Stausbergs Geschichten - Peter Kiefer - E-Book

Stausbergs Geschichten E-Book

Peter Kiefer

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Beschreibung

Schafft man es mit Eat-Art, sich einer angebeteten Frau zu nähern? Oder reicht schon eine verschüttete Tasse Kaffee? Und wie wirkt sich ein Geschlechtertausch im Fußballstadion aus? Zu schweigen davon, was ein Heißluftpudding ist. In Peter Kiefers Geschichten kippt die Wirklichkeit ein wenig aus dem Gleichgewicht, gebiert eine Heidelbeerkönigin politische Turbulenzen im fernen Asien, verarbeitet ein städtischer Finanzreferent seine Saubermannambitionen in Kriminalgeschichten mit losem Ende. Eine schmerzhafte Kariesbehandlung driftet in ein subtiles Liebesabenteuer, in einem Kaufhaus werden erotische Unterwelten entdeckt und der große Bankencrash erzeugt höchst komplizierte Strategien beim Schlangestehen vor einem Flughafenabfertigungsschalter. Anders gesagt treffen in Kiefers zehn Erzählungen Wünsche, Verlangen und kleinere Fluchten auf die Unerfindlichkeiten des Alltags. Und wenn einer der Protagonisten behauptet, das Leben sei doch total absurd, ist das nur Teil einer trickreichen Verführung.

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Peter Kiefer

Stausbergs Geschichten

Außer der Reihe 15

Peter Kiefer

Stausbergs Geschichten

Außer der Reihe 15

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Februar 2016

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: InnervisionArt / Shutterstock

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 056 6

Peter Kiefer

Stausbergs Geschichten

Frau Spatz

Von meinem Fenster im zweiten Stock kann ich sie beobachten, jedenfalls dann, wenn sie sich kurz an einem der Tische zeigt, die vornan zur Straße hin stehen. Meist sitze ich selbst dort unten, trinke eine Tasse Kaffee, esse dazu ein Croissant und beobachte sie insgeheim, wenn sie die Gäste bedient oder hinter der Kuchentheke steht. Zu Anfang bin ich nur einmal zufällig hergekommen und auch nur, weil das Café Eisig genau vis-à-vis meiner Wohnung liegt. Dann fast jeden Tag, weil ich mich in Frau Spatz verliebt habe.

Sie ist eine schlanke, naturblonde Frau, Ende dreißig, und sie hat einen Mund, von dem man seinen Blick einfach nicht abwenden kann. Warum ist sie nicht Filmschauspielerin geworden? Man würde Nahaufnahmen von ihr machen wollen und sie bräuchte kaum ein Wort zu sagen, nur allen diesen vollen, weichen Mund zu zeigen, der immerfort das Wort »Du« zu formen scheint.

Ich weiß nicht, ob sie mir meine Verliebtheit ansieht. Sie ist freundlich, das schon, aber ihre Freundlichkeit hat etwas Routinehaftes, Unnahbares.

Immerhin behandelt sie ihre Gäste ohne Unterschied. Natürlich machen diese ihr gelegentlich Avancen. Einer, den ich des Öfteren hier sehe – Glatze, gezwirbelter Schnurrbart –, spricht sie gern mit »schöne Frau« an und wechselt, wenn er redet, die Tonlagen, als trüge er ein Opernrezitativ vor. Wahrscheinlich ist er schwul. Ein anderer kichert ständig, wenn er ein paar Worte mit ihr wechselt, er will ansteckend auf sie wirken, aber sie kichert nicht mit, gleichgültig, wie hoch das Trinkgeld ausfällt. Auch eine Frau mit einem lila Umhängetuch, eine feministische Nachtschwalbe früherer Tage, sendet auffällige Signale in Frau Spatz’ Richtung. Doch diese reagiert nicht anders als auf mich und jeden sonst hier.

Was soll ich nur tun, um aufzufallen, ohne aufzufallen? Dabei habe ich einen natürlichen Vorteil: Ich bin deutlich jünger als die Gäste, die üblicherweise herkommen, und deshalb bin ich in einem altmodischen Café wie dem von Herrn Eisig, einem korpulenten Menschen unbestimmten Alters, der nur gelegentlich aus seiner Backstube mit frischer Ware angefahren kommt, eine Ausnahme. Leute wie mich zieht es gewöhnlich eher in jene Läden, die zwanzig Zubereitungsarten Kaffee anbieten, von jedem die Small-, Medium- und Largevariante, die man sich an einer Theke gedrängelt bestellen und selbst zum Tisch tragen muss, um dann festzustellen, dass alle Tische schon besetzt sind und der Kaffee inzwischen kalt geworden ist. Ich möchte lieber ein wenig altmodisch sein, auch wenn das vor einiger Zeit selbst mal wieder im Trend lag.

Mittlerweile habe ich eingesehen, dass es nutzlos ist, nur dazusitzen, jemanden anzuhimmeln und verträumt, aber mutlos in ein Croissant zu beißen. Eine Lektüre über chinesisches Denken hat mich dann inspiriert. Um etwas zu erreichen, stürmt ein Chinese nicht mit Scheuklappen auf sein Ziel los, sondern ergründet die Situation, bewegt kleine Hebel, um diese Situation schrittweise zu verändern. Er lässt dabei die Zeit für sich arbeiten, bis ihm letztlich das Objekt der Begierde (mir Frau Spatz) wie eine reife Frucht in den Schoß fällt. Demzufolge müsste ich etwas entwickeln, das Frau Spatz neugierig auf mich macht, das sie an irgendeine Art von Tiefe, von Charme oder Männlichkeit bei mir glauben lässt, jedenfalls etwas, dem sie nachspüren möchte.

An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass ich Künstler bin, derzeit freilich noch ohne nennenswerten Erfolg und, wenn ich ehrlich bin, könnte ich nicht einmal sagen, für welche Kunst ich mich letztlich entschieden habe. Ein paar Objekte sind in der freien Natur entstanden, mit Farben und Kerbungen präparierte kahle Baumstämme. Davon sind nach deren Abtransport in ein Sägewerk nur Fotos übrig geblieben. Zuletzt habe ich versucht den Aspekt Spannung auszudrücken und habe knallbunte Drähte durch eine nackte weibliche Schaufensterpuppe gezogen, die hilflos und in Schräglage im Netz globaler Ströme hängt (wenigstens könnte man es so interpretieren). Einen Galeristen habe ich zwar und ich habe bei ihm bereits an zwei Sammelausstellungen teilgenommen, er ermutigt mich auch immer wieder. Aber wenn ich ihm zuletzt etwas gezeigt habe, hat er meistens nur die Mundwinkel gespreizt, ist mit den Armen rhythmisch hin und her gerudert, hat meine »Ansätze« gelobt und dann behauptet, dass er meinen Reifeprozess weiterverfolgen werde, denn ich sei fraglos ein Talent. Vielleicht meint er, ein ewiges.

Fotografien gehören ebenfalls zu meinem Repertoire. Vor einiger Zeit ist ein Zyklus entstanden, er zeigt Menschenansammlungen unmittelbar nach einer Wartephase vor der Verkehrsampel und wie sie gerade zum ersten Schritt über die Straße ansetzen. Was mich daran interessiert hat, ist diese hektische, geradezu blindwütige Aufbruchstimmung in den Augen und der Körperhaltung und alles nur, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Chaplin hat in seiner Frühzeit einmal einen Film gedreht, indem gezeigt wird, wie er, der kleine Tramp, in der Großstadt zum ersten Mal vor einer Fußgängerampel steht und sich nicht traut diese Straße bei Grün zu überqueren, weil er den Autos nicht traut, sich sogar bei jedem Grün an einem Mast festklammert, damit ihn die Passanten nicht einfach mit sich reißen. Am Ende aber hat er keine Chance gegen die Masse und er wird wie ein Stück Treibholz auf die andere Seite geschwemmt.

Ich versuche natürlich auch, darin Parallelen zu meiner unerfüllten Sehnsucht nach Frau Spatz zu entdecken. Warum will ich diese Straße nicht überqueren, diese kurze Entfernung zu ihr nicht ganz unchinesisch zurücklegen? Vielleicht, weil ich Realist bin und zu wissen glaube, dass Frau Spatz mein Liebesgeständnis behandeln würde, als bäte man sie, einem dabei zu helfen, sie rasch wieder zu vergessen.

Es sind dann ihre Croissants, die mich auf eine Idee bringen. Sie, die geradezu ihre Hände atmen, weil sie sie auf einen Teller gelegt und zu mir an den Tisch gebracht hat, sind ein künstlerischer, ein besonders emotionaler Werkstoff.

Aus Kostengründen, weil ich mir nämlich nur jeweils eines leisten kann, lasse ich in der Folgezeit die Croissants nach dem ersten – und nur gespielten – Bissen heimlich in meine Tasche wandern und mache, um keine Fragen aufkommen zu lassen, anschließend noch ein paar scheinheilige Kaubewegungen. Zu Hause hole ich sie wieder hervor und verarbeite sie zu einem Kunstwerk. Im Moment reduziert sich dieses allerdings auf einen mehr oder weniger formlosen Haufen, weil ich mich zunächst nur aufs Abwarten beschränke, darauf, dass dieser langsam wachsende Berg zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Umfangs ein Signal aussenden wird, das mir helfen soll ihn über seine krude Existenz hinauszudenken. Er könnte sich beispielsweise zu einem Fetisch transformieren, dann wäre ich vielleicht in der Lage magischen Einfluss auf Frau Spatz zu nehmen. Aber das ist eine kindische Zuversicht, denn auch nach gezählten neununddreißig Croissants ist das Konstrukt mehr denn je ein Haufen vertrocknetes Gebäck und wird im kommenden Frühjahr sicher das Interesse von Insekten oder kleineren Nagern auf sich ziehen, und dann?

Auch heute sitze ich wieder an einem der vorderen Tische, blicke hinaus auf die Straße, auf die glatten, nichtssagenden Fassaden gegenüber, hinauf zu meinem leeren Fenster und bin dieses Mal völlig fehl am Platz. Selbst das Croissant, das ich bestellt habe, ist sinnlos, weil es nicht Frau Spatz ist, sondern eine andere Frau, die mich bedient. Sie hat einen breiten slawischen Akzent, zuletzt stand sie zweimal aushilfsweise am Kuchenbüffet, das war an einem Wochenende, als etwas mehr Betrieb war und Frau Spatz eine zusätzliche Hilfe brauchte. Eine Weile denke ich noch, dass Frau Spatz wohl jeden Augenblick wieder erscheinen wird, aber irgendwann sieht es nicht mehr danach aus. Ist sie krank, hat sie Urlaub?

Mein Blick bleibt an einer Dame haften, die mit ihrem Leibesumfang und ihren Wangen, die von geplatzten Äderchen gerötet sind, jeder Konditorei zur Zierde gereicht. Als ihr ein Stück Käsetorte serviert wird, grinst sie so zufrieden, wie man es von den dicken Buddhas in den chinesischen Restaurants kennt. Ich dagegen, der ich einen prüfenden Rundumblick der slawischen Ersatzbedienung noch immer glaube damit parieren zu müssen, dass ich meine scheinheiligen Kaubewegungen mache, hätte nun ebenfalls Lust, mein Croissant zurück auf den Teller zu legen und es wenigstens heute einmal richtig zu essen. Und gerade will ich es wieder hervorholen, als neben mir eine Stimme auftaucht.

Entschuldigen Sie, sagt die Stimme und sie gehört Frau Spatz.

Ich erschrecke wie jemand, den man bei etwas Ungehörigem ertappt hat. Aber auch Frau Spatz ist, wie mir erst ein wenig später bewusst wird, einigermaßen verlegen. Ihr Lächeln hat dieses Mal nicht jenen strengen Zug, den ich sonst aus ihm herauslese, sondern es verrät Teilnahme.

Ja, sagt sie, mir ist nämlich aufgefallen, dass sie Ihre Croissants gar nicht aufessen und …

Ich glaube, ihr zu Hilfe kommen zu müssen und sage: Es stimmt, ich lasse sie jedes Mal in meiner Tasche verschwinden und trage sie zu mir nach Hause.

Und essen sie dort?

Ja … also essen ist jetzt vielleicht zu viel gesagt.

Warum wir plötzlich beide anfangen zu nicken, ist nicht genau zu erklären. Immerhin folge ich diesem irgendwie positiven Schub, hole das Croissant nun endlich doch hervor und beiße in Gegenwart von Frau Spatz hinein.

Es schmeckt wunderbar, sage ich und meine es so oder auch ganz anders.

Sie bleibt weiter an meinem Tisch stehen und man könnte vielleicht denken, sie wolle darüber wachen, dass ich das Croissant auch wirklich aufesse. Aber das kann es nicht sein, sie möchte mir etwas mitteilen, das spüre ich. Das macht mich ein wenig übermütig und vorlaut.

Ich bin Künstler, müssen Sie wissen, und diese Croissants sind Teil eines Objekts, das noch im Entstehen ist, erkläre ich.

Künstler, sagt sie, weiter kommt sie leider nicht in ihrem Satz, weil sie von einem Gast unterbrochen wird, der ihr ein Zeichen macht. Sie entfernt sich wortlos und ist gleich darauf wieder mitten in ihrer Arbeit. Als ich zahlen will, kommt die slawische Frau an meinen Tisch und kassiert.

Zu Hause falle ich in meinen alten Ledersessel, lasse beide Arme über die Lehne hängen und sage: Scheiße. Mehrfach. Es bedeutet nur, dass ich noch ganz unter dem Eindruck des Gesprächs vorhin mit Frau Spatz stehe. Sie wollte etwas von mir. Die chinesische Strategie hat sich, gleichsam hinter meinem Rücken, bewährt, ich sollte daran festhalten, wüsste ich nur, wie.

Am nächsten Tag gehe ich mit bestimmten Erwartungen ins Café Eisig. Frau Spatz ist da. Einen Kaffee und ein Croissant?, fragt sie und sieht so halb über mich hinweg.

Ja, sage ich und würde am liebsten an unsere gestrige Unterhaltung anknüpfen. Aber da hat sie sich schon wieder abgewandt.

Als sie mit dem Bestellten zurückkommt, sagt sie: Werden Sie’s denn auch heute aufessen? Oder wieder in Ihrer Tasche verschwinden lassen?

Sie sieht mir verschmitzt in die Augen, das hat sie zuvor noch nie getan! Leider komme ich nicht dazu zu antworten, sie ist schon wieder anderweitig in Beschlag genommen. Dennoch, ich fange an zu träumen.

Zwei Straßen weiter ist eine Baustelle, dort klaue ich ein Säckchen Sand, den ich zu Hause über den Fußboden schütte. Zuvor hatte ich Nadeln mit schwarzen Köpfen paarweise in die hohle Mitte der Croissants gesteckt, nun sehen diese aus wie drollige Krebse, die ihre Zangen ausgebreitet haben und ich lasse sie auf dem Sand herumkrabbeln, einen immer so halb auf dem anderen hängend, stieläugig durch die Stecknadeln, geradezu durchtrieben.

Der Gedanke schießt mir durch den Kopf, Frau Spatz zu fragen, ob sie nicht Lust hätte sich das Ganze mal anzusehen. Aber wie sollte ich ihr diese von Meister Eisig gebackenen und nun zu kleinen Viechern zweckentfremdeten Dinger erklären? Die Wahrheit würde uns beide ziemlich in Verlegenheit bringen, allein schon die Bitte mir in meine Wohnung zu folgen.

Darüber muss ich mir kurz darauf leider keine Gedanken mehr machen, denn Frau Spatz ist auf einmal nicht mehr vorhanden. Nach zwei, drei Tagen, die ich nur anstandshalber verstreichen lasse, frage ich die Frau mit dem slawischen Akzent nach ihr. Frau Spatz hätte gekündigt, sagt sie.

Und wo arbeitet sie jetzt?

Schulterzucken. Man merkt, dass sie Frau Spatz nicht sonderlich gemocht hat.

Vielleicht hat sie endlich jemand für den Film entdeckt, denke ich, vielleicht begegnet sie mir demnächst einmal auf der Leinwand oder im Fernsehen. Womöglich sogar anlässlich einer Liebesaffäre in einer Klatschspalte und ich blicke, wenn sie dann überhaupt noch existieren, die stieläugigen Croissantkrebse an (und diese mich) und wir sind ratlos und eifersüchtig und auch ein bisschen stolz, weil wir’s immer schon gewusst haben, dass Frau Spatz eine ungewöhnliche Frau ist.

Oder sie bedient schlichterdings in einer anderen Konditorei. Die Stadt ist freilich groß und alle Konditoreien abzuklappern schier unmöglich, ganz zu schweigen davon, dass es ja nicht gesagt ist, dass Frau Spatz weiter in dieser Branche arbeitet. Ich sehe mich trotzdem um, auch in allerhand Stehcafés und wie um mich zu ermutigen, nehme ich mir selbst das Versprechen ab, dass ich, wenn ich ihr begegnen sollte, rundweg alles gestehen werde, meine Bewunderung, meinen heißen Wunsch sie unaufhörlich zu küssen, alles.

Frau Spatz bleibt jedoch unauffindbar.

Nach meinen ersten künstlerischen Erfolgen, und nachdem ich – auch von weiblicher Seite – allmählich gefragter bin, weil sich mein Konzept der »Meute-Kunst«, wie ein Kritiker es nennt, durchgesetzt hat und ich nun unter anderem in Amsterdam, St. Petersburg und selbst in New York verkehre, verblasst Frau Spatzens Bild mehr und mehr, auch wenn sie einmal der Auslöser zu alldem gewesen ist.

Ich wohne auch nicht mehr vis-à-vis des Café Eisig, sondern bin in ein Loft umgezogen, das nun gleichzeitig mein geräumiges Atelier ist. Linda, mit der ich gelegentlich schlafe, hat einen hübschen Mund und lange Beine. Auf Linda folgen andere Frauen, auch mit langen Beinen und vollen Mündern, sie sind meist ein wenig älter als ich, aber das mag Zufall sein.

Nebenbei bin ich von der reinen Objektkunst etwas abgerückt, arbeite gerne mit grob gerasterten Fotos, auf die ich Acrylfarben auftrage. Die Motive sind jedoch noch immer Schwärme, Herden, Menschenansammlungen.

Wenn Journalisten mich besuchen, versuche ich dem Klischee eines wortkargen Künstlers zu entsprechen, mache bestenfalls Andeutungen. Der Journaille gefällt meine Schüchternheit, weil sie dann hin und wieder behaupten kann, »eins der seltenen Interviews« mit mir gemacht zu haben.

Ein Kultursender will mich im Rahmen einer Reihe zu jüngeren Künstlern porträtieren. Im Vorgespräch kommen wir natürlich auch auf meine Anfänge zurück und da steht Frau Spatz mir wieder lebendig vor Augen. Ich erzähle über sie und diesen unerfüllten Traum, ein wenig zu viel sicherlich, denn sie machen daraus ein Rührstück besonderer Art. Sie laden mich nämlich in ihre Hotelbar ein und wollen mir dort in entspannter Atmosphäre noch ein paar Fragen stellen. Nach kurzer Zeit schon entschuldigt sich mein Journalist, sagt, er müsse dringend ein Telefonat führen. Doch er kommt schon nach ein paar Augenblicken wieder, neben sich Frau Spatz.

Mit einer angedeuteten Verbeugung stellt er sie vor. Das ist völlig überflüssig, denn ich habe sie sofort wiedererkannt. Ihr Anblick lähmt mich geradezu und ich brauche ein paar Sekunden, um mich von meinem Stuhl zu erheben.

Guten Abend, sagt sie und sieht mich mit großen Augen an. Diese scheinen dunkler geworden zu sein, auch ihr Haar ist nachgedunkelt und die kleinen senkrechten Risse in ihren Lippen sind jetzt ausgeprägter.

Hatten Sie nicht Mühe, sich an mich zu erinnern?, frage ich.

Nein, sagt sie und wiederholt es gleich noch einmal, wie um mich zu beruhigen.

Mein Journalist hat sie ausfindig gemacht, jetzt setzt er sich grinsend an den Nebentisch, weil er uns »nicht stören« möchte, während sein Kameramann eifrig mitfilmt.

Auf einmal waren Sie verschwunden, sage ich in scherzhaftem Ton zu Frau Spatz.

Wissen Sie, ich habe diese Arbeit nicht gern gemacht, antwortet sie. Ich glaube, das hat man gemerkt.

Das Bedienen?

Ja.

Sie waren so unnahbar, sage ich und will sie dazu verführen, vielleicht ein bisschen kokett zu werden.

Aber sie sagt nur: Ich habe bei Eisig aufgehört, als ich erfuhr, dass ich schwanger war.

Sie erzählt mir von ihrer Tochter, kurz auch von ihrem Mann, einem Abteilungsleiter in der Landesgesundheitsbehörde. Von meinen Arbeiten will sie etwas wissen, für mich eine Gelegenheit über meine Croissantkrabbelgruppe von damals zu erzählen. Ja, sagt sie, mein Journalist hätte ihr auch schon davon erzählt und ob sie denn noch existiere. Nein, sage ich, lange nicht mehr, es gäbe nur ein paar Fotos, aber ich hätte keines dabei. Wie hätte ich denn auch wissen sollen …

Sie lacht. Ich hatte sie noch nie lachen sehen.

Ich war so etwas wie Ihre Muse, stimmt’s?

War es das, was mein Journalist ihr erzählt hat, um sie zu überreden, hierher zu kommen?

Ja, sage ich, meine Muse.

Künstler brauchen wohl immer eine Muse.

Manchmal mehr als eine Frau, sage ich.

Sie sieht mir einen Moment lang versonnen in die Augen.

Sie waren noch sehr jung damals, sagt sie und kommt darüber wieder auf ihre Tochter zu sprechen, die ebenfalls künstlerische Ambitionen habe. Ein Foto holt sie von ihr hervor, es zeigt ein fünfzehnjähriges Mädchen, in dessen Gesicht sich Frau Spatz auf eine seltsame Art widerspiegelt, so, als hätte man sie hier und da ein winziges, aber merkliches Stück in die Breite gezogen.

Sie sind noch immer wunderschön, sage ich. Wäre ich Porträtmaler, müssten Sie mir Modell sitzen.

Der Nachsatz ist schon wieder ein Rückzieher.

Beim Abschied küssen wir uns auf die Wange.

Ich bleibe noch einen Cognac lang in der Bar. Einmal lehne ich mich tief ins Lederpolster und fasse unwillkürlich in die Seitentasche meines Jacketts. Dort finde ich ein kleines Tütchen. Darin eingepackt ist ein Croissant, so lang wie mein Zeigefinger, wie aus einer Puppenküche, selbst gebacken und mit einem glänzenden roten Schleifchen versehen.

Vorsichtig löse ich die kleine Schleife von diesem Croissant, das Frau Spatz mir unbemerkt zugesteckt hat, und zögere dieses Mal nicht. Ich esse es auf.

Heidelbeerkönigin

 

 

 

Zunächst war es vor allem ihr Lächeln, das es ihm angetan hatte. Es lag etwas Unscharfes, Abwesendes darin, als sei sie erst halb aus einem Dornröschenschlaf erwacht und man müsse sie als Prinz ein weiteres Mal küssen, um das Märchen zu einem glücklichen Ende zu bringen. Aber es war nicht nur ihr Lächeln, ihre ganzen Bewegungen bestanden meist nur aus Andeutungen. Darin lag eine fortwährende Spannung.

Als Wenzel im Kreis von ein paar Freunden durch Zufall auf eines jener Dorffeste geraten war, das nicht zuletzt wegen einer stampfenden Trachtenkapelle auf Städter einen gewissen Reiz ausübt, hatte er sie zum ersten Mal erblickt. Sie war der geflissentliche Höhepunkt des Nachmittags, Elisa I., die frisch gekürte Heidelbeerkönigin.

Man hatte ihr gerade eine gelbe Schärpe um ihr, versteht sich, heidelbeerblaues Kleid gelegt, auf dem Kopf trug sie ein silbern glänzendes Diadem. Eine Trachtenfrau drückte ihr jetzt einen vollen Korb mit Heidelbeeren in die Hand. Sofort wurden Fotoapparate und Handys in die Höhe gehalten und ein Conférencier schwadronierte über das blaue Wunder der Heidelbeere. Auf Wenzel, den das Ganze unter anderen Umständen bestenfalls gelangweilt hätte, wirkte die Kombination aus tiefblauen Früchten und Elisas blassem Teint selbst wie ein kleines Wunder.