Kopf und sah auf den neuen, großen Flachbildschirm, der erst vor Kurzem installiert worden war und den alten, viel zu kleinen ersetzt hatte. Er sah die irische Küste, die Wellen, Gallagher mit seinen langen Koteletten spazierend in Belfast, auf der Bühne schwitzend auf seiner ’61er Stratocaster spielen. Er hörte die Musik, und spätestens bei „A Million Miles Away“ unterlief ihm ein Lächeln – ein seliges, ein wehmütiges. Karl selbst würde sich eher auf die Lippe beißen, als es so zu bezeichnen. Und es ließ nicht nach, den ganzen Film hindurch. Ab und zu nickte er leicht. Sogar richtig im Takt, wie Marek aus dem Augenwinkel erkennen konnte.

Donnerstag, 13. Juni

„Im Leben geht es um Mut und den Aufbruch ins Unbekannte.“

(aus: „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“)

„Böll saß neben mir“, sagte Sascha, der fast manisch Minigolf spielte und immer noch und immer wieder mit seinen radikalen politischen Ansichten und RAF-Parolen überraschte, und zeigte auf den Stuhl am Tresen rechts von ihm, auf dem Karl saß. „Genau hier! Und eins weiter Annemarie, seine Frau. Jetzt nicht auf einem Hocker, logo, sondern auf dem Boden, eigentlich auf einer Kiste.“

„Dahinter Eppler, Lafontaine, Jens, Grass und Petra Kelly“, rezitierten Karl und Marek breit grinsend im Chor wie auswendig gelernt, Sascha nachäffend. Sie zählten die Namen mit Hilfe ihrer Finger auf.

Marek war noch gar nicht geboren und noch in Abrahams Wurstkessel, wie sein Vater immer sagte, aber schon als kleiner Stöpsel hatte er die Storys über die Mutlangen-Blockade im Herbst 1983 gehört. Mit immer denselben Worten und Formulierungen.

„Sascha, falls du es vergessen hast: Ich war auch dabei.“ Karl war sichtlich genervt.

Sascha ignorierte Karl. „Erster September 1983, auf den Tag genau 44 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen. Verstehst du die Symbolkraft?“ Eher eine Frage an den Raum als an anwesende Personen. „Und dann sitzt du da auf der Straße in Mutlangen, Arm in Arm mit Böll, und praktizierst zivilen Ungehorsam gegen diesen unseligen Nato-Doppelbeschluss.“ Seine Augen glänzten. „Ein weltweit bedeutender Symbolort der Friedensbewegung. Der Ort als Ausdruck einer erneuten heißen Phase des Kalten Krieges. Und alles blieb friedlich … noch. Und keiner wurde weggetragen. Das war unglaublich, ein Punktsieg für uns“, ergänzte Sascha ungewohnt zahm.

Marek hatte sich schon damals gewundert, wie er immer bei diesen Ausführungen seine übliche Dialektfarbe aus diesen Sätzen bekam. Die vielen Wiederholungen schienen das Schwäbische rauszuwaschen. Vom reinen Hochdeutschen war er trotzdem noch Welten entfernt.

„Arm in Arm … von wegen: Niemand hat sich damals getraut, bei Böll einzuhaken. Komm, erzähl‘ mir doch nichts“, sagte Karl mit einer wegwerfenden Geste.

„Mehrere zehntausend Demonstranten, alle Berufsgruppen, vom Arzt und Juristen bis hin zum Arbeiter und Studenten. Mütter, Senioren, frühere KZ-Häftlinge … alles dabei.“ Sascha schien Karls Einwand nicht gehört zu haben.

„… und der Auftakt von hunderten von gewaltfreien und fantasievollen Blockaden ... schon klar. Mensch, Sascha, ich war dabeihei.“ Karl war beleidigt.

Marek wusste ganz genau, was jetzt kommen würde. Viel zu oft hatte er hinter seinem Tresen in der Videothek genau diese Szene miterlebt. Und viel zu oft hat er sich seinen Mund verbrannt und den Unmut beider zugezogen, weil er diesen kommenden Vulkanausbruch verhindern wollte. Mit dem Senf-Merksatz seines Vaters im Hinterkopf und dem Wissen, dass kein Kraut gegen eine Eruption gewachsen war, hielt er auch dieses Mal die Klappe in Erwartung eines Naturereignisses.

Sascha lief rot an. Magma sammelte sich in seiner virtuellen Kammer für ein paar Augenblicke, bevor sie sich mit dem üblichen lauten Ausstoß leerte: „Du, mein Lieber, hast keinen Schimmer, aber auch nicht den Hauch einer Ahnung, was damals an vorderster Linie abging.“

Marek war überrascht, normalerweise benutze er das Wort Front statt Linie.

Jetzt wurde der Vulkan zerstörerisch und tatsächlich laut. „Und überhaupt kann ich mich nicht erinnern, dich dort gesehen zu haben an diesem ersten September. Vielleicht auf einer der Demos danach, aber nicht an diesem denkwürdigen Donnerstag.“

„Jetzt mal halblang, du Sofa-Revoluzzer, nur weil du …“ Bevor Karl weiterreden, eher weiterschreien konnte, griff Marek doch ein, lief um den Tresen herum und stellte sich zwischen beide Streithähne.

Karl ließ sich nicht stoppen, suchte Blickkontakt zu Sascha und versuchte, um Marek herumzusprechen: „Kein Wunder, dass du bei diesen Hohlköpfen der RAF gelandet bist. Vom Friedenskämpfer zum militanten Mitglied einer mörderischen Anarcho-Truppe. Was eine Karriere!“

Erst sprang Sascha auf, dann Karl. Die Barhocker fielen um. Sascha versuchte, Marek wegzudrängen und Karl am Kragen zu packen: „Also, das muss ich mir von einem pseudokommunistischen Marx-Laberer nicht gefallen lassen …“

Marek blieb standhaft dazwischen, setzte jetzt seine Hände auf die Brust der Hitzköpfe, streckte die Arme aus und schob sie so weit wie möglich auseinander. Er brüllte erst nach links und dann nach rechts. „Schluss jetzt damit! Aufhören!“

Mit dem Alter und den Wiederholungen wurde der Widerstand beider Streithansel gegen diese handgreifliche Schlichtung immer weniger. Das hatte Marek über die Jahre beobachtet. Trotzdem war er überrascht, dass beide jetzt so schnell ruhig wurden, protestlos die Barhocker aufhoben und sich darauf neu ausrichteten.

Sascha, der viel schmaler und auch kleiner war als Karl, strich über seine grauen Stoppelhaare und durch das Gesicht, als müsste er checken, ob seine viel zu langen Koteletten noch an der richtigen Stelle saßen.

Wortlos schob Karl sein Barett zurecht und achtete darauf, dass der silberne Majorsstern nach vorne zeigte. Wieder einmal hielt es sich auf wundersame Weise auf seinem Kopf, obwohl es eigentlich schon längst hätte heruntergefallen sein müssen.

Verlegen wischte Karl nicht vorhandene Fussel von der Resopalplatte. „Du hast mich eben nur nicht gesehen, aber ich war dabei, verdammt.“ Er sagte es leise, trotzig und mit vorgeschobener Unterlippe, wie ein Zwölfjähriger, der vor den Eltern beteuerte, den Kommunionsunterricht nicht geschwänzt zu haben.

Während beide wie abgesprochen fast synchron ihre Flasche hoben und das Bier durch die Kehle laufen ließen und keiner als erster absetzen wollte, schüttelte Marek ungläubig den Kopf. Er stand immer noch auf der falschen Seite seines Tresens zwischen den Kindsköpfen und begann zu kichern. Erwachsene Männer, stramm auf die sechzig zugehend, als pubertäre Halbstarke.

Karls Flasche war zuerst leer. Er knallte sie auf den Tisch, rülpste und schrie: „Sieg dem Volkskrieg, Blödmann!“

Sascha kam einen Moment später, setzte sein Bier ab und konterte: „Völker hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht, Dummbatz!“

Auf den Tresen blickend, startete bei allen drei gleichzeitig der Motor. Erst mit einem Stottern und dann aus vollen Rohren. Sascha laut japsend, als würde er am Lachen ersticken, und Karl hemmungslos und immer wieder laut und kehlig Luft einsaugend.

„Ihr Altlinken habt doch allesamt einen an der Waffel“, sagte Marek, nachdem er sich ein wenig eingekriegt hatte und sein überraschend dreckiges Lachen abgeebbt war. „Und das nicht zu wenig.“ Er gab beiden einen Klaps auf den Hinterkopf, ging um die Theke herum und hob die Tageszeitung hoch. „Dabei sollten wir uns dringend darum kümmern und versuchen, unseren Arsch zu retten. Ihr habt doch den Artikel gelesen?!“

Freitag, 14. Juni

„Das Leben ist sauschön, aber schweinehart.“

(Andreas Dresen)

Thank God, it‘s Friday. Marek hatte nur ein sarkastisches Lachen übrig. Gott danken für den letzten Arbeitstag in der Woche? In der Bank vielleicht, aber nicht hier, nicht in diesem Laden. Sein Vater stand sogar sonntags hinterm Tresen. Nur wenn seine Mutter mit dem Schlimmsten drohte – was auch immer das war, Marek wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen –, ließ sich Paul Stahlberg erweichen und fuhr mit seiner Frau für einen Sonntagsausflug in den Schwarzwald oder auf die Schwäbische Alb, um ein wenig zu wandern und um sich Bier und Vesperplatte zu verdienen. Und trotz seiner Versprechungen und Beteuerungen – „Das sollten wir viel öfter machen, Elisa!“ – stand er am nächsten Sonntag wieder in seiner Videothek.

Was blieb also Marek übrig, als Gott zu danken, dass er auch samstags malochen durfte und eben auch sonntags. Und diese Dankbarkeit war ehrlich gemeint, wenn auch nicht gegenüber Gott, denn an den zu glauben, hatte er schon längst aufgegeben. Am Wochenende aufmachen zu können, ja, aufmachen zu müssen, bedeutete schließlich, dass die Nachfrage noch vorhanden war, dass der Laden noch lief und noch nicht völlig bankrott war.

Casual Friday, freies Wochenende und auch Corporate Finance, Asset Management, Financial Engineering, Research Trading … wie weit war er schon davon entfernt, bereits nach einer einzigen bankfreien Woche. Was eine Mogelpackung, dieser zwanglose Freitag in seiner Abteilung in der Bank. Tatsächlich rückten immer mehr Unternehmen ab von einer strengen Kleiderordnung an diesem Wochentag, Marek wusste, dass in Büros anderer Banken und Firmen freitags Jeans und T-Shirt getragen wurde. Nicht so bei Windhorst. Sicher hatte er auch diese Ankündigung mit seinem Management-Trainer im Vorfeld eingeübt. Vergeblich. Weder Form noch Inhalt waren überzeugend. Statt Lächeln wieder nur eine künstliche Fratze. Dieses Gesicht mit seinen Hundelefzen war einfach nicht auf Freundlichkeiten ausgelegt. Wie ein Landadliger, der seine Bauern aus dem Frondienst entlässt, hatte er übertrieben mildtätig das Ende der Krawattenpflicht angekündigt. Hemd, Sakko, Stoffhose waren aber nach wie vor obligatorisch. Nach der ersten Enttäuschung fand Marek die Vorgabe seines Chefs gar nicht so schlimm, denn niemand in der Abteilung wollte Windhorst leger angezogen sehen, schon gar nicht in einem Polohemd oder gar T-Shirt.

Jeans und ein T-Shirt mit dem Filmplakat von Pulp Fiction auf seiner Brust, Uma Thurmann rauchend auf einem Bett – das war Mareks Outfit heute. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sich passend anzuziehen. Passend … na ja, wenigstens eben T-Shirts mit Filmmotiven oder kleine Anleihen an das Kino im Allgemeinen oder an bestimmte Filme im Besonderen. So trug er schon mal Cowboyhüte, Lichtschwerter, Superman- und Batman-Umhänge, Piraten- und Indianerstirnband, oder eine Wasserpistole steckte in dem Brustgurt eines Detektivs. Gerade so viel Verkleidung, dass er sich nicht zum Affen machte, aber andererseits ein Lächeln oder ein Schmunzeln auf das Gesicht von Kunden zaubern konnte, von großen und auch und vor allem von kleinen. Kinder und Jugendliche waren nicht gerade sein Stammpublikum. Seit er aber seinen Mut zusammengenommen hatte und immer wieder mal Jack Sparrow aus „Fluch der Karibik“ war – an Johnny Depp reichte er natürlich längst nicht heran, war aber immerhin als dieser Pirat zu erkennen –, meinte er, mehr Kinder in Begleitung von meistens Vätern in der Videothek beobachtet zu haben. Kein großes Ding, aber er hatte Freude daran und ein paar Kunden hatten ebenfalls Spaß. An mehr Umsatz hatte er dabei gar nicht gedacht. Recht schnell aber wurde ihm klar, wie wichtig diese Soft Facts – auch die wurden bei seinem Arbeitgeber vernachlässigt – gerade in solchen kleinen Läden waren. Atmosphäre, Image, Stimmung … darum ging es doch zu allererst. Und genau das war doch immer sein Anspruch gewesen. Ein wenig Spaß bei der Maloche, mehr wollte er doch gar nicht haben. Wenn er dann noch eine einigermaßen sinnvolle Arbeit leisten könnte, dann wäre doch schon viel erreicht. Er musste ja nicht gerade Straßenhunde aus Bukarest adoptieren oder einen Kältebus für Obdachlose fahren. Und genau diese Freude an der Arbeit und das Sinnvolle waren ihm mit der Zeit in der Bank abhandengekommen, wenn dort überhaupt jemals Freude und Sinn vorhanden waren. Schon als Jugendlicher hatte er sich geschworen, niemals bei einer Firma zu arbeiten, die nur im Entferntesten mit Rüstung etwas zu tun hatte. So ganz konsequent war er dann aber auch nicht gewesen, schließlich war die Ferienarbeit bei der Daimler AG – auch sie war in der Rüstung tätig – konkurrenzlos. In acht Wochen am Band hatte er sich nicht nur einen anschließenden Urlaub leisten können, auch die Finanzierung des folgenden Semesters war gesichert, zusammen mit BAföG. Ausrutscher, die er sich mit dem Vorsatz, sich jetzt aber wirklich nicht mehr vom Weg abbringen lassen zu wollen, verziehen hatte. Mit dem Job in der Bank kamen ihm seine Prinzipien vollkommen abhanden. Er hatte immer mehr am grundsätzlichen Geschäftsmodell einer Bank gezweifelt. Leerverkäufe, Swaps, Spekulationen, und letzten Endes die Tatsache, dass man mit Geld Geld verdiente, all das ging ihm immer mehr gegen die Hutschnur und eben gegen seine Grundsätze, die er nicht weiter verraten wollte. Mit der Konsequenz, dass er eben hier im Laden stand, mit einem Pulp-Fiction-T-Shirt und mit Videos in der Hand, die aus- und zurückgebucht werden mussten. War das etwa sinnvoll? Hatte er hier Spaß oder Freude bei der Arbeit? Erfüllte sie ihn? Fiel er abends müde, aber zufrieden ins Bett? Wurde er hier seinen Ansprüchen gerecht? War es das, was er immer erreichen wollte?

Wenn er ehrlich war, dann saß er gerade in einem Loch, in einem tiefen Motivationsloch. Bis an den Haarkranz angefüllt mit Energie, Ideen und Vorsätzen war er hier angekommen, mit seinem Konzept in der Tasche. Nur, seine Eltern waren bereits kurz nach seiner Ankunft schon zum Wanderurlaub aufgebrochen – wie jedes Jahr zwei Wochen ins Allgäu.

„Wie? Ich hab‘ dich doch informiert, dass wir einen Tag früher losfahren.“

„Nein, Papa, hast du nicht. Das hör‘ ich zum ersten Mal.“ So sehr Marek seinen Eltern diese Auszeit gönnte, so sehr war er eingeschnappt, ja, sauer gewesen. Er fühlte sich wie der kleine Bub im Sandkasten, dem Schäufelchen und Sieb weggenommen wurden. Er hatte so lange an diesem Konzept gearbeitet und herumgetüftelt, dass er nicht nur stolz war, sondern auch neugierig, wie seine Eltern den Rettungsplan bewerten würden. Verdammt, es ging doch um die Zukunft, um ihre Zukunft und um ihre Existenz. Wie konnten sie da einfach abhauen, so mir nichts dir nichts wegfahren.

„Dann habe ich das in der Hektik verpasst, bitte entschuldige.“

Marek wusste, dass diese Entschuldigung von Herzen kam, denn für Paul Stahlberg waren Pünktlichkeit, Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit immer herausragende Tugenden, die er seinem Sohn nicht nur vermittelte, sondern auch vorlebte. Ohne jemals von diesem Begriff Soft Facts gehört oder ihn gar in den Mund genommen zu haben, war er der glaubwürdigste Protagonist und Umsetzer dieses Managementbegriffs. Hätte Marek ihm das so gesagt, hätte sein Vater verständnislos mit dem Kopf geschüttelt: „Das sind die Grundlagen des menschlichen Umgangs … im Privaten und im Geschäftlichen. Mehr nicht. Ein alter Hut, aber ein sehr guter alter Hut.“

Wie hatten Marek diese alten Hüte als Teenager genervt. Diese verdammte Pünktlichkeit brachte ihn damals auf die Palme, so sehr, dass er oft absichtlich zu spät kam und seinen Vater warten ließ. Dieser Vater, der nie unpünktlich war. Immer war er fünf Minuten vor der Zeit am vereinbarten Ort. Sogar bei Stau, Gewitter, Eisglätte, Saharahitze und auch, wenn ein Zug oder Bus ausfiel. „Fünf Minuten vor der Zeit, ist des Maurers Pünktlichkeit.“ Er benutzte bewusst Maurer und nicht Soldat oder Kaiser wie andere.

Wie durch ein Wunder war dieser Mensch immer pünktlich. So verlässlich, dass er nicht nur seinen Sohn, sondern auch Geschäftspartner, Freunde und Bekannte zur Weißglut brachte. Stahlberg ließ das kalt, er wunderte sich nur, dass ein völlig normales Verhalten andere Menschen in Rage brachte. Auch wenn er eine durchaus passable Erklärung dafür hatte: „Es ist ihre eigene Unzulänglichkeit und sie fühlen sich unter Druck gesetzt. Aber soll ich deshalb mit Absicht unpünktlich sein?“

Dass er diese Zuspätkommer zu allem Überfluss auch nicht tadelte, sondern einfach zur Tageordnung mit Begrüßung und Smalltalk überging, löste bei manchen Gesprächspartnern fast einen Wutanfall aus. Doch es war weder unausgesprochener Vorwurf noch Groll, was ihn im Protokoll weitermachen ließ, es war schlichtweg Toleranz, Respekt und der Glaube an das Gute im Menschen. Einige versuchten, sich bei Paul Stahlberg zu entschuldigen, doch der winkte mit einem freundlichen Gesicht ab und meinte: „Kein Problem, kommt vor.“ Noch nicht mal ein versteckter Vorwurf, er meinte es ernst.