Starkes Gift - Dorothy L. Sayers - E-Book

Starkes Gift E-Book

Dorothy L. Sayers

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Beschreibung

Wahrheit oder Täuschung? Die Krimi-Schriftstellerin Harriet Vane hat ihren Geliebten vergiftet – sowohl für den zuständigen Richter als auch für Scotland Yard ist der Fall eindeutig. Die Beweislast scheint erdrückend, schließlich hat sie kürzlich mehrfach Arsen gekauft. Nur Lord Peter Wimsey glaubt fest an ihre Unschuld – allerdings hat er sich in die Angeklagte verliebt. Kann er sich trotzdem auf sein Gespür verlassen?

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Dorothy L. Sayers

Starkes Gift

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Otto Bayer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Wahrheit oder Täuschung?

 

Über Dorothy L. Sayers

Dorothy L. Sayers, Jahrgang 1893, legte als eine der ersten Frauen an der Universität ihres Geburtsortes Oxford ihr Examen ab. Mit ihren mehr als zwanzig Detektivromanen schrieb sie Literaturgeschichte, sie gehört neben Agatha Christie und P.D. James zur Trias der großen englischen «Ladies of Crime». Schon in ihrem 1923 erschienenen Erstling «Ein Toter zu wenig» führte sie die Figur des eleganten, finanziell unabhängigen Lord Peter Wimsey ein, der aus moralischen Motiven Verbrechen aufklärt. Dieser äußerst scharfsinnige Amateurdetektiv avancierte zu einem der populärsten Krimihelden des zwanzigsten Jahrhunderts.

Bevor sie die Übersetzung von Dantes «Göttlicher Komödie» vollenden konnte, starb die Autorin 1957 in Witham/Essex.

 

Inhaltsübersicht

Motto1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel

«Where gat ye your dinner, Lord Rendal, my son?

Where gat ye your dinner, my handsome young man?»

« – O I dined with my sweetheart, Mother; make my bed soon,

For I’m sick to the heart, and I fain wad lie down.»

 

«O that was strong poison, Lord Rendal, my son,

O that was strong poison, my handsome young man.»

« – O yes, I am poisoned, Mother; make my bed soon,

For I’m sick to the heart, and I fain wad lie down.»

ALTE BALLADE

1

Auf dem Richtertisch standen rote Rosen. Sie sahen aus wie Blutspritzer.

Der Richter war ein alter Mann; so alt, daß man meinen sollte, er habe Zeit und Wandel und Tod überlebt. Sein Papageiengesicht und seine Papageienstimme waren trocken, wie seine alten, dickgeäderten Hände. Das Purpur seines Talars biß sich schmerzhaft mit dem Blutrot der Rosen. Drei Tage saß er nun schon in diesem muffigen Gerichtssaal und ließ noch immer kein Anzeichen von Müdigkeit erkennen.

Er sah die Angeklagte nicht an, als er seine Aufzeichnungen säuberlich aufeinanderlegte und sich an die Geschworenenbank wandte, aber die Angeklagte sah ihn an. Ihre Augen, dunkle Flecken unter den dichten, eckigen Brauen, blickten ebenso ohne Furcht wie ohne Hoffnung. Sie warteten.

«Meine Damen und Herren Geschworenen –»

Die geduldigen alten Augen schienen sie alle auf einmal zu begutachten, wie um die Summe ihrer Intelligenz zu erfassen. Drei biedere Gewerbetreibende – ein großer, redseliger, ein untersetzter, verlegener mit hängendem Schnurrbart und ein trauriger mit einer bösen Erkältung; ein Direktor einer großen Firma, der seiner kostbaren Zeit nachtrauerte; ein unpassend gutgelaunter Wirt; zwei jüngere Männer aus dem Handwerkerstand; ein unscheinbarer älterer Mann, der gebildet wirkte und alles mögliche sein mochte; ein Künstler mit rotem Bart, unter dem sich ein fliehendes Kinn verbarg; drei Frauen – eine alte Jungfer, eine robuste, tüchtige Besitzerin eines Süßwarenladens und eine gehetzte Hausfrau und Mutter, deren Gedanken unentwegt zu ihrem verwaisten Herd zurückzuirren schienen.

«Meine Damen und Herren Geschworenen, Sie sind mit großer Geduld und Aufmerksamkeit der Beweisaufnahme in diesem sehr erschütternden Prozeß gefolgt, und nun ist es meine Pflicht, die Tatsachen und Argumente, die Ihnen der Anwalt der Krone sowie der Herr Verteidiger vorgetragen haben, zusammenzufassen und so klar wie möglich zu ordnen, um Ihnen die Entscheidung, die Sie fällen müssen, zu erleichtern.

Zuerst aber sollte ich wohl noch ein paar Worte zu dieser Entscheidung selbst sagen. Sie wissen sicher, daß nach einem ehernen Grundsatz des englischen Rechts jeder Angeklagte als unschuldig zu gelten hat, solange ihm keine Schuld nachgewiesen wurde. Er oder sie braucht seine oder ihre Unschuld nicht zu beweisen. Es ist vielmehr Sache der Krone, die Schuld zu beweisen, und solange Sie nicht vollkommen überzeugt sind, daß dies der Anklage jenseits allen vernünftigen Zweifels gelungen ist, haben Sie die Pflicht, auf ‹Nicht schuldig› zu erkennen. Das muß nicht heißen, daß es der Angeklagten gelungen sei, ihre Unschuld zu beweisen; es bedeutet nur, daß der Ankläger es nicht vermocht hat, Sie restlos von ihrer Schuld zu überzeugen.»

Salcombe Hardy wandte kurz die veilchenblauen Augen vom Notizblock, kritzelte zwei Wörter auf einen Zettel und schob ihn seinem Reporterkollegen Waffles Newton zu. «Richter übelgesinnt.» Waffles nickte. Sie waren zwei alte Hunde auf dieser Blutspur.

Der Richter krächzte weiter.

«Sie möchten vielleicht auch von mir hören, was mit den Worten ‹vernünftiger Zweifel› genau gemeint ist. Sie bedeuten nicht mehr und nicht weniger Zweifel, als Sie in einer ganz alltäglichen Situation haben würden. Es handelt sich hier zwar um einen Mordfall, und es wäre nur natürlich, wenn Sie glaubten, in so einem Fall müsse man mehr hinter diesen Worten vermuten, aber das ist nicht so. Keineswegs sollen Sie hier krampfhaft nach phantastischen Erklärungen für etwas suchen, was Ihnen klar und einfach erscheint. Gemeint sind nicht jene alptraumhaften Zweifel, wie sie uns manchmal quälen, wenn wir um vier Uhr morgens aus unruhigem Schlaf erwachen. Gemeint ist nur, daß die Beweise so überzeugend sein müssen, wie Sie es zum Beispiel bei einem Geschäftsabschluß oder einer sonstigen alltäglichen Besorgung verlangen würden. Sie dürfen ebensowenig Ihre Gutgläubigkeit zugunsten der Angeklagten strapazieren, wie Sie natürlich umgekehrt auch keinen Beweis für ihre Schuld akzeptieren dürfen, ohne ihn sorgfältig geprüft zu haben.

Nachdem ich diese wenigen Worte vorausgeschickt habe, damit Sie sich nicht erdrückt fühlen unter der schweren Verantwortung, die Ihre staatsbürgerliche Pflicht Ihnen auferlegt, will ich nun von vorn beginnen und versuchen, die Geschichte, die wir gehört haben, so klar wie möglich vor Ihnen auszubreiten.

Die Krone bezichtigt die Angeklagte, Harriet Vane, des Mordes an Philip Boyes durch Vergiftung mit Arsen. Ich brauche Sie nicht mit einer nochmaligen Aufzählung der Beweise aufzuhalten, die Sir James Lubbock und die anderen Sachverständigen uns hinsichtlich der Todesursache vorgetragen haben. Laut Anklage starb Philip Boyes an Arsenvergiftung, und das wird von der Verteidigung nicht bestritten. Es kann daher als sicher gelten, daß der Tod durch Arsen herbeigeführt wurde, so daß Sie dies als Tatsache akzeptieren müssen. Die Frage, die Sie entscheiden sollen, ist nur, ob das Arsen dem Opfer von der Angeklagten vorsätzlich und mit der Absicht, ihn zu ermorden, verabreicht wurde.

Der Verstorbene, Philip Boyes, war, wie Sie gehört haben, Schriftsteller. Er war sechsunddreißig Jahre alt und hatte fünf Romane sowie zahlreiche Essays und Artikel veröffentlicht. Alle diese literarischen Arbeiten waren ‹fortschrittlich›, wie man das manchmal nennt. Sie verbreiteten Lehren, die manchem von uns unmoralisch und aufwieglerisch vorkommen mögen, wie Atheismus und Anarchie und das, was man als ‹freie Liebe› bezeichnet. Sein Privatleben scheint, wenigstens eine Zeitlang, diesen Lehren entsprochen zu haben.

Jedenfalls lernte er irgendwann im Jahre 1927 Harriet Vane kennen. Sie begegneten sich in einem dieser Künstler- und Literatenkreise, in denen man ‹fortschrittliche› Gedanken diskutiert, und nach einiger Zeit freundeten sie sich eng miteinander an. Die Angeklagte ist von Beruf ebenfalls Schriftstellerin, und es ist hier wichtig zu wissen, daß sie sogenannte Kriminal- oder Detektivgeschichten schreibt, die sich meist mit verschiedenerlei raffinierten Methoden für Mord und andere Verbrechen befassen.

Sie haben die Angeklagte selbst im Zeugenstand gehört, und Sie haben die verschiedensten Leute Zeugnis über ihren Charakter ablegen hören. Sie haben vernommen, daß sie eine nach streng religiösen Prinzipien erzogene junge Frau von großer Begabung sei, die ohne eigenes Verschulden bereits mit dreiundzwanzig Jahren in die Lage kam, sich in der Welt allein behaupten zu müssen. Seit dieser Zeit – sie ist jetzt neunundzwanzig Jahre alt – hat sie sich ihren Lebensunterhalt mit fleißiger Arbeit verdient, und es spricht sehr für sie, daß sie es vermocht hat, sich aus eigener Anstrengung und auf legitime Weise unabhängig zu machen, sich niemandem zu verpflichten und von keiner Seite Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Sie hat uns mit großer Offenheit berichtet, wie sie eine tiefe Zuneigung zu Philip Boyes faßte und sich lange seinen Überredungsversuchen widersetzte, mit ihm in irregulärer Weise zusammenzuleben. Es gab ja auch wirklich keinen Grund, warum er sie nicht in allen Ehren hätte heiraten sollen; aber offenbar hat er sich ihr als einen Menschen hingestellt, der aus Gewissensgründen gegen jede formelle Bindung sei. Sie haben die Aussagen von Sybil Marriott und Eiluned Price gehört, wonach die Angeklagte sehr unglücklich über diese seine Einstellung gewesen sei, und Sie haben ebenfalls gehört, daß er ein sehr gutaussehender, attraktiver Mann war, dem vielleicht keine Frau so leicht widerstanden hätte.

Jedenfalls hat die Angeklagte im März 1928, von seinem unaufhörlichen Drängen zermürbt, wie sie sagt, schließlich doch nachgegeben und in ein intimes Zusammenleben ohne eheliche Bande eingewilligt.

Nun mögen Sie mit Recht der Meinung sein, daß dies sehr falsch von ihr war. Sie mögen diese junge Frau, selbst unter Berücksichtigung ihrer Schutzlosigkeit, als eine Person von fragwürdiger Moral ansehen. Sie werden sich nicht von dem falschen Glanz blenden lassen, mit dem gewisse Schriftsteller die ‹freie Liebe› zu umgeben trachten, und Sie werden nichts anderes darin erblicken als ein gewöhnliches, schändliches Fehlverhalten. Sir Impey Biggs hat, was sein gutes Recht ist, seine große Beredsamkeit zugunsten der Angeklagten in die Waagschale zu werfen versucht und uns die Handlungsweise seiner Mandantin in den rosigsten Farben ausgemalt; er hat von selbstloser Hingabe und Selbstaufopferung gesprochen und Sie daran erinnert, daß in einer solchen Situation die Frau stets den höheren Preis zu zahlen habe als der Mann. Ich bin sicher, Sie werden dem keine allzu große Beachtung schenken. Sie kennen sehr wohl den Unterschied zwischen Recht und Unrecht in solchen Dingen und werden finden, daß Harriet Vane, wenn sie nicht in gewissem Maße von den ungesunden Einflüssen, zwischen denen sie lebte, korrumpiert gewesen wäre, ein wahreres Heldentum an den Tag gelegt und allen Umgang mit Philip Boyes abgebrochen hätte.

Andererseits dürfen Sie diesem Fehltritt aber auch kein falsches Gewicht beimessen. Von einem unmoralischen Lebenswandel bis zum Mord ist immer noch ein weiter Weg. Sie mögen denken, daß der erste Schritt auf dem Pfade der Untugend stets den nächsten leichter macht, aber Sie dürfen diesen Gesichtspunkt auch nicht zu schwer bewerten. Sie sollen ihn zwar mit berücksichtigen, sich aber nicht zu sehr davon beeinflussen lassen.»

Der Richter machte eine kurze Pause, und Freddy Arbuthnot stieß Lord Peter Wimsey, der in Schwermut versunken schien, seinen Ellbogen in die Rippen.

«Das will ich auch hoffen. Himmel, wenn jedes kleine Abenteuer gleich mit Mord und Totschlag endete, müßte man ja die eine Hälfte der Menschheit dafür aufhängen, daß sie die andere abgemurkst hat.»

«Und zu welcher Hälfte würdest du gehören?» fragte Seine Lordschaft, indem er ihn kurz aus kalten Augen ansah und seinen Blick gleich wieder der Anklagebank zuwandte.

«Zu den Opfern», sagte der Ehrenwerte Freddy, «zu den Opfern. Als Leiche in der Bibliothek.»

«Philip Boyes und die Angeklagte lebten also in dieser Weise zusammen», fuhr der Richter fort, «fast ein Jahr lang. Einige Freunde haben bezeugt, daß sie offenbar in größter gegenseitiger Zuneigung dahinlebten. Miss Price hat hier gesagt, daß Harriet Vane, obwohl sie ihre unglückliche Situation anscheinend sehr schmerzlich verspürte – sie sonderte sich von ihrer Familie ab und mied es, in Gesellschaft zu gehen, wo ihr ungesetzlicher Status Anstoß erregen könnte und so weiter –, dennoch ihrem Geliebten sehr ergeben war.

Trotzdem kam es im Februar 1929 zum Streit, und das Paar trennte sich. Daß es Streit gegeben hat, wird nicht bestritten. Mr. und Mrs. Dyer, die eine Wohnung unmittelbar über der von Philip Boyes haben, geben an, daß sie laute, zornige Stimmen gehört hätten. Der Mann habe geflucht und die Frau geweint, und am Tag darauf habe Harriet Vane ihre Sachen gepackt und das Haus für immer verlassen. Das Merkwürdige an diesem Fall, was Sie besonders beachten sollten, ist der Grund, der für diesen Streit angegeben wird. Hierzu haben wir allerdings nur die Aussage der Angeklagten selbst. Laut Miss Marriott, bei der Harriet Vane nach der Trennung Zuflucht nahm, hat die Angeklagte sich beharrlich geweigert, zu diesem Thema etwas zu sagen; sie äußerte nur, daß sie von Boyes schmerzlich getäuscht worden sei und nie wieder seinen Namen hören wolle.

Nun könnte man daraus schließen, Boyes habe der Angeklagten Anlaß zum Groll gegen ihn gegeben, etwa durch Untreue oder Lieblosigkeit, oder einfach durch die fortgesetze Weigerung, die Situation vor den Augen der Welt in Ordnung zu bringen. Aber das streitet die Angeklagte entschieden ab. Nach ihrer Aussage – und in diesem Punkt werden ihre Worte durch einen Brief bestätigt, den Philip Boyes an seinen Vater schrieb – hat Boyes ihr zu guter Letzt doch noch die ordnungsgemäße Heirat angeboten, und ebendies soll der Grund für den Streit gewesen sein. Sie mögen diese Behauptung erstaunlich finden, aber die Angeklagte selbst hat sie hier unter Eid aufgestellt.

Sie können nun natürlich glauben, dieser Heiratsantrag entziehe jeglicher Annahme den Boden, die Angeklagte habe einen Groll gegen Boyes gehegt. Jeder würde doch sagen, sie könne unter diesen Umständen gar keinen Grund gehabt haben, ihn ermorden zu wollen – im Gegenteil! Es bleibt aber die Tatsache des Streites sowie die Aussage der Angeklagten selbst, daß dieser ehrenhafte, wenn auch verspätete Antrag ihr unwillkommen war. Sie sagt nicht – wie sie sehr plausibel hätte sagen können und wie ihr Verteidiger es sehr wortgewandt und eindrucksvoll an ihrer Stelle gesagt hat –, daß der Heiratsantrag die Vermutung widerlege, sie habe etwas gegen Philip Boyes gehabt. Das sagt Sir Impey Biggs, die Angeklagte aber sagt es nicht. Sie sagt vielmehr – und Sie müssen versuchen, sich an ihre Stelle zu denken und ihren Standpunkt zu verstehen, wenn Sie das können –, sie sagt, sie sei sehr böse auf Boyes gewesen, weil er sie dadurch, daß er sie zuerst gegen ihren Willen überredet habe, seine Verhaltensgrundsätze zu übernehmen, dann aber von diesen Grundsätzen selbst abgewichen sei, ‹zum Narren gehalten› habe, wie sie es nennt.

Die Frage, die sich Ihnen stellt, ist folgende: Kann dieser Antrag, der tatsächlich gemacht wurde, vernünftigerweise als Mordmotiv angesehen werden? Und ich muß Sie nachdrücklich darauf hinweisen, daß in der Beweisaufnahme kein anderes Motiv genannt wurde.»

An diesem Punkt sah man die alte Jungfer auf der Geschworenenbank sich etwas notieren – sehr entschieden, nach den Bewegungen ihres Bleistifts übers Papier zu urteilen. Lord Peter schüttelte ein paarmal langsam den Kopf und brummelte etwas Unverständliches vor sich hin.

«Danach», sagte der Richter, «scheint sich zwischen den beiden etwa drei Monate lang nichts Besonderes ereignet zu haben, außer daß Harriet Vane bei Miss Marriott wieder auszog und sich eine eigene kleine Wohnung in der Doughty Street nahm, während Philip Boyes, der ganz im Gegensatz zu ihr sein einsames Leben sehr bedrückend fand, die Einladung seines Vetters Norman Urquhart annahm, zu ihm in sein Haus am Woburn Square zu ziehen. Obwohl nun beide im selben Londoner Stadtteil wohnten, scheinen sich Boyes und die Angeklagte nach ihrer Trennung nicht häufig begegnet zu sein. Das eine oder andere Mal haben sie sich zufällig bei Freunden getroffen. Die Daten dieser Zusammentreffen sind nicht mit Sicherheit festzustellen – es waren formlose Einladungen –, aber es gibt Hinweise, wonach eines gegen Ende März stattgefunden hat, ein anderes in der zweiten Aprilwoche und ein drittes irgendwann im Mai. Diese Zeiten sind es wert, festgehalten zu werden, wenn ihnen auch, da sich der jeweils genaue Tag nicht feststellen läßt, keine allzu große Bedeutung zukommt.

Nun aber kommen wir zu einem Tag von allergrößter Bedeutung. Am 10. April trat eine junge Frau, die als Harriet Vane identifiziert wurde, in Mr. Browns Apotheke in der Southhampton Row und kaufte zwei Unzen handelsüblichen Arsens, um angeblich Ratten damit zu vernichten. Im Giftbuch unterschrieb sie mit dem Namen Mary Slater, und die Handschrift wurde als die der Angeklagten identifiziert. Darüber hinaus gibt die Angeklagte selbst zu, diesen Kauf aus bestimmten Gründen getätigt zu haben. Es ist darum vergleichsweise unerheblich – aber Sie möchten es sich vielleicht doch merken –, daß der Hausmeister des Wohnblocks, in dem Harriet Vane wohnt, hier als Zeuge aufgetreten ist und Ihnen gesagt hat, daß es in dem ganzen Viertel keine Ratten gibt und, seit sie dort wohnt, auch nie gegeben hat.

Wir wissen dann von einem weiteren Arsenkauf am 5. Mai. Damals kaufte die Angeklagte nach eigenen Angaben eine Dose mit einem arsenhaltigen Unkrautvertilger von derselben Marke, wie sie im Kidwelly-Giftmordprozeß erwähnt wird. Diesmal nannte sie sich Edith Waters. Zu ihrer Wohnung gehört aber kein Garten, und in der ganzen Umgebung besteht kein denkbarer Anlaß für den Einsatz eines Unkrautvertilgers.

Bei mehreren Gelegenheiten kaufte die Angeklagte in der Zeit von Mitte März bis Anfang Mai noch andere Gifte, darunter Blausäure (angeblich für fotografische Zwecke) und Strychnin. Ferner versuchte sie, allerdings erfolglos, Aconitin zu kaufen. Jedesmal wurde ein anderes Geschäft aufgesucht und ein anderer Name angegeben. Das Arsen ist das einzige Gift, das diesen Fall direkt berührt, aber die anderen Käufe sind doch auch nicht unwichtig, da sie das Tun und Lassen der Angeklagten in dieser Zeit beleuchten.

Die Angeklagte hat uns für diese Giftkäufe eine Erklärung gegeben, über deren Stichhaltigkeit Sie selbst entscheiden müssen. Sie sagt, sie habe damals gerade an einem Roman über einen Giftmord gearbeitet und die Gifte gekauft, um experimentell zu beweisen, wie leicht ein normaler Mensch an tödliche Gifte heranzukommen vermag. Zum Beweis dafür hat ihr Verleger, Mr. Trufoot, das Manuskript dieses Buches vorgelegt. Sie haben das Manuskript in Händen gehabt und können es auf Wunsch noch einmal bekommen, wenn ich mit meiner Zusammenfassung fertig bin, damit Sie es sich im Beratungszimmer ansehen können. Es wurden Ihnen Auszüge daraus vorgelesen, die zeigten, daß der Roman von einem Mord mit Arsen handelt, und darin wird auch geschildert, wie eine junge Frau in eine Apotheke geht und eine erhebliche Menge von diesem tödlichen Stoff kauft. Ich muß hier noch etwas anmerken, was ich schon eher hätte erwähnen sollen, nämlich daß es sich bei dem bei Mr. Brown gekauften Arsen um die handelsübliche Version handelt, die, wie das Gesetz es vorschreibt, mit Holzkohle oder Indigo gefärbt ist, um Verwechslungen mit Zucker oder anderen harmlosen Substanzen auszuschließen.»

Salcombe Hardy stöhnte: «Wie lange, o Herr, wie lange müssen wir uns diesen Quatsch mit dem kommerziellen Arsen noch anhören? Das lernen Mörder doch heutzutage schon in der Wiege.»

«Ganz besonders möchte ich Ihnen die Daten ans Herz legen – ich nenne sie Ihnen noch einmal –, den 10. April und den 5. Mai.» (Die Geschworenen schrieben die Daten auf, und Lord Peter knurrte: «Die Schöffen schrieben alle auf ihre Täfelchen: ‹Ihrer Meinung nach ist darin keine Spur von Sinn.›» Der Ehrenwerte Freddy meinte: «Wie? Was?» und der Richter blätterte in seinen Aufzeichnungen eine Seite weiter.)

«Ungefähr um diese Zeit begannen bei Philip Boyes wieder die Magenbeschwerden, unter denen er schon öfter im Laufe seines Lebens gelitten hatte. Sie haben das Gutachten von Dr. Green gelesen, bei dem er während seines Studiums damit in Behandlung war. Dies liegt nun schon einige Zeit zurück; aber 1925 hat ihn Dr. Weare wegen einer ähnlichen Attacke behandelt. Es waren keine schweren Erkrankungen, aber schmerzhaft und kräftezehrend, verbunden mit Erbrechen, Gliederschmerzen und so weiter. Viele Leute haben solche Beschwerden von Zeit zu Zeit. Aber es findet sich hier eine Übereinstimmung von Daten, die sehr wichtig sein könnte. Wir wissen von diesen Anfällen aus Dr. Weares Aufzeichnungen: einer ereignete sich am 31. März, einer am 15. April und einer am 12. Mai. Drei zufällige Zusammentreffen – wenn Sie es für Zufall halten –: Harriet Vane und Philip Boyes begegnen sich ‹gegen Ende März›, und am 31. März hat Boyes einen Gastritisanfall: am 10. April kauft Harriet Vane zwei Unzen Arsen – sie treffen sich wieder ‹in der zweiten Aprilwoche›, und am 15. April hat er einen erneuten Anfall; am 5. Mai wird das Unkrautvernichtungsmittel gekauft – ‹irgendwann im Mai› findet eine erneute Begegnung statt, und am 12. Mai wird er zum drittenmal krank. Sie mögen das ziemlich merkwürdig finden, aber Sie dürfen nicht vergessen, daß es der Anklage nicht gelungen ist, einen Arsenkauf vor der Begegnung im März nachzuweisen. Das müssen Sie bei der Beurteilung dieses Punktes berücksichtigen.

Nach dem dritten Anfall – dem im Mai – bekommt Boyes von seinem Arzt den Rat zu einer Luftveränderung, und er entscheidet sich für den Nordwesten von Wales. Er reist nach Harlech, wo er eine schöne Zeit verbringt und sich gut erholt. Aber er wurde von einem Freund begleitet, Mr. Ryland Vaughan, den Sie hier gesehen haben, und dieser Freund sagt, daß ‹Philip nicht glücklich gewesen› sei. Mr. Vaughan äußerte sogar die Meinung, Boyes habe sich nach Harriet Vane verzehrt. Sein körperlicher Zustand habe sich gebessert, aber seelisch sei er immer bedrückter geworden. Und so sehen wir ihn am 16. Juni einen Brief an Miss Vane schreiben. Da dies ein wichtiger Brief ist, lese ich ihn Ihnen noch einmal vor:

‹Liebe Harriet,

das Leben ist ein einziger Schlamassel. Ich halte es hier nicht mehr aus, und darum habe ich beschlossen, meine Zelte abzubrechen und über den Teich zu gehen. Vorher aber möchte ich Dich noch einmal sehen, um festzustellen, ob es denn wirklich nicht möglich ist, die Sache zwischen uns wieder in Ordnung zu bringen. Du mußt natürlich tun, was Du willst, aber ich kann Deine Einstellung noch immer nicht begreifen. Wenn ich es diesmal nicht schaffe, Dich die Dinge im richtigen Licht sehen zu lassen, gebe ich endgültig auf. Ich werde am 20. in London sein. Schreib mir eine Zeile und laß mich wissen, wann ich bei Dir vorbeikommen kann. Dein P.›

Wie Sie gemerkt haben, ist das ein sehr zweideutiger Brief. Sir Impey Biggs hat mit sehr gewichtigen Argumenten die Ansicht vertreten, daß der Briefschreiber mit Ausdrücken wie ‹Zelte abbrechen und über den Teich gehen›, ‹ich halte es hier nicht mehr aus› und ‹ich gebe endgültig auf› seine Absicht habe kundtun wollen, sich das Leben zu nehmen, falls es ihm nicht gelänge, eine Versöhnung mit der Angeklagten herbeizuführen. Er weist darauf hin, daß die Redewendung ‹über den Teich gehen› durchaus eine Umschreibung für ‹Sterben› sein könne. Dies mag für Sie natürlich überzeugend klingen. Mr. Urquhart dagegen sagte auf Befragung durch den Staatsanwalt, seiner Meinung nach beziehe dieser Satz sich auf ein Vorhaben, das er selbst dem Verstorbenen angeraten habe, nämlich eine Reise über den Atlantik nach Barbados, um sich einmal anderen Wind um die Nase wehen zu lassen. Und der Herr Anklagevertreter weist ferner darauf hin, daß der Briefschreiber mit dem Satz: ‹Ich halte es hier nicht mehr aus›, gemeint haben muß, ‹hier in Großbritannien›, vielleicht auch nur ‹hier in Harlech›, und daß der Satz, wenn er sich auf Selbstmord bezöge, einfach heißen würde: ‹Ich halte es nicht mehr aus.›

Zweifellos haben Sie sich zu diesem Punkt schon Ihre eigene Meinung gebildet. Wichtig ist, sich zu merken, daß der Verstorbene um ein Treffen am 20. gebeten hat. Die Antwort auf diesen Brief liegt uns vor. Sie lautet:

‹Lieber Phil,

Du kannst am 20. gegen halb zehn kommen, wenn Du magst, aber Du wirst mich mit Sicherheit nicht umstimmen.›

Unterzeichnet ist dieser Brief einfach mit ‹M.› Ein sehr kalter Brief, werden Sie vielleicht denken – im Ton fast feindselig. Trotzdem wird die Verabredung für halb zehn getroffen.

Ich werde Ihre Aufmerksamkeit nun nicht mehr lange in Anspruch nehmen müssen, aber gerade jetzt muß ich noch einmal ausdrücklich darum bitten – obwohl Sie die ganze Zeit sehr geduldig bei der Sache waren –, denn wir kommen zum eigentlichen Todestag.»

Der alte Mann legte die Hände auf den Stapel Notizen, eine über die andere, und beugte sich ein wenig vor. Er hatte es alles im Kopf, obwohl er vor drei Tagen noch gar nichts davon gewußt hatte. Er war noch nicht soweit, von grünen Feldern und der Kinderzeit zu faseln; er stand noch mit beiden Beinen in der Gegenwart und hielt sie in seinen knorrigen Händen fest, die grauen, kalkigen Nägel tief hineingekrallt.

«Philip Boyes und Mr. Vaughan kamen am Abend des 19. zusammen wieder nach London zurück, und es gibt nicht den kleinsten Zweifel daran, daß Boyes sich da der besten Gesundheit erfreute. Boyes verbrachte die Nacht bei Mr. Vaughan, und zum Frühstück nahmen sie wie gewöhnlich Speck und Ei, Toast, Marmelade und Kaffee zu sich. Um elf Uhr trank Boyes ein Glas Guinness, wobei er, auf eine Reklame anspielend, bemerkte, daß es ‹dem Besten zum Besten› sei. Um ein Uhr nahm er einen kräftigen Lunch in seinem Club zu sich, und nachmittags spielte er mit Mr. Vaughan und ein paar anderen Freunden ein paar Sätze Tennis. Während des Spiels kam von einem der Spieler die Bemerkung, Harlech habe Boyes gutgetan, worauf er antwortete, er fühle sich so gesund wie schon seit Monaten nicht mehr.

Um halb acht ging er zum Abendessen zu seinem Vetter, Mr. Norman Urquhart. Dabei wurde weder an seinem Aussehen noch an seinem Verhalten etwas Ungewöhnliches bemerkt, nicht von Mr. Urquhart und auch nicht von dem Mädchen, das bei Tisch bediente. Das Abendessen wurde um Punkt acht Uhr aufgetragen, und ich fände es gut, wenn Sie sich diese Zeit aufschrieben (falls Sie es nicht schon getan haben), ebenso wie die Liste der verzehren Speisen und Getränke.

Die beiden Vettern speisten allein miteinander, und vorweg trank jeder von ihnen als Aperitif ein Glas Sherry. Es handelte sich um einen guten Oleroso des Jahrgangs 1847, und das Mädchen hatte ihn aus einer frischen Flasche abgefüllt und in die Gläser geschenkt, als sie in der Bibliothek saßen. Mr. Urquhart hält an dem schönen alten Brauch fest, daß Mädchen während des ganzen Mahls zur Bedienung am Tisch zu haben, was für uns hier von Vorteil ist, denn dadurch haben wir für diesen Teil des Abends stets zwei Zeugen. Sie haben das Mädchen, Hannah Westlock, im Zeugenstand gesehen, und ich glaube, auch Sie werden sagen, daß sie den Eindruck einer vernünftigen und aufmerksamen Zeugin macht.

Soviel zum Sherry. Dann kam eine kalte Bouillon aus einer Terrine auf der Anrichte von Hannah Westlock aufgetragen. Es war eine sehr kräftige, gute Suppe, die sich zu einer klaren Gallerte gesetzt hatte. Beide Männer nahmen davon, und nach dem Essen wurde die restliche Bouillon in der Küche von Miss Westlock und der Köchin aufgegessen.

Danach gab es Steinbutt mit Sauce. Wieder wurden die Portionen auf der Anrichte geschnitten, die Saucenschüssel wurde vom einen zum andern gereicht, und wieder wurden anschließend in der Küche die Reste verzehrt.

Der nächste Gang war ein Poulet en casserole – das ist ein zerlegtes, langsam mit den Gemüsen in einem feuerfesten Geschirr gegartes Huhn. Auch davon nahmen beide etwas, und die Dienstboten aßen den Rest in der Küche.

Der letzte Gang war ein süßes Omelett, das Philip Boyes selbst bei Tisch auf einem Tischkocher zubereitete. Sowohl Mr. Urquhart als auch sein Vetter legten großen Wert darauf, ein Omelett nur ganz frisch aus der Pfanne zu essen – ein guter Grundsatz, und ich würde Ihnen allen empfehlen, mit Omeletts nur auf diese Weise zu verfahren und sie nie stehen zu lassen, sonst werden sie zäh. Vier Eier wurden in ihren Schalen an den Tisch gebracht, und Mr. Urquhart schlug sie nacheinander in eine Schüssel und gab Zucker aus einem Streuer hinzu. Dann reichte er die Schüssel Mr. Boyes und sagte: ‹Du bist hier der Experte für Omeletts, Philip – das überlasse ich dir.› Philip Boyes rührte dann Eier und Zucker untereinander, bereitete das Omelett in der Tischpfanne zu, füllte es mit heißer Marmelade, die von Hannah Westlock gebracht wurde, teilte es schließlich in zwei Teile und gab den einen Mr. Urquhart, den anderen nahm er selbst.

Ich habe Ihnen alle diese Dinge besonders sorgfältig ins Gedächtnis zurückgerufen, weil sie ein guter Beweis dafür sind, daß von allen bei diesem Essen servierten Gängen mindestens zwei, meist sogar vier Personen gekostet haben. Das Omelett – das einzige Gericht, von dem nichts mehr in die Küche hinausging – wurde von Philip Boyes zubereitet und von ihm und seinem Vetter gemeinsam verzehrt. Weder Mr. Urquhart noch Miss Westlock noch Mrs. Pettican, die Köchin, hatten von diesem Abendessen irgendwelche Beschwerden.

Ich sollte noch erwähnen, daß sich unter den angebotenen Nahrungs- und Genußmitteln eines befand, von dem Philip Boyes als einziger nahm, und zwar eine Flasche Burgunder. Es war ein guter alter Corton, aufgetischt in der Originalflasche. Mr. Urquhart entkorkte sie und reichte sie Philip Boyes, wobei er anmerkte, daß er selbst nichts davon nehmen wolle, da ihm geraten worden sei, zum Essen nichts zu trinken. Philip Boyes trank zwei Gläser, und der restliche Flascheninhalt wurde glücklicherweise aufbewahrt. Wie Sie bereits gehört haben, wurde der Wein später analysiert und für gänzlich harmlos befunden.

Inzwischen ist es neun Uhr. Nach dem Essen wird Kaffee angeboten, aber Boyes entschuldigt sich mit der Begründung, daß ihm an türkischem Kaffee nichts liege und er außerdem wahrscheinlich bei Harriet Vane noch Kaffe angeboten bekomme. Um 21.15 Uhr verläßt Boyes Mr. Urquharts Haus am Woburn Square und läßt sich von einem Taxi zur Doughty Street Nr. 100 fahren, wo Miss Vane ihre Wohnung hat – eine Strecke von ungefähr einer halben Meile. Wir wissen von Harriet Vane selbst sowie von Mrs. Bright, der Inhaberin der Erdgeschoßwohnung, und von Polizeikonstabler D. 1234, der um diese Zeit gerade durch die Straße ging, daß er um fünfundzwanzig Minuten nach neun an der Haustür stand und bei der Angeklagten klingelte. Sie hatte ihn schon erwartet und ließ ihn unverzüglich ein.

Da das nun folgende Gespräch unter vier Augen stattfand, wissen wir über seinen Verlauf natürlich nur das, was die Angeklagte uns darüber berichtet hat. Sie sagt, sie habe ihm gleich nach seinem Eintreten eine Tasse Kaffee angeboten, ‹die auf dem Gaskocher bereitstand›. Als der Herr Staatsanwalt die Angeklagte dies sagen hörte, fragte er sie sofort, wo denn der Kaffee bereitgestanden habe. Die Angeklagte verstand offenbar nicht sogleich, worauf die Frage hinauslief, und antwortete: ‹Nun, hinterm Schutzblech, zum Warmhalten.› Als die Frage dann präziser wiederholt wurde, erklärte sie, daß sie den Kaffee in einem Topf zubereitet und diesen hinter das Schutzblech des Gasbrenners gestellt habe. Der Staatsanwalt wies darauf die Angeklagte auf ihre frühere Aussage vor der Polizei hin, in der es geheißen hatte: ‹Als er kam, hatte ich eine Tasse Kaffee für ihn bereitstehen.› Sie werden sogleich die Bedeutung verstehen. Wenn der Kaffee sich bereits vor der Ankunft des Verstorbenen in den Tassen befand, war es ohne weiteres möglich gewesen, in die eine Tasse Gift zu tun und diese dann Philip Boyes anzubieten; wenn aber der Kaffee erst in Anwesenheit des Verstorbenen in die Tassen geschenkt wurde, so war diese Möglichkeit eingeschränkt, wenn auch keineswegs ausgeschlossen, denn das Gift konnte auch noch in einem Augenblick beigemischt werden, in dem Boyes’ Aufmerksamkeit gerade abgelenkt war. Die Angeklagte erklärt, sie habe in ihrer ersten Aussage von einer ‹Tasse Kaffee› gesprochen, um damit ‹eine bestimmte Menge Kaffee› zu bezeichnen. Sie werden selbst beurteilen können, inwieweit eine solche Ausdrucksweise üblich und normal ist. Der Verstorbene hat laut ihrer Aussage weder Milch noch Zucker zu seinem Kaffee genommen, und Sie haben Mr. Urquharts und Mr. Vaughans Aussagen gehört, wonach er seinen Kaffee nach dem Essen immer schwarz und ungesüßt trank.

Laut Aussage der Angeklagten verlief das Gespräch nicht erfreulich. Auf beiden Seiten wurden Vorwürfe erhoben, und gegen zehn Uhr äußerte Boyes die Absicht, nach Hause zu gehen. Sie sagt, er habe unruhig gewirkt und gemeint, er fühle sich nicht recht wohl, was er darauf schob, daß ihr Verhalten ihn sehr erregt habe.

Um zehn Minuten nach zehn – und ich möchte, daß Sie sich die Zeiten sehr genau merken – wurde der Taxifahrer Burke, der in der Guilford Street in der Reihe stand, von Philip Boyes angesprochen und gebeten, ihn zum Woburn Square zu fahren. Er sagt, Boyes habe schnell und abgehackt gesprochen, wie jemand, der seelisch oder körperlich leidet. Als das Taxi vor Mr. Urquharts Haus anhielt, stieg Boyes nicht aus, und Burke öffnete die Tür, um nachzusehen, was los war. Er fand Boyes in einer Ecke zusammengekauert, die Hand auf den Bauch gepreßt, blaß im Gesicht und schweißbedeckt. Er fragte ihn, ob er krank sei, und Boyes antwortete: ‹Ja, scheußlich.› Burke half ihm aus dem Wagen, läutete und stützte ihn mit einem Arm, während sie vor der Tür standen. Hannah Westlock öffnete. Philip Boyes schien kaum noch aus eigener Kraft gehen zu können; sein Körper war fast zu einer Kugel gekrümmt, und er ließ sich stöhnend auf einen Stuhl in der Diele sinken und bat um einen Cognac. Sie brachte ihm einen kräftigen Schluck mit Soda aus dem Eßzimmer, und nachdem Boyes den getrunken hatte, kam er soweit wieder zu sich, daß er Geld aus der Tasche nehmen und den Taxifahrer bezahlen konnte.

Da er aber noch immer einen sehr kranken Eindruck machte, rief Hannah Westlock Mr. Urquhart aus der Bibliothek. Er sagte zu Boyes: ‹He, Alter – was ist denn mit dir los?› Boyes antwortete: ‹Weiß der Himmel! Ich fühle mich entsetzlich. Aber das Huhn kann’s doch nicht gewesen sein.› Mr. Urquhart sagte, das wolle er gewiß nicht hoffen, ihm sei jedenfalls nichts daran aufgefallen, und Boyes antwortete, nein, es sei wahrscheinlich einer seiner üblichen Anfälle, aber so schrecklich habe er sich noch nie gefühlt. Man brachte ihn zu Bett und rief telefonisch Dr. Grainger als den nächsten erreichbaren Arzt herbei.

Ehe der Arzt kam, übergab der Patient sich heftig, und von da an übergab er sich immer wieder. Dr. Grainger schloß auf eine schwere Gastritis. Der Patient hatte hohes Fieber, jagenden Puls und einen sehr druckempfindlichen Leib, aber der Arzt fand nichts, was auf eine Blinddarm- oder Bauchfellentzündung hingewiesen hätte. Er kehrte darum in seine Praxis zurück und bereitete ein Mittel zu, das den Magen beruhigen und das Erbrechen unter Kontrolle bringen sollte – ein Gemisch aus Kaliumkarbonat, Orangenextrakt und Chloroform – keine sonstigen Medikamente.

Am Tag darauf ging das Erbrechen weiter, und Dr. Weare wurde herbeigezogen, um sich mit Dr. Grainger zu beraten, da er mit der Konstitution des Patienten vertraut war.»

Hier hielt der Richter inne und schaute auf die Uhr.

«Die Zeit schreitet voran, und da wir die ärztlichen Gutachten noch zu behandeln haben, vertage ich die Sitzung bis nach dem Mittagessen.»

«Sieht ihm ählich», meinte der Ehrenwerte Freddy. «Gerade jetzt, nachdem allen gründlich der Appetit vergangen ist. Komm, Wimsey, wir schieben uns ein Kotelett zwischen die Rippen. – He!»

Wimsey hatte sich an ihm vorbeigeschoben, ohne ihn zu beachten, und ging weiter ins Innere des Gerichtsgebäudes, wo Sir Impey Biggs stand und sich mit seinen Kollegen beriet.

«Steht wieder mal ganz schön unter Dampf», meinte Mr. Arbuthnot nachdenklich. «Sicher hat er wieder eine alternative Theorie zu dem Fall. Wieso bin ich mir dieses blöde Theater überhaupt ansehen gekommen? So was von langweilig, und die Frau ist nicht mal hübsch. Ob ich nach der Fütterung wiederkomme, weiß ich noch nicht.»

Er drängte sich hinaus und sah sich Aug in Auge mit der Herzoginwitwe von Denver.

«Kommen Sie mit mir essen, Herzogin?» fragte Freddy hoffnungsvoll. Er mochte die Herzogin.

«Danke, Freddy, aber ich warte auf Peter. So ein interessanter Fall, und so interessante Leute dazu, meinen Sie nicht? Was die Geschworenen allerdings daraus machen werden, weiß man nicht – lauter Schafsgesichter, die meisten, bis auf diesen Künstler, der ohne die schreckliche Krawatte und den Bart wahrscheinlich gar kein Gesicht hätte – sieht aus wie Jesus, aber nicht wie der richtige, sondern ein italienischer mit rosa Jäckchen und so einem blauen Ding auf dem Kopf. Ist das nicht Peters Miss Climpson, da bei den Geschworenen? Ich frage mich ja nur, wie sie hierher kommt.»

«Er hat sie, glaub ich, hier in der Nähe in ein Haus gesetzt», meinte Freddy, «mit einem Schreibbüro, um das sie sich kümmern soll, und darüber wohnt sie und macht diesen ganzen Wohltätigkeitskram für ihn. Eine ulkige Nudel, nicht? Wie aus einem Modejournal der Neunziger. Aber für seine Zwecke scheint sie genau richtig zu sein.»

«Ja – und so eine gute Sache, auf alle diese zwielichtigen Anzeigen zu antworten und die Leute dann auffliegen zu lassen, und so mutig, wo das doch zum Teil die schmierigsten Typen sind, womöglich sogar Mörder, mit Pistolen und Totschlägern in allen Taschen, und daheim einen Gasofen voller Knochen wie dieser Landru, der war ja schlau, nicht wahr? Und solche Frauen auch noch – geborene Mordopfer, wie einer mal ganz schamlos gesagt hat, obwohl sie das natürlich nicht verdient hatten, und wahrscheinlich wurden ihnen nicht einmal die Fotos gerecht, den armen Dingern.»

Freddy fand, daß die Herzogin heute noch ärger schwafelte als sonst, und dabei wanderte ihr Blick mit einer Besorgnis, die ungewöhnlich an ihr wahr, immer wieder zu ihrem Sohn.

«Richtig prima, den alten Wimsey wieder in seinem Fahrwasser zu sehen, wie?» meinte er, nur um etwas Nettes zu sagen. «Ist doch wunderbar, wie er hinter so was her ist. Kaum ist er wieder daheim, schon stampft er los wie ein altes Schlachtroß, das Pulverdampf riecht. Er steckt schon wieder bis über beide Ohren drin.»

«Nun ja, es ist einer von Chefinspektor Parkers Fällen, und die beiden sind doch so gute Freunde, ganz wie David und Beerseba – oder meine ich Daniel?»

In diesem kniffligen Moment kam Wimsey zu ihnen und nahm den Arm seiner Mutter zärtlich unter den seinen.

«Tut mir schrecklich leid, daß ich dich habe warten lassen, Mater, aber ich mußte ein Wörtchen mit Biggy reden. Er hat einen denkbar schlechten Stand, und dieser alte Jeffreys von einem Richter macht ein Gesicht, als wenn er sich doch noch die schwarze Kappe anmessen lassen wollte. Ich geh nach Hause und verbrenne meine sämtlichen Bücher. Es ist gefährlich, allzuviel über Gifte zu wissen, nicht? Sei so keusch wie Eis, so rein wie Schnee, du wirst aber Old Bailey nicht entgehen.»

«Die junge Frau scheint dieses Rezept nicht ausprobiert zu haben», bemerkte Freddy.

«Du solltest auf der Geschworenenbank sitzen», gab Wimsey ungewohnt bissig zurück. «Ich wette, das sagen sie alle in dieser Sekunde auch. Dieser Vorsitzende ist garantiert Temperenzler – eben habe ich gesehen, wie man Ingwerbier ins Geschworenenzimmer gebracht hat; kann nur hoffen, daß das Zeug explodiert und ihm die Eingeweide durch die Schädeldecke jagt.»

«Schon gut, schon gut», versuchte Mr. Arbuthnot ihn zu beschwichtigen. «Was du brauchst, ist was zu trinken.»

2

Das Gerangel um Plätze flaute ab; die Geschworenen kehrten zurück; plötzlich war auch die Angeklagte wieder da, wie aus dem Kasten gezaubert; der Richter nahm wieder seinen Sitz ein. Von den roten Rosen waren ein paar Blütenblätter abgefallen. Die alte Stimme nahm den Faden wieder da auf, wo sie geendet hatte.

«Meine Damen und Herren Geschworenen – ich glaube, ich brauche Ihnen den Verlauf von Philip Boyes’ Krankheit nicht in allen Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen. Am 21. Juni wurde die Krankenschwester gerufen, und im Verlaufe dieses Tages besuchten die Ärzte den Patienten dreimal. Sein Zustand verschlimmerte sich stetig. Erbrechen und Durchfall waren so hartnäckig, daß er weder Speisen noch Medikamente bei sich behielt. Am Tage darauf, dem 22. Juni, wurde sein Zustand noch schlimmer – er hatte starke Schmerzen, sein Puls wurde schwächer, und um den Mund begann seine Haut auszutrocknen und sich abzuschälen. Die Ärzte bemühten sich sehr um ihn, aber sie konnten nichts für ihn tun. Sein Vater wurde gerufen, und als er kam, traf er seinen Sohn bei Bewußtsein an, aber außerstande, sich zu erheben. Er konnte jedoch sprechen, und in Gegenwart seines Vaters und Schwester Williams’ sagte er die Worte: ‹Es geht zu Ende mit mir, Vater, und ich bin froh, daß ich es hinter mir habe. Harriet ist mich jetzt los – ich wußte nicht, daß sie mich so sehr haßt.› Diese Worte geben zu denken, und es wurden uns zwei grundverschiedene Deutungen dafür angeboten. An Ihnen ist nun, es zu entscheiden, ob er Ihrer Ansicht nach gemeint hat: ‹Sie hat es endlich geschafft, mich loszuwerden; ich wußte nicht, daß ihr Haß so weit ging, mich zu vergiften›, oder ob er meinte: ‹Als ich erkannte, daß sie mich so sehr haßte, habe ich beschlossen, nicht länger am Leben zu bleiben› – oder ob er vielleicht keines von beiden gemeint hat. Wenn ein Mensch sehr krank ist, kommt er machmal auf die aberwitzigsten Ideen, und machmal redet er geradezu irre; vielleicht halten Sie es hier nicht für ratsam, allzu vieles als gegeben hinzunehmen. Trotzdem sind diese Worte Bestandteil der Beweisaufnahme, und es ist Ihr gutes Recht, sie in Betracht zu ziehen.

Während der Nacht wurde er zunehmend schwächer und verlor das Bewußtsein, und um drei Uhr morgens starb er, ohne es wiedererlangt zu haben. Das war am 23. Juni.

Nun war bis zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Verdacht aufgekommen. Dr. Grainger und Dr. Weare stimmten in der Ansicht überein, daß eine akute Gastritis die Todesursache gewesen sei, und wir brauchen ihnen diese Fehldiagnose nicht vorzuhalten, denn sie stand im Einklang sowohl mit den Symptomen der Krankheit als auch mit der vorherigen Krankengeschichte des Patienten. Die Todesurkunde wurde ganz normal ausgestellt, und am 28. fand die Beerdigung statt.

Dann aber geschah etwas, was in Fällen dieser Art häufig geschieht, nämlich daß jemand zu reden anfängt. In diesem speziellen Fall war es Schwester Williams, die redete, und wenn Sie wahrscheinlich auch der Meinung sind, daß dies von ihr als Krankenschwester falsch und indiskret war, so erwies es sich doch als gut, daß sie es tat. Natürlich hätte sie seinerzeit Dr. Weare oder Grainger ihren Verdacht mitteilen sollen, aber das hat sie nun einmal nicht getan, und wir können zumindest froh sein, daß nach Ansicht der Ärzte das Leben dieses unglücklichen Menschen auch dann nicht mehr zu retten gewesen wäre, wenn sie es ihnen gesagt hätte und sie daraufhin festgestellt hätten, daß die Krankheit eine Arsenvergiftung war. Es ergab sich jedenfalls, daß Schwester Williams in der letzten Juniwoche zu einem anderen Patienten von Dr. Weare geschickt wurde, der demselben literarischen Kreis in Bloomsbury angehörte wie Philip Boyes und Harriet Vane, und während sie diesen Patienten pflegte, erzählte sie von Philip Boyes und sagte, die Krankheit habe in ihren Augen sehr nach einer Vergiftung ausgesehen, ja, sie erwähnte sogar das Wort Arsen. Einer erzählte es dem andern, man sprach darüber beim Tee oder auf Cocktailparties, wie man so etwas meines Wissens nennt, und schon bald hatte die Geschichte sich verbreitet, es wurden Namen genannt, und man ergriff Partei. Miss Marriott und Miss Price erfuhren davon, und es kam auch Mr. Vaughan zu Ohren. Nun hatte Philip Boyes’ Tod Mr. Vaughan sehr überrascht und bestürzt, vor allem nachdem er doch mit ihm in Wales gewesen war und wußte, wie sehr sein Gesundheitszustand sich in diesem Urlaub gebessert hatte, und Mr. Vaughan hatte ja auch das starke Gefühl, daß Harriet Vane sich in der Liebesaffäre schlecht benommen habe. Er fand also, daß da etwas unternommen werden müsse, und ging zu Mr. Urquhart, um ihm die Geschichte zu unterbreiten. Nun ist Mr. Urquhart Rechtsanwalt und von Berufs wegen eher geneigt, Gerüchten und Verdächtigungen mit Vorsicht zu begegnen, weshalb der Mr. Vaughan ermahnte, daß es unklug sei, herumzulaufen und Vorwürfe gegen Leute zu erheben, denn das könne ihn leicht wegen übler Nachrede vor Gericht bringen. Gleichzeitig erfüllte es ihn natürlich mit Unbehagen, daß so etwas über einen Verwandten von ihm gesagt wurde, der in seinem Haus gestorben war. Er wählte den Weg – den sehr vernünftigen Weg –, Dr. Weare zu konsultieren, dem er den Rat gab, wenn er vollkommen sicher sei, daß die Krankheit eine Gastritis und nichts anderes gewesen sei, solle er Schwester Williams rügen und dem Gerede ein Ende machen. Dr. Weare war natürlich sehr erstaunt und betroffen, als er hörte, was da erzählt wurde, aber da der Verdacht nun einmal geäußert war, konnte er nicht leugnen, daß – unter Berücksichtigung der Symptome allein – eine derartige Möglichkeit nicht völlig auszuschließen war, zumal, wie Sie bereits im ärztlichen Gutachten gehört haben, die Symptome einer Arsenvergiftung und die einer akuten Gastritis kaum voneinander zu unterscheiden sind.

Als dies Mr. Vaughan mitgeteilt wurde, fühlte er sich in seinem Verdacht bestätigt und schrieb an Mr. Boyes senior, damit dieser der Sache nachgehe. Mr. Boyes war natürlich schockiert und sagte sofort, der Fall müsse untersucht werden. Er hatte von der Liaison mit Harriet Vane gewußt, und ihm war aufgefallen, daß sie sich gar nicht nach Philip Boyes erkundigt hatte und nicht einmal zur Beerdigung gekommen war, was ihm herzlos erschien. Am Ende wurde die Polizei eingeschaltet und eine Exhumierung verfügt.

Sie haben das Ergebnis der Analyse vernommen, die von Sir James Lubbock und Mr. Stephen Fordyce gemacht wurde. Es wurde hier sehr viel über Analysemethoden und das Verhalten von Arsen im Körper und so weiter diskutiert, aber ich glaube, mit diesen Details brauchen wir uns nicht allzusehr abzugeben. Die Hauptpunkte des Gutachtens scheinen mir folgende zu sein, die Sie sich, wenn Sie wollen, notieren mögen.

Die Analytiker entnahmen der Leiche bestimmte Organe – Magen, Därme, Nieren, Leber und so weiter –, analysierten Teile davon und stellten fest, daß sie alle Arsen enthielten. Sie konnten das in diesen verschiedenen Teilen gefundene Arsen wiegen und daraus die Menge berechnen, die sich im ganzen Körper befand. Dann mußten sie die Menge Arsen berücksichtigen, die bereits aus dem Körper ausgeschieden worden war, infolge Erbrechens und Durchfalls, und auch durch die Nieren, denn die Nieren spielen beim Abbau gerade dieses Giftes eine sehr große Rolle. Unter Berücksichtigung aller dieser Faktoren kamen sie zu dem Schluß, daß Philip Boyes etwa drei Tage vor seinem Tod eine große, tödliche Dosis Arsen – etwa ein viertel bis ein drittel Gramm – zu sich genommen hatte.

Ich weiß nicht, ob Sie allen technischen Argumenten in dieser Frage ganz folgen konnten. Ich will versuchen, Ihnen die wichtigsten Punkte so wiederzugeben, wie ich sie verstanden habe. Es liegt in der Natur des Arsens, daß es den Körper sehr schnell passiert, besonders wenn es während oder unmittelbar nach einer Mahlzeit eingenommen wird, da es die Schleimhäute der inneren Organe reizt und den Prozeß des Ausscheidens beschleunigt. Noch schneller ginge es, wenn das Arsen in flüssiger Form und nicht als Pulver eingenommen würde. Wird Arsen beim oder unmittelbar nach dem Essen genommen, so scheidet es der Körper binnen vierundzwanzig Stunden nach Beginn der Krankheit nahezu vollständig aus. Die bloße Tatsache, daß nach drei Tagen ständigen Durchfalls und Erbrechens überhaupt noch Arsen im Körper gefunden wurde, auch wenn die Menge Ihnen und mir noch so klein vorkommen mag, zeigt also, daß zum fraglichen Zeitpunkt eine große Dosis davon eingenommen worden sein muß.