Stark-Sturm - Alissa Carpentier - E-Book

Stark-Sturm E-Book

Alissa Carpentier

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  • Herausgeber: KUUUK
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Verdammt mulmig: Claire, eine Floristin aus Düren, eine Frau von satten 37 Jahren, alleinstehend, verwaist, echt einsam, ein durchaus besonderer Mensch, aber bisweilen regelrecht eigenartig, hier und da im Kopfe zudem noch inselbegabt. ja, diese Claire verreist nun ganz allein nach Fuerteventura. Ein Flug. Die erste richtig große und weite Reise ihres Lebens wird zu einem Abenteuertrip schlimmster Ereignisse. Sicher, sie lernt diese Elfi kennen, aber dunkle Vorahnungen liegen über allem, was dort an den Stränden und auf den Wassern geschehen könnte. Sind die Einwohner von Fuerteventura ihr wohlgesonnen? Was will dieser verdammte Wind? Wozu sind diese klotzigen Strandburgen aus Stein? Warum erscheint auf einmal dieser Skipper im Leben der Neu-Freundinnen? Oder sind es Konkurrentinnen? Für alles kann nur Fuerteventura selbst die Antwort geben, vielleicht auch der Geist von jenem großen Franzosen Albert Camus, der in diesem spannenden, nachdenklichen, lebensphilosophisch geprägten und auch höchst verunsichernden Buch absichtsvoll und sehr vielfältig mitschwingt. Eine literarische Hommage an A.C. und zugleich ein für sich stehender kriminaler, wenn nicht gar „kriminell“ aufregender Roman. Ein ultimatives Fuerteventura-Buch. Und: Man hat zudem vielfältigsten Tourismus-Zugewinn, allein schon durch die überaus kenntnisreichen Be- schreibungen von Geographie und Fauna der Insel. Ein Teil der Handlung vollzieht sich zudem noch auf der anderen berühmten Insel: Lanzarote. Hinzu kommen eine Menge von schönen Illustrationen aus der Hand der Autorin. Mit den Bildern liest und empfindet man alles doppelt gut. Alissa Carpentier ist, wie sie selbst sagt, auf dem „zweiten Bildungsweg“ zum Schreiben gekommen, denn in ihrem früheren Leben war sie eine erfolgreiche Industriemanagerin. Sie wurde am 28. Mai 1960 im französischen Nancy geboren, als Tochter eines dort ansässigen Glashüttenbesitzers und einer deutschen Eiskunstläuferin. Als sich ihre Eltern ein paar Jahre später trennten, wurde Alissa von ihrer Mutter bei der deutschen Verwandtschaft im rheinländischen Düren untergebracht. Hier wuchs das Mädchen im Hause ihrer Großeltern auf, während die Mutter ständig mit „Hollywood on Ice“ auf Tournee ging. Alissa machte ihr Abitur auf einem Dürener Gymnasium, ging dann nach Aachen und promovierte in Elektrotechnik an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH). Anschließend arbeitete sie fast 15 Jahre lang bei einem großen Automobilhersteller in München, bevor sie sich zur Schriftstellerei und für die Belletristik entschied. Heute wohnt sie mit ihrem Mann Rick, einem inzwischen pensionierten Sommelier, im kleinen Weinort Wormeldange an der luxemburgischen Mosel. Mit „Stark-Sturm“ legt sie ein neues Werk vor, das vom Roman „L`Etranger“ des französischen Schriftstellers Albert Camus inspiriert wurde. Sie schrieb weiterhin die Romane „Jenseits von Jenen“ (eine Persiflage auf John Steinbeck), „Fern-Endlichkeit“, „Schlangen-Grab“ und „Tot-Schlaf“ und veröffentlichte bislang drei Bände satirischer USA-Reisegeschichten, die sogenannten „Tossing Tales“, von denen einer bereits auch in amerikanisches Englisch übersetzt wurde. Häufig publiziert sie unter Heteronymen, nennt sich dabei Gudrun Tossing oder gar Jeff Sailor …

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Seitenzahl: 406

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Ähnliche


INFO | TITEL

Alissa Carpentier

Stark-Sturm

Hommage an A. C.

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Kriminaler Fuerteventura-Roman

[Mit 45 Bild-Illustrationen zu Fuerteventura aus der Hand der Autorin]

:::

INHALT

Verdammt mulmig: Claire, eine Floristin aus Düren, eine Frau von satten 37 Jahren, alleinstehend, verwaist, echt einsam, ein durchaus besonderer Mensch, aber bisweilen regelrecht eigenartig, hier und da im Kopfe zudem noch inselbegabt ... ja, diese Claire verreist nun ganz allein nach Fuerteventura.

Ein Flug. Die erste richtig große und weite Reise ihres Lebens wird zu einem Abenteuertrip schlimmster Ereignisse.

Sicher, sie lernt diese Elfi kennen, aber dunkle Vorahnungen liegen über allem, was dort an den Stränden und auf den Wassern geschehen könnte. – Sind die Einwohner von Fuerteventura ihr wohlgesonnen? Was will dieser verdammte Wind? Wozu sind diese klotzigen Strandburgen aus Stein? Warum erscheint auf einmal dieser Skipper im Leben der Neu-Freundinnen? Oder sind es Konkurrentinnen?

Für alles kann nur Fuerteventura selbst die Antwort geben, vielleicht auch der Geist von jenem großen Franzosen Albert Camus, der in diesem spannenden, nachdenklichen, lebensphilosophisch geprägten und auch höchst verunsichernden Buch absichtsvoll und sehr vielfältig mitschwingt. Eine literarische Hommage an A.C. und zugleich ein für sich stehender kriminaler, wenn nicht gar „kriminell“ aufregender Roman.

Ein ultimatives Fuerteventura-Buch. Und: Man hat zudem einen vielfältigsten Tourismus-Zugewinn, allein schon durch die überaus kenntnisreichen Beschreibungen von Geographie und Fauna der Insel. Ein Teil der Handlung vollzieht sich zudem noch auf der anderen berühmten Insel: Lanzarote.

KARTE VON FUERTEVENTURA

(nicht maßstabsgerecht)

DIE AUTORIN

Alissa Carpentier ist, wie sie selbst sagt, auf dem „zweiten Bildungsweg“ zum Schreiben gekommen, denn in ihrem früheren Leben war sie eine erfolgreiche Industriemanagerin. Sie wurde am 28. Mai 1960 im französischen Nancy geboren, als Tochter eines dort ansässigen Glashüttenbesitzers und einer deutschen Eiskunstläuferin.

Als sich ihre Eltern ein paar Jahre später trennten, wurde Alissa von ihrer Mutter bei der deutschen Verwandtschaft im rheinländischen Düren untergebracht. Hier wuchs das Mädchen im Hause ihrer Großeltern auf, während die Mutter ständig mit „Hollywood on Ice“ auf Tournee ging.

Alissa machte ihr Abitur auf einem Dürener Gymnasium, ging dann nach Aachen und promovierte in Elektrotechnik an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH). Anschließend arbeitete sie fast 15 Jahre lang bei einem großen Automobilhersteller in München, bevor sie sich zur Schriftstellerei und für die Belletristik entschied. Heute wohnt sie mit ihrem Mann Rick, einem inzwischen pensionierten Sommelier, im kleinen Weinort Wormeldange an der luxemburgischen Mosel.

IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek erfasst diesen Buchtitel in der Deutschen Nationalbibliografie. Die bibliografischen Daten können im Internet unter http://dnb.dnb.de abgerufen werden.

Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und Medien – auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere neuartige Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

HINWEIS: Deutsch ist überaus vielschichtig und komplex. Der Verlag versucht, nach bestem Wissen und Gewissen alle Bücher zu lektorieren und zu korrigieren. Oft gibt es allerdings mehrere erlaubte Schreibweisen parallel. Da will entschieden werden. Zudem ergeben sich immer wieder Zweifelsfälle, wozu es oft auch keine eindeutigen Antworten gibt. Schlussendlich haben auch die Autorinnen und Autoren ureigene Sprachpräferenzen, die sich dann bis in die Kommasetzung, Wortwahl und manche Schreibung wiederfinden lassen können. Bitte behalten Sie das beim Lesen in Erinnerung.

Cover: Das hier verwendete Acrylbild „Segler auf bewegter See“ stammt von © Gudrun Tossing, die vier Landkarten und 45 Naturskizzen im Innenteil sind Zeichnungen von © Alissa Carpentier. Coverentwurf © Gudrun Tossing & Klaus Jans, Lektorat: KUUUK, Hauptschrift: Arial.

E-BOOK-ISBN 978-3-939832-89-8

Erste Auflage E-BOOK November 2016

KUUUK Verlag und Medien Klaus Jans

Königswinter bei Bonn

K|U|U|U|K – Der Verlag mit 3 U

www.kuuuk.com

Alle Rechte [Copyright] © KUUUK Verlag – [email protected] und © Gudrun Tossing – [email protected]

ZITAT

„Ich schüttelte den Schweiß und die Sonne von mir. Ich begriff, dass ich den Gleichmut des Tages, die besondere Stille eines Strandes zerstört hatte, an dem ich glücklich gewesen war.“

Albert Camus aus „Der Fremde“ („L’ Étranger“)

Originaltext:

Südlicher Teil Fuerteventuras (Halbinsel Jandia)

(nicht maßstabsgerecht)

Südwestlicher Teil Lanzarotes

(nicht maßstabsgerecht)

KARTE VON LANZAROTE

(nicht maßstabsgerecht)

INHALTSVERZEICHNIS

Verzeichnis der einzelnen Teile und Kapitel des Romans „Stark-Sturm“

Prolog

Anruf in der Nacht

Teil 1: Veränderungen

Harry ist tot

Nun holen sie ihn ab

Ziemlich einsam

Greta und ihre Tochter

Immerhin …

„Nuages“

Unverhofftes Glück

Claire traut sich was

Alte Hochglanzbilder

Teil 2: Des Himmels Blau

Wolkennah

Gedanken an Verflossenes

Eine lästige Bekanntschaft

Sotavento

Stilles Wasser

Der Hund, der Claire folgte

Gegen alle Elemente

Sonne und Mond

Finstere Strandburgen

Badefreuden?

Teil 3: Stark-Sturm

Greg taucht auf und mischt sich ein

Der stolze Segler Ariadne

Ein paar Lügen und ein Plan

Auf nach Lanzarote

Los Hervideros

Schiffbruch

Gestrandet – gefunden

Im Fischerdorf El Golfo

Ein Abend zu dritt

Rückkehr nach Jandia

Finstere Gewitterwolken

Die Königin der Nacht

Teil 4: Calima

Auf schmalem Grat

Der Friedhof von Cofete

Tod in den Klippen

Die Sturmuhr

El Risco del Paso

Verfolgungswahn

Das Verhör

Banges Warten

Wiedersehen mit Greg

Gewaltsame Verzweiflung

Und weiterhin nur Küste …

Teil 5: Die Fremde

Heimflug

Nicht mehr so wie früher

Die Kraft zur Erinnerung

Der Schlund des bösen Namens

Tot-Schlag

Kalt wie ein Fisch?

Besteinigung

Täuschungsmanöver

Claires Skizzenbuch

Hinweis der Autorin

Register

– Aufzählung der handelnden Personen

– Aufstellung der Abbildungen im Text

– Fuerteventura-Glossar von A bis Z

– Liste der geografischen Namen

Anruf in der Nacht

Es war 3 Uhr nachts, als das Telefon klingelte und mich aus meinen Gedanken riss.

Elfi hatte mal wieder das Bedürfnis, mich zu später Stunde anzurufen, das wusste ich sofort, denn zu dieser nachtschlafenden Zeit meldete sich doch sonst keiner bei mir.

Mein altmodischer Fernsprechapparat schrillte immerhin nicht an meinem Bett, sondern auf dem Schreibtisch meines Arbeitszimmers, und ich saß davor, weil ich über dem Verfassen einer Kurzgeschichte brütete.

Man schrieb den 21. März 2003, und ich musste die Short Story heute noch zu Ende bringen, um den Einsendeschluss für einen bedeutenden Literaturwettbewerb einzuhalten, an dem ich unbedingt teilnehmen wollte.

Meine langjährige Bekannte Elfi, die zehn Jahre jünger war als ich selbst, kannte mich als Nachteule.

Und es war gut, dass ich nach dem Hörer griff und dieses Gespräch entgegennahm, wie ich mir später immer wieder sagte, denn es sollte meine letzte Unterhaltung mit meiner Freundin überhaupt sein.

Sie machte gerade Urlaub auf Fuerteventura und wollte sich einfach mal bei mir melden – um drei Uhr nachts.

So berichtete sie mir damals von Claire. „Sie ist seit Neuestem meine Freundin, natürlich eine viel Bessere, als du bislang warst und es künftig jemals sein wirst“, hörte ich sie vergnügt in den Hörer kichern.

Und dann fuhr sie munter fort: „Wir liegen hier nämlich fast jeden Tag nackt in einer einsamen Strandburg herum.“

Okay, ich wusste schließlich, dass Elfi bisexuell war. Claire war vielleicht ihr Typ.

Jetzt fühlte ich mich lediglich amüsiert, grinste so vor mich hin und erwiderte erst mal nichts, sondern ließ sie weiterreden.

„Und außerdem hat Claire mich vor ein paar Tagen aus dem Meer gezogen. Ich wäre sonst nämlich ertrunken“, erklang es temperamentvoll.

Auch das noch, eine wahre Heldin des Alltags, diese Claire!

Sicherlich alles geschwindelt! Elfi hatte höchstwahrscheinlich im Wasser eine Notsituation simuliert, um sich von der Anderen retten und an Land ziehen zu lassen, inklusive entsprechender Wiederbelebungsmaßnahmen, versteht sich.

Ich konnte mir das bereits lebhaft vorstellen und riet ihr, sich etwas zurückzuhalten: „Geh ihr nicht mit voreiligen Anträgen auf die Nerven. Da steht nicht jede drauf.“

„Na ja, habe ich schon gemerkt“, druckste sie ein bisschen herum, plauderte dann aber wieder unbekümmert weiter: „Meinetwegen kann es ja genauso platonisch bleiben wie zwischen uns beiden.“

Elfi erzählte mir noch mehr von dieser veritablen Freundin, die sie dort auf der Kanareninsel kennengelernt hatte.

Nun, mich interessierten ihre diversen Frauengeschichten irgendwie nur peripher.

Für meinen Geschmack hörte ich es lieber, wenn sie mir etwas über ihre Affären mit Männern berichtete. Derer hatte sie auch immer etliche, und das fand ich weitaus prickelnder als ihre Damenbekanntschaften.

Immerhin prägte sich mir bezüglich ihrer neuen Freundin noch eine Sache ein: „Claire kommt doch tatsächlich aus dem gleichen Kaff wie du“, schallte es munter aus dem Hörer.

„Meinst du damit aus Nancy?“, fragte ich sogleich mit höflichem Interesse, denn daher stamme ich gebürtig. Claire war immerhin ein französischer Vorname.

„Nein, ich meine aus Düren, wo du ja aufgewachsen bist. Dort ist Claire geboren und lebt immer noch da“, flötete sie fröhlich.

Die war ja zu schlaftrunkener Stunde noch äußerst erzählfreudig. Doch irgendwie schwante es mir, dass ihre neue Freundin Claire nicht der einzige Grund für ihre Aufgekratztheit war. Dafür kannte ich sie nur zu gut.

Es sah Elfi ähnlich, dass sie sich das Wichtigste, was sie mir berichten wollte, immer bis zum Ende aufsparte, wahrscheinlich aus dramaturgischen Gründen.

Und in der Tat: „Einen tollen Mann habe ich übrigens auch hier kennengelernt“, erklärte sie auf einmal, so ganz en passant.

„Na also, geht doch“, dachte ich und wurde etwas aufmerksamer.

„Greg ist Brite, hat eine Segelyacht und lebt auf Gran Canaria“, ging die Story weiter.

Über den flotten Segler hätte ich ja liebend gern mehr erfahren. Der war ihr doch wahrscheinlich auch viel wichtiger als diese Claire.

Schon hatte ich mehrere Fragen gleichzeitig auf der Zunge, die allesamt Greg betrafen.

„Morgen planen wir einen Segeltörn nach Lanzarote“, teilte sie noch mit.

Und genau an dieser spannenden Stelle wurde die Verbindung plötzlich getrennt. Ich hörte nur noch ein unangenehmes Knacken in der Leitung und dann gar nichts mehr.

„Ihr ist wohl das Kleingeld ausgegangen, deshalb das brüske Ende“, dachte ich mir.

Sie hatte mich sicherlich aus einer Telefonzelle angerufen, weil ihr das Auslandsgespräch von Spanien nach Deutschland über ihr Handy zu teuer gekommen wäre.

Ich legte den Hörer auf und sann noch ein Weilchen über Elfi und ihre diversen Urlaubsflirts nach. Wenigstens schien sie sich prima zu amüsieren. Gut so, denn ich hatte ihr die wilde Insel als Ferienort empfohlen.

Dann konzentrierte ich mich wieder auf meine eigenen Angelegenheiten und hackte für den Rest der Nacht die leidige Kurzgeschichte in die Tastatur meines PC. Diese Story wurde tatsächlich später prämiert.

Aber das hatte dann alles nichts mehr mit Elfi zu tun.

Unsere Verbindung wurde damals nicht nur technisch unterbrochen. Wir waren auf einmal endgültig getrennt – durch ein fürchterliches Ereignis, nämlich durch Elfis plötzlichen Tod.

Als ich die nächsten Wochen nichts mehr von ihr hörte, beunruhigte es mich zunächst so gar nicht.

Wochenlange Funkstille zwischen Elfi und mir kam bisweilen vor, insbesondere, wenn eine von uns privat oder beruflich sehr eingespannt und/oder auf Reisen war.

Als ich sie dann aber auch nach ihrem Fuerteventura-Urlaub nicht mehr erreichte, machte ich mir schließlich Sorgen. So hinterließ ich diverse Nachrichten, auf dem Anrufbeantworter bei ihr zuhause sowie auf der Mailbox ihres Handys.

Und dann rief jemand bei mir zurück, aber sie war es nicht, sondern ein Mann, der sich wohl zunächst behutsam erkundigen wollte, in welcher Beziehung ich zu ihr stand.

„Ich bin Greg, ein Freund von Elfi“, meldete er sich. „Sie haben auf ihrem Handy angerufen und um Rückruf gebeten. Ich möchte nur anfragen, ob Sie eine Freundin von ihr sind?“

Er sprach fließend Deutsch, aber mit eindeutig britischem Akzent.

Ich erinnerte mich sogleich, dass sie einen Mann seines Vornamens als ihre neue Kanaren-Bekanntschaft ausgegeben hatte und dazu ebenfalls erwähnte, dass er Brite sei.

„Klar, sie ist eine alte Freundin von mir“, erwiderte ich rasch in seine Sprechpause hinein.

Es schwante mir irgendwie nichts Gutes, denn seinen Ton hatte ich gleich als bedrückt und niedergeschlagen empfunden.

„Dann muss ich Ihnen leider etwas sehr Trauriges mitteilen“, fuhr er jetzt fort.

Zu meinem blanken Entsetzen erfuhr ich von ihm, dass sie tot sei, gestorben während ihres Urlaubs auf Fuerteventura, bei einem Badeunfall im Meer ertrunken.

Zunächst traf mich fast der Schlag, und ich fühlte mich wie gelähmt. Dann stürmten alle möglichen Gedanken gleichzeitig auf mich ein.

Es ging mir durch den Kopf, dass sie in unserem letzten Telefonat besagten Greg als einen Skipper beschrieben hatte, mit dem sie einen Segeltörn plante. Sollte sie etwa bei dieser Tour tödlich verunglückt sein?

Nein, beim Segeln war sie nicht ertrunken, entnahm ich seinen Äußerungen. Es geschah offenbar beim Schwimmen im Meer, als er selbst nicht dabei war, sondern lediglich ihre Freundin Claire, wie er sagte.

Er erzählte mir dann nur wenige Einzelheiten, und ich wollte auch nicht zu sehr nachhaken, weil sein Bericht ihm offensichtlich schwerfiel.

Er versuchte, gefasst zu wirken, aber das war er nicht. Ich hörte nur zu gut an seiner Stimme, wie sehr ihn die Sache mitnahm.

Ich bemühte mich ebenfalls um Haltung und kondolierte ihm quasi, weil Elfi mir doch am Schluss unseres so abrupt endenden Telefonats mitgeteilt hatte, dass sie diesen großartigen Engländer namens Greg als neuen Freund ins Auge gefasst habe.

„Es tut mir auch für Sie sehr leid, Greg“, hörte ich mich sagen. „Sie hat mir von Ihnen erzählt.“

Ich merkte, dass er schluckte, und auch ich war ja schließlich ganz fassungslos und stand regelrecht neben mir.

Mechanisch speicherte ich nach unserem Gespräch seine Nummer auf meinem Handy.

Danach musste ich erst mal wieder zu mir selbst kommen. So ein Schock! Ich hatte eine gute Freundin verloren.

Als ich später mein letztes Gespräch mit Elfi noch einmal Revue passieren ließ, kam mir auch ihre Bekannte Claire wieder in den Sinn, von der sie mir vorgeschwärmt hatte.

Die wohnte doch im rheinländischen Düren, wo ich noch ab und zu meine Verwandten besuchte. Möglicherweise könnte die mir mehr erzählen, was mit Elfi passierte, denn Greg war selbst ja gar nicht dabei gewesen, als das Unglück geschah.

Eine Frau namens Claire in einer Kleinstadt wie Düren zu finden, stellte ich mir irgendwie nicht besonders schwer vor. Zudem war sie dort ja auch geboren. So viel wusste ich.

Aber ich ging dann doch nicht auf die Suche, machte mir lieber meine eigenen Gedanken und Vorstellungen über sie – und über Elfis letzte Wochen auf Fuerteventura, ein Urlaub, auf den sie sich besonders gefreut hatte.

Meine ausschweifende Fantasie, die nahm mich mal wieder mit auf große Fahrt.

So kam es, dass ich diese Reise ohne Wiederkehr in allen Details nacherlebte, als sei ich selbst dabei gewesen.

Und nachdem ich mir auf die Art ein – sehr eigenes – Bild von den Geschehnissen gemacht hatte, über die ich doch objektiv gesehen so gar nichts wusste, wollte ich mir alles von der Seele schreiben, als eine Art von Kompensation, um die Trauer über ihren tragischen Tod zu überwinden.

Buchstaben, Wörter, Sätze, alles floss nur so aus mir heraus. Ich brauchte gar nicht lange zu überlegen.

Wie ein Film lief alles vor meinem inneren Auge ab, und ich brachte es fließend zu Papier. Ich verfasste tatsächlich einen Roman darüber.

Elfi beschrieb ich so, wie ich sie gekannt hatte: flott, gutaussehend, witzig, sprudelnd, lebensfroh – und ein bisschen frivol.

Doch meine wichtigste Protagonistin, das war sie dann gar nicht.

Vielmehr trat aus dem Wenigen, was mir bekannt war, wie aus einer Schattenwelt diese ominöse Claire hervor, stand auf einmal im Mittelpunkt, obwohl ich sie mir eher ruhig und still vorstellte. Doch ich empfand sie als geheimnisvoll, vielleicht sogar ein wenig unheimlich, und sie ließ mich einfach nicht mehr los.

So schrieb ich schließlich Stark-Sturm mit Claire als Hauptakteurin und berichtete alles genau aus ihrer Sicht, fast so, als wäre sie die Erzählerin …

Ich hörte sogar ihre Stimme in meinem Inneren klingen, als hätte sie mir die ganze Sache erzählt – in ihrer einfachen, aber sehr eindringlichen Ausdrucksweise, einer Sprache, die eigentlich nicht die meine ist, die mich aber doch tief beeindruckte.

Harry ist tot

Gestern Nacht ist Harry gestorben. Oder vielleicht erst heute Morgen. Claire konnte es nicht sagen. Sie fand ihn, als sie von der Arbeit kommend wie üblich bei ihm vorbeischaute.

Er hatte ihr nichts hinterlassen außer einem Lottoschein. Der lag da auf dem Küchentisch, ausgefüllt, bezahlt, abgestempelt.

Daneben stand eine noch nicht geöffnete Dose Bier, die billige Sorte aus dem Supermarkt, wo Harry immer so preisgünstig wie möglich einkaufte.

Tja, und er selbst saß in seinem ans Fenster gerückten Sessel, eiseskalt, wie sie schon festgestellt hatte, und im Übrigen so tot, wie man nur sein kann.

Sie wusste es gleich, als sie an diesem Spätnachmittag seine Wohnungstür aufschloss. Warum sie sich da so sicher war, das wusste sie nicht. Sie spürte sofort den Tod in der Wohnung, als etwas Fremdes, Bedrohliches. Claire hatte sehr wache Instinkte.

Sie eilte in die Küche, wo sie Harry stets um diese Zeit vermutete, diesmal von ihrem ängstlichen Gefühl angetrieben.

Und da saß er dann!

Nein, Harry sah nicht hässlich aus im Tod. Seine Augen waren geschlossen und sein Kopf leicht herabgeneigt zur Brust.

„Läge sein Kinn nicht auf dem Halsansatz, wäre ihm wahrscheinlich der Kiefer heruntergeklappt“, dachte Claire, als sie ihn fand.

Es verwunderte sie selbst, dass sie zu anatomischen Betrachtungen fähig war, wo sie das doch nun wirklich mitnahm und betroffen machte.

Aber so war sie nun mal: Zunächst beobachtete sie genau. Alles musste bei ihr seine Ordnung haben.

„Eigentlich wirkt er nur schlafend und gar nicht wie gestorben“, resümierte sie „ein ziemlich alter, müder Mann eben.“

Früher, da sah er sogar recht gut aus, vor über 30 Jahren, als er ihre Mutter Greta kennengelernt hatte. Claire kannte ihn von damaligen Fotos als mittelgroß, schlank mit Baskenmütze und Menjoubärtchen. Wie man sich einen Künstler in den 60er Jahren so vorstellte.

Und heute? Sie betrachtete ihn.

Ein alter Mann, Mitte 70, mäßiger Säufer mit leicht geröteter Nase und etwas aufgedunsenem Bauch. Eine halbe Flasche Schnaps am Tag und viel Bier.

Jetzt war er offenbar friedlich eingeschlafen. In seinem „Wohnsessel“, wie er ihn immer nannte. Er brauchte im Alter eben auch in der Küche eine bequeme Sitzgelegenheit.

Sie selbst hatte ihm das gute Stück mit verstellbaren Fußstützen und Nackenpolster damals zu seinem 65. Geburtstag geschenkt.

„Da hat der Harry noch lange was von gehabt, von meinem Geschenk“, ging es ihr jetzt durch den Sinn, denn irgendwie war Claire ziemlich praktisch veranlagt.

„Jetzt ist er sogar in seinem Lieblingssessel gestorben“, sagte sie sich.

Er ruhte dort fast immer in der Küche, jedenfalls den ganzen lieben Tag über, und da traf sie ihn in der Regel an, wenn sie nach ihrem Dienstschluss bei ihm vorbeikam.

Später am Abend, wenn Claire bereits in ihre eigene kleine Mietwohnung gefahren war, schlurfte Harry rüber in sein Wohnzimmer, pünktlich um 20 Uhr zu den TV-Nachrichten.

Danach sah er sich vielleicht einen Spielfilm an. Doch meist schaltete er den Fernseher nach der Tagesschau wieder aus und drehte am Knopf seines uralten Radioapparats. Der hatte tatsächlich noch Röhren, ging nicht kaputt, und von dem trennte er sich nicht.

Er suchte so lange, bis er einen Sender fand, der Jazzmusik brachte, ließ sich dann wieder in den Fernsehsessel zurückfallen. Der war auch recht bequem, sogar noch älter als sein Wohnsessel in der Küche „und immer noch komfortabel durch die 1-A-Polsterung“, wie er zu sagen pflegte.

Harry war bescheiden und leicht zufrieden zu stellen.

Die beiden gemütlichen Sitzmöbel auf Küche und Wohnzimmer verteilt, das war der einzige Luxus, den er besaß, und mehr benötigte er auch nicht in seinen letzten Jahren.

Er schleppte sich nur noch von einem zum anderen, und sie bestimmten im Wesentlichen seinen Tagesrhythmus.

Na ja, noch etwas Bier und Schnaps brauchte er ebenfalls, beides von der billigeren Sorte und im Supermarkt um die Ecke erhältlich: Dosenbier aus dem Sechserpack und einen gewöhnlichen Kornbrand.

Davon trank er abwechselnd, abends im Wohnzimmer hockend, hörte Jazz und klopfte bisweilen den Takt mit dem Finger auf der breiten Armlehne.

Er lebte nun schon seit 15 Jahren allein in dieser Wohnung, seit dem frühen Tod von Claires Mutter.

Nein, Harry war nicht ihr Vater. Aber er war immer ihr bester Freund gewesen, von klein auf und dann ganz bis zum Rest, bis zu seinem Ableben am heutigen oder gestrigen Tage. Er stellte so etwas wie den ruhenden Pol in ihrem Leben dar, und den brauchte Claire.

An ihren Vater konnte sie sich sowieso nicht mehr entsinnen. Oder sie wollte ihn nicht erinnern. Der soff viel stärker noch als Harry, und wenn er voll war, dann hatte er jähzornig und wütend herumgetobt und ihre Mutter geschlagen.

Claire war drei, als sich Greta von dem gewalttätigen Trunkenbold trennte.

Anderthalb Jahre später zog Harry bei ihnen ein, ein „Gelegenheitsmusiker und Gelegenheitstrinker“, wie er sich selbst nannte.

Manchmal hatte er ein Engagement als Saxophonist in einer Jazzband, mit viel Glück sogar bei Dr. Jazz in der Düsseldorfer Altstadt oder bei Papa Joe in Köln, mit ein wenig Glück eins hier in Düren im Lokal Zur steilen Stiege, wo es tief in einen Keller hinabging. Aber oft hatte er auch überhaupt kein Glück.

Nein, allzu viel Geld verdiente Harry nie mit seiner Musik.

Doch das verdarb ihm nicht die Laune. Er kümmerte sich gar nicht darum.

Damals brachte Greta das Geld nach Hause, das sie drei zum Leben brauchten. Claires Mutter war tüchtig bei ihrer Arbeit, als Lohnbuchhalterin einer Schuhfabrik in Grevenbroich.

Hätte sie einen Mann mit einem geregelten Einkommen gefunden, wären sie gut über die Runden gekommen. Aber so einen fand sie eben nie.

Nun, verglichen mit ihrem Ex-Mann, dem Gewalttäter, hatte sie mit Harry noch das große Los gezogen. Der rauchte nicht, soff nur mäßig (erst im Alter etwas mehr, weil er sich einsam fühlte), schimpfte nicht, brüllte nie herum und war fast immer gut gelaunt.

Claire konnte sich jedenfalls nicht entsinnen, ihn je in schlechter Laune erlebt zu haben. Später, als ihre Mutter tot war, empfand sie ihn als ein bisschen zu still, zu melancholisch und in sich gekehrt, aber nie mürrisch oder gar wütend.

Zu seiner Stieftochter Claire war er immer gut, hatte ihr den Vater ersetzt und ihr geduldig alles erklärt, was sie in der Schule nicht verstand oder nicht so schnell mitkriegte.

Sie war nämlich als Kind ein ganz langsamer Lerner, sehr introvertiert und ängstlich, reagierte hoch empfindlich bis panisch auf jede Änderung ihrer Lebensumstände, so zum Beispiel auch auf ihren Eintritt in den Kindergarten und später dann auf ihre Einschulung. Harry hatte da meist Zeit für sie und im Übrigen eine Engelsgeduld.

Wenn er ein Engagement bekam, brauchte er erst am Abend aus dem Haus zu gehen. Wenn er keins hatte, hing er sowieso ständig in der Wohnung herum.

Wie auch immer, nachmittags war Harry stets daheim und nahm sich die Zeit, Claire bei den Schulaufgaben zu helfen. Sonst hätte sie bestimmt Nachhilfestunden gebraucht, und die konnten sie sich doch gar nicht leisten.

Die letzten 15 Jahre musste Claire sich dann erkenntlich zeigen und Harry mit unterstützen, da Gretas Einkommen wegfiel.

Der bekam von seiner Mitgliedschaft in der Musikervereinigung eine Rente, die war „unter aller Kanone“, wie man so schön sagte. So niedrig lag sie, dass er noch einen Sozialhilfebeitrag hätte beantragen können.

Aber Harry hatte seinen Stolz. Er ging nicht „zum Amt, um dort um Aufstockung zu winseln“, wie er sich ausdrückte.

„So überheblich werde ich selbst später mal nicht sein, wenn ich in Ruhestand gehe“, sagte sich Claire. Aber wahrscheinlich lag ihre eigene künftige Rente knapp über dem Existenzminimum, und dann wäre es auch gar nicht erforderlich, bei den Ämtern vorzusprechen und um eine Unterstützung zu betteln.

Ja, und weil Harry mit seinem bisschen Geld nicht auskam – nicht auskommen konnte, musste sie ihm nach dem Tode Gretas jeden Monat etwas zuschießen zu seiner Miete. 200 Mark in DM-Zeiten und später dann sogar 150 Euro, weil ja alles so teuer geworden war nach der Umstellung.

Das fiel ihr natürlich nicht leicht, aber sie versuchte stets, es ihm gegenüber nicht durchblicken zu lassen.

Denn auch hier hatte er seinen Stolz.

Wenn sie sich so hilfsbereit zu Harry verhielt, dann in erster Linie deshalb, weil sie es nicht anders kannte. Claire war ein Gewohnheitsmensch, und Gewohnheiten wurden von ihr nicht hinterfragt.

„Du wirst alles später mal wiederkriegen, auf Heller und Pfennig, mein Mädchen. Spätestens, wenn ich mal sterbe, dann bist du nämlich meine einzige Erbin.“

„Ach, Harry, lass dir ruhig Zeit mit dem Sterben“, hatte sie stets geantwortet, wenn er damit anfing, und seine alte Hand getätschelt. Claire war doch so gar keine Erbschleicherin.

Nun holen sie ihn ab

Claire rief dann erst mal seinen Hausarzt an und gleich auch noch ein Bestattungsinstitut, das sie im Telefonbuch nachschlug.

Und während sie wartete, da in der Küche, wo auch der tote Harry so starr in seinem Sessel saß, machte sie sich schon einmal über einen Teil ihres Erbes her und die Dose Bier auf.

Er hätte es so gewollt. Deshalb hatte er das doch hingestellt. Nicht dass sie sonst gerne Bier trank, ungekühlt schon gar nicht, doch jetzt auf den Schrecken war ihr auf einmal danach.

„Prost, Harry“, dachte sie – vielleicht sagte sie es auch – und hob die Dose in seine Richtung. Ein Glas benutzte sie nicht. Das hatte Harry auch nie getan.

Und genau in dem Moment, wo sie ihm zuprostete, fiel doch tatsächlich ein später Sonnenstrahl ganz schräg durchs Küchenfenster und beschien sein Gesicht.

Da sah es wieder so aus, als würde er nur schlafen, vielleicht gleich blinzeln und aufwachen, weil die Sonne ihn in der Nase kitzelte.

Aber das wünschte sie sich ja nur, das konnte nicht mehr so sein …

Als es dann an der Tür klingelte (aller Wahrscheinlichkeit nach war das der Arzt), schämte sie sich ein bisschen. Die leere Dose warf sie rasch in den Treteimer. Vielleicht roch ihr Atem nun nach Bierdunst.

Wenn der Doktor etwas davon wahrnahm, als sie ihm die Wohnungstür öffnete, ließ er es sich nicht anmerken. Er war ein ältlicher Mann, hager und mit schütterem Haar.

Sie kannte Harrys Hausarzt bislang nicht persönlich. Er reichte ihr die Hand und nannte seinen Namen. Sie stellte sich ebenfalls namentlich vor und sagte, dass sie die Stieftochter sei.

„Wo ist er?“, fragte der dann lediglich, in der spezifischen Sachlichkeit seiner Zunft. Sie führte ihn zu Harry in die Küche.

Er untersuchte ihn nur kurz, attestierte Herzversagen und setzte sich am Tisch nieder, um den Totenschein auszufüllen.

„Das hätte sogar ich diagnostizieren können“, dachte Claire.

„Mein Beileid zum Tod Ihres Stiefvaters“, sagte er, nachdem er sich wieder erhoben hatte. Er drückte ihr die Hand vor dem Hinausgehen.

„Hätte ich geweint und mehr Emotionen gezeigt, hätte er vielleicht ,Herzliches Beileid‘ gesagt“, dachte sie.

Sie konnte nun mal nicht gut Gefühle ausdrücken. Ihr war auch gar nicht so richtig klar, ob sie Trauer so empfand wie Andere. Nur eben, dass es ihr lieber wäre, Harry sei noch am Leben, das wusste sie schon.

Es konnte ihr im Grunde egal sein, was der Arzt jetzt von ihr hielt. Was machte das für einen Unterschied?

Wichtiger war ihr sein letzter Satz. Denn er sagte, als er sich – bereits auf dem Treppenabsatz – noch einmal kurz umwandte: „Er ist wohl bereits gestern Abend verstorben, und er hat nicht gelitten.“

„Er ist also nur wenige Stunden nach meinem gestrigen Besuch bei ihm gestorben“, so überlegte sie. „Da war ihm noch nichts anzumerken.“

Und da kamen dem Doktor im Treppenhaus auch schon die Leute vom Bestattungsinstitut entgegen.

„Sie können hinaufgehen. Der Totenschein liegt ausgefüllt auf dem Tisch“, sagte er denen im Vorbeigehen, und Claire erwartete die Männer an der offenen Wohnungstür.

Sie kamen zu dritt, und sie ließ sie ein. Sie zeigte ihrem Wortführer den Schrieb des Arztes, „auf dem die Tinte noch nicht trocken ist“, wie sie jetzt etwas beklommen dachte.

„Nehmen Sie doch kurz Abschied, wenn Sie möchten“, sagte der ältere Herr, der wohl der Inhaber des Instituts war.

Aber sie ging nicht auf den Vorschlag des Bestatters ein. Sie hatte sich bereits von Harry verabschiedet – eben, mit einer Dose Bier in der Hand.

Sie würde ihn dann das nächste Mal aufgebahrt sehen, in seinem „guten Anzug“, den er „für feierliche Anlässe“ aufbewahrte, wie er es immer nannte, und den er in den letzten Jahren nur noch zu den Beerdigungen von alten Kumpels ausgeführt hatte.

Eben diesen schwarzen Anzug, Unterwäsche, Hemd, Schlips, Socken und Schuhe suchte Claire nun in Harrys Schlafzimmerschrank, fand alles und steckte es in eine Plastiktüte, die sie dem Bestatter aushändigte.

Die beiden Mitarbeiter brachten Harry kurz darauf in einem herbeigeholten Zinksarg aus der Wohnung, während sie mit deren Chef im Wohnzimmer saß und sich mit ihm beredete.

Es polterte etwas im hellhörigen Treppenaufgang des Mietshauses, als die ihn mangels Lift die beiden Stockwerke hinabtrugen, und sie sprang hoch, auf einmal unruhig geworden.

Sie lief ans Fenster. Dort sah sie, wie die Männer die provisorische Sarglade in eine große schwarze Limousine schoben. Nun stiegen sie ein und fuhren gleich darauf weg.

Sie setzte sich wieder auf die Couch, dem Bestatter gegenüber, dem sie Harrys einzigen Wohnzimmersessel angeboten hatte.

„Bevor Sie den Sarg endgültig schließen, komme ich noch mal bei Ihnen vorbei“, erklärte sie ihm, und er nickte.

„Den werden wir zunächst nur provisorisch zuschrauben. Wir bereiten alles so vor, dass Sie angemessen Abschied von ihm nehmen können“, erklärte er. Ihr tat seine etwas erhabene, aber doch sachliche Art gut.

Er legte ihr seine Prospekte vor – mit Särgen. Zunächst war es ihr befremdlich, so etwas durchzublättern, und dann sah sie die Preise. Mein Gott, waren die teuer!

Sie sah erschrocken zu ihm auf und merkte dabei, dass er sich gerade ein wenig in der Wohnung umschaute, ganz dezent, wie solche Leute wohl immer sind.

Dann blickte er sie wieder an – mit der verständnisvoll tröstenden Miene eines Bestatters. „Ein Urnenbegräbnis käme Sie natürlich billiger.“

„Oh nein, das hätte Harry nie gewollt“, wehrte sie schnell und entschieden ab. So blätterte sie wieder im Sargkatalog. Das fing mit Fichte an – preismäßig.

„Das hätte Harry schon genügt, so anspruchslos, wie er stets war“, dachte sie.

„Dann nehmen Sie doch dieses einfache, aber solide Modell aus sandel-gebeizter Fichte“, ermutigte er sie gütig lächelnd. Sie hatte wohl laut gedacht, wie es ihr nun etwas unangenehm bewusst wurde.

„Es hätte ihm genügt, er hat aber was Besseres verdient“, sagte sie fest, wieder vom Katalog zu ihm aufschauend.

Nun lächelte er geradezu väterlich, nahm ihr den Prospekt aus den Händen und blätterte für sie ein paar Seiten um – zur Eiche. Nicht bei den pompösen Exemplaren, sondern noch etliche Blätter vor der Präsentation der teuersten Stücke hielt er inne und wies auf eines der Prospektfotos.

„Dieses Modell ist sehr empfehlenswert“, beriet er sie, „schlicht und schnörkellos, aber aus einem anspruchsvollen Material.“

Claire sah sich die warme, natürliche Eichenfärbung des Sarges an. Ja, er hatte Recht. Der war schön und angemessen. Sie nickte zustimmend.

„Einen solchen würde ich mir selbst im Übrigen auch wünschen, aus der ganzen großen Auswahl meines Katalogs“, bekräftigte er ihre Entscheidung und schaute sie dabei völlig aufrichtig an.

„Der versteht sein Handwerk.“ Das dachte sie aber jetzt wirklich nur im Stillen. Seine Professionalität empfand sie in dieser spezifischen Situation durchaus als angenehm. Er gab ihr das Gefühl, als könne sie wirklich noch etwas für den Toten tun – mit einer würdigen Bestattung eben.

Dabei tat man nur etwas für sich selbst, denn der Verstorbene hatte ja nichts mehr davon.

Doch das war schließlich ebenfalls wichtig, dass man etwas unternahm, damit man besser mit dem unumstößlichen Fakt eines Verlustes klarkam, das erklärte ihr der Bestatter jetzt.

Und jegliche Formalitäten um die Bestellungen von Anzeige, Redner, Musik, Dekor nahm er einem dabei ab, ein wahrer Trauerhelfer eben. Das wusste Claire zu schätzen, wo sie allgemein nie gerne aktiv wurde.

Ungewohnte Szenerien wie jetzt überforderten sie geradezu.

Darüber hinaus wurde ihr auch ihre unglückliche Finanzlage bewusst. Sie hatte für einen Trauerfall schlichtweg keine Rücklagen. Fast 2.000 Euro würde sie allein der Sarg kosten. Da kam bestimmt noch mal mehr als ein Tausender drauf, für alles andere.

Das Grab war glücklicherweise schon vorhanden. Die Ruhestätte ihrer Mutter hatten sie vor Kurzem nach Ablauf der Liegezeit um weitere 15 Jahre verlängern lassen – Harry und sie einvernehmlich. Von ihrem Geld, versteht sich, denn von was hätte er es auch bezahlen sollen?

Er wollte diese Verlängerung unbedingt, um neben Greta bestattet zu werden, und das sollte nun so geschehen.

Sie würde sich jetzt für sein Begräbnis einen Kleinkredit nehmen müssen, in Höhe von 3.000 Euro wahrscheinlich.

„Ja, Harry, jetzt bist du noch tiefer in meiner Schuld“, dachte sie, aber sie lächelte bei dem Gedanken. Sie machte das gern für ihn. „Dazu bin ich nun wirklich verpflichtet“, so sagte sie sich auch.

„Sie werden sicher etwas Geld von seiner Krankenkasse bekommen – die Sterbegeldversicherung“, riss sie der Bestattungsunternehmer aus ihren Gedanken.

Das konnte ja nicht viel sein, bei diesem Musikerdachverband, über den er pflichtversichert war.

Aber es war eine gute Überlegung, eine Idee, auf die sie selbst gar nicht gekommen wäre. Sie nickte und würde sich darum kümmern. Sie konnte jeden Euro brauchen.

Sie beschäftigten sich nun mit dem Text für die Todesanzeige in der lokalen Morgenzeitung, eine kleine Anzeige nur.

„Sie dürfen noch einen Spruch wählen, den wir zweizeilig dazusetzen“, sagte er, als sie die anderen Formalitäten erledigt hatten. „Das kostet auch nichts extra.“

Sie überlegte kurz.

„Gestern ist Harry gestorben. Ich bin sehr traurig“, nannte sie ihm, was dort stehen solle.

„Das ist ein schöner Spruch“, meinte er. „Aber, wenn es übermorgen in der Zeitung steht, wird es schon vorvorgestern gewesen sein.“

War doch egal, das Sterbedatum stand sowieso dabei.

„Lassen Sie es so. Wie hört sich denn ,vorvorgestern‘ an.“ Und er lachte wirklich kurz auf, der Herr Bestattungsunternehmer.

Claire fand ihn eigentlich ganz sympathisch. Na ja, sie war schließlich nicht so viel mit Leuten zusammen.

„Wir brauchen wohl keine Aussendung mit Karten zu machen?“, fragte er jetzt und tippte ganz beiläufig mit der Spitze seines Kugelschreibers auf ihren alleinigen Namen unter der Anzeige.

Sie schüttelte müde den Kopf. Nein, das war wirklich nicht nötig. Harry hatte ja niemanden außer ihr gehabt. Und die paar Leute, die ihn vielleicht kannten, die erfuhren es dann aus der Zeitung.

Der Bestatter verabschiedete sich höflich von ihr, wobei er noch mal sein Beileid ausdrückte – sein herzlichstes Beileid, selbstverständlich.

Sie geleitete ihn zur Tür.

Ziemlich einsam

Nun war sie allein in Harrys Wohnung.

Die musste sie zum nächstmöglichen Termin fristgemäß kündigen und in der Zwischenzeit alles wegschaffen oder entsorgen lassen, was ihm gehörte und was sie davon nicht behalten wollte. Die Wohnung war lediglich besenrein zu hinterlassen, das wusste sie – wenigstens keine Renovierungskosten für neue Tapeten und dergleichen.

Claire mochte sich jetzt nicht mehr umschauen oder in seinen Sachen herumwühlen.

Viel mehr als den Fernseher konnte sie eh nicht gebrauchen, vielleicht noch seinen Kühlschrank, weil der ein neueres Modell war als ihr eigener.

Sie blickte dann nur noch kurz in die anderen Zimmer, ob nirgendwo mehr Licht brannte, sah auf die beiden Blumenaquarelle, die über seiner Couch hingen.

Die hatte sie für ihn gemalt. Die würde sie später abhängen und mitnehmen, so nahm sie sich vor.

Claire malte und zeichnete ganz gerne zuhause in ihrer Freizeit. Die beiden Stillleben hatte sie vor ein paar Jahren für Harry rahmen lassen und ihm zu Weihnachten geschenkt.

Claire pinselte lange an einem Bild. Pingelig genau ließ sie keine Details aus, und das, obwohl die Aquarelltechnik doch dafür angetan war, impulsiver, mit Schwung und einer gewissen Leichtigkeit zu arbeiten.

„Ich wollte wirklich, ich könnte es“, dachte sie des Öfteren, „dieses schwungvolle Malen von innen heraus.“

Harry hatte sich immer ein wenig über ihre Arbeitsweise lustig gemacht: „So wirst du nie ein zweiter Nolde.“

Aber ihre „Endprodukte“, die eher sorgsam ausgearbeitet als kreativ waren, die hatte er stets gelobt, wenn sie ihm mal wieder ein neues Werk zeigte.

Und nun bemerkte sie, dass, angelehnt an die Seite seines Fernsehsessels, diese Aktentasche stand. Die hatte ihre Mutter ihm mal geschenkt – aus feinem Büffelkalbsleder, für seine Notenhefte.

Etwas sentimental schaute sie hinein. Harry verwahrte früher die Partituren für ein paar Stücke darinnen, die seine Band spielte, wenn sie denn mal ein Engagement bekamen.

Sie fand das damals für einen Jazzmusiker komisch, dass er eine Aktentasche mit Partituren zur Arbeit mitnahm. Der spielte doch nie nach Noten, improvisierte am liebsten nach eigenem Gusto, wie er zu sagen pflegte.

Vielleicht nahm er sie auch nur mit, um Greta eine Freude zu machen und weil er ja sonst nicht viel zu tragen hatte, außer dem kleinen Instrumentenkoffer mit seinem auseinandergeschraubten Saxophon. Und den ließ er dann auch noch häufig in dem jeweiligen Lokal zurück, wo er gerade auftrat, gab ihn dort dem Wirt in Verwahrsam.

Das fand sie immer sehr leichtsinnig von ihm. Nicht auszudenken, wenn ihm das gute Stück abhandengekommen wäre.

Doch darauf angesprochen meinte er nur lakonisch, er dürfe zuhause in der Mietwohnung ja sowieso nie Saxophon spielen, wegen der Nachbarn. Und es hörte sich irgendwie ein bisschen trotzig an, wenn er es sagte.

Zweifellos hatte er damit Recht, und daher kam es auch, dass Claire ihn nur selten hatte spielen hören, ein paar wenige Male, wenn er ihre Mutter und sie mitnahm zu seiner jeweiligen Wirkstätte und sie bei einer der Aufführungen der Band dabei sein konnten. Das erfüllte sie beide stets mit Stolz, wenn ihm die Leute am Ende seines Solos applaudierten.

Gerne wären sie öfter mitgekommen, doch in den Jazzlokalen musste man immer was verzehren, und das Geld wollte Greta sparen.

Jetzt im Nachhinein wünschte sie, sie hätte ihm viel häufiger beim Musizieren zugehört. Und sie bedauerte, dass er sein Saxophon verkauft hatte, damals, als er sich einige Jahre nach dem Tod ihrer Mutter zu alt fühlte, um noch als Musiker „durch die Kneipen zu ziehen“, wie er es nannte.

Er war da erst Anfang 60 und sagte: „Ich geh jetzt in Rente“, wahrscheinlich in erster Linie, weil er praktisch kein Angebot mehr kriegte. Na ja, und Rente kriegte er dann auch so gut wie keine …

Sie zog nun etliche Notenhefte aus Harrys Aktentasche hervor. Die war ja in der Tat gut gefüllt. Sie blätterte.

Aber nein, das waren keine gekauften Partituren, sondern Hefte, von Harrys eigener Hand vollgeschrieben. Er konnte also nicht nur Noten lesen, sondern hatte auch selbst ersonnene Melodien zu Papier gebracht.

Ja, Harry hatte komponiert. War doch unter jedem Stück, das meist einen kurzen Titel trug, seine Signatur mit einem Datumsvermerk.

Das mussten mindestens drei Dutzend Hefte sein, von der ersten bis zur letzten Seite dicht mit Noten bestückt, wie sie jetzt bemerkte, und offenbar in den vergangenen Jahren erstellt, als er so gut wie nicht mehr ausging. Seine Aufzeichnungen waren gut lesbar und mit Sorgfalt eingetragen.

Er hatte also als Zeitvertreib noch komponiert auf seine alten Tage, ihr nie etwas davon erzählt. So wie sie selbst ihre Abende allein vor der Staffelei in ihrer Wohnung verbrachte, hockte er über seinen Notenaufzeichnungen bei sich daheim.

Jetzt sah sie ihn vor ihrem inneren Auge, wie er da in seinem Wohnzimmersessel saß und fortwährend eine Seite nach der anderen akribisch füllte, ab und an aus der Bierdose trinkend.

Was sollte er auch sonst machen, außer fernsehen und Musik hören? „Er war ja doch recht einsam gewesen im Alter“, ging es ihr durch den Kopf. Auf der Stelle beschloss sie, die komplette Aktentasche mit den Heften als persönliche Erinnerung von ihm in Ehren zu halten, auch wenn sie gar keine Noten lesen konnte.

Nun dachte sie über sich selbst und über ihren eigenen gleichförmigen Tagesablauf nach. Der war schließlich davon geprägt, dass sie sich nach Feierabend noch um jemanden zu kümmern hatte – um Harry eben.

Sie war in einer Gärtnerei beschäftigt, und nach der Arbeit fuhr sie täglich am späten Nachmittag zu ihm, um nach dem Rechten zu sehen, brachte ihm etwas Obst mit, weil er sich selbst nie welches kaufte, und unterhielt sich ein wenig mit ihm.

Sein Essen besorgte er sich im Supermarkt, Fertiggerichte, die er in der Mikrowelle aufwärmte. Was Anderes aß Claire selbst im Übrigen auch nicht, denn sie kochte überhaupt nicht gern.

Doch seine Wäsche nahm sie in den letzten Jahren mit und wusch sie für ihn in ihrer Waschmaschine, um ihn etwas zu entlasten. Sie machte für ihn den Frühjahrshausputz und half ihm auch zwischenzeitlich, seine Wohnung sauber zu halten, wenn es ihm mal zu viel wurde.

Aber das war meistens nur nötig, wenn er sich krank fühlte. In der letzten Zeit schon öfters, aber im Allgemeinen war er immer darauf bedacht, ihr so wenig zusätzliche Arbeit wie möglich zu machen.

Schließlich war sie am frühen Abend dann jeweils froh, wenn sie nach einer guten halben Stunde bei ihm daheim in ihre eigene, nur wenige Blocks entfernt liegende Wohnung verschwinden konnte. Nicht weil er ihr lästigfiel, sondern weil sie sich müde fühlte.

Künftig bräuchte sie nach der Arbeit dann nicht mehr zuerst zu Harry, aber sie empfand es jetzt nicht als Erleichterung.

Claire wurde nämlich mit einem Mal schmerzlich bewusst, dass auch sie nach seinem Tod noch einsamer leben würde, als sie es sowieso schon tat.

Sie klemmte sich die Büffelledertasche mit seinen Kompositionen unter den Arm, warf einen letzten Blick in die Küche. Dann ging sie doch noch mal bis zum Sessel vor, auf dem Harry gestorben war.

Er hatte von hier aus durchs Fenster schauen können, genau auf die große, alte Rosskastanie auf der anderen Straßenseite. Die war jetzt Mitte Februar zwar kahl, doch Harry hatte sie gemocht. Dass er gestern im Schein der Straßenlaterne auf die ihm vertraute Baumsilhouette geblickt hatte, war ihr nun ein tröstlicher Gedanke.

Sie wandte sich wieder dem Zimmer zu, sah auf den einsamen Lottoschein, der noch auf dem Küchentisch lag, und steckte ihn gedankenverloren ein.

Als Claire nach draußen trat, war es inzwischen bereits stockdunkel, nur die Laterne beleuchtete die Straßenszenerie. Sie schaute in den finsteren Himmel.

Genau über ihr erspähte sie einen einzigen Stern, der wohl durch ein kleines Wolkenloch schien. Sie blieb einen Moment stehen und sah ihn an.

Zuhause angekommen schaltete sie den Fernseher ein, schüttete sich eine Kanne Tee auf und schmierte sich ein Butterbrot. Alles war wie sonst.

Greta und ihre Tochter

Claires Mutter, Greta, war nun schon seit 15 Jahren tot, qualvoll an den Folgen ihres Gebärmutterkrebses gestorben, der fünf Jahre zuvor bei ihr diagnostiziert worden war.

Sie hatte einige Zeit tapfer versucht, gegen die gefährliche Erkrankung zu kämpfen, denn sie war nicht wehleidig. Doch in ihren letzten Lebensmonaten, in denen sie nur noch litt, gab sie sich auf.

Stand sie unter Morphium, war sie apathisch und konnte keine klaren Gedanken mehr fassen. Und wenn es dann Tage gab, wo die Schmerzen erträglich blieben und sie die Droge nicht brauchte, grübelte sie und steigerte sich darüber häufig in Zustände größter Angst und Verzweiflung. Ihren Frieden konnte sie nicht finden.

Es war eine schreckliche Zeit, nicht nur für die arme Greta selbst, sondern auch für ihren Lebensgefährten und ihre damals 22jährige Tochter.

Wenn Claire sich im Nachhinein daran erinnerte, kam es ihr in den Sinn, dass der Stiefvater ihr seinerzeit besonders leidtat, obwohl es doch ihre Mutter war, die da so übergroße Qualen ertragen musste.

Irgendwie hatten Mutter und Tochter immer ein merkwürdig distanziertes Verhältnis zueinander gehabt.

Und in Gretas gesundheitlicher Krise fühlte sie sich ihr noch ferner, glaubte auch, der ganzen Situation hilflos ausgesetzt zu sein. Sie wusste sich ihrer Mutter einfach nicht zu nähern, konnte nicht über diese unheimliche Krankheit mit ihr reden, verhielt sich nur verunsichert und nervös. Ihre zaghaften und scheuen Versuche, die Mutter zu trösten, schien die nicht wahrzunehmen.

„Vielleicht dringe ich nicht zu ihr vor, weil ich unbeholfen bin und solche Probleme habe, meine Gefühle auszudrücken“, überlegte sie und fragte sich dann selbst: „Habe ich so etwas wie Gefühle überhaupt?“

Damals wurde es ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie in Chiffren dachte. Sie kannte Begriffe wie Hass, Neid, Mitgefühl eigentlich nur aus der Beobachtung von Anderen, wusste, wie Emotionen zum Ausdruck kamen und welche Handlungen damit verknüpft sein konnten, aber selbst fühlte sie sich nur wenig beteiligt.

Zwar fiel es ihr schwer, jemand Anderen leiden zu sehen, doch sie empfand dabei eher Unbehagen als echte Empathie.

Wenn sie mit jemandem mitleiden konnte, dann höchstens mit Harry. Und eine gute Trösterin war sie in dieser Zeit weder für ihn noch für Greta.

In schwierigen Situationen schien sie nicht wirklich involviert, sondern nur „abwesend-anwesend“ zu sein. Für Zwischenmenschliches hatte sie scheinbar keine Kompetenzen entwickelt.

Mutter und Tochter waren sich allerdings immer schon fremd, nicht erst seit Gretas Erkrankung. Claire stellte für ihre Mutter ein Buch mit sieben Siegeln dar, und umgekehrt verhielt es sich genauso.

Wenn man die beiden Frauen zusammen sah und ihr Äußeres verglich, so ließ sich die enge Verwandtschaft zwischen ihnen nicht leugnen.

Sie trugen beide ihr schwarzes Haar glatt und kurz geschnitten, waren vom Typ her eher herb, wobei Claire, hochgewachsen, grobknochig und mit markanteren Gesichtszügen als ihre Mutter, etwas maskulin erschien.

Die zierlichere Greta hingegen, die sich gut zu kleiden verstand und geschickt bewegte, wirkte durchaus apart und erinnerte ein wenig an die Schauspielerin Audrey Hepburn.

Das Gesicht der Jüngeren war kantiger, insbesondere das Kinn, die Nase weniger fein geschnitten. Sie hatte keine Wangengrübchen, wenn sie lächelte. Sie lächelte sowieso ziemlich selten.

Ihre dunklen, buschigen Augenbrauen wuchsen beinahe über der Nasenwurzel zusammen, wie man es von Fotos der mexikanischen Malerin Frida Kahlo kennt. Das missfiel Claire, aber sie änderte auch nichts daran. Sie mochte sich nicht besonders. Wenn sie hingegen Greta anschaute, so dachte sie zuweilen, dass diese so aussah, wie sie sich selber gerne vor einem Spiegel erblickt hätte.

Von graziler Gestalt und eleganter Erscheinung stellte die Mutter für die wenig selbstbewusste Claire eine Art unerreichbares Vorbild dar.

Ebenso konnte die Ältere an ihrer Tochter nur wenige Ähnlichkeiten zu sich selbst entdecken. Besonders missfiel ihr deren ungeschickte und linkische Art, sich zu bewegen. Das sah immer so merkwürdig unkoordiniert aus. „Aus diesem hässlichen Entlein wird nie ein stolzer Schwan“, dachte sie zuweilen.

Greta war sich von Jugend an ihrer Wirkung auf Männer bewusst, traf allerdings nicht immer die richtige Wahl. „Claire wird später vielleicht kaum was zu wählen haben“, sorgte sie sich.

Ihre Einstellung ließ sie die Jüngere unterschwellig spüren, und bei Harry nahm Greta sowieso kein Blatt vor den Mund. „Claire ist völlig aus der Art geschlagen“, beklagte sie sich. „Von mir hat sie fast gar nichts, kommt wohl eher auf ihren Vater. Sie ist mir so fremd, fast wie ein Eindringling in meinem Leben.“

Harry war entsetzt. „Was willst du eigentlich“, versuchte er, in seine Lebensgefährtin zu dringen. „Sie ist doch dein eigenes Fleisch und Blut. Und natürlich seht ihr euch ähnlich. Sie hat die gleichen klugen grauen Augen wie du.“

„Ja, Harry. Da hast du recht. Wir haben die gleiche Augenfarbe“, antwortete Greta traurig und irgendwie resigniert. „Aber Claires Augen, die schauen nur nach innen und blicken einen Anderen nie richtig an. Also können sie auch nicht klug sein, denn das wird man nur im Umgang und im Austausch mit seinen Mitmenschen.“

„Sie hat eine sehr gute und scharfe Beobachtungsgabe“, wollte Harry es differenzieren. „Somit bekommt sie auch alles mit, was um sie herum geschieht. Sie nimmt es nur nicht zum Anlass, um mit Anderen in Kontakt zu treten. Wahrscheinlich bildet sie sich ihre eigene Meinung aus allem, was sie wahrnimmt, und zieht es vor, ein passiver Betrachter zu sein. Sie ist eben ein stilles Wasser, unsere Claire.“

Greta nickte nachdenklich, war aber keineswegs beruhigt. „Sie erschien mir bereits als kleines Kind so seltsam und fremd“, bemerkte sie und erinnerte sich an früher.

Die konnte nicht lachen wie die meisten Kinder, blieb immer ernst und still, mochte nicht von ihr in den Arm genommen werden, sträubte sich gegen Berührungen.

Als Claire eingeschult wurde, gewöhnte sie sich nur mit Mühen an andere Kinder, blieb im Folgenden eine Ein­zelgängerin. Und die Probleme nahmen mit der Zeit noch zu, weil auch der Lehrstoff sie überforderte.