Niemandssohn - Rainer Imm - E-Book

Niemandssohn E-Book

Rainer Imm

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Beschreibung

Wofür braucht man schon Väter? Leo Baumann verlor seinen Vater mit 12 Jahren. Kein großer Verlust, glaubte er. Dieser Mann – Bahnarbeiter, Boxer und Schmied – war irgendwie nie "anwesend" gewesen - und wenn, dann nur in Extremen. Mit seinem Tod hatte er den Sohn dann endgültig im Stich gelassen. Tot und vorbei: Leo glaubte später, die Zeit des Zorns über diesen Mann hinter sich gelassen zu haben. Doch als er für einen Auftrag in der Gegend seiner Kindheit zu recherchieren beginnt, tut sich plötzlich ein ungeheuerlicher Verdacht auf, der sein perfekt eingerichtetes Leben erschüttert. Er beginnt unfreiwillig abgeschnittene Fäden neu zu knüpfen und sich mit seiner Familiengeschichte zu konfrontieren, als er einen tragischen Unfall aufrollt, der den Vater in einem anderen Licht stehen lässt. Ein Vater-Sohn-Roman – emotional, schweißtreibend, detailreich ausgelotet. „Kennzeichnend ist Rainer Imms wache und farbige Art des genauen Erzählens sowie seine Fähigkeit, Szenisches plastisch vor Augen zu führen.“ Reutlinger Generalanzeiger „Imm, der als Sohn eines Schmiedes in einem Bahnwärterhaus aufwuchs, entwickelt nun im Milieu seiner Kindheit eine krimi-artige Geschichte. Ihr Ausgang bleibt spannend, greift in die Leidenschaften des Erzählers ein.“ Schwäbisches Tagblatt

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Seitenzahl: 256

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Für M. R. S.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-95894-030-7 (Print) / 978-3-95894-031-4 (E-Book)

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2016

Abbildung Schutzumschlag: Shutterstock / jumpingsack

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, Vorbehalten.

„Guter Mann, wenn ich dir sage, dass eine Fliege einen Pflug ziehen kann, frag mich nicht wie – spanne sie an.“ Cassius Clay alias Muhammad Ali

„Man muss sich abhärten, man darf aber dabei nie die Zärtlichkeit verlieren.“ Ernesto Che Guevara

1

Leo schwitzte und stank nach verdorbenem Fleisch. Sein Mund war ein Trockengebiet, in dem er die zersetzten Restaromen des Tankstellenkaffees schmeckte, den er sich die letzten fünf Stunden immer wieder reingeschüttet hatte. Er konnte sich selbst nicht riechen. Seine Hände zitterten, als er mühsam den Blinker setzte. Die Müdigkeit nach der langen Fahrt lag auf ihm wie eine graue, muffige Rotkreuzdecke. Darunter war er fast schmerzlich aufgedreht und nervös.

Als er auf den Parkplatz einbog, scheuchte er Vögel auf, die wie an Fäden gezogen kurz hoch und gleich wieder zurück in die Ginsterbüsche flatterten. Der Parkplatz sah gefegt und sauber aus, peinlich gepflegt wie aus schlechtem Gewissen.

Leos Gehirn dröhnte mit jedem Herzschlag, als hätte es keinen Platz in diesem Kopf. Er legte seine Stirn auf das kühle Plastik des Lenkrads. Der laufende Motor vibrierte durch den Schädel und verteilte sein Kopfweh gleichmäßig. Er war froh über einen anderen, flachen Schmerz.

Leo trug ein uraltes T-Shirt mit dem Logo der englischen Motorradfirma Triumph, eine Fleece-Jacke und eine Wanderfunktionshose. Die leichten Trekkingschuhe lagen zwischen den Kaffeebechern im Fußraum. In diesem Aufzug hatte er vom Tod seiner Mutter erfahren, hatte die halbe Nacht in seiner Hütte in den Alpen vor sich hin glotzend auf der Holzbank keinen klaren Gedanken fassen können. Und in diesem Aufzug würde er bald neben seinen sauber duftenden Geschwistern in der Aussegnungshalle und am Grab ihrer Mutter stehen.

Auf der Hütte mit Aussicht über Täler und auf Bergspitzen, mit Holzbalkenknarren statt Agentur-Gelaber und Almwiesen statt Loft, war er schneller als erwartet mit der ersten Fassung der Biographie eines Kunden fertig geworden. Zur Feier hatte er seinen Nachbarn, den Kühen, mit einem Glas Laphroaig-Whisky zugeprostet. Vielleicht um den PIN-Code nicht ganz zu vergessen, hatte er das Handy eingeschaltet, obwohl er diese Hirnkocher nicht mochte.

„Einmal pro Woche will ich deine liebliche Stimme hören.“

Nick, sein Agenturpartner, hatte ihm eines aufgedrängt: „Ruf an, JETZT!“ Er leckte dabei mit der Zunge seine Lippen nass und hauchte auffordernd mit Schlafzimmerblick und halboffenem Mund in eine imaginäre Fernsehkamera. Leo hatte seine Einlage nicht verstanden.

Neun Nachrichten lagen an, keine davon wollte er hören. Später in der Nacht hörte er sie doch ab. Nick hatte seinem Bruder und seiner Schwester die Nummer gegeben, obwohl Leo ihm das verboten hatte. Wie ähnlich doch die Messages – so würde Nick sagen – der beiden waren. Zunächst die Aufforderung mit gedämpfter Kirchenbesichtigungsstimme dringend zurückzurufen. Mit jeder weiteren Nachricht, in der sie lauter und unverschämter wurden, konnte er sich besser die dünner werdenden Lippen und das wellige Kinn seiner Geschwister vorstellen. Bei den folgenden schrieen sie den Telefonhörer feucht, beschimpften Leo und wollten einen Kurier schicken. Zuletzt brüllten sie auf die Mailbox, dass ihre Mutter gestorben sei und wann die Beerdigung stattfinde. Den Rest schoben sie als Zugabe hinterher: ihre geheim gehaltenen Schmerzen, der Zusammenbruch, die Metastasen und das Morphium, das sie relativ friedlich sterben ließ.

Die Kopfschmerzen sammelten sich wieder unter der Schädeldecke. Leo schloss die Augen und sah in Gedanken seine Mutter neben ihm sitzen in seinem Oldtimer Military-Jeep, einem Willys MB, Baujahr 1943. Sie hatte passende olivgrüne Hosen mit Seitentaschen an, eine Militärjacke, Springerstiefel. Die Sachen, um die sie ihn vergeblich gebeten hatte, sie waschen und pflegen zu dürfen, als er bei der Bundeswehr war, aber längst nicht mehr zuhause wohnte. Sie ragte kaum über den Sitz hinaus. Mit Zeige- und Ringfinger strich sie am öligen Scharnier der Frontscheibe entlang. Sie konnte die Finger noch strecken und die Altersflecken waren noch nicht zu sehen. Sie zog die Brauen hoch, sah ihn aus weißen Augenwinkeln an. Die Lippen zuckten. Diese Vorankündigung, bevor sie mit offenem Mund eher wieherte als lachte und dabei die Zähne freilegte wie ein Pferd, liebte Leo, seit er denken konnte. Er mochte es fast noch mehr als ihr viel zu lautes Maria-Schell-Lachen selbst, das Gäste der Bahnhofskneipe immer erschreckt hatte, weil sie zu zierlich, zu hübsch dafür erschien.

„Endlich hast du dir einen zugelegt! Ich hätte mich allerdings für den Ford GPW entschieden. Du weißt schon, wegen des Radstands, immerhin achtzig Inches.“

Die Liebe zu alten Jeeps war immer ihr gemeinsames Geheimnis gewesen. So geheim, dass es auch sein Bruder nicht aus ihm herausprügeln konnte. Jetzt stieß ihre Lachsalve wie ein metallener Brieföffner in seinen Gehörgang und durch das Trommelfell. Diesen Schmerz nahm er gern in Kauf, denn ihr Lachen gehörte ganz allein ihm, niemand sonst.

Leo rutschte mit seiner Stirn vom Lenkrad und schreckte aus seinem Halbschlaf wieder auf. Er erinnerte sich, dass die amerikanischen Truppen ihre Panzer immer dann verschoben hatten, wenn seine Mutter nicht in der Bahnhofskneipe der nächsten Kleinstadt aushelfen musste. So als sei es mit ihr vereinbart gewesen.

Wenn sein Bruder Peter die von Vater selbst gemauerten Gartentreppen hochkeuchte und mit schwitzender Stimme die Kolonne ankündigte, warf seine Mutter schon ihre Schürze über die Küchentür, nahm Leo an der Hand und zog ihn hinter sich her zur Landstraße. Sie wusste, wenn die Sonntagsgläser in der Wohnzimmervitrine klirrten und eigentlich kein Zug vorbeirattern durfte, dann kamen die Jeeps und Panzer der Amis.

Während die Jungs aus dem Dorf am Straßenrand hin- und hersprangen, gegen den Motorenlärm um Kekse und Kaugummi bettelten, setzte Leo sich auf den Boden und spürte die Panzer. Der ganze Untergrund wackelte, es kitzelte am Po. Er wollte sich flach hinlegen, traute sich aber nicht. Sitzend konnte er außerdem die viereckigen, grobstolligen Jeeps besser sehen. An ihnen liebte er jede Einzelheit, das Reserverad, die überlangen Antennen. Seine Mutter hatte davon geschwärmt, dass man die Windschutzscheibe runterklappen und durch die Streuobst- und Kuhwiesen hinter ihrem Bahnwärterhaus ganz hoch durch den steilen Waldabschnitt bis zur Burg fahren könnte – sicher ohne stecken zu bleiben, sogar im Winter. Er hatte damals keine Ahnung, woher sie das alles wusste und warum.

Sie setzte sich hinter ihn und er folgte mit seinen Augen ihrem Zeigefinger und jedem einzelnen Jeep. Während die anderen Kaugummi kauten, wirbelte der Staub in seinen offenen Mund und vermischte sich mit seiner Spucke.

Als die Kolonne durch war und die Dorfkinder weg, schluckte er den Dreck hinunter und seine Mutter klopfte den Straßenstaub aus ihren Kleidern. Die Mischung aus Schmutz, Diesel und Schweiß saß schwarz neben den Nasenflügeln, in den Stirnfurchen und in den Lachfalten, er hatte wohl die ganze Zeit gegrinst. Mutter seifte ihn lachend mit ihren beiden Händen ein wie bei einer Schneeballschlacht und verschmierte den Dreck im Gesicht. Sie sahen aus wie Vater, wenn er abends heimkam und erzählte, dass er sein verdammtes Schienenfahrzeug, das er abgöttisch liebte, wieder mal den halben Tag reparieren musste.

Leo hörte das Klingeln der Bahnschranken vor ihrem Bahnwärterhaus. Seine Mutter hatte sie früher selbst runter- und hochgekurbelt. Jetzt gingen sie sicher ferngelenkt wie von Geisterhand auf und zu.

Es war das Handy, wahrscheinlich hatte er diesen Klingelton Nicks skurrilem Humor zu verdanken. Während er sich meldete, war er überrascht von den Bildern. Erinnerungen, die Jahrzehnte nicht hochgekommen waren.

„Leo, bist du schon dort?“, typisch Nick, ohne Anlauf gleich zur Sache.

„Wenn du den Friedhof meinst, dann bin ich dort.“

„Alles klar bei dir?“

„Ich sitz ausgeschlafen, frisch geduscht und gut rasiert im dunklen Zwirn, mit weißem Hemd, im schwarzen Daimler und freu mich riesig auf das Event“, dabei betonte und dehnte er Nicks Lieblingswort Event besonders.

„Mann, ich habe drei Beinahe-Unfälle hinter mir, kann mich kaum wach halten und gleich buddeln die meine Mutter ein, die ohne mich gestorben ist.“

„Sorry, das tut mir echt leid, das mit deiner Mutter. Ich würde dich auch nicht anrufen, aber unsere Situation. Du weißt schon!“

„Nick, ich bin am Mittwoch im Büro.“

„Deshalb ruf ich an. Wir haben einen Auftrag und du musst beim Briefing dabei sein – am Montag! Hey Leo, das ist ein Heimspiel: deine Gegend, dein Milieu, die Biographie eines Arbeiterführers aus der Bahnarbeiterszene: Mike Merida.“

Nick wusste von Leos Herkunft und Leo wollte ihm dieses Wissen am liebsten wieder entreißen. Der Artikel in der FAZ über ihre ungewöhnliche Agentur, die Feier und der Sekt hatten ihn ungeplant gesprächig gemacht. Er hatte ihm seine wenigen Kindheitserinnerungen erzählt, von seinem Vater, dem Bahnarbeiter und Schmied. Von seiner Familie im Bahnwärterhäuschen, das neben den Gleisen auf halber Strecke zwischen dem Dorf und der Burg am Berg klebte. Wie die Kinder aus dem Dorf trotz Verbot sich hoch zu ihnen über die Bahngleise schlichen und die Ausreden nicht gut genug waren und sie dann nicht mehr auftauchten, um Münzen vom roten Schienenbus platt fahren zu lassen oder um auf den Eisengeländern neben den Schranken zu balancieren.

„Definitiv ohne mich. Den Topf mach‘ ich nicht auf.“

Leo nahm das Handy vom Ohr und bevor er den roten Knopf drückte, hörte er Nicks Stimme in seiner Hand:

„Leo, du musst dabei sein, denn eigentlich hab ich den Auftrag schon angenommen.“

Er sah Nick als durchsichtiges Vexierbild auf der Windschutzscheibe vor ihm und er warf ihm sein eigenes „No way! Forget it!“ ins Gesicht. Sein rechter Arm stieß nach vorne. Der Handrücken zeigte nach oben und bildete mit dem Unterarm eine Linie. Die rechte Schulter zog er hoch und führte den Schlag etwas schräg aus, damit er besonders wirkungsvoll sein würde. Charly, sein Boxtrainer, wäre sehr zufrieden gewesen: „Erst die Rechte und dann die Linke … erst whuuuuh, dann whomp.“ Kurz vorm Glas bremste er den Schlag ab.

Er wollte seine Ruhe haben und nicht in seiner Vergangenheit rumrühren. Das Kapitel war für ihn abgeschlossen. Ein für alle Mal. Er wollte auch nicht hier sein.

Ritter Ivanhoe hatte ihm damals geholfen, aber jetzt war er wieder in seinen Wäldern in England. Er hatte schon ewig lange nicht mehr mit ihm Seite an Seite gegen die Muselmänner gekämpft, die seine Burg oben am Berg einnehmen wollten. Sie hatten gemeinsam neue Schwerter in Vaters Keller geschmiedet und damit den Monstern die Köpfe abgehackt, deren Schleim ihm ins Gesicht schlabberte, bevor sie ihn nachts fressen wollten.

„Nimm Platz, mein Ritter, genau hinter mir, und halte mir den Rücken frei, genauso wie damals“, sagte er leise, aber feierlich.

Als die Fahrertür aufgerissen wurde, spürte Leo, wie Ivanhoes Schwert nach vorne an seinem Kopf vorbeizischte und die scharfe Spitze kurz vor der ungepanzerten Brust des Angreifers zum Halten kam.

„Schläfst du hier oder was?“

Peter genoss es, den Herzschlag seines Bruders auf Sprinterniveau zu heben. Dabei musste er froh sein, nicht von Ivanhoes Klinge aufgespießt zu werden. Der Puls drückte Leo die Schmerzen rhythmisch in die Augäpfel. Er stieg aus und hielt wie immer Peter die Hand zur Begrüßung hin. Sie war kalt und nass und irgendwie war er froh, dass Peter sie nicht drückte, sondern ihn umarmte wie Honecker Breschnew. Er klopfte ihm hart auf den Rücken, so dass Leo fast husten musste. Peter hatte Leo zuletzt umarmt, als er zwölf war. Er war zusammengebrochen, als er vom plötzlichen Tod ihres Vaters erfahren hatte. Vorher hatte er mit seinem Wanderstock, auf dem kleine Blechschildchen mit Bildern vom Zillertal und Kalterer See wie Trophäen festgenagelt waren, die Wohnzimmervitrine und das Sonntagsgeschirr zerlegt. Peter hatte Leo geohrfeigt und dann fest umarmt, eher umklammert, während er sich die Stimmbänder wund brüllte.

Es wurde ihm zu eng und zu nah, er wand sich aus Peters sozialistischer Umarmung.

„Musstest du unbedingt mit diesem Auto zu Mutters Beerdigung kommen!“ Peter schob ihn zur Seite, griff in den Jeep und schaltete den Motor aus. Hier war es wieder, dieses Familien-Außenseiter-Gefühl. Es hatte sich nur versteckt, fast hätte er es vergessen.

2

Immer mehr Autos bogen in Zeitlupe auf den Parkplatz ein, als würden sie auf zu dünnes Eis fahren. Sogar sie heuchelten Mitleid und Leo wunderte sich, warum fast alle Wagen dunkel und schwarz waren. Besorgten sich Beerdingungsbesucher extra dunkle Autos? Er spürte Blicke durch Windschutzscheiben wie spitze Zeigefinger, die nervös auf seine Schulter tippten.

Er ging voraus und es tat ihm gut, unter hohen Bäumen zu gehen, sie gaben ihm Sicherheit. Ihm gefiel der Friedhof, wahrscheinlich wegen der Bäume, die er nicht mehr in Erinnerung hatte. Er war bestens organisiert, es hingen kiefernadelgrüne Gießkannen an gepflegten Brunnen mit Eisengitter-Abstellflächen neben akkuraten Wegen. Leo hatte alte Witwen hier erwartet, es warfen aber auch Männer im besten Alter verwelkte Blumenreste auf den Biomüll. Sogar junge Menschen knieten vor Gräbern und bearbeiteten Erde und pflegten Pflanzen.

Ein Friedhof – und er fühlte sich wohl! Er lachte kurz laut auf. Ein paar Friedhofsbesucher drehten den Kopf in seine Richtung, mehr Reaktionen gab es nicht.

Mit Gräbern kannte er sich nicht aus. Wie er aber einige schmiedeeisernen Grabmale sah, erinnerte er sich, dass bei einem der wenigen Familienfeste seine Mutter davon gesprochen hatte. Es gab hier am Ort einen Schmied, der inzwischen berühmt war, weil er Kunst und Schmiedehandwerk verbunden hatte. Leo kam am Grab eines Schriftstellers vorbei mit einer hüfthohen Stele aus Stahl, die aussah wie ein Füllfederhalter. Ein überdimensioniertes Buch und ein Notizbuch aus Eisen waren daran festgeschweißt. Das Buch hatte sogar bewegliche Seiten. Erst zögerte er, dann traute er sich doch, die Skulptur näher anzuschauen und in dem stählernen Notizbuch zu blättern. Er untersuchte die Schweißnähte und die Verarbeitung näher, schließlich hatte ihm sein Vater noch kurz vor seinem Tod das Schweißen beigebracht. Seine Mutter hatten sie damit fast zum Wahnsinn getrieben. Weder geduldiges Einreden noch Fernseh- oder Fahrradentzug konnten ihn dazu bringen, seine Schulhose auszuziehen, bevor er die Treppe runter in Vaters Werkstätte lief. Erst nachdem er alle Strafen bis hin zur Ohrfeige ertragen hatte und er immer noch nicht anders konnte, begriff seine Mutter. Sie kaufte ihm eine zweite Schulhose. Ein Luxus, den seine Geschwister nicht hatten. Die Entschuldigungen für die vorangegangenen Schläge und die dann ausbleibenden Standpauken verwirrten Leo damals völlig.

Im Gegensatz zu seinen Geschwistern war Leo oft auf der zerfurchten Holzwerkbank bei Vater im Keller gesessen, in dem er seine Schmiedewerkstatt eingerichtet hatte. Leo liebte diese Hölle, den Geruch nach Stahl und Öl, den trommelfellzerreißenden Lärm und den Funkenstrahl der Flex. Weder glühendes Eisen, entzündete Augen vom Schweißlicht noch die Gefahr, dass sich Stahlsplitter unter die Haut bohren konnten, hielten ihn davon ab. Schließlich ließ ihn sein Vater manchmal mitarbeiten und Stahlstäbe zu Treppengeländerverzierungen biegen.

Noch bevor er die Halle erreichte, hörte er den Pfarrer mit einer heuchelnden, unsympathischen Stimme reden, fast jammern. Er ignorierte den Eingang, ging um die Ecke und setzte sich neben einem offenen Fenster an der Längsseite des Gebäudes nieder. Er lehnte sich an die von der Sonne aufgewärmte Mauer, riss Gräser aus und kaute auf ihnen herum, während sich ein Sodbrennen vom Magen durch die Speiseröhre in seiner Brust ausbreitete. Wieder musste er aufstoßen und es wurde ihm fast schlecht – immer noch dieser Kaffeegeschmack, nur noch ätzender. Der Pfarrer stockte jedes Mal beim Namen seiner Mutter und setzte kurz mit der eingeübten Totenklage aus. Leo machte es zornig, dass dieser Vorbeter sich nicht ihren Namen merken konnte.

„Emma Baumann, Emma Baumann … merk dir das endlich, du scheinheiliger Pfaffe!“

Vor Jahren hatte Leo seine Mutter fast schon gezwungen, ihren Traum zu verwirklichen, nach Amerika zu reisen. Daran musste er denken und auch wie mühsam sie vorher versucht hatte, in der Volkshochschule ihr bruchstückhaftes Englisch aufzufrischen.

Als hätte sie Angst vor der Realität, war sie vorher nie in die USA geflogen, obwohl sie mit diesem Land Weite, Natur und vor allem Freiheit verband. Für sie waren Amerikaner Helden und sie liebte alles Amerikanische: von den Jeeps bis hin zu Nylonstrümpfen. Leo und seine Geschwister hatten sie zeitweise auf den Arm genommen und sich lustig gemacht über ihre Kennedy-Begeisterung. Jedes Jahr am 22. November rechnete sie vor, wie lange er, John F., schon tot war. Es war ihr egal, dafür belächelt zu werden, denn sie wusste, was sie den Amis zu verdanken hatte, seit diese am Ende des Krieges in ihre Heimatstadt eingezogen waren und sie befreiten vom Nazi-Gesocks, wie sie sich ausdrückte. Damals hatte sie zum ersten Mal schwarzhäutige Menschen gesehen, durfte ihre Haut berühren, Apfelsinen probieren, Bananen und Schokolade essen. Ihr Vater hatte ihr verboten, die Sachen anzunehmen und Umgang mit den Soldaten zu haben. Nicht weil er die Amerikaner nicht mochte, er sehnte das Ende des Dritten Reiches noch mehr herbei als seine Tochter, denn die Nazis hatten ihm fast alles genommen. Er hatte schlichtweg Angst um das pubertierende Mädchen.

Aber er hatte keine Chance, denn diese Soldaten liebten auch deutsche Kinder, behandelten sie gut und ließen sie sogar auf ihren Jeeps herumklettern. Vielleicht musste Leos Mutter bei seinen Schulhosen an die vergeblichen Ermahnungen ihres eigenen Vaters denken und hatte deshalb kapituliert.

Und als sie dann diesen Englischkurs besuchte, hatte ihr Leo eine Freude machen wollen und ein Gedicht zum Übersetzen und Üben kopiert, welches zu dieser Zeit durch einen Kinofilm bekannt wurde und ihn faszinierte: W. H. Auden, ‚Stop all the clocks‘. Obwohl er sie bat, die deutsche Übersetzung noch nicht zu lesen, sondern sich erst am Original zu versuchen, hatte sie es trotzdem überflogen. Sie hatte das DIN-A4-Blatt auf den Tisch zwischen ihre Ellenbogen gelegt und stützte ihren Kopf mit den Händen ab. Sie musste den Text mindestens drei bis vier Mal gelesen haben, bis er bemerkte, dass ihr Gesicht ganz nass war und Tränen auf das Blatt tropften. Sie hatte noch nie in seiner Anwesenheit geweint. Zuerst wollte sie es durch tiefes Atmen verhindern, doch dann ließ sie los. In seiner Verlegenheit ging er auf die Toilette. Als er zurückkam, saß sie immer noch so da. Sie versuchte mit ihren Fingern ihre Tränen zu trocknen. Durch ihr Schluchzen hindurch war ihre Stimme ganz dünn. Leo verstand sie kaum, aber er konnte hören, wie wunderschön sie es fand und dass sie sich so ein Gedicht zu ihrem Begräbnis wünschte. Er schob es auf die Seite, nahm sie nicht ernst und sagte, sie solle mit dem Blödsinn aufhören, es sei ja hoffentlich noch lange nicht so weit.

Jetzt stand er hier an diese Mauer gelehnt und musste diesem Stümper zuhören, der nicht mal so viel Respekt und Mitgefühl besaß, sich ihren Namen zu merken. Er, Leo, sollte diese Rede halten, er sollte da oben stehen und den Wunsch seiner Mutter erfüllen. Er hatte ihn vergessen, schlichtweg vergessen. Warum ging er nicht dort rein, stieß diesen blassen, blutleeren Heuchler vom Mikrofon und zitierte ihr Gedicht?

Stop all the clocks, cut off the telephone, Prevent the dog from barking with a juicy bone, Silence thepianos and with muffled drum Bring out the coffin, let the mourners come.

Stoppt jede Uhr, lasst ab vom Telefon, Verscheucht den Hund, der bellend Knochen frisst, die roh’n. Lasst schweigen die Pianos und die Trommeln schlagt, Bringt heraus den Sarg, ihr Klager, klagt.

Er spürte die Tränen und es tat fast schon weh, weil er nie weinte. Manchmal, wenn er am Jeep die Windschutzscheibe zum Spaß herunterklappte, um die Geschwindigkeit besser zu spüren, tränten seine Augen zwar, aber das war etwas anderes.

Er wollte nicht weinen, nicht in Anwesenheit dieser Menschen, dieses Pfaffen. Doch nun konnte er sich nicht vor dieser Welle von Emotionen und Bildern ans sichere Ufer retten wie üblich. Er scheuerte an der Mauer entlang, ging in die Hocke, drückte seinen Kopf zwischen seine Knie und plärrte laut und heftig. Wie alles, erledigte er auch das gründlich. Bereits nach kurzer Zeit trocknete er mit den Ärmeln sein nasses Gesicht und ruinierte sich seine Fleece-Jacke endgültig, indem er sich an der groben Mauerstruktur gepresst wieder hoch auf die Beine schob.

Der Pfarrer hatte aufgehört zu sülzen. Als die Prozessionsschlange um die Ecke schlich, stieß er sich von der Mauer ab und ging ihr in einem sicheren Abstand hinterher.

Eigentlich musste das der Weg sein, den sie vor fünf Jahren gegangen waren, als sie den zweiten Mann seiner Mutter auch hier begraben hatten. Aber Leo fand keine Bilder, keine Erinnerungen. Sein Stiefvater war korrekt, zuverlässig und spröde gewesen, und der große Altersunterschied für seine Mutter nie ein Problem. Er gab ihr als Staatsbeamter mit Pensionsansprüchen Halt und auch Sicherheit. Sie hatte bald nach dem Tod von Leos Vater wieder geheiratet. Zu schnell, wie er damals dachte. Erst viel später konnte er akzeptieren, dass sie ihn wirklich geliebt hatte.

Leo dachte daran, dass es im Bahnwärterhäuschen keine Sicherheit gegeben hatte, trotz Überstunden war nie genug Geld da. Erst kurz vor seinem Tod hatte Leo seinen Vater unter der Woche auch mal abends gesehen, meistens war er schon im Bett, als er nach Hause kam. Freitag war eine Ausnahme, da trafen sich die Bahnarbeiter schon nachmittags auf ein Feierabendbier auf der Treppe vorm Bahnwärterhaus.

Sein Vater kam ein paar Mal hoch auf die Wiese zum Lagerfeuer, in das die Kinder Kartoffeln geworfen hatten, während sie die Kühe der Bauern hüteten. Er hatte wie immer die kleinen Salz- und Pfefferstreuer in der Brusttasche seines schwarzen Arbeitsanzuges der Bahn. Er wusste, dass eine Prise Salz und Pfeffer ihren Genuss ins Unermessliche steigern würde, nachdem sie sich durch die verkohlte Schale durchgearbeitet und Mund und Zunge am heißen gelben Fleisch der Kartoffel verbrannt hatten.

Gerade als er begonnen hatte, sie öfters auf der Wiese oder auf der Fahrrad-Gelände-Rennstrecke zu besuchen, war Leos Vater urplötzlich gestorben, viel zu früh. Mit 45 Jahren fiel er um wie ein gefällter Baum, direkt neben den Gleisen. Herzversagen! Leo wollte damals nicht begreifen, wie sein Vater ihn allein lassen konnte.

Vor ein paar Monaten war Leo vor seinem eigenen Geburtstag geflüchtet. An seinem Fünfundvierzigsten war er unerreichbar gewesen. Er hatte sich endlich den Jeep geschenkt und war in die Berge gefahren. Seine Mutter und seine Geschwister hatten ihm bemühte Briefe nach Hause geschickt, ansonsten waren sie so klug, ihn in Ruhe zu lassen.

Er saß in der Hütte, hatte gearbeitet und so getan, als ob es ein Tag wie jeder andere sei. Später, nachdem er die halbe Flasche Whisky geleert hatte, stellte er den CD-Player auf die Veranda und verscheuchte Gedanken mit seiner dröhnenden Musik. So laut, dass sie von den Berghängen zurückgeworfen wurde.

3

Als wäre eine Linie am Boden aufgezeichnet, stellten sich die Trauergäste im Halbrund um das offene Grab. Leo stand hinter ihnen abseits vom Grab. Elisa, seine Schwester, schaute auf und wandte suchend den Kopf hin und her. Das fiel auf, weil dieses Tempo nicht üblich war auf einer Beerdigung. Als sie ihn sah, zog sie ihre Augenbrauen hoch und ihre Augen wurden ganz groß. Sie dirigierte ihn mit einer schrägen Kopfbewegung nach vorne. Einige Trauernde folgten neugierig Elisas Blick und er sah an ihren Stirnfalten, dass sie über seinen Anblick nicht erfreut waren. Das ermutigte ihn, jetzt erst recht der Aufforderung seiner Schwester zu folgen. Schließlich konnte er den Betroffenheitsbekundungen nicht länger aus dem Weg gehen. Für seinen Aufzug würde man Erklärungen finden, für sein Fernbleiben nicht.

Er bereute den Entschluss nach drei Sekunden, musste er sich doch an Menschen, die er nicht kannte, vorbeidrängeln. Um nicht ihr billiges Parfüm oder ihren Haarfestiger riechen zu müssen, atmete er oberflächlich durch den Mund.

Manche schienen Begräbnisse zu nutzen, um ihren Anzügen Urlaub von den Mottenkugeln zu gönnen und sie zu lüften. Einige der Trauergäste meinten, für eine Konzert- oder Sportveranstaltung anzustehen, für die sie sich die besten Plätze sichern mussten. Er berührte sie leicht und sprach sie leise an. Erst nachdem er sie mit einem lauten „Darf ich“ auf die Seite stieß, konnte er sich vorbeidrücken. Wie er vorne am Grab stand, waren sie ihm immer noch zu nah, aber wenigstens ohne Körperkontakt.

Um die Blicke der Geschwister nicht zu treffen, schaute er ins offene Grab. Von der Seite sah er, wie Peter Tränen über die Backen rannen und kleine Spuren hinterließen. Die gleichen Salzspuren auf seinem Gesicht wie damals, als er einmal viel zu spät aus der Dorfschule nach Hause gekommen war. Seine Hosen waren an den Knien zerrissen und an den Rändern war Blut getrocknet. Er hatte den Weg über die Wiese genommen und mit jedem Schritt schlug er mit einem dicken Ast mit einem Karateschrei trotzig auf das hoch stehende Gras ein. Mutter konnte ihm gerade noch rechtzeitig den Stock aus der Hand reißen, bevor er ihre Pflanzen neben dem Treppenaufgang zum Bahnwärterhaus abmähte. Sein versteinertes Gesicht wurde weich und floss davon, als sie seinen Kopf in ihre Hände nahm. Mehrere Jungs aus dem Dorf hatten sie als dumm und faul bezeichnet, weil sie nicht wie das ganze Dorf an einer Beerdigung teilgenommen hatte. Blind vor Wut war er auf die Jungs losgegangen, die ihn Staub fressen ließen.

Seine Mutter tröstete ihn in ihren Armen, was fast nie vorkam, und erklärte ihm, dass sie die verstorbene Frau gar nicht gekannt hatte und auch keinen Bezug zu ihr hatte. Sie wusste nur, dass sie eine Verwandte der Bauersfamilie war, bei der sie ihr jährliches Schlachtschwein kauften. Genau der Bauer, bei dem sie – als einzige Familie des Dorfes – die ganze Summe im Voraus zu zahlen hatten.

Der Sarg war in der Grube verschwunden, die Träger und der Pfarrer zogen sich zurück vom grünen Kunstrasen, der über die Ränder des offenen Grabes gelegt war. Leo hätte sich am liebsten den Handschuh aus Vaters Kellerwerkstatt übergezogen, als er all die Hände schütteln musste. Nick hätte sicher auf Standby-Modus geschaltet, das tat Leo jetzt auch und sah nicht, wie die Menschen ihn musterten, und hörte nicht, was sie ihm sagten. Es interessierte ihn eh nicht.

„Leo, wo warst du?“, noch bevor Elisa ihn endlich begrüßte und umarmte, nervte sie ihn mit dieser Frage. Sie standen nur noch zu dritt am Grab.

„Ich habe mir die Stahl-Skulpturen, die Mutter erwähnte, angesehen und dabei die Zeit vergessen.“

„Nein, ich meine bei Mutters Tod.“

Das traf ihn wie ein Körperhaken, der ihm die Luft nahm. Vorwürfe brauchte ihm niemand zu machen, das tat er schon selbst.

„Ich war Schreiben auf der Hütte in den Bergen. Du weißt, dass ich das verdammte Handy nur alle paar Tage abhöre.“

Die Worte waren so laut, dass sie die letzten Trauergäste noch hören konnten. Er wollte sich nicht rechtfertigen, schon gar nicht entschuldigen. Wie durch einen Windstoß aus dem Gleichgewicht gebracht, wich Elisa einen Schritt zurück. „Großer Fehler“, hörte Leo Charly in Gedanken sagen, „stehen bleiben! Nur wenn du stehen bleibst, kannst du gewinnen beim Boxen.“

Die Geschwister erschraken, als das Bahnschrankenläuten des Handys plötzlich schrill losbimmelte. Leo fand die Taste nicht schnell genug, um den Klingelton stumm zu schalten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Anruf anzunehmen, nur damit das Läuten aufhörte. Seine Schwester schüttelte ihren Kopf und drehte sich weg.

„Hey Buddy, fooling around?“

Leo ließ seine Geschwister stehen und ging ein paar Schritte.

„Hi Tom, not really“, antwortete er.

Tom liebte es, lang aufzubleiben, und auch im Moment war nachtschlafende Zeit in Oregon. Er hatte es sich die letzten Monate zur Gewohnheit gemacht, Leo mindestens einmal pro Woche anzurufen, kurz bevor er ins Bett ging. Constant dripping wears away the stone!

Tom wollte mit aller Macht ihre Wohngemeinschaft wieder aufleben lassen. Sie hatten vor über zwanzig Jahren in Eugene, Oregon, eine Wohnung geteilt, als sie beide während Leos Austauschjahres an der amerikanischen Partneruniversität Teaching Assistants gewesen waren.

Peter und Elisa winkten ihm zu und machten Zeichen. Peter trank aus einer nicht vorhandenen Kaffeetasse und Elisa führte ihre Finger zusammen und wippte mit der einen Hand immer wieder Richtung Mund, so als würde sie Nahrung reinschaufeln. Sie wiesen auf den Ausgang und machten sich auf den Weg. Sogar Elisas Gang hatte etwas Vorwurfsvolles.

Leo erklärte Tom die Situation und versprach, ihn zurückzurufen. Er hätte seine Geschwister einholen können, aber er war froh um die kurze Auszeit. Und wie sich Elisa umdrehte, hatte er immer noch das Handy am Ohr, obwohl Tom schon längst, sich entschuldigend, aufgelegt hatte.

Ihn zog es nicht zum Leichenschmaus, trotzdem ging er langsam los.

All die Jahre war der Kontakt zu Tom nicht abgebrochen. Bei ihm und seiner Frau hatte Leos Mutter die meiste Zeit ihres USA-Aufenthalts verbracht, in der Zeit zwischen den Trimestern, während er nicht am College unterrichten musste und Zeit hatte, sie ein wenig herumzuchauffieren, bevor sie sich selbst zutraute, mit dem Auto loszufahren.

Jetzt nach der Trennung von seiner Frau hatte Tom sich ein Haus an der Küste gekauft. Er, der Kopfarbeiter, erfüllte sich seinen großen Traum und renovierte das alte Kapitänshaus nicht weit vom Meer mit seinen eigenen Händen. Verfaulte Balken und halb abgesägte Finger raubten ihm keinen Deut seiner Begeisterung. Eine Begeisterung, die er mit sich trug, wie eine ansteckende Krankheit. Und er wollte Leo anstecken, weil er wusste, dass er fast keine Abwehrkräfte dagegen hatte. Er wusste, dass Leos Koffer schon nicht mehr im Keller warteten, sondern frisch entstaubt in der Wohnung standen. Und er wusste, dass Leo in den Startlöchern saß – mal tiefer, mal höher.

Bei der Beerdigung von Leos Vater hatten die Männer nach kurzer Zeit begonnen, Schnaps zu trinken. Leo kannte die aufkommende Stimmung nur zu gut von der Bahnhofskneipe. Langsam begannen die Augen der Trauernden in ihren Höhlen zu schwimmen und es wurde lauter. Die Lacher waren nicht mehr kurz und genant, sondern laut, und man konnte das Amalgam in den Zähnen sehen. Damals hielt er es nicht mehr aus und rannte aus der Kneipe mit einem lauten Türknallen.

Jetzt hätte er gerne das Gleiche getan. Frauen setzten nun doch ihre Hüte ab und Männer lockerten die schwarzen Krawatten.

Die Gesichter glühten in der schwülen Wirtsstube und die Gespräche wurden lauter. Alte Geschichten wurden ausgepackt und in Variationen erzählt. Er wollte sie nicht hören, er war das nicht gewohnt. Immer wieder waren Finger auf ihn gerichtet, begleitet von unverständlichen Sätzen.

Was sollte das sein? Eine Anekdote? Ein Lachen? Eine Drohung? Er kannte diese Menschen nicht. Er kannte sie nicht mehr. Er sollte sie kennen und sollte sie mit Bildern aus der Kindheit zusammenbringen. Aber darin war er nie gut gewesen. Das war auch der Grund, weshalb Leo nie zu Klassentreffen seines Internats ging. Diese vergebliche Suche nach der Vergangenheit in scheinbar Bekanntem.

Alte Geschichten empfand er als lästige Ablenkung von der Arbeit, vom Leben, vom Hier und Jetzt. Und es gefiel ihm gar nicht, dass ihn seit Mutters Tod so viele Erinnerungen bedrängten.