Zur fraglichen Stunde - Dorothy L. Sayers - E-Book

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Dorothy L. Sayers

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Beschreibung

Das Zeugnis des Blutes Eigentlich müsste die Krimiautorin Harriet Vane mit den dunklen Seiten der Welt bestens vertraut sein – aber das schockiert sogar sie: Während des Urlaubs findet sie auf einem Felsen am Strand eine Leiche, die Kehle von einem Ohr bis zum anderen durchgeschnitten. Plötzlich steckt sie selbst mitten in einem Kriminalfall. Lord Peter Wimsey mischt sich in die Ermittlung ein, doch diese Geschichte gibt auch ihm Rätsel auf, denn es finden sich weder Fußspuren noch sonst irgendwelche Hinweise auf einen Mörder … War es Selbstmord? Oder das perfekte Verbrechen?

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Seitenzahl: 684

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Dorothy L. Sayers

Zur fraglichen Stunde

Kriminalroman

 

 

Aus dem Englischen von Otto Bayer

 

Über dieses Buch

Das Zeugnis des Blutes

 

Eigentlich müsste die Krimiautorin Harriet Vane mit den dunklen Seiten der Welt bestens vertraut sein – aber das schockiert sogar sie: Während des Urlaubs findet sie auf einem Felsen am Strand eine Leiche, die Kehle von einem Ohr bis zum anderen durchgeschnitten. Plötzlich steckt sie selbst mitten in einem Kriminalfall. Lord Peter Wimsey mischt sich in die Ermittlung ein, doch diese Geschichte gibt auch ihm Rätsel auf, denn es finden sich weder Fußspuren noch sonst irgendwelche Hinweise auf einen Mörder … War es Selbstmord? Oder das perfekte Verbrechen?

Vita

Dorothy L. Sayers, Jahrgang 1893, legte als eine der ersten Frauen an der Universität ihres Geburtsortes Oxford ihr Examen ab. Mit ihren mehr als zwanzig Detektivromanen schrieb sie Literaturgeschichte, sie gehört neben Agatha Christie und P. D. James zur Trias der großen englischen «Ladies of Crime». Schon in ihrem 1923 erschienenen Erstling «Ein Toter zu wenig» führte sie die Figur des eleganten, finanziell unabhängigen Lord Peter Wimsey ein, der aus moralischen Motiven Verbrechen aufklärt. Dieser äußerst scharfsinnige Amateurdetektiv avancierte zu einem der populärsten Krimihelden des zwanzigsten Jahrhunderts.

Bevor sie die Übersetzung von Dantes «Göttlicher Komödie» vollenden konnte, starb die Autorin 1957 in Witham/Essex.

 

«Sayers ist eine der besten Krimiautorinnen überhaupt.» (Daily Telegraph)

 

Otto Bayer (1937–2018) übersetzte zahlreiche Autoren und Autorinnen, u. a. Patricia Highsmith und Agatha Christie. Für seine Neuübersetzung der kompletten Werke von Dorothy L. Sayers wurde er mit dem Literaturpreis der Stadt Stuttgart geehrt, damit war er der erste Übersetzer, der auf dem Gebiet der Unterhaltungsliteratur einen Preis erhielt.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 1932 unter dem Titel «Have His Carcase».

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2016

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg,

nach dem Original von Hachette UK

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-22331-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Vorbemerkung

In Fünf falsche Fährten wurde die Handlung passend zu einer vorhandenen Landschaft erdacht; im vorliegenden Buch wurde die Landschaft nach den Bedürfnissen der Handlung gestaltet. Orte wie Personen sind frei erfunden.

Die Mottos über den Kapiteln sind alle von T.L. Beddoes.

Mein Dank gebührt Mr. John Rhode, der mir selbstlos beim Knacken der harten Nüsse geholfen hat.

 

Dorothy L. Sayers

1. Das Zeugnis des Leichnams

Der Pfad war schlüpfrig vom sprudelnden Blute.

Rodolph

DONNERSTAG, 18. JUNI

 

Die beste Arznei für ein wundes Herz ist nicht, wie so viele meinen, eine männlich breite Brust zum Anlehnen. Weit heilsamer sind ehrliche Arbeit, Bewegung oder unverhoffter Reichtum. Nach ihrem Freispruch von der Anklage des Mordes an ihrem Geliebten, eigentlich sogar infolge dieses Freispruchs, sah Harriet Vane sich überreichlich im Besitz aller drei dieser Mittel; und mochte Lord Peter Wimsey ihr auch in rührender Treue zur Tradition tagaus, tagein seine Brust zur Probe präsentieren, so zeigte sie doch keine Neigung, sich daran auszuruhen.

Arbeit hatte sie übergenug. Es ist für eine Autorin von Detektivgeschichten keine schlechte Reklame, einmal wegen Mordes vor Gericht gestanden zu haben. Harriet-Vane-Krimis standen hoch im Kurs. Sie hatte sowohl auf dem alten wie dem neuen Kontinent sensationelle Verträge abgeschlossen und war daher mit einem Schlag sehr viel reicher, als sie zu hoffen gewagt hätte. In einer Arbeitspause zwischen Mord auf Ratenund Das Geheimnis des Füllfederhalters hatte sie eine einsame Wandertour angetreten: viel Bewegung, keine Pflichten, keine nachgeschickte Post. Es war Juni, und das Wetter hätte nicht schöner sein können; und wenn sie hin und wieder daran dachte, wie Lord Peter Wimsey jetzt emsig an ihrer leeren Wohnung klingeln würde, ließ sie sich davon weder aus der Ruhe bringen noch in ihrem stetigen Kurs entlang der englischen Südwestküste im Geringsten beirren.

Am Morgen des 18. Juni brach sie von Lesston Hoe auf, um über die Steilküste nach dem sechzehn Meilen entfernten Wilvercombe zu wandern. Nicht, dass sie auf Wilvercombe mit seiner saisonbedingten Bevölkerung aus alten Damen und Invaliden und seinen bescheidenen, selbst ein wenig invalide und altdamenhaft wirkenden Vergnügungsangeboten besonders gespannt gewesen wäre. Aber die Stadt war ein bequemes Tagesziel, und zur Nacht konnte man sich ja immer noch weiter draußen auf dem Lande einquartieren. Die Straße folgte gemächlich dem oberen Rand einer niedrigen Steilküste, von wo man auf den lang gezogenen gelben Strand hinunterblickte, dessen Eintönigkeit von vereinzelten Felsen unterbrochen wurde, die, im Sonnenlicht blitzend, nach und nach aus der zögernd zurückweichenden Flut auftauchten.

Droben wölbte sich der Himmel zu einer riesenhaften Kuppel von reinem Blau, nur da und dort mit einem ganz leichten Muster von sehr hohen, wie hingehauchten weißen Wölkchen überzogen. Ein sanfter Wind wehte von Westen, allerdings wäre einem Wetterkundigen die Neigung zum Auffrischen darin vielleicht nicht entgangen. Die schmale, holprige Straße war nahezu leer, denn der gesamte lebhaftere Verkehr lief über die breite Hauptstraße, die sich ein gutes Stück weiter landeinwärts von Stadt zu Stadt zog und die Küste mit ihrem gewundenen Verlauf und ihren wenigen kleinen, verstreut gelegenen Ansiedlungen links liegen ließ. Da und dort kam Harriet an einem Viehhirten mit seinem Hund vorbei, Mensch und Tier gleichermaßen teilnahmslos und mit sich selbst beschäftigt; da und dort hoben ein paar weidende Pferde die Köpfe, um ihr aus scheuen, blöden Augen nachzublicken; da und dort wurde sie von dem lauten Keuchen einer Herde Kühe begrüßt, die ihre Kinnladen auf den Steinwällen rieben. Draußen auf dem Wasser unterbrach dann und wann das weiße Segel eines Fischerboots die Leere des Horizonts.

Abgesehen von vereinzelten Lieferwagen, einem klapprigen Morris und den in Abständen sich zeigenden Dampfwolken ferner Lokomotiven war die Gegend genauso ländlich-unberührt, wie sie es schon vor zweihundert Jahren gewesen sein mochte.

Harriet schritt kräftig aus; ihr leichter Rucksack behinderte sie kaum. Sie war 28 Jahre alt, dunkelhaarig und von grazilem Körperbau; von Natur aus hellhäutig, hatte sie jetzt unter dem Einfluss von Sonne und Wind eine ansprechende Karamelltönung angenommen. Menschen mit diesem glücklichen Teint werden weder von Mücken noch vom Sonnenbrand geplagt, und Harriet war zwar noch nicht so alt, dass sie auf ihr Aussehen keinen Wert mehr gelegt hätte, doch immerhin schon alt genug, um der Bequemlichkeit den Vorzug vor Äußerlichkeiten zu geben. Darum schleppte sie keine Hautcremes, Insektensalben, Seidenblusen, elektrischen Reisebügeleisen oder sonstigen Ballast mit sich, wie er in der Zeitung auf der «Seite für den Wanderer» so gern angepriesen wird. Sie trug praktische Kleidung – kurzen Rock und dünnen Pullover – und hatte in ihrem Rucksack außer Wäsche zum Wechseln und einem zweiten Paar Schuhe nicht viel mehr als eine Taschenbuchausgabe von Tristram Shandy, eine Taschenkamera, einen kleinen Verbandskasten und ein paar Butterbrote.

Etwa um Viertel vor eins begannen diese Butterbrote Harriets Gedanken immer stärker in Anspruch zu nehmen. Sie hatte erst ungefähr acht Meilen auf ihrer Wanderung nach Wilvercombe zurückgelegt, weil sie sich Zeit gelassen und dazu noch einen Umweg gemacht hatte, um einige Überreste aus der Römerzeit zu besichtigen, die laut Reiseführer «von besonderem Interesse» waren. Jetzt wurde sie langsam müde und hungrig und begann sich nach einem geeigneten Plätzchen für die Mittagsrast umzusehen.

Die Ebbe war fast auf dem niedrigsten Stand, und der feuchte Sand schimmerte golden und silbern im trägen Mittagslicht. Unten am Strand müsste es schön sein, dachte Harriet. Vielleicht könnte man sogar baden – obwohl sie sich da ihrer Sache nicht allzu sicher war, denn sie hatte eine gesunde Furcht vor unbekannten Stränden und unberechenbaren Strömungen. Es konnte jedoch nicht schaden, sich einmal an Ort und Stelle umzusehen. Sie stieg über das Mäuerchen hinweg, das die Straße auf der Seeseite begrenzte, und machte sich auf die Suche nach einer Abstiegsmöglichkeit. Auf einer kurzen Kletterpartie zwischen den mit Büscheln von Skabiosen und Strandnelken bestandenen Felsen hindurch gelangte sie ohne große Mühe zum Strand. Sie landete in einer kleinen Bucht hinter einem Felsvorsprung, angenehm windgeschützt, wo einige Gesteinsbrocken herumlagen, die ausgezeichnete Rückenlehnen boten. Sie suchte sich das bequemste Plätzchen aus, holte die Butterbrote und den Tristram Shandy aus dem Rucksack und machte es sich gemütlich.

Nichts wirkt so einschläfernd wie ein warmer, sonnenbeschienener Strand nach einer Mahlzeit; und Tristram Shandyist nicht gerade so tempogeladen, dass er die Lebensgeister mit Macht wach halten würde. Das Buch entglitt Harriets Fingern. Zweimal schreckte sie auf und fing es wieder; beim dritten Mal merkte sie nichts mehr davon. Den Kopf in höchst unvorteilhafter Stellung vornübergeneigt, döste sie ein.

Plötzlich erwachte sie von etwas wie einem Ruf oder Schrei, der aus unmittelbarer Nähe direkt in ihr Ohr zu dringen schien. Als sie sich blinzelnd hochrappelte, segelte kreischend eine Möwe dicht über ihren Kopf hinweg und schwebte dann über einem heruntergefallenen Butterbrotrest in der Luft. Harriet schüttelte sich, verärgert über sich selbst, und sah auf die Uhr. Es war zwei Uhr. Immerhin, vermerkte sie mit Genugtuung, allzu lange konnte sie nicht geschlafen haben. Sie stand auf und klopfte die Krümel von ihrem Rock. Auch jetzt noch verspürte sie keinen großen Tatendrang; schließlich blieb ihr reichlich Zeit, um vor Einbruch der Nacht in Wilvercombe zu sein. Sie sah zum Ufer hin, einem lang gezogenen Geröllgürtel, abgelöst von einem schmaleren Sandstreifen, der sich leuchtend und unberührt bis zum Wasser erstreckte.

Ein unberührter Sandstrand hat etwas an sich, was bei Kriminalschriftstellern die schlimmsten Instinkte weckt. Man fühlt den unwiderstehlichen Drang, überall Fußspuren zu hinterlassen. Der professionell geschulte Verstand entschuldigt das vor sich selbst mit der Begründung, dass dieser Sand eine großartige Gelegenheit zum Beobachten und Experimentieren biete. Auch Harriet kam nicht dagegen an. Sie beschloss, ihren Weg über diesen verlockenden Streifen Sand fortzusetzen. Also sammelte sie ihre Siebensachen ein und überquerte das Geröll, wobei sie, wie schon öfter, die Beobachtung machte, dass in dem trockenen Untergrund oberhalb der Hochwassermarke keine erkennbaren Abdrücke zurückblieben.

Bald verriet ein schmaler Streifen von Muschelscherben und halb vertrocknetem Seetang, dass die Hochwassermarke erreicht war.

«Ob ich hier wohl das ein oder andere über den Stand der Gezeiten ablesen kann?», sagte Harriet zu sich selbst. «Mal sehen. Bei Nippflut steigt und fällt das Wasser nicht so sehr wie bei Springflut. Wenn also heute Nippflut wäre, müssten hier zwei Streifen zu sehen sein, ein trockener oben von der letzten Springflut und ein feuchter weiter unten, der die heutige Tagesleistung anzeigt.» Sie blickte sich um. «Nein, es ist nur einer zu sehen. Daraus schließe ich, dass ich gerade bei höchster Springflut hier angekommen bin, falls das der richtige Ausdruck dafür ist. Ganz einfach, mein lieber Watson. Unterhalb der Hochwassermarke beginne ich jetzt, deutliche Fußspuren zu hinterlassen. Da ich keine anderen sehe, muss ich der einzige Mensch sein, der diesem Strand seit der letzten Flut die Ehre gibt, und die war vor etwa – aha! Da fängt’s an, schwierig zu werden. Ich weiß zwar, dass zwischen einer Flut und der nächsten etwa zwölf Stunden liegen, aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, ob das Wasser im Augenblick fällt oder steigt. Immerhin weiß ich, dass es die längste Zeit, während ich oben an der Küste entlangwanderte, zurückgewichen ist, und jetzt scheint es ganz schön weit weg zu sein. Wenn ich also sage, dass seit mindestens fünf Stunden keiner mehr hier war, dürfte ich damit nicht ganz verkehrt liegen. Ich hinterlasse jetzt sehr schöne Fußspuren, natürlich – der Sand wird immer nasser. Mal sehen, was herauskommt, wenn ich laufe.»

Sie hüpfte ein paar Schritte und sah, dass jetzt die Fußspitzen tiefer eingedrückt waren und sie mit jedem Schritt Sandbrocken hochgeworfen hatte. Dieser Energieausbruch hatte sie um den Ausläufer der Steilküste herum in eine viel größere Bucht geführt, deren einziges auffälliges Merkmal ein großer Felsbrocken war, der hinter der Felszunge dicht beim Wasser stand. Er war ungefähr dreieckig, ragte etwa drei Meter weit aus dem Wasser und schien von einem merkwürdig geformten Klumpen Seetang gekrönt zu sein.

Ein einsamer Felsbrocken hat immer etwas Anziehendes. Jeden rechtschaffenen Menschen überkommt der brennende Wunsch, hinaufzusteigen und sich darauf zu setzen. Harriet ging einfach auf den Felsen zu, ohne sich erst einen Grund dafür auszudenken, und versuchte unterwegs, noch ein paar Schlüsse zu ziehen.

«Ist der Felsen bei Hochwasser überflutet? Aber natürlich, sonst wäre ja kein Seetang drauf. Außerdem spricht das Gefälle des Strands dafür. Ich wollte, ich könnte Entfernungen und Winkel besser schätzen! Aber ich würde sagen, er gerät ziemlich tief unter Wasser. Komisch, dass der Seetang so in einem einzigen Klumpen darauf liegt. Man sollte ihn eher unten-herum erwarten, aber die Seiten scheinen fast bis zum Wasser hinunter völlig frei zu sein. Es ist doch Seetang? Komisch sieht er schon aus. Fast als ob da ein Mensch läge. Kann Seetang überhaupt so – na ja, so auf einem dicken Haufen liegen?»

Sie betrachtete den Felsen mit wachsender Neugier und redete die ganze Zeit laut mit sich selbst, was eine etwas irritierende Angewohnheit von ihr war.

«Hol mich der Kuckuck, wenn da nicht ein Mensch liegt! Aber eine blöde Stelle hat er sich ausgesucht. Er muss sich ja vorkommen wie ein Pfannkuchen auf der Herdplatte. Bei einem Sonnenanbeter könnte ich das ja verstehen, aber er scheint seine sämtlichen Kleider anzuhaben. Einen dunklen Anzug sogar. Ganz still liegt er da. Wahrscheinlich eingeschlafen. Wenn die Flut schnell hereinkommt, schneidet sie ihm den Weg ab – wie in diesen albernen Illustriertengeschichten. Na, jedenfalls werde ich ihn nicht retten. Er wird eben die Socken ausziehen und ein bisschen im Wasser herumpatschen müssen. Er hat ja auch noch ein Weilchen Zeit.»

Sie wusste nicht recht, ob sie weiter zu dem Felsen hinuntergehen sollte. Eigentlich mochte sie den Schläfer nicht wecken und sich in ein Gespräch verwickeln lassen. Gewiss war er zwar nur ein vollkommen harmloser Spaziergänger, aber ebenso gewiss war er auch vollkommen uninteressant. Dennoch ging sie grübelnd näher und übte sich derweil noch ein bisschen im Kombinieren.

«Er muss ein Tourist sein. Die Einheimischen halten ihre Siesta nicht auf einem harten Felsbrocken. Sie ziehen sich in ihre Häuser zurück und verrammeln alle Fenster. Und ein Fischer oder etwas Derartiges kann er auch nicht sein; die haben keine Zeit für Mittagsschläfchen. So was tun nur die Angehörigen der Stehkragenberufe. Sagen wir – ein Büro- oder Bankangestellter. Aber die gehen gewöhnlich mit der ganzen Familie in Urlaub, während der da ein Einzelgänger zu sein scheint. Ein Schulmeister? Kaum. Schulmeister werden erst gegen Ende Juli von der Kette gelassen. Aber vielleicht ein Student? Die Semesterferien haben gerade erst begonnen. Offenbar ein Herr ohne geregelte Beschäftigung. Möglicherweise ein Wanderer wie ich – aber dazu passt das Kostüm nicht.» Sie war inzwischen näher gekommen und konnte den dunkelblauen Anzug des Schläfers erkennen. «Also, ich kann ihn nirgends unterbringen, aber Dr. Thorndyke könnte es bestimmt sofort. Ach ja, natürlich – wie dumm von mir! Er muss ein Literat sein. Die ziehen gern herum und scheren sich nicht um ihre Familie.»

Sie war jetzt nur noch ein paar Meter von dem Felsen entfernt und sah zu dem Schläfer hinauf. Er lag in unbequemer Haltung am äußersten Rand auf der dem Meer zugekehrten Seite des Felsens, die Knie angezogen, sodass man seine blasslila Socken sah. Von dem zwischen die Schultern gezogenen Kopf war nichts zu sehen.

«Wie kann man in dieser Stellung nur schlafen!», sagte Harriet. «So schläft eine Katze, aber kein Mensch. Das ist unnatürlich. Sein Kopf muss fast über die Kante hängen. Er könnte einen Schlaganfall kriegen. Also, wenn ich Glück habe, ist es eine Leiche, und dann melde ich den Fund und komme in die Zeitung. Eine tolle Reklame. ‹Bekannte Kriminalschriftstellerin findet geheimnisvolle Leiche an einsamem Strand.› Aber so etwas passiert Schriftstellern nie. Leichen werden immer nur von friedlichen Arbeitern oder harmlosen Nachtwächtern gefunden …»

Der Felsen hatte die Form eines schräg liegenden riesengroßen Kuchenstücks, das mit dem breiten Ende steil ins Meer hinausragte, während die Oberseite zum Strand hin sanft abfiel, bis sie mit der Spitze im Sand verschwand. Harriet stieg über die glatte, trockene Fläche hinauf, bis sie fast direkt auf den Daliegenden hinunterblicken konnte. Er rührte sich nicht. Etwas drängte sie, ihn anzusprechen.

«He!», sagte sie vorwurfsvoll.

Keine Bewegung, keine Antwort.

«Mir wär’s ganz recht, wenn er nicht aufwachte», dachte sie. «Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich hier so herumschreie. He!»

«Vielleicht hat er einen Schlag bekommen oder ist in Ohnmacht gefallen», sagte sie zu sich. «Oder er hat einen Sonnenstich. Wäre sehr gut möglich. Heiß genug ist es.» Sie sah blinzelnd hinauf zum gleißenden Himmel, dann bückte sie sich und fühlte den Fels an. Fast hätte sie sich verbrannt. Noch einmal rief sie, dann beugte sie sich über den Mann und packte ihn bei den Schultern.

«Fehlt Ihnen etwas?»

Der Mann blieb stumm. Sie rüttelte leicht an seiner Schulter. Die Schulter rutschte ein wenig beiseite – wie eine leblose Masse. Harriet bückte sich tiefer und hob vorsichtig den Kopf des Mannes hoch.

Es war ihr Glückstag.

Es war eine Leiche. Und zwar eine solche, bei der auch nicht der geringste Zweifel mehr möglich war. Mr. Samuel Weare aus dem Lyons Inn, dem man «die Kehle von einem Ohr zum andern durchgeschnitten» hatte, hätte nicht toter sein können. Dass der Kopf sich unter Harriets Griff nicht ganz vom Rumpf gelöst hatte, lag nur daran, dass die Halswirbel noch heil waren; die Luftröhre und alle Adern waren glatt durchtrennt, «bis auf den Knochen», und ein grausiger Bach lief tief hellrot und glänzend über den Stein und tropfte weiter unterhalb in eine kleine Vertiefung.

Harriet legte den Kopf wieder hin, und plötzlich war ihr übel. Sie hatte solche Leichen oft in ihren Büchern beschrieben, aber so ein Ding wirklich und leibhaftig vor sich zu sehen war doch etwas anderes. Sie hatte sich niemals klargemacht, wie schlachthausmäßig ein durchschnittener Hals aussah, und sie war auch nicht auf diesen abscheulichen Blutgeruch gefasst gewesen, der ihr unter der sengenden Sonne in die Nase stieg. Ihre Hände waren rot und klebrig. Sie betrachtete ihre Kleidung. Gott sei Dank hatte sie nichts abbekommen. Mechanisch stieg sie wieder von dem Felsen hinunter und ging um ihn herum ans Wasser, wo sie sich mehrmals die Hände wusch, um sie danach mit alberner Gründlichkeit an ihrem Taschentuch abzutrocknen. Der Anblick des roten Rinnsals, das an dem Fels hinunter ins klare Wasser lief, war ihr unangenehm. Sie trat ein paar Schritte zurück und ließ sich ziemlich überstürzt auf einem Gesteinsbrocken nieder.

«Eine Leiche», sagte Harriet laut zur Sonne und zu den Möwen. «Eine Leiche. Wie – wie das passt!» Dann musste sie lachen.

«Das Wichtigste ist jetzt, Ruhe zu bewahren», hörte sie sich nach kurzer Pause sagen. «Nur nicht den Kopf verlieren, mein Kind. Was würde Lord Peter Wimsey in so einem Fall tun? Und natürlich auch Robert Templeton?»

Robert Templeton war der Held, der zwischen den Deckeln ihrer Bücher Bösewichter jagte. Sie verdrängte Lord Peter Wimsey aus ihren Gedanken und konzentrierte sich ganz auf Robert Templeton. Dieser war ein in den Naturwissenschaften ungemein bewanderter Herr, der zudem über erstaunliche Muskelkräfte verfügte. Er hatte Arme wie ein Orang-Utan und eine hässliche, aber anziehende Physiognomie. Dieses Phantomwesen mit seinen grell gemusterten Knickerbockern, die sie ihm stets anzuziehen pflegte, zauberte sie nun im Geiste herbei und ging mit ihm zu Rate.

Als Erstes, fand sie, würde Robert Templeton sich fragen: «Handelt es sich um Mord oder Selbstmord?» Die Möglichkeit eines Unfalls würde er wohl von vornherein ausschließen. Unfälle dieser Art gab es nicht. Robert Templeton würde die Leiche gewissenhaft untersuchen, und dann würde er verkünden –

Eben. Robert Templeton würde die Leiche untersuchen. Er war ja berühmt für die Kaltblütigkeit, mit der er auch noch die abstoßendsten Leichen untersuchte: aus dem Flugzeug gestürzte und zu einem knochenlosen Brei zermatschte Körper oder zu «unkenntlichen Klumpen» verkohlte Körper oder von schweren Lastwagen platt gewalzte Körper, die man mit der Schaufel von der Straße kratzen musste – Robert Templeton untersuchte sie alle, ohne mit der Wimper zu zucken. Harriet fand plötzlich, dass sie die unübertreffliche Nonchalance ihres literarischen Sprösslings noch nie richtig gewürdigt hatte.

Natürlich hätte jeder normale Mensch, der nicht gerade Robert Templeton hieß, die Finger von der Leiche gelassen und wäre zur Polizei gerannt. Aber hier gab es keine Polizei. Hier war weit und breit nicht Mann noch Frau noch Kind zu sehen, nur in einiger Entfernung draußen auf dem Meer ein kleines Fischerboot. Harriet winkte wie verrückt nach ihm, aber die Insassen sahen sie entweder nicht oder nahmen wohl an, dass sie hier so eine Art Schlankheitsgymnastik trieb. Wahrscheinlich versperrte das Segel überhaupt die Sicht zur Küste, denn das Boot lavierte gegen den Wind und lag ziemlich schief. Harriet rief, aber ihre Stimme ging im Kreischen der Möwen unter.

Während sie so dastand und sinnlos rief, fühlte sie etwas Nasses am Fuß. Kein Zweifel, die Flut hatte gewendet und kam jetzt ziemlich schnell herein. Schlagartig wurde ihr das bewusst, und ebenso schlagartig vermochte sie wieder klar zu denken.

Sie schätzte, dass es bis nach Wilvercombe, der nächsten größeren Ansiedlung, noch mindestens acht Meilen waren. Auf dem Weg dorthin würde sie vielleicht an ein paar vereinzelten Häusern vorbeikommen, aber dort wohnten wahrscheinlich Fischer, und die Wahrscheinlichkeit stand zehn zu eins, dass sie nur Frauen und Kinder darin antraf, die sie in dieser Notlage nicht brauchen konnte. Bis sie die Männer zusammengetrommelt und hierher an die Küste geführt hätte, stände das Wasser höchstwahrscheinlich schon über der Leiche. Ob es nun Selbstmord oder Mord war, jedenfalls musste die Leiche unbedingt untersucht werden, bevor alles von Wasser durchtränkt oder weggespült war. Sie gab sich einen scharfen Ruck und kehrte mutig zu dem Toten zurück.

Er war ein noch junger Mann und trug einen adretten Anzug aus dunkelblauem Köper, dazu schmale braune, etwas überelegante Schuhe, blasslila Socken und eine Krawatte, die ebenfalls blasslila gewesen war, bevor sie so schrecklich rot gefärbt wurde. Der Hut aus weichem grauem Filz war ihm heruntergefallen – nein, war abgenommen und auf den Felsen gelegt worden. Sie hob ihn auf und warf einen Blick ins Innere, konnte aber nichts anderes als den Namen des Herstellers darin entdecken. Es war eine bekannte – wenn auch nicht im besten Sinne bekannte – Hutmacherfirma.

Der Kopf, den dieser Hut geziert hatte, war von dichtem, lockigem dunklem Haar bedeckt, das eine Idee zu lang, aber gepflegt war und nach Pomade roch. Die Gesichtsfarbe des Toten war ihrer Ansicht nach von Natur aus blass und ohne jede Spur von Sonnenbräune. Die offenen, hässlich starrenden Augen waren blau. Der Mund war ebenfalls offen und zeigte zwei Reihen sehr gepflegter, sehr weißer Zähne. Das Gebiss hatte keine Lücken, aber sie sah, dass einer der Backenzähne eine Krone hatte. Sie versuchte, das ungefähre Alter des Mannes zu schätzen. Das war nicht leicht, denn er trug – ungewöhnlicherweise – einen kurzen dunklen, ordentlich gestutzten Vollbart. Abgesehen von dem fremdländischen Aussehen, das dieser ihm gab, machte er ihn auch älter, aber trotzdem hatte Harriet den Eindruck, es müsse sich um einen sehr jungen Mann handeln. Etwas Unreifes um Nase und Augen herum ließ ihn nicht viel älter als zwanzig wirken.

Harriet wandte sich vom Gesicht den Händen zu, und dabei blühte ihr die nächste Überraschung. Robert Templetons ungeachtet, hatte sie es als selbstverständlich angesehen, dass der elegant gekleidete junge Mann an diesen wenig zu ihm passenden, einsamen Ort gekommen war, um Selbstmord zu begehen. Dann war es aber doch recht sonderbar, dass er Handschuhe trug. Er hatte zusammengekrümmt dagelegen, die Arme unterm Körper, und die Handschuhe waren blutgetränkt. Harriet wollte ihm einen von der Hand ziehen, aber wieder wurde sie von Übelkeit überkommen. Sie sah, dass es locker sitzende, gelbbraune Lederhandschuhe von guter Qualität waren, passend zur übrigen Gewandung.

Selbstmord – mit Handschuhen an? Warum war sie überhaupt so sicher gewesen, dass es Selbstmord war? Das musste doch einen Grund haben.

Aber ja, natürlich. Wenn es kein Selbstmord war, wo war dann der Mörder geblieben? Sie wusste, dass er nicht aus Richtung Lesston Hoe am Strand entlanggekommen sein konnte, denn sie erinnerte sich genau an den glänzenden, unberührten Sandstreifen. Von der Steilküste führte nur ihre eigene Spur hierher. Aus Richtung Wilvercombe war der Sand wieder unberührt, bis auf eine einzige Fußspur – die des Toten vermutlich.

Der Mann war demnach allein an den Strand heruntergekommen. Sofern ein Mörder nicht vom Meer her gekommen war, musste er auch noch allein gewesen sein, als er starb. Wie lange war er schon tot? Die Flut hatte erst vor kurzem gewendet, und der Sand wies keinen Abdruck von einem Bootskiel auf. Von der Seeseite her hätte bestimmt niemand diesen Felsen erklettern können. Vor wie langer Zeit war der Wasserstand so hoch gewesen, dass man mit einem Boot nah genug an die Leiche herankam?

Harriet wünschte, sie hätte sich mit den Gezeiten besser ausgekannt. Wenn Robert Templeton im Laufe seiner glänzenden Karriere je einen Fall hätte lösen müssen, der am Meer spielte, hätte sie sich die erforderlichen Informationen beschaffen müssen. Aber sie war solchen Meeres- und Küstenproblemen immer ausgewichen, eben weil sie diese Arbeit scheute. Zweifellos wusste der vorbildliche Robert Templeton alles, was es da zu wissen gab, aber leider blieb dieses Wissen fest hinter seiner Denkerstirn verborgen. Also dann – wie lange war dieser Mann jetzt schon tot?

Auch das hätte Robert Templeton natürlich gewusst, denn er hatte unter anderem auch Medizin studiert, und außerdem ging er nie ohne Fieberthermometer und sonstige Hilfsmittel aus, mit denen man Frische oder Nichtfrische einer Leiche einwandfrei feststellen konnte. Aber Harriet hatte weder ein Thermometer bei sich, noch hätte sie, wenn sie eins gehabt hätte, gewusst, wie sie es zu dem angestrebten Zweck hätte verwenden sollen. Robert Templeton pflegte leichten Sinnes zu sagen: «Anhand des Stadiums der Leichenstarre und der Körpertemperatur würde ich die Todeszeit auf soundso viel Uhr festsetzen», ohne auf unwichtige Einzelheiten wie Gradangaben über die gemessene Temperatur näher einzugehen. Von Leichenstarre war hier nichts zu merken – natürlich nicht, denn (so viel wusste Harriet immerhin) sie setzt gewöhnlich erst vier bis zehn Stunden nach dem Tod ein. Der blaue Anzug und die braunen Schuhe waren allem Anschein nach nicht mit Meerwasser in Berührung gekommen; der Hut lag noch auf dem Felsen. Vor vier Stunden mussten dieser Felsen und der Sand, wo die Fußabdrücke zu sehen waren, unter Wasser gestanden haben. Die Tragödie hatte sich also später ereignet. Sie legte die Hand auf die Leiche. Die kam ihr ziemlich warm vor. Aber an so einem sengend heißen Tag war alles warm. Hinten und oben fühlte der Kopf sich fast so heiß an wie der Felsen. Die nach unten gekehrte Seite war kühler, da sie im Schatten lag, jedoch nicht kühler als ihre Hände, die sie eben im Meer gewaschen hatte.

Halt – es gab noch etwas, woran sie sich halten konnte. Die Waffe. Keine Waffe, kein Selbstmord – das war ein unumstößliches Gesetz. In den Händen war nichts – keine im «Todesgriff» umklammerte Waffe, die dem Detektiv so oft die Wahrheit verriet. Der Mann war vornübergefallen – einen Arm zwischen Körper und Felsen, den andern, den rechten, über der Felskante, gleich unter seinem Gesicht. Und unter dieser Hand lief auch das Blut so abstoßend hässlich ins Wasser hinunter und färbte es rot. Wenn hier irgendwo eine Waffe war, dann lag sie da unten. Harriet zog Schuhe und Strümpfe aus, krempelte einen Ärmel bis zum Ellbogen hoch und tastete vorsichtig in dem am Fuß des Felsens etwa einen halben Meter tiefen Wasser herum. Sie setzte die Füße behutsam auf, um nicht etwa in eine Messerklinge zu treten, und das war gut so, denn bald erfühlte ihre Hand etwas Hartes, Scharfes. Es kostete sie einen kleinen Schnitt am Finger, das geöffnete, schon halb im Sand vergrabene Rasiermesser hervorzuziehen.

Da war also die Waffe; demnach schien es doch ein Selbstmord zu sein. Harriet hielt das Rasiermesser in der Hand und fragte sich, ob sie auf der nassen Oberfläche Fingerabdrücke hinterließ. Natürlich hatte der Selbstmörder keine hinterlassen, denn er trug ja Handschuhe. Aber noch einmal: Wozu diese Vorsichtsmaßnahme? Dass man zu einem Mord Handschuhe trägt, ist ja verständlich, aber wozu bei einem Selbstmord? Harriet stellte dieses Problem vorläufig zurück und wickelte das Messer in ihr Taschentuch.

Die Flut stieg unaufhaltsam. Was konnte sie sonst noch tun? Sollte sie die Anzugtaschen durchsuchen? Sie hatte nicht die Kraft eines Robert Templeton, um die Leiche bis hinter die Hochwassermarke zu schleppen. Eigentlich war das Durchsuchen ja auch die Sache der Polizei, wenn sie den Leichnam holte, aber möglicherweise hatte der Mann Papiere bei sich, die vom Wasser unleserlich gemacht würden. Sie befühlte vorsichtig die Jackentaschen, aber anscheinend hatte der Tote zu viel Wert auf den Sitz seines Anzugs gelegt, um allzu viel darin herumzutragen. Sie fand nur ein seidenes Taschentuch mit Wäschereizeichen und ein dünnes, goldenes Zigarettenetui in der rechten Tasche; die andere war leer. Die äußere Brusttasche enthielt ein blasslila seidenes Taschentuch, das wohl mehr zur Zierde als zum Gebrauch bestimmt war; die Gesäßtasche war leer. An die Hosentasche wäre sie nicht herangekommen, ohne den Toten hochzuheben, was sie aus verschiedenerlei Gründen nicht tun mochte. Natürlich war für Papiere die innere Brusttasche da, aber Harriet brachte es nicht über sich, dorthin zu fassen. Diese Stelle schien nämlich den vollen Blutstrahl aus dem Hals abbekommen zu haben. Vor sich selbst entschuldigte Harriet sich damit, dass alle in dieser Tasche etwa vorhandenen Papiere ohnehin schon unleserlich sein würden. Eine feige Ausrede, mag sein – aber so war es nun mal. Sie konnte sich nicht überwinden hineinzufassen.

Sie verstaute das Taschentuch und das Zigarettenetui und sah sich noch einmal um. Meer und Sand waren so verlassen wie zuvor. Immer noch strahlte die Sonne, aber draußen auf See begannen sich dicke Wolken am Horizont aufzutürmen. Der Wind hatte inzwischen nach Südwesten gedreht und wurde mit jeder Sekunde stärker. Es sah so aus, als sollte das schöne Wetter nicht mehr lange dauern.

Sie musste sich noch die Fußabdrücke des Toten ansehen, bevor die Flut sie auslöschte. Da fiel ihr plötzlich ein, dass sie ja eine Kamera bei sich hatte. Sie war zwar nur klein, hatte aber immerhin eine Entfernungseinstellung, mit der man bis zu einem Meter achtzig an das Objekt herangehen konnte. Harriet nahm die Kamera aus dem Rucksack und machte ein paar Aufnahmen vom Felsen und der Leiche aus verschiedenen Winkeln. Der Kopf des Toten lag noch so, wie er gefallen war, nachdem sie ihn losgelassen hatte – ein wenig zur Seite geneigt, sodass man gerade noch die Gesichtszüge aufs Bild bekommen konnte. Sie stellte die Kamera auf die kürzestmögliche Entfernung ein und knipste das Gesicht. Jetzt hatte sie noch vier Bilder auf dem Film. Mit einem schoss sie eine Totalaufnahme von der Küste, mit der Leiche im Vordergrund, wofür sie ein paar Schritte vom Felsen zurücktrat. Mit dem zweiten nahm sie die Fußspur auf, die von dem Felsen quer über den Sand in Richtung Wilvercombe verlief. Und als Drittes machte sie eine Nahaufnahme von einem der Fußabdrücke, wofür sie die Kamera hoch über den Kopf hielt und so gerade wie möglich nach unten richtete.

Sie sah auf die Uhr. Für das alles hatte sie zwanzig Minuten gebraucht, gerechnet von dem Zeitpunkt an, als sie die Leiche zuerst erblickt hatte. Sie fand, wenn sie schon einmal dabei war, könne sie sich auch gleich noch vergewissern, ob die Fußabdrücke überhaupt zu dem Toten gehörten. Sie zog ihm also einen Schuh ab und stellte dabei fest, dass an den Sohlen zwar Spuren von Sand, am Oberleder aber keinerlei Meerwasserflecken waren. Sie stellte den Schuh in einen der Abdrücke und sah, dass beide haargenau zueinander passten. Da sie keine Lust hatte, den Schuh wieder über den Fuß zu ziehen, nahm sie ihn mit, und als sie wieder den Geröllstreifen erreichte, blieb sie kurz stehen, um von der Landseite her noch einen Blick auf den Felsen zu werfen.

Der Himmel bewölkte sich tatsächlich, und der Wind frischte auf. Jenseits des Felsens sah sie einen Streifen kleiner Wirbel und Strudel, von denen hin und wieder eine Gischtfontäne aufspritzte, als brächen die Wellen sich dort an verborgenen Felsen. Überall trugen die Wellen Schaumkronen, und stumpfgelbe Schlieren reflektierten die weiter draußen über dem Meer sich zusammenbrauenden Wolken. Das Fischerboot war schon fast außer Sichtweite. Es fuhr in Richtung Wilvercombe.

Nicht ganz sicher, ob sie richtig gehandelt hatte, packte Harriet ihre Sachen zusammen – einschließlich Schuh, Hut, Rasiermesser, Zigarettenetui und Taschentuch – und kletterte wieder hinauf zur Straße. Es war jetzt kurz nach halb drei.

2. Das Zeugnis der Chaussee

Drinnen ist niemand,

Nur das Kind und sein vergessner Ahn,

Die zu des Lebens beiden Seiten liegen:

Nah dem Grabe oder Mutterschoß.

The Second Brother

DONNERSTAG, 18. JUNI

 

Als Harriet wieder die Straße erreichte, erschien ihr diese noch so leer und verlassen wie zuvor. Sie schlug die Richtung nach Wilvercombe ein und schritt kräftig aus. Am liebsten wäre sie gerannt, aber sie wusste, dass es nichts einbrachte, wenn sie ihre Kräfte verausgabte. Nach ungefähr einer Meile erblickte sie zu ihrer Freude eine Weggefährtin: ein etwa siebzehnjähriges Mädchen, das ein paar Kühe vor sich hertrieb. Sie hielt das Mädchen an und erkundigte sich nach dem Weg zum nächsten Haus.

Das Mädchen sah sie groß an. Harriet wiederholte ihre Frage.

Die Antwort kam in einem so derben Devonshire-Akzent, dass Harriet wenig damit anfangen konnte, aber mit der Zeit hörte sie doch heraus, dass «Will Coffins Hof, auf Brennerton zu» die nächste menschliche Behausung sei, die man erreiche, indem man einem gewundenen Pfad nach rechts folgte.

«Wie weit ist das?», fragte Harriet.

Das Mädchen meinte, es sei ein gutes Stück, mochte sich aber auf Meter oder Meilen nicht festlegen.

«Na, dann werde ich’s dort mal versuchen», sagte Harriet. «Und wenn du unterwegs jemanden triffst, sag ihm bitte, dass etwa eine Meile von hier ein Toter am Strand liegt und die Polizei verständigt werden muss.»

Das Mädchen starrte sie verständnislos an.

Harriet wiederholte ihren Auftrag und fragte: «Hast du verstanden?»

«Ja, Miss», sagte das Mädchen in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass es kein Wort verstanden hatte.

Während Harriet den angegebenen Weg entlangeilte, sah sie, wie ihr das Mädchen immer noch nachstarrte.

Will Coffins Hof entpuppte sich als ein kleines Anwesen. Harriet hatte zwanzig Minuten gebraucht, um es zu erreichen, und nun schien das Haus auch noch verlassen zu sein. Sie klopfte ergebnislos an die Tür. Sie drückte die Tür auf und rief, noch immer ergebnislos. Endlich ging sie hinters Haus.

Nachdem sie dort noch ein paarmal gerufen hatte, erschien aus einem Nebengebäude eine Frau mit einer Schürze um und sah sie mit großen Augen an.

«Sind die Männer hier?», fragte Harriet.

Die Frau antwortete, die Männer seien alle auf der Neunmorgenwiese, um das Heu einzufahren.

Harriet erklärte, am Strand liege ein Toter und das müsse der Polizei gemeldet werden.

«Das ist ja schrecklich!», meinte die Frau. «Es wird doch nicht Joe Smith sein? Der war heute früh mit dem Boot draußen, und die Klippen sind so gefährlich. ‹Die Mahlzähne› sagen wir dazu.»

«Nein», sagte Harriet, «es ist kein Fischer – sieht eher aus wie einer aus der Stadt. Und ertrunken ist er auch nicht. Seine Kehle ist durchgeschnitten.»

«Kehle durchgeschnitten?», wiederholte die Frau genüsslich. «Na, so was! Das ist ja ganz entsetzlich!»

«Ich möchte die Polizei benachrichtigen», sagte Harriet, «bevor die Flut kommt und der Felsen mit der Leiche unter Wasser steht.»

«Die Polizei?» Die Frau ließ sich das durch den Kopf gehen. «O ja», meinte sie nach reiflicher Überlegung. «Das müsste man schon der Polizei sagen.»

Harriet fragte, ob man nicht einen von den Männern holen und mit einer Nachricht wegschicken könne. Die Frau schüttelte den Kopf. Die Männer seien im Heu, und das Wetter scheine umzuschlagen. Sie glaube nicht, dass sie da jemanden entbehren könnten.

«Telefon haben Sie wohl keins?»

Nein, Telefon hätten sie nicht, aber Mr. Carey auf dem Roten Hof, der habe Telefon. Und um zum Roten Hof zu kommen, fügte die Frau auf Befragen hinzu, müsse man zur Straße zurückkehren und die nächste Abzweigung nehmen, und dann sei es noch eine Meile, vielleicht auch zwei.

Ob sie einen Wagen hätten, den Harriet ausleihen könne?

Die Frau bedauerte, aber einen Wagen hätten sie nicht. Vielmehr, sie hätten zwar einen, aber damit sei die Tochter nach Heathbury zum Markt gefahren und werde erst spät zurückkommen.

«Dann muss ich es wohl mal beim Roten Hof versuchen», sagte Harriet müde. «Aber wenn Sie jemanden sehen, den Sie mit einer Nachricht wegschicken können, würden Sie ihm bitte sagen, dass bei den Mahlzähnen ein Toter am Strand liegt und die Polizei verständigt werden muss?»

«O ja, das sag ich», versicherte die Frau strahlend. «Also, ist das nicht schrecklich? Das müsste man wirklich der Polizei sagen. Aber Sie sehen arg müde aus, Miss; möchten Sie nicht ein Tässchen Tee?»

Harriet lehnte dankend ab und sagte, sie müsse weiter. Als sie zum Tor hinausging, rief die Frau ihr etwas nach. Harriet drehte sich hoffnungsvoll um.

«Haben Sie ihn da gefunden, Miss?»

«Ja.»

«Wie er tot dalag?»

«Ja.»

«Mit der Kehle durchgeschnitten?»

«Ja.»

«Ach je», meinte die Frau. «Das ist ja furchtbar, wirklich.»

Zur Straße zurückgekommen, zögerte Harriet. Sie hatte durch diesen Abstecher schon viel Zeit verloren. War es nun besser, noch einmal die Straße zu verlassen und den Roten Hof zu suchen oder auf der Straße zu bleiben, wo sie eher jemandem begegnen konnte? Während sie noch überlegte, kam sie an die Abzweigung. Auf einem Acker in der Nähe hackte ein alter Mann Rüben. Sie rief ihn an.

«Geht es hier zum Roten Hof?»

Der Mann beachtete sie nicht und hackte weiter.

«Er muss taub sein», sagte Harriet zu sich selbst und rief noch einmal. Der Mann hackte unbeirrt weiter. Gerade wollte sie sich nach dem Gatter umsehen, das auf den Acker führte, als der alte Mann innehielt, um den Rücken zu strecken und sich in die Hände zu spucken, und dabei bekam er sie ins Blickfeld.

Harriet winkte ihm, und er kam, auf die Hacke gestützt, langsam auf den Steinwall zu.

«Geht es hier zum Roten Hof?» Sie zeigte den Weg hinauf.

«Nein», sagte der Alte, «der ist nicht zu Hause.»

«Hat er ein Telefon?», fragte Harriet.

«Nicht vor heute Abend», entgegnete der Alte. «Er ist nach Heathbury zum Markt.»

«Ein Telefon», wiederholte Harriet. «Hat er ein Telefon?»

«Ja», meinte der Alte, «die werden Sie da schon irgendwie antreffen.» Während Harriet noch überlegte, ob Telefone in dieser Gegend vielleicht weiblichen Geschlechts waren, machte er ihre Hoffnungen zunichte, indem er hinzufügte: «Sie hat wieder so ’n schlimmes Bein.»

«Wie weit ist es bis zum Hof?», schrie Harriet verzweifelt.

«Würde mich nicht wundern», sagte der Alte, stützte sich auf die Hacke und nahm den Hut ab, um den Wind an seinen Kopf zu lassen. «Ich hab ihr erst Samstagabend gesagt, sie soll das lassen.»

Harriet beugte sich über den Wall, bis ihr Mund nur noch zwei Zentimeter von seinem Ohr entfernt war.

«Wie weit ist es?», brüllte sie.

«Sie brauchen nicht so zu schreien», sagte der alte Mann. «Ich bin doch nicht taub. Zu Michaeli werd ich zweiundachtzig, und noch kerngesund, dem Herrn sei Dank.»

«Wie weit –», begann Harriet.

«Ich sag’s Ihnen ja schon, oder? Anderthalb Meilen auf dem Weg, aber wenn Sie über die Wiese abkürzen, wo der alte Stier steht –»

Ein Auto kam die Straße entlanggebraust und verschwand in der Ferne.

«So ein Mist!», schimpfte Harriet. «Den hätte ich anhalten können, wenn ich hier nicht meine Zeit bei diesem alten Idioten …»

«Da haben Sie ganz recht, Miss», stimmte der Alte Vater Franz, der mit der Unberechenbarkeit der Tauben das letzte Wort mitbekommen hatte, ihr zu. «Idioten sind das, sag ich. Was soll das, in so einem Tempo durch die Gegend zu rasen? Der Verehrer von meiner Nichte –»

Der Anblick des Autos hatte Harriet die Entscheidung abgenommen. Sie hielt sich besser an die Straße. Wenn sie erst anfing, in der Gegend umherzuirren, nur um eventuell irgendwo ein Haus mit einem hypothetischen Telefon zu finden, konnte sie bis zum Abendessen umherlaufen. Sie schnitt dem Alten Vater Franz kurzerhand die Rede ab und machte sich wieder auf den Weg. Nach einer staubigen halben Meile war sie noch immer keiner Menschenseele begegnet.

Es ist schon komisch, dachte sie. Im Laufe des Vormittags hatte sie einige Leute und eine (vergleichsweise) beträchtliche Zahl Lieferwagen gesehen. Wo waren die alle geblieben? Robert Templeton (vielleicht sogar Lord Peter Wimsey, der auf dem Land groß geworden war) hätte dieses Rätsel gleich gelöst. Heute war Markt in Heathbury und vorgezogener Ladenschluss in Wilvercombe und Lesston Hoe – zwei Phänomene, die durchaus miteinander zusammenhingen, damit nämlich die Bewohner der beiden Küstenorte die Möglichkeit hatten, dem wichtigen Ereignis in dem Marktflecken beizuwohnen. Aus diesem Grunde waren keine Händler mehr auf Lieferfahrt entlang der Küstenstraße. Und aus demselben Grunde waren auch alle Autos aus der Gegend jetzt weit im Inland. Was an Einheimischen noch hier war, arbeitete im Heu. Auf einer Wiese traf sie sogar einen Mann mit einem Jungen und einer von zwei Pferden gezogenen Mähmaschine an, aber beide sahen sie nur entsetzt an ob der Zumutung, Arbeit und Pferde stehen zu lassen und die Polizei zu suchen. Der Bauer selbst war (natürlich) auf dem Markt in Heathbury. Harriet hinterließ (ohne große Hoffnung) eine Nachricht für ihn und stapfte weiter.

Bald darauf kam dann eine Gestalt in Sicht, von der sie sich schon etwas mehr versprach: ein Mann in kurzer Hose mit einem Rucksack auf dem Rücken – ein Wanderer wie sie. Sie rief ihm gebieterisch zu.

«Hören Sie, können Sie mir sagen, wo ich hier jemanden mit einem Auto oder ein Telefon finde? Es ist furchtbar wichtig.»

Der Mann, ein spindeldürres Kerlchen mit rötlichem Haar, gewölbter Stirn und starker Brille, sah sie hilflos an.

«Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich bin hier nämlich selbst fremd.»

«Gut, aber könnten Sie –?», begann Harriet, dann stockte sie. Was konnte er schließlich tun? Er saß im selben Boot wie sie. In einem törichten Rückfall in viktorianische Denkweisen hatte sie sich irgendwie eingebildet, ein Mann werde sich energischer und findiger zeigen, aber er war schließlich auch nur ein Mensch mit den üblichen zwei Beinen und einem Kopf.

«Sehen Sie», erklärte sie, «dort liegt nämlich ein Toter am Strand.» Sie zeigte auf eine unbestimmte Stelle hinter sich.

«Nein, wirklich?», rief der junge Mann. «Hören Sie mal, das ist aber doch ein starkes Stück, wie? Ist es ein – Freund von Ihnen?»

«Das nun gerade nicht», entgegnete Harriet. «Ich kenne ihn überhaupt nicht. Aber die Polizei müsste verständigt werden.»

«Die Polizei? Ach ja, natürlich, die Polizei. Na ja, in Wilvercombe finden Sie welche. Da gibt’s eine Polizeistation.»

«Das weiß ich», sagte Harriet, «aber der Tote liegt weit unten bei der Niedrigwassermarke, und wenn ich nicht ganz schnell jemanden hinschicken kann, spült die Flut ihn fort. Wahrscheinlich ist er jetzt sogar schon weg. Mein Gott! Es ist ja gleich vier!»

«Die Flut? Ach ja. Doch, das kann schon sein. Falls» – ihm schien ein genialer Gedanke zu kommen –, «falls jetzt Flut ist. Es könnte doch auch gerade Ebbe sein, oder?»

«Könnte schon, ist aber nicht», sagte Harriet unwirsch. «Seit zwei Uhr kommt die Flut. Haben Sie das nicht gemerkt?»

«Hmm, also nein, nicht dass ich wüsste. Ich bin nämlich kurzsichtig. Und außerdem verstehe ich nichts davon. Ich lebe in London. Und leider weiß ich auch nicht, was man da machen kann. Hier in der Nähe gibt es wohl keine Polizei, oder?»

Er schaute in die Runde, als erwartete er irgendwo in der Umgebung einen Konstabler auf dem Streifengang zu sehen.

«Sind Sie in letzter Zeit an irgendwelchen Häusern vorbeigekommen?», fragte Harriet.

«Häusern? O ja – ich glaube, ein Stückchen weiter hinten habe ich ein paar kleine Häuser gesehen. Doch, ich bin sicher. Da treffen Sie bestimmt Leute.»

«Dann versuche ich’s dort. Und wenn Ihnen jemand begegnet, könnten Sie ihm bitte sagen, dass am Strand ein Mann liegt – mit durchgeschnittener Kehle.»

«Mit durchgeschnittener Kehle?»

«Ja. Nicht weit von den Klippen, die man hier Mahlzähne nennt.»

«Wer hat ihm die Kehle durchgeschnitten?»

«Woher soll ich das wissen? Ich nehme an, er war es selbst.»

«Ach ja, natürlich. Sonst wär’s ja Mord, nicht wahr?»

«Na ja, es kann natürlich auch ein Mord gewesen sein.»

Der Wanderer umklammerte nervös seinen Stock.

«Oh! Das möchte ich aber lieber nicht annehmen. Sie etwa?»

«Man kann nie wissen», sagte Harriet außer sich. «An Ihrer Stelle würde ich mich jetzt beeilen. Der Mörder könnte nämlich noch irgendwo in der Gegend sein.»

«Großer Gott!», sagte der junge Mann aus London. «Aber das wäre ja schrecklich gefährlich.»

«Ja, nicht? Ich gehe jetzt jedenfalls weiter. Und nicht vergessen: ein Mann mit durchgeschnittener Kehle in der Nähe der Mahlzähne.»

«Mahlzähne, ja. Ich werd’s mir merken. Ach, wissen Sie –»

«Ja?»

«Meinen Sie nicht, ich sollte lieber mit Ihnen kommen? Um Sie zu beschützen, meine ich, und so …»

Harriet musste lachen. Sie war sicher, dass der junge Mann nur keine große Lust hatte, an den Mahlzähnen vorbeizugehen.

«Wie Sie wollen», meinte sie gelassen, während sie schon weiterging.

«Ich könnte Ihnen auch die Häuser zeigen», gab der junge Mann zu verstehen.

«Na gut», sagte Harriet. «Kommen Sie mit. Wir müssen uns beeilen.»

Nach einer Viertelstunde erreichten sie die Häuser – zwei niedrige, strohgedeckte Katen rechts von der Straße. Davor war eine hohe Hecke gepflanzt, die sie vor den Meeresböen schützte, zugleich aber auch jede Sicht auf die Küste versperrte. Gegenüber führte ein von niedrigen Steinwällen eingefasster schmaler Weg zum Strand hinunter. Für Harriet waren die Häuser eine Enttäuschung. Sie waren bewohnt von einer sehr alten Frau, zwei jüngeren Frauen und ein paar kleinen Kindern, die Männer aber waren alle zum Fischen draußen. Sie würden heute lange draußen bleiben, aber mit der Abendflut würden sie wohl wiederkommen. Harriets Geschichte stieß auf schmeichelhaft großes Interesse, und die Frauen versprachen, sie ihren Männern zu erzählen, wenn sie wiederkämen. Sie boten ihr auch eine Erfrischung an, und diesmal nahm Harriet an. Sie war ziemlich sicher, dass die Leiche inzwischen von der Flut bedeckt sein würde, sodass eine halbe Stunde mehr oder weniger auch nichts mehr ausmachte. Die Aufregung hatte sie ermüdet. Dankbar trank sie den Tee.

Dann nahmen die Reisegefährten ihre Wanderschaft wieder auf, wobei der Herr aus London, dessen Name Perkins war, ständig über Blasen an den Füßen klagte. Harriet beachtete ihn nicht. Hier musste doch jetzt bald mal irgendwer vorbeikommen.

Das Einzige, was kam, war eine schnelle Limousine, die sie eine halbe Meile später überholte. Der stolze Chauffeur sah in den beiden winkenden Wanderern nur ein staubiges Anhalterpärchen und trat entschlossen aufs Gaspedal.

«Gemeiner Kerl!», schimpfte Mr. Perkins und blieb stehen, um sich die wunde Ferse zu reiben.

«Limousinen mit Chauffeuren taugen nie was», sagte Harriet. «Wir brauchen einen Lastwagen oder einen sieben Jahre alten Ford. Oh, sehen Sie mal! Was ist denn das?»

«Das» war ein Schrankenpaar quer über der Straße und ein kleines Häuschen daneben.

«Ein Bahnübergang, na so ein Glück!» Harriet fasste neuen Mut. «Da muss doch jemand drinnen sein.»

Es war jemand drinnen. Sogar zwei – ein alter Krüppel und ein kleines Mädchen. Harriet fragte hoffnungsvoll, wo sie hier ein Auto oder ein Telefon finden könne.

«Das finden Sie beides im Dorf, Miss», antwortete der Krüppel. «Das heißt, ein Dorf ist es ja nicht direkt, aber Mr. Hearn, der Krämer, hat ein Telefon. Das hier ist Darley Halt, eine Bedarfshaltestelle, und bis Darley sind es noch zehn Minuten zu Fuß. Da finden Sie schon jemanden, Miss, ganz bestimmt. Moment mal, Miss. Liz, die Schranke!»

Das Kind lief hinaus, um die Schranke zu öffnen und einen kleinen Jungen durchzulassen, der ein großes Pferdefuhrwerk führte.

«Kommt hier gleich ein Zug durch?», erkundigte Harriet sich beiläufig, weil die Schranke gleich wieder geschlossen wurde.

«Erst in einer halben Stunde, Miss. Wir halten aber die Schranke meist geschlossen. Viel Verkehr kommt ja hier nicht durch, und so bleibt wenigstens das Vieh von den Gleisen. Tagsüber kommen hier ziemlich viele Züge. Das ist doch die Hauptstrecke von Wilvercombe nach Heathbury. Die Schnellzüge halten hier natürlich nicht, nur die Bummelzüge, und das sind nur zwei am Tag, außer am Markttag.»

«Ach so, verstehe.» Harriet wunderte sich plötzlich selbst, wieso sie nach Zügen fragte, bis ihr klar wurde, dass es ihr berufliches Interesse an Fahrplänen war, mit dem sie unbewusst die Möglichkeit erkundete, wie der Tote zu den Mahlzähnen gekommen sein konnte. Eisenbahn, Auto, Boot – wie war er hingekommen?

«Um wie viel Uhr –?» Nein, das war jetzt nicht wichtig. Das konnte die Polizei nachprüfen. Sie bedankte sich bei dem Schrankenwärter, schob sich durch die Drehkreuze und ging weiter, gefolgt von dem humpelnden Mr. Perkins.

Die Chaussee lief immer noch am Meer entlang, aber die Steilküste wurde jetzt immer flacher und fiel fast auf Meereshöhe ab. Sie sahen eine Baumgruppe und eine Hecke und einen kleinen Pfad, der im Bogen an einer verfallenen Hütte vorbei zu einer ausgedehnten Grünfläche führte, auf der an der Grenze zum Sandstrand ein Zelt stand; daneben stieg Rauch von einem Lagerfeuer auf. Als sie an dem Weg vorbeigingen, kam dort gerade ein Mann herauf, einen Benzinkanister in der Hand. Er trug eine alte Flanellhose und ein Khakihemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Sein weicher Hut war ziemlich tief ins Gesicht gezogen, und die Augen waren zusätzlich hinter einer dunklen Brille versteckt.

Harriet sprach den Mann an und fragte, ob es noch weit bis zum Dorf sei.

«Nur ein paar Minuten», antwortete er kurz angebunden, aber höflich.

«Ich möchte telefonieren», fuhr Harriet fort. «Ich höre, es gibt dort einen Laden mit Telefon. Stimmt das?»

«Ja. Gleich hinterm Dorfanger, auf der anderen Seite. Sie können ihn gar nicht verfehlen, weil es der einzige Laden ist.»

«Danke. Ach, übrigens – es gibt wohl keinen Polizisten im Dorf?»

Der Mann, der gerade weitergehen wollte, blieb stehen und sah sie an, die Hand wegen der grellen Sonne über die Augen gelegt. Harriet sah eine in Rot und Blau tätowierte Schlange auf seinem Unterarm und fragte sich, ob der Mann vielleicht einmal zur See gefahren war.

«Nein, einen Polizisten gibt’s in Darley nicht. Wir teilen uns einen Konstabler mit dem Nachbardorf, glaube ich – er fährt gelegentlich mit dem Fahrrad durch die Gegend. Ist was passiert?»

«An der Küste ist ein Unglück passiert», sagte Harriet. «Da liegt ein Toter.»

«Du lieber Himmel! Na, dann rufen Sie am besten gleich in Wilvercombe an.»

«Ja, das werde ich tun. Danke. Kommen Sie, Mr. Perkins! Oh, er ist schon weg!»

Harriet holte ihren Weggenossen ein, ziemlich verärgert, weil er so offenkundig nichts mit ihr und ihrer Mission zu tun haben wollte.

«Sie brauchen ja nicht überall stehen zu bleiben und mit jedem zu reden», beschwerte sich Mr. Perkins. «Dieser Kerl gefiel mir nicht, und wir sind doch gleich da. Ich bin nämlich heute Morgen schon einmal hier durchgekommen.»

«Ich wollte nur fragen, ob es hier einen Polizisten gibt», erklärte Harriet friedfertig. Sie wollte sich nicht mit Mr. Perkins streiten. Sie hatte an anderes zu denken. Häuser tauchten jetzt auf, robuste kleine Bauten inmitten farbenfroher Gärtchen. Die Straße machte plötzlich einen Bogen landeinwärts, und Harriet sah zu ihrer Freude Telefonstangen, noch mehr Häuser und schließlich einen kleinen Dorfanger mit einer Schmiede in einer Ecke und Cricket spielenden Kindern auf dem Rasen. Mitten auf dem Anger stand eine alte Eiche, um deren Stamm eine Bank herumführte, auf der ein alter Mann sich sonnte; und gegenüber erspähte sie jetzt einen Laden mit einem Schild über der Tür: Geo. Hearn, Lebensmittel.

«Gott sei Dank!», sagte Harriet.

Sie eilte fast im Laufschritt über die kleine Grünanlage und in den Dorfladen, in dem sich Schuhe und Bratpfannen bis zur Decke stapelten und von sauren Drops bis Cordhosen offenbar alles zu haben war.

Ein kahlköpfiger Mann trat hilfsbereit hinter einer Pyramide von Gemüsekonserven hervor.

«Kann ich bitte mal Ihr Telefon benutzen?»

«Selbstverständlich, Miss. Welche Nummer?»

«Die Polizei von Wilvercombe.»

«Die Polizei?» Der Krämer machte ein verwundertes, fast erschrockenes Gesicht. «Da muss ich Ihnen aber erst die Nummer heraussuchen», meinte er zögernd. «Kommen Sie mit ins Wohnzimmer, Miss – und Sir.»

«Danke», sagte Mr. Perkins. «Aber eigentlich – ich meine, das ist eigentlich Sache der Dame. Das heißt – wenn es hier irgendwo ein Hotel gibt, möchte ich lieber – ich meine – äh – guten Abend.»

Er stahl sich unauffällig aus dem Laden. Harriet, die schon vergessen hatte, dass es ihn überhaupt gab, folgte dem Händler ins Hinterzimmer und wartete geduldig, während er seine Brille aufsetzte und umständlich mit dem Telefonbuch zu hantieren begann.

3. Das Zeugnis des Hotels

Klein und gräulich, knochig und dick,

Weiß und klapprig, moosig und geel,

Die Paare warten, spielt auf zur Gigue!

Tanzt und seid lustig; Vetter Tod ist fidel

 

Wo ist Tod und sein Liebchen? Wir wollen beginnen.

Death’s Jest-Book

DONNERSTAG, 18. JUNI

 

Es war Viertel nach fünf, als der Krämer meldete, dass Harriets Gespräch durch sei. Durch die Aufenthalte und den Umweg zu Coffins Hof bei Brennerton hatte sie für die gut vier Meilen Entfernung von den Mahlzähnen bis hier fast drei Stunden gebraucht! Zwar hatte sie alles in allem sechs Meilen oder mehr zurückgelegt, aber sie fand, sie habe doch erschreckend viel Zeit vertan. Nun gut, sie hatte sich alle Mühe gegeben, aber die Umstände waren gegen sie gewesen.

«Hallo!», sagte sie müde.

«Hallo!», antwortete eine amtliche Stimme.

«Ist dort die Polizei von Wilvercombe?»

«Am Apparat. Wer sind Sie?»

«Ich rufe aus Mr. Hearns Laden in Darley an. Ich möchte Ihnen melden, dass ich heute Nachmittag gegen zwei Uhr am Strand in der Nähe der Mahlzähne die Leiche eines Mannes gefunden habe.»

«Oh!», sagte die Stimme. «Einen Augenblick bitte. So. Die Leiche eines Mannes bei den Mahlzähnen. Weiter?»

«Seine Kehle war durchgeschnitten», sagte Harriet.

«Kehle durchgeschnitten», antwortete die amtliche Stimme. «Weiter?»

«Ich habe auch ein Rasiermesser gefunden», sagte Harriet.

«Ein Rasiermesser?» Es hörte sich an, als ob ihr Gesprächspartner sich über diese Mitteilung freute. «Wer spricht dort, bitte?», fuhr die amtliche Stimme fort.

«Mein Name ist Vane, Miss Harriet Vane. Ich bin auf einer Wanderung, und da habe ich ihn gefunden. Können Sie jemanden schicken, der mich holt, oder soll ich –?»

«Einen Moment. Name: Vane, V-A-N-E, ja. Gefunden um zwei Uhr, sagen Sie? Das melden Sie uns aber ziemlich spät, finden Sie nicht?»

Harriet erklärte, wie schwierig es gewesen sei, die Polizei überhaupt zu erreichen.

«Aha», sagte die Stimme. «Also gut, Miss, wir schicken einen Wagen. Bleiben Sie bitte, wo Sie sind, bis wir kommen. Sie werden mit uns fahren und uns die Leiche zeigen müssen.»

«Ich fürchte nur, sie ist – inzwischen nicht mehr da», sagte Harriet. «Sehen Sie, der Tote lag ziemlich nah am Wasser, auf diesem großen Felsen, und die Flut –»

«Das lassen Sie nur unsere Sorge sein, Miss», entgegnete die Stimme zuversichtlich, als ob der nautische Kalender sich selbstverständlich nach den Wünschen der Polizei zu richten habe. «Der Wagen ist in ungefähr zehn Minuten da.»

Es klickte, dann war es still in der Leitung. Harriet legte auf, dachte kurz nach und griff noch einmal zum Hörer.

«Geben Sie mir Ludgate 6000 – so schnell es geht. Dringendes Pressegespräch. Ich muss es in fünf Minuten haben.»

Die Telefonistin wollte aufbegehren.

«Hören Sie – das ist die Nummer des Morning Star. Ein Blitzgespräch bitte.»

«Na ja», meinte die Telefonistin zweifelnd. «Ich will mal sehen, was ich tun kann.»

Harriet wartete.

Drei Minuten vergingen – vier – fünf – sechs. Dann schrillte die Klingel. Harriet riss den Hörer von der Gabel.

«Morning Star.»

«Geben Sie mir die Nachrichtenredaktion – schnell.»

Summen, Klicken.

«Morning Star, Nachrichtenredaktion.»

Harriet sammelte sich, um ihre Geschichte so kurz und prägnant wie möglich wiederzugeben.

«Ich spreche aus Darley bei Wilvercombe. Heute Nachmittag um zwei Uhr wurde an der Küste die Leiche eines Mannes – haben Sie das? – mit durchgeschnittener Kehle gefunden. Entdeckt wurde der Tote von Miss Harriet Vane, der bekannten Kriminalschriftstellerin … Ja, richtig – die Harriet Vane, die vor zwei Jahren wegen Mordes angeklagt war … Ja … Der Tote scheint etwa zwanzig Jahre alt zu sein – blaue Augen, kurzer dunkler Vollbart, dunkelblauer Gesellschaftsanzug, braune Schuhe, gelbbraune Lederhandschuhe … In der Nähe der Leiche wurde ein Rasiermesser gefunden … Wahrscheinlich Selbstmord … O doch, es könnte auch Mord sein; nennen Sie es einfach mysteriöse Umstände … Ja … Miss Vane, die zurzeit einen Wanderurlaub macht, um Material für ihren neuen Roman Das Geheimnis des Füllfederhalters zu sammeln, musste erst mehrere Meilen laufen, ehe sie Hilfe herbeiholen konnte … Nein, die Polizei hat die Leiche noch nicht gesehen … Inzwischen ist sie wahrscheinlich auch schon unter Wasser, aber bei Ebbe wird man sie wohl wiederfinden … Ich rufe später noch einmal an … Ja … Wie? … Ach so, ja, hier spricht Miss Vane. Ja … Nein, ich gebe Ihnen das exklusiv … Na ja, ich nehme an, dass die Geschichte bald überall rum ist, aber meinen Bericht gebe ich Ihnen exklusiv … vorausgesetzt natürlich, dass Sie mich gut herausstellen … Ja, selbstverständlich … Aha! Ja, ich denke, dass ich in Wilvercombe bleiben werde … Ich rufe Sie an, wenn ich weiß, wo ich unterkomme … Gut … Wiederhören.»

Als sie auflegte, hörte sie draußen einen Wagen vorfahren und ging durch den kleinen Laden zurück, dem großen, breitschultrigen Mann im grauen Anzug entgegen, der sofort begann: «Ich bin Inspektor Umpelty. Was ist hier los?»

«Ah, Inspektor! Sehr erfreut. Allmählich dachte ich schon, ich erreiche nie mehr einen vernünftigen Menschen. Das war ein Ferngespräch, Mr. Hearn. Was es kostet, weiß ich nicht, aber hier haben Sie zehn Shilling. Für den Rest telefoniere ich ein andermal wieder. Ich habe gerade nach Hause durchgegeben, dass ich für ein paar Tage in Wilvercombe festsitzen werde, Inspektor. So ist es doch, oder?»

Das war zwar gelogen, aber Schriftsteller und Polizeiinspektoren sind, was Öffentlichkeitsarbeit betrifft, durchaus nicht immer einer Meinung.

«Stimmt, Miss. Ich muss Sie bitten, noch ein Weilchen hierzubleiben, solange wir die Sache untersuchen. Steigen Sie am besten gleich in den Wagen, dann fahren wir mal zu der Stelle, wo Sie die Leiche gesehen haben. Dieser Herr ist Dr. Fenchurch, und das ist Sergeant Saunders.»

Harriet nickte den beiden zu.

«Wieso ich mitkommen muss, weiß ich ja nicht», beschwerte sich der Polizeiarzt mit leidvoller Stimme. «Wenn der Mann um zwei Uhr knapp über der Niedrigwassermarke lag, sehen wir heute nicht mehr viel von ihm. Die Flut ist jetzt schon wieder halb zurück, und dazu weht noch ein kräftiger Wind.»

«Das ist ja das Ärgerliche», pflichtete der Inspektor ihm bei.

«Ich weiß», sagte Harriet bekümmert, «aber ich habe wirklich mein Bestes getan.» Sie schilderte ihre Odyssee in allen Einzelheiten, berichtete genau, was sie bei dem Felsen getan hatte, und zeigte ihnen den Schuh, das Zigarettenetui, den Hut, das Taschentuch und das Rasiermesser.

«Na ja», meinte der Inspektor. «Sie scheinen ja ganz schön gründlich vorgegangen zu sein, Miss. Man sollte meinen, Sie hätten das gelernt. Sogar noch fotografiert. Trotzdem», fügte er streng hinzu, «wenn Sie früher aufgebrochen wären, hätten Sie uns früher Bescheid sagen können.»

«Ich habe nicht viel Zeit vertan», wandte Harriet ein, «und ich dachte, wenn die Leiche fortgespült wird oder dergleichen, ist es besser, wir haben überhaupt irgendetwas.»

«Stimmt auch wieder, Miss, und ich würde fast sagen, Sie haben richtig gehandelt. Sieht aus, als ob ein starker Wind aufkäme, da staut sich das Wasser.»

«Kommt genau aus Südwest», warf der Sergeant ein, der den Wagen lenkte. «Wenn das so weitergeht, bleibt dieser Felsen auch bei Niedrigwasser überflutet, und bei dem Seegang wird es ziemlich schwer sein, da heranzukommen.»

«Ja», sagte der Inspektor. «Die Strömung zieht sehr stark gerade um die Bucht herum, und an den Mahlzähnen kriegt man ein Boot nicht vorbei – jedenfalls nicht heil.»

Und in der Tat, als sie in der «Mörderbucht» ankamen, wie Harriet sie insgeheim getauft hatte, war von dem Felsen nichts mehr zu sehen, geschweige von dem Toten. Das Meer bedeckte schon den halben Sandstrand, und die Wellen gingen hoch. Der dünne weiße Strich, der nachmittags angezeigt hatte, wo die Wellen sich an den Mahlzähnen brachen, war verschwunden. Der Wind frischte immer mehr auf, und die Sonne blinzelte nur noch selten zwischen den immer dicker sich türmenden Wolkenmassen hervor.

«Hier war es doch, Miss?», fragte der Inspektor.

«Ja, das war die Stelle», bekräftigte Harriet.

Der Inspektor schüttelte den Kopf.

«Dieser Felsen liegt inzwischen mindestens fünf Meter unter Wasser», sagte er. «In einer Stunde haben wir Hochwasser. Da kann ich jetzt nichts mehr machen. Wir müssen auf die Ebbe warten. Das nächste Niedrigwasser wird so gegen acht Uhr früh sein. Mal sehen, ob es dann eine Möglichkeit gibt, da heranzukommen, aber wenn Sie mich fragen, kriegen wir schlechteres Wetter. Natürlich wäre es möglich, dass die Leiche von dem Felsen gespült und irgendwo an Land getrieben wird. Ich fahre Sie nach Brennerton, Saunders; versuchen Sie da, ein paar Männer aufzutreiben, um die Küste zu beobachten. Ich selbst fahre nach Wilvercombe und sehe zu, dass wir ein Boot bekommen. Sie werden mit mir kommen müssen, Miss, um eine Aussage zu machen.»

«Selbstverständlich», sagte Harriet ziemlich schwach.

Der Inspektor drehte sich um und sah sie an.

«Sie sind sicher ein bisschen aus dem Gleichgewicht, Miss», meinte er, «was ja kein Wunder ist. Ziemlich unerfreulich für eine junge Dame, sich mit so etwas abgeben zu müssen. Ich kann nur staunen, wie Sie das gemacht haben. Wissen Sie, die