Steff - Bernt Danielsson - E-Book

Steff E-Book

Bernt Danielsson

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Beschreibung

Schweden im November: Bestialische Terroranschläge erschüttern die Hauptstadt Stockholm. Unter mysteriösen Umständen verschiendet ein Mann, ein alternder Detektiv übernimmt die Ermittlungen und mittendrin ist die hübsche 16-jährige Steff. Es geschieht allerlei Wirrwarr, Unvorhergesehenes und Zufälle. Die Charaktere des Buches kreuzen sich immer wieder. Können Sie am Ende den Tätern auf die Spur kommen? – Ein Buch über die Liebe, das Leben, die Wahrheit, Sex, Essen und vieles mehr.

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Bernt Danielsson

Steff

Aus dem Schwedischenvon Regine Elsässer

Saga

1

Kabadasch!

Normalerweise wurde er unter schnorchelndem Protest gezwungen, sich aus dem Schlaf zu graben. Das fühlte sich dann so an, als ob er sich in einem dunklen, engen Tunnel befände und jemand ihm mit einem Schwert hinterhergekrochen käme und drohte, ihm den Hintern in Stücke zu schneiden, wenn er nicht weitergraben würde. Das machte er dann – er grub immer weiter, geriet immer mehr in Panik und konnte nicht begreifen, warum er nur mit einem so lächerlichen Plastikspaten ausgerüstet war.

Nach 150 schweißtreibenden Kilometern gab die Erdwand endlich nach, und da plumpste er mit einem Platsch in ein dunkles stinkendes Gewässer, schluckte viel zu viel Wasser und schwamm verzweifelt zur Oberfläche, während der Sauerstoff im Gehirn zur Neige ging.

Wenn der Kopf dann durch die Wasseroberfläche stieß, prustete er und schnappte nach Luft, bis er schließlich widerwillig einsehen mußte, daß es wieder einmal Morgen und er leider aufgewacht war.

So war es also normalerweise.

Aber jetzt machte es nur Kabadasch!, und er lag auf dem Rücken und war sehr wach. Er konnte sich nicht erinnern, schon jemals so schrecklich wach gewesen zu sein. Die Augen starrten geradewegs nach oben zu dem, was einmal eine weiße Decke gewesen war und inzwischen eine schmutzigcremiggraustaubige Farbe angenommen hatte. Aber er sah die Decke deutlich, und das mußte heißen, daß es nicht mehr Nacht war.

Warum war er aufgewacht?

‚Ich muß etwas gehört haben.‘

Was denn?

‚Keine Ahnung, aber ich glaube nicht, daß es etwas Angenehmes war. Es kann mein Fahrrad gewesen sein, also muß es etwas Unangenehmes sein.‘

Er lag still und lauschte mit angespannten Nerven und Muskeln. Er hörte nichts, auf jeden Fall nichts Ungewöhnliches: Der Wecker auf dem Schreibtisch tickte müde, sein Herz schlug heftig, das Bett quietschte und knarrte (was darauf schließen ließ, daß gewisse Körperteile sich trotz Befehl nicht still verhielten), der Kühlschrank in der Küche brummte wie immer, die Kühltruhe räusperte sich und stimmte mit ein, der Morgenverkehr brauste abgelegen auf der Tranebergsbron (er hörte den Verkehr eigentlich nicht, aber er war überzeugt davon, daß man es merken würde, wenn es ihn nicht gäbe), ein Flugzeug brummte in ungewöhnlich niedriger Höhe über das Haus (und in seiner Erinnerung lief im Schnellvorlauf das Video von der langen Flugreise Tokio hin und zurück; vierundzwanzig Stunden in einer Blechkiste, die in 35000 Fuß Höhe über Sibirien hinweggeschaukelt war; schrecklich), im Badezimmer gluckste der Umschalter für die Dusche, der Kaltwasserhahn am Waschbecken tropfte fröhlich vor sich hin, und der kaputte Schwimmer in der Klospülung lärmte ständig, jemand stand vor der Haustür und rüttelte an der Klinke, die Vögel zwitscherten frühlingshaft, obwohl es Anfang November war, die Blätter, die in einer Frostnacht vor einer Woche steifgefroren waren, klirrten im leisen Wind und –

‚Steht jemand vor der Tür und rüttelt an der Klinke?!‘

Er setzte sich auf und blinzelte zum Wecker – halb neun.

‚Da kann es auf jeden Fall weder der Briefträger noch ein unangenehmer Behördenbürokrat sein‘, dachte er einigermaßen erleichtert. ‚Um die Zeit sitzen die beim Kaffee und reden dummes Zeug auf Kosten des Steuerzahlers.‘

Als dann heftig an die Haustür im Erdgeschoß gedonnert wurde, war er, gelinde gesagt, ein wenig beunruhigt, denn nach den Faustschlägen zu urteilen, mußten sie von einem bodygebuildeten, zwei Meter großen, schrankähnlichen Muskelpaket stammen.

‚Bestimmt so ein Verrückter, von denen es in amerikanischen Gefängnissen nur so wimmelt. Auf jeden Fall im Fernsehen. Oft sind es auch noch Schwarze, und dann haben sie meistens so eklige Tätowierungen auf ihren anabolika-mißgebildeten Oberarmen.‘

Er schauderte vor Unbehagen und zog zitternd die Unterhose an. Mit nervösen, fahrigen Bewegungen durchwühlte er einen halben Meter hohen Berg mit Kleidern auf einem Stuhl am Fenster und fand schließlich zuunterst eine schwarze, zerknitterte Baumwollhose. Während er sie anzog, hörte er, daß es vor dem Schlafzimmerfenster raschelte, schlurfte und prasselte. Es klang, als ob jemand direkt durch den verwachsenen Jasminbusch trampeln würde. Seit zehn Jahren schaute er ihn jeden Herbst an und dachte, daß man ihn vielleicht ein bißchen zurückschneiden könnte.

Dann klang es, als ob der Vandale mit schweren Militärstiefeln Größe 46 geradewegs in das Beet steigen und seinen mühsam gezogenen Thymianstrauch kurz und klein treten würde.

Er lief zum Fenster und zog vorsichtig die Gardine zur Seite, um in den Garten schauen und den psychopathischen Mörder einschätzen zu können – um dann zu entscheiden, was er machen sollte, entweder wütend werden und fluchen oder aus dem Küchenfenster springen.

Er sah aber nur dichten, milchigen Nebel, der wie eine große, wuschelig weiße Katze über dem Garten lag.

Er wollte gerade mit einem Ruck den Hosenstall zumachen, als der Hooligan wütend gegen das Fenster schlug.

‚Das gesunkene Ausbildungsniveau in diesem Lande kann einem allmählich Angst machen, es wird geradezu lebensgefährlich, wie soll das bloß enden, wenn die Leute nicht mal mehr Warnschilder lesen können?‘ Er holte tief Luft, machte den Hosenknopf zu, atmete aus und konnte förmlich hören, wie der schwarze Faden unter der Belastung stöhnte.

‚Vielleicht brauche ich ein größeres Schild? Mit deutlicheren Buchstaben? Ein einfach zu lesendes Schild. Mit klaren, kurzen Sätzen, das sogar ein halbblinder Schimpanse mit minimaler Begabung begreifen würde.

Aber vielleicht sieht man es nicht, wenn es so nebelig ist? Ich hätte mir so ein selbstleuchtendes Teil leisten sollen.‘

Er fand das T-Shirt ganz oben auf dem Bücherregal, es hatte sich über alle Bücherrücken zwischen den Buchstaben B und D drapiert. Er sprang hoch, erwischte es an einem Ärmel und zog es runter.

Eine neuerliche Faustattacke ließ die Scheiben unten im Wohnzimmer klirren.

Nachdem er eine Weile überlegt hatte, ob er seine neuen Timberland-Tractor-Schuhe anziehen sollte, um fixoflotto abhauen zu können (er bewahrte seine Schuhe immer im Schlafzimmerschrank im ersten Stock auf, um im Katastrophenfall schnell ausrücken zu können), entschied er sich doch für die Chinapantoffeln, die er in Japan gekauft hatte.

Er stürmte schweren Schrittes aus dem Schlafzimmer, hoffend, daß es ordentlich polterte und so den Eindruck erweckte, daß der Verursacher groß, um nicht zu sagen gigantisch war und außerdem undefinierbare Tätowierungen auf seinem muskulösen Bizeps hatte.

„Ja, ja, immer mit der Ruhe, verdammt!“ brüllte er und wollte eigentlich eine erschreckend tiefe Stimme hervorbringen, sie sollte durch den Flur dröhnen, schicksalsschwanger die Treppe hinabkollern und wie ein Donnerschlag in den Ohren des Eindringlings detonieren.

Es gelang leider nicht, was daher kam, daß seine Stimme noch nicht aufgewacht war – sie hatte normalerweise das beneidenswerte Privileg, noch eine Stunde länger schlafen zu dürfen, wenn alle anderen schon hatten aufstehen müssen.

Als sie jetzt überrumpelt wurde und plötzlich den Befehl bekam, unter Hochdruck zu arbeiten, war das Ergebnis eher ein krächzendpiepsiges Jaulen. Er fluchte in Gedanken vor sich hin, räusperte sich und versuchte es noch einmal.

„Wart einen Moment! Ich lege bloß noch die Hunde an die Kette und schalte den elektromagnetischen Stolperdraht aus!“ brüllte er und trampelte die Treppe runter.

Die Stimme klang zweifellos ein bißchen besser, aber er fragte sich doch, ob er nicht ein wenig übertrieben hatte, auf jeden Fall hörte das Klopfen auf. Er stürmte ins Wohnzimmer, starrte durch das Fenster und glaubte zu sehen, wie eine undeutliche Gestalt von den Gazebinden des Nebels verschluckt wurde.

‚Gazebinden des Nebels? War es nicht eben noch eine wuschelige Katze gewesen? Ja, ja, aber ist vielleicht auch egal.‘

Er gähnte mit so weit aufgerissenem Mund, daß es in den Ohren knackte und das Gehirn sprudelte wie eine Vitamintablette in einem Glas Wasser.

‚Der wahnsinnige Psychopath ist anscheinend wieder gegangen – wunderbar.‘

Seine immer noch halb schlafenden Gedanken schüttelten die Kissen auf, streckten sich und gähnten. Dann überredeten sie ihn, wieder hinaufzugehen und sich noch einmal hinzulegen.

Da klopfte es wieder an die Tür.

‚Es gibt doch Trollos, die nicht aufgeben.‘

Er machte die Innentür auf, fummelte die zwei Sicherheitsketten los, drückte die unsinnig kleinen Knöpfe des Kombinationsschlosses, drehte den Schlüssel im Sicherheitsschloß zweimal, schloß nacheinander das normale und das BKS-Schloß auf und machte dann die Tür mit einem Ruck auf.

Wenn es wirklich ein wahnsinniger Psychopath war, der da draußen im milchigen Nebel vor der Haustür stand, dann war es ein ausgesprochen kleiner, und außerdem hatte sie große, wunderschöne Augen, die in jeden Walt-Disney-Film gepaßt hätten.

‚Das ganze Mädchen hätte übrigens ...‘

Was?

‚... in jeden Disney-Film gepaßt. Wenn sie in Hollywood aufgewachsen wäre und die richtigen Eltern mit den richtigen Kontakten gehabt hätte, dann hätte sie mit vier ihre erste Filmrolle bekommen und wäre heute stinking rich und hätte unzählige Abtreibungen hinter sich, wäre unheilbar kokainsüchtig und würde übers Liften nachdenken.

Sie sieht aus wie dreiundzwanzig, ich schätze sie also auf neunzehn, aber es würde mich auch nicht wundern, wenn sie sechzehn wäre.‘

Sie hatte lange, dunkle Haare, lässig zusammengefaßt in einem schwanzähnlichen Ding, das ihr über die eine Schulter hing. Sie trug schwarze, enge Hosen und eine schwarze Jeansjacke, die viel zu groß aussah, die Ärmel waren ein paarmal hochgekrempelt, und trotzdem konnte man ihre Finger kaum sehen.

Er bemerkte, daß die Innenseite des Jackenkragens weiß war, was er ausgesprochen dumm fand, weil das die einzige Stelle an einer Jacke ist, die wirklich dreckig wird. ‚Wahrscheinlich ist die Absicht, daß man bald eine neue kaufen muß‘, dachte er. Unter der Jacke trug sie ein hellblaues Jeanshemd mit nietenähnlichen Metallknöpfen.

Er starrte sie mit offenem Mund an. Gleichzeitig kniff er mehrmals die Augen zusammen, weil er den vagen Verdacht hatte, immer noch zu schlafen und alles nur im Traum zu erleben.

Sie ihrerseits starrte ihn mit ihren großen Augen an. Ihr erster Gedanke war, auf dem Absatz kehrtzumachen und doch in die Schule zu gehen.

‚Was habe ich hier zu schaffen?‘ dachte sie. ‚Was für eine abgedrehte Idee. Und wahrscheinlich ist das Schild nur Bluff – er sieht nicht die Bohne zuverlässig aus.‘

Er war sehr groß – verglichen mit ihr jedenfalls. Die dunklen, lockigen, zerzausten Haare standen ab, das Kinn und das Stück zwischen Oberlippe und Nase war dunkel umschattet von Bartstoppeln, die Backen waren ‚naja, nicht direkt fett, aber irgendwie rundlich. Man kann wirklich nicht behaupten, daß er gut aussieht – schön ist er wirklich nicht, aber man kann auch nicht behaupten, daß er häßlich ist. Oder vielleicht doch?‘

Er hatte ein schrecklich zerknittertes, viel zu großes T-Shirt an, der Saum am Halsausschnitt war an mehreren Stellen aufgegangen, und es war auch nicht sonderlich sauber. Seine Arme waren dünn und weißlich bis zu den Ellbogen, die Unterarme hatten auf jeden Fall irgendwann einmal ein bißchen Sonne abgekriegt. Es würde sie nicht wundern, wenn er einen richtigen Bierbauch hätte, den er unter weiten Hemden und solchen flattrigen T-Shirts zu verstecken versuchte, genau wie ihr Vater.

Er sah überhaupt nicht so aus, wie sie es sich vorgestellt hatte, außerdem war der Hosenstall seiner schwarzen ausgebeulten Hose offen.

Als sie es bemerkt hatte, starrte sie wohl besonders in diese Richtung, denn er schaute auch hinunter, und seine linke Hand löste sich mit einem Ruck vom Türpfosten und schien auf den offenen Hosenstall zu zielen, änderte dann aber schnell die Richtung und zauste statt dessen in den Haaren.

Er schaute wieder hoch und verzog den Mund zu einem merkwürdigen Lächeln.

Er sah richtig dumm aus.

„Sind Sie – bist du der ...“, stotterte sie und war erstaunt, daß ihre Stimme so unnormal und verwirrt klang.

Das war die Stimme sonst nie, sie selbst übrigens auch nicht – oder auf jeden Fall sehr selten –, aber jetzt war sie es. Sie kam sich vor wie ein Baby, und außerdem wurde ihr auch noch heiß um die Wangen, kurz – sie wurde rot!

‚Was für eine Katastrophe. Warum werde ich rot? So was von lächerlich.‘

Sie senkte den Blick, um sich zu konzentrieren, aber da entdeckte sie seine schwarzen Chinapantoffeln. Sie hatten beide Löcher, ganz vorne am großen Zeh schaute das ehemals weiße Futter durch große, ausgefranste Löcher, und sie glaubte, die Nägel seiner großen Zehen zu sehen, was ihr merkwürdigerweise Übelkeit bereitete. Wirklich merkwürdig – ihr wurde sogar richtig schwindlig.

Um sich und ihre Augen zu trösten, warf sie einen schnellen Blick auf ihre neuen wildledernen Jodphur-Stiefeletten, und stellte ein weiteres Mal fest, daß sie wirklich sehr schön, supercool und jede einzelne Krone wert waren.

Sie holte tief Luft und schaute schnell hoch.

„Bist du, bist du T-Th-Theodor Bach?“ preßte sie hervor und spürte, wie eine saugende, spiralige Welle durch ihren Körper schwappte und alles schwarz wurde.

2

Ritsch!

Doch, es war wirklich Theodor Bach, der in der Tür stand und, gelinde gesagt, erstaunt war. Noch nie war jemand direkt vor seinen Augen ohnmächtig geworden, und er fand es ein wenig theatralisch.

‚Okay, ich seh morgens vielleicht nicht richtig taufrisch aus, aber deswegen ohnmächtig werden?‘ dachte er, als ihre Lider flatterten und die großen Pupillen verschwanden. ‚Oder vielleicht hat meine Erscheinung einen solchen Eindruck auf sie gemacht, daß ihre Gemütsbewegungen sie überwältigt haben?‘

Ihr Körper sank wie in einstudierter Zeitlupe zu Boden.

‚Vielleicht ist sie Schauspielerin.‘

Theodor wollte sie auffangen, wie er es schon so oft bei den Schönlingen auf den Videos gesehen hatte, aber die rechte Hand kam nicht vom Türgriff los, und die linke war immer noch intensiv damit beschäftigt, die Kopfhaut zu kratzen und über die peinliche Erinnerung an den Hosenstall hinwegzukommen. Die Folge war, daß ihr bewußtloser Körper direkt auf ihn zufiel, und obwohl sie als Ursache sehr klein war, gelang es ihr doch, eine große Wirkung zu entfalten.

Theodor Bach fiel nicht in Zeitlupe.

Er stürzte wie ein 500-Kilo-Elch an einem nebligen Herbstmorgen irgendwo in einem Sumpf droben in der norrländischen Wildnis und landete mit einem prachtvollen Donnern auf dem Holzboden der Eingangshalle. Gleichzeitig hatte er merkwürdigerweise das Gefühl, das Geräusch von zerbrechendem Glas zu hören – es klang ungefähr so, als ob jemand weit weg eine Glasschale auf den Boden fallen ließe. Aber die Gehörabteilung dachte nicht weiter darüber nach, weil Theodor nämlich in dem Moment einen seiner alten Holzschuhe in den Rücken bekam, direkt rechts oberhalb der Taille. Er war fest davon überzeugt, daß da eine von seinen Nieren saß, und sehr richtig, es tat weh. Der Gedanke, daß er sterben müßte, fing an, penetrant in seinem Gehirn zu blinken wie ein defektes Neonschild vor einem schäbigen Hotelzimmer.

‚Es gibt Schlimmeres‘, murmelten die Gedanken, als die Nase mit großem Einfühlungsvermögen berichtete, daß ihre Wangen wie ein friedlicher Sommermorgen am Meer dufteten. Ein Bündel Nervenenden und Sinnesfühler, das immer noch im Bademantel herumschlurfte, meldete, daß es, auch wenn sie schwerer war, als sie aussah, keineswegs ein unangenehmes Gewicht war, ‚ganz im Gegenteil, es ist ein weicher, durchtrainierter, perfekt proportionierter und warmer Körper, der auf uns liegt. Ausgesprochen angenehm, ja, um nicht zu sagen ...‘

‚Ihr verdammten Schweinigel.‘

Er versuchte, sich zu bewegen, und war sehr dankbar, daß der Sturz und die Kollision mit dem Holzschuh ihn nicht zum Invaliden gemacht hatten. Er holte die Hände hervor und versuchte, den weichen Körper beiseite zu schieben.

Das war gar nicht so leicht.

Er grunzte und fluchte, schwieg dann jedoch plötzlich, als er ihre rotschwarzschimmernden Haare ins Gesicht bekam, ein großer Teil blieb ihm an den Lippen kleben, und als er Luft holte, wurden sie in seinen halboffenen Mund gezogen, was ihn zum Spucken und Schnauben brachte (und jetzt klang er wirklich wie ein Elch).

Die Haare waren rot und schwarz, eigentlich vor allem schwarz, aber wenn das Licht auf eine ganz bestimmte Art drauffiel (und das tat es nun gerade), schimmerten sie in dunkelroten Schattierungen.

‚Das schmeckt ausgesprochen komisch. Schmeckt überhaupt nicht so gut, wie es riecht. Es schmeckt sogar ein bißchen so, wie heißer Essig riecht – metallisch und so scharf, daß einem fast die Luft wegbleibt und man meint, Asthma zu kriegen. Nicht, daß ich schon mal Asthma gehabt hätte, aber so stelle ich es mir auf jeden Fall vor –‘

Ja, ja. On with the show:

Theodor Bach lag auf dem Boden und hatte ein Teenie auf sich liegen. Und sein Hosenstall war immer noch offen.

‚Du meine Güte, stell dir vor, wenn so eine griesgrämige, moralinsaure Lehrerin vom Gymnasium drüben in Bromma uns so sehen würde?! Was das für Folgen hätte!‘

Er holte angsterfüllt Luft, schob den reglosen Körper beiseite. Dabei paßte er besonders gut auf, daß es ja nicht so aussah, als würde er sie begrapschen. Er stöhnte und stand auf. Als erstes versuchte er, den Hosenstall zuzumachen, aber der Reißverschluß hatte sich verklemmt. Als er versuchte, das winzige Ziehdingens loszukriegen, fiel sein Blick auf seine großen Zehen, die durch die Löcher in den Chinapantoffeln guckten.

‚Ich sollte mir öfter die Nägel schneiden‘, dachte er kummervoll. ‚Dann würden nämlich die Pantoffeln ein bißchen länger halten. Aber das gehört zu den Sachen, die man irgendwie vergißt. Geht es anderen Leuten auch so?‘

Er gab den Versuch, seinen Hosenstall zuzumachen, auf, ebenso die Überlegungen betreffs des Fußnägelschneidens. Er schaute zur Tür hinaus. Er konnte nicht mal die unterste Treppenstufe sehen. Es muß der schlimmste Nebel seit Lützen sein. Auch wenn die Lehrerinnenziege auf dem Dach der Schule gestanden hätte und mit einem Infrarot-Laser-Fernglas ausgerüstet gewesen wäre, hätte sie nicht in seinen Eingang schauen können.

‚Da war es also ganz unnötig – ich meine, da hätte ich doch ... Verflucht noch mal ...‘

Er machte die Tür zu und schaute auf ...

‚Das Mädchen? Den Teenie? Die junge Dame? Was sagt man denn? Es ist einfacher, wenn man weiß, wie jemand heißt. Alles wird dann viel einfacher.‘

Er ging mit einem Seufzer in die Hocke. Sie lag unbeweglich da und atmete ruhig und gleichmäßig. Es sah richtig gemütlich aus. Als ob sie schlafen würde.

‚Wenn man doch bloß den Mut hätte. Was kann sie bloß von mir wollen?‘ Er schaute sie eine ganze Weile an. ‚Sie sieht richtig gut aus. A real beauty, in fact. Sie ist bestimmt der Meinung, daß die fein modellierte und entschiedene Nase viel zu groß ist, aber ich würde Gott weiß was für so eine Nase geben; na, das wäre in ihren Augen bestimmt kein Kompliment.‘

Er beugte sich vor und studierte ihr Gesicht aus verschiedenen Blickwinkeln. ‚Hmm.‘ Er nickte zufrieden. ‚Auch nicht zu viel Make-up-Geschmiere. Genau richtig.‘ Immer noch in der Hocke, rutschte er wie ein Frosch um sie herum. ‚Und schau mal, was für tolle Schuhe. Oder Boots, so heißen die vielleicht. Sie haben Riemen um die Fesseln mit ganz kleinen Metallschnallen. Sieht sehr kompliziert aus. Kein Schuhe von der Sorte, in die man hineinsteigt, wenn man im Katastrophenfall schnell ausrücken muß. Ich glaube, solche Stiefel heißen Jodphurs. Keine Ahnung, warum. Komisches Wort. Ich muß es mal im Wörterbuch nachschlagen.‘ Er hob den einen Fuß und schaute auf die Sohle. ‚Fünfunddreißig! Ja verdammt. Sie hat sie noch nicht oft getragen, das steht fest. Sie sehen total neu aus und waren bestimmt scheißteuer.‘

Er lehnte sich ein wenig zurück und schaute sie blinzelnd an, mit der linken Hand formte er vor dem linken Auge eine Kameralinse (so wie es Regisseure manchmal im Fernsehen machen) und zoomte langsam ihr Gesicht heran. ‚Und die drei kleinen Pickel auf dem Kinn erkennt man nur bei einer Nahaufnahme, aber man sieht, daß sie versucht hat, sie auszudrücken. So ein Dummerchen, sie sollte doch wissen, daß sie davon nur schlimmer werden. Mhmm, wirklich ein richtig delikater kleiner Braten.‘

Was?

‚Ja, ja – ein richtig süßes Geschöpf, von mir aus.‘

Er bemerkte neben ihr auf dem Boden eine schwarze Ledertasche und versuchte, sie hochzuheben, aber zu seiner Überraschung hing sie fest.

‚Wieso sitzt die denn fest?‘

Wahrscheinlich weil es eine Schultertasche ist.

„Das erklärt überhaupt noch nicht, daß sie festsitzt!“ knurrte er ärgerlich und zog daran.

Der Schulterriemen liegt vielleicht immer noch über ihrer Schulter, und dann ist es ja kein Wunder, wenn sie so mit dem Arm daliegt.

‚Ähm ... naja, schon wahr. Genau. So wird es sein.‘ Mit überraschender Vorsicht hob er ihren rechten Arm. ‚Was für Handgelenke. Hast du das gesehen? So schmal! Guck mal, mein Zeigefinger reicht ja fast bis zur Daumenwurzel, wenn ich sie so halte. Daß die nicht abbrechen?‘

Er löste die dünnen Lederriemen von der Schulter, nahm die Tasche und setzte sich mit einem Ruck auf den Boden, ein Stück von ihr entfernt. Er versicherte sich mit einem raschen Blick in ihr Gesicht, daß sie immer noch ohnmächtig war, zog eine Grimasse, die deutlich ausdrückte, daß er die Luft anhielt in der Hoffnung, daß es nicht allzu viel Lärm machen würde, wenn er den Reißverschluß aufzog.

Es war eine ausgesprochen vorhersehbare Tasche. Es war in der Tat ein Klischee.

‚Ein Klischee?‘

Ja, wenn man sie aufgemacht hat, ist sie genau wie ein Klischee, das; -s, -s <franz.> 1. Druck-, Bildstock. 2. Abklatsch, abgegriffene Redensart.

‚Ja, sie ist ziemlich abgetragen. Sie muß sich mal eine neue kaufen. Die fällt schon fast auseinander, guck mal, das Leder ist an der Seite richtig abgeblättert, und die Nähte am Griff gehen auf.‘

Innen herrschte das totale Chaos: zerfledderte Schulbücher, zusammengeknüllte Papiertaschentücher, alte Kinokarten, Lippenstifte, ein sehr schmutziger Schreibblock DIN A5, kleine runde, flache Plastikdöschen, die sicher etwas mit Make-up zu tun hatten, abgebrochene Haarnadeln, viel durchsichtiges Zellophan, das von Zigarettenpäckchen zu stammen schien, ein paar Kaugummipäckchen mit jeweils einem oder zwei Kaugummis drin, ein Schlüsselbund, einige billige Tintenkulis, in denen schon seit Jahren keine Tinte mehr war, fünf weiße, fingerdicke, daumenlange, zylindrisch geformte Dinger, in Plastik eingepackt und mit einem knallroten Band in der Mitte (er verstand überhaupt nicht, was es war, tippte auf eine Süßigkeit, vielleicht auch Kaugummi, und nahm eins davon neugierig in die Hand, legte es dann aber sehr schnell mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck zurück), ein abgebrochenes Lineal, zwei Fläschchen Nagellack usw. usw.

Mit anderen Worten, es sah genau so aus, wie es immer in Mädchentaschen aussieht, wenn sie in Büchern, Filmen oder Comics vorkommen – die Tasche war also ein Klischee.

Mitten in dem Chaos bemerkte Theodor ein pfeilförmiges, kleines metallenes Etwas, das ihn so erstaunte, daß er es herausnahm und genau betrachtete. Er hatte so etwas noch nie gesehen, obwohl es ihn an etwas erinnerte. Es bestand aus zwei etwa fünf Zentimeter langen, sich verjüngenden Metallstangen, die an einem Ende miteinander verbunden und sanft gegeneinander gebogen waren, so daß sie sich am anderen Ende wieder berührten.

Auf dem einen war noch ein schmaleres, kleineres Metallding. Er machte es los und stellte fest, daß man es drehen konnte und daß dann die gebogene Seite in die andere Richtung zeigte (also nach oben) (oder nach unten), und da wußte er plötzlich, was es war – ein Nagelschneider, aber wirklich der kleinste Nagelschneider, den er je gesehen hatte.

‚Kann man vielleicht mal gebrauchen‘, dachte er und lehnte sich ein wenig zur Seite, damit er ihn in die Hosentasche stecken konnte.

Er fand noch eine Geldbörse und eine Buskarte in einem Innenfach, das mit einem Reißverschluß verschlossen war und auf dem ein Schildchen mit Name und Adresse klebte.

Stephanie Lecksell.

Na prima, jetzt haben wir wenigstens einen Namen für sie. Stephanie.

‚Mit ph wie in Alphorn ...‘

Aber es ist doch ein hübscher Name? Stephanie.

‚Vielleicht ein bißchen zu lang. Und schwer auszusprechen. Ich glaube, ich werde sie Steff nennen. Viel flotter und kürzer, paßt viel besser zu ihr.‘

Die Adresse sagte ihm nichts. Er schaute noch einmal die Buskarte an und fand unter dem Foto (sie sah sich ähnlich, obwohl sie auf dem Foto natürlich die Augen offen hatte) die Personennummer mit Geburtsdatum, aus dem hervorging, daß sie sechzehn war und in sechs Wochen siebzehn würde.

‚Hab ich es nicht gleich gesagt. Only sixteen. Ja verdammt. Sechzehn Jahre.‘

Er hielt die Buskarte vor ihr Gesicht und nahm sie wieder weg – er machte es immer wieder und immer schneller.

‚Guck mal, wenn man es ganz schnell macht und die Augen zukneift, dann sieht es fast so aus, als ob unser sechzehnjähriges Dornröschen blinzelt, als ob sie aufwachen würde. She’s only sixteen. Ja verdammt ... Aber man ist keinen Tag älter, als man sich fühlt, oder wie sagen die solariumgerösteten Weiber in ihren Jogginganzügen immer. Aber ich war mindestens fünfundvierzig als ich sechzehn war, denn damals fühlte ich mich richtig alt, das weiß ich noch genau. Ich hatte das Gefühl, alles ist sinnlos, und ich war felsenfest davon überzeugt, daß ich mir das Leben nehmen würde, wenn nicht ein Big Radical Change einträfe und das Leben in Schwung brächte. Also deshalb fühle ich mich jetzt auch irgendwie wie ein Sechzehnjähriger, gewissermaßen ...‘

Er legte die Buskarte beiseite, aber sein Blick ruhte immer noch auf der bewußtlosen Stephanie Lecksell.

‚Tatsache ist, daß ich nichts mehr mit einer Sechzehnjährigen zu tun hatte seit ... ja, seit ich siebzehn war. Ich weiß nicht einmal mehr, wie sie hieß, ich weiß nur noch, daß sie einem Mädchen sehr ähnlich sah, das ich viele Jahre später mal im Playboy gesehen habe – ich weiß allerdings immer noch, wie sie aussah –, die im Playboy, meine ich. Sie trug auf einem der Bilder einen Hut mit breiter Krempe. Mhmm ... ich war damals ziemlich scharf auf diese Sechzehnjährige, obwohl sie ziemlich anstrengend war und ständig „hard to get“ spielte. Ich mußte sie dauernd bedrängen, obwohl sie natürlich wollte. Ob die Sechzehnjährigen heute wohl immer noch so sind wie damals? Wenn ja, dann schläft sie hoffentlich noch lange.‘

Er machte die halbrunde lederne Geldbörse auf. Sie hatte auf einer Seite ein unglaublich kitschiges Reliefbild von einer zuckersüßen Alpenlandschaft. Es waren drin: ein Hunderter, ein paar einzelne Kronen und ein Kronkorken. Ein Kronkorken? Er holte ihn heraus. Doch, es war ein ganz normaler Coca-Cola-Flaschen-Kronkorken. Er zuckte mit den Schultern und ließ ihn wieder fallen.

‚Hundertvier Kronen und ein Kronkorken‘, dachte er enttäuscht. ‚Aber naja, für ein paar Bierchen würde es reichen ...‘

Nach einer intensiv und heftig geführten internen Diskussion über Moral und Ethik brachte er schließlich die Hände dazu, die Geldbörse wieder zuzumachen, und steckte sie zusammen mit der Buskarte wieder in das Seitenfach.

Sie kann ja wohl nicht ewig hier auf dem zugigen Holzboden liegen?

‚Nein, genau.‘

Er stand auf, stöhnte ein bißchen dabei, dachte daran, daß er vielleicht doch versuchen sollte, wieder mit The Gymnastics anzufangen. Er kam allmählich aus dem Training. Es war bestimmt vier Jahre her, daß er zehn Liegestütz gemacht hatte und zwei Runden durch den Garten gejoggt war, und das hatte ihn ziemlich angestrengt.

Er war völlig am Ende gewesen, um ehrlich zu sein – er hatte bestimmt einen Monat lang in Bauch und Oberschenkeln Muskelkater gehabt.

‚Oder vielleicht sollte ich einfach ein bißchen weniger essen und nicht so viel Bier trinken? Das funktioniert vielleicht genausogut. Es ist so verdammt öde, Liegestütz und Kniebeugen zu machen und draußen in der Natur herumzukeuchen wie ein Hirsch.‘

Hirsch? Elch, das schon eher.

‚Tss!‘ schnaubte er und beugte sich unter lautem Keuchen und Stöhnen hinunter.

Theodor wird in der nächsten Zeit unglaublich oft keuchen und stöhnen, das ist sicher. Wenn man es jedesmal festhalten und erwähnen wollte, würde das ein richtiger Ziegelstein von Buch werden.

Nach einigen tiefen Atemzügen und übertriebenem Gejammer von Seiten der Rückenpartie, gelang es ihm schließlich, Stephanie Lecksell hochzuheben und sie zu dem abgewetzten alten Ledersofa mitten im Wohnzimmer zu tragen.

Es war nicht sehr weit, aber trotzdem jaulten die Armmuskeln mehrmals, daß sie bis zum Bersten voll mit Milchsäure seien.

Und obwohl es keine zwei Minuten dauerte, sie über die Schwelle und zum Sofa zu tragen, konnten die Gedanken doch eine ganz erstaunliche Menge von Dingen denken: zum Beispiel, daß das Leben doch grausam war. Es hatte sich verdammt noch mal nie die Gelegenheit geboten, eine ohnmächtige sechzehnjährige Schönheit zu tragen, als er es dringend gebraucht hätte – vor zirka zwanzig Jahren; zum Beispiel, daß er seinen Hosenstall zumachen würde, sobald er sie hingelegt hatte; zum Beispiel, daß es vielleicht doch kein so schlechter Gedanke war, wieder mit Training und Joggen anzufangen; zum Beispiel, daß er mit Leichtigkeit selbst eine Tochter von sechzehn oder sogar noch älter haben könnte (‚Mein Gott! Stell dir mal vor, Vater von so etwas zu sein?! Was für eine Verantwortung! Und was das kosten würde!‘). Und was zum Teufel will Stephanie Lecksell von Theodor Bach?

Die Gedanken schafften es sogar noch, in die Erinnerungsabteilung hinunterzulaufen und in ein paar staubigen Kartons mit der Aufschrift The Teens herumzuwühlen. Theodors Gedanken waren total begeistert davon, englisch-amerikanische Ausdrücke zu verwenden, sie fanden, sie machten das Dasein irgendwie fetziger.

Nach einem kurzen Blick in The-Teens-Erinnerungen gaben die Gedanken allerdings zu, daß die englischen Ausdrücke in diesem Fall nichts auch nur ein bißchen fetziger machten. Sie verstauten die Kartons ganz schnell wieder, schlossen die Türen ab und wiederholten statt dessen die letzten Notizen, diesmal allerdings auf videoamerikanisch:

„What the fuck could fucking Stephanie Lecksell want fucking Theodor Bach?“

Er kannte niemanden, der Lecksell hieß, hatte auch nie jemanden gekannt, sie konnte also kaum die Tochter irgendeines dummdreisten Klassenkameraden sein. Und das war immerhin etwas, es hätte sonst ziemlich peinlich werden können. Oder – der Gedanke tauchte unerwartet und heftig auf, ungefähr wie eine blauschwarzglänzende Ölfontäne aus einem Bohrturm, den schon alle Ölscheichs aufgegeben hatten – könnte es sein, daß sie eine Lady in Distress war? Aber war sie nicht ein bißchen sehr jung dafür?

Aber, aber – die Zeiten hatten sich geändert, die Welt war kleiner geworden, und alles ging heute viel schneller als früher, schon von Geburt an wurden die Kinder mit Informationen überflutet und mit Geräuschen und Bildern, und vielleicht entwickelten sie sich auch schneller, das Sexdebut fand viel früher statt (isn’t it shocking?), Dreizehnjährige waren dreimal im Monat betrunken. Das haben sie jedenfalls neulich abends im Fernsehen mit vor Ernst zitternder Stimme gesagt, und er hatte vor ein paar Tagen in einer Zeitung die Meldung gelesen, ein Lehrer habe festgestellt, daß ein Fünfzehnjähriger heroinabhängig war. ‚What is the world coming to? Teenager sind mit anderen Worten nicht mehr so wie Teenager früher waren, nicht?‘ Deshalb war sie vielleicht doch A Young Lady in Distress.

Aber andererseits hatte sie bloß einen Hunderter in der Geldbörse, das reichte ja nicht mal für eine superkurze Beratung, es sei denn, er bekäme ihn schwarz ...

Er beugte sich über das Sofa, um sie sehr vorsichtig hinzulegen, aber plötzlich schlug sie die Lider auf und starrte ihm direkt in die Augen, und da bekam er solche Angst, daß seine Arme sie einfach fallen ließen, so schnell sie nur konnten.

Sie landete mit einem Plumps auf dem Sofa, schlug sich den Kopf an der Armlehne an und rutschte halb auf den Boden.

„Verdammt noch eins, hast du mich erschreckt!“ rief Theodor aus und blieb wie versteinert über sie gebeugt stehen.

Seine Arme waren immer noch ausgestreckt, und Stephanie fand, daß es so aussah, als ob er sie erwürgen wollte, wie Frankenstein ungefähr.

„Was zum Teufel machst du denn?!?!“ schrie sie, setzte sich schnell auf, starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und versuchte gleichzeitig mit Hilfe der Hände, rückwärts über die Armlehne zu klettern.

Geschmeidig wie eine Katze glitt sie auf den Boden neben eine Wolldecke, die sie sah, ohne sie zu sehen – sie war sich jedenfalls nicht bewußt, daß sie sie sah, aber ein Trupp Zapfen, die sich The Yellow Taps nannten und am liebsten am Rande des Gelben Flecks im linken Auge arbeiteten, weil sie ausgesprochen gerne Dinge sahen, die die anderen Zapfen auf der Netzhaut oft gar nicht bemerkten, sahen sie sofort.

‚Guck mal, da liegt eine Wolldecke! Sieht aus wie eine richtig warme und kuschelige Wolldecke.‘ Aber die anderen Millionen Zapfen im innersten Kreis des Gelben Flecks schrien:

‚Wir haben jetzt keine Zeit für solche Einzelheiten, kommt lieber hierher und helft mit!‘ Sie stellten die Schärfe ein, um abzuschätzen, wie weit es wohin war und wie Stephanie am schnellsten davonlaufen konnte.

„Ich wollte dich doch nur hinlegen“, sagte Theodor Bach ärgerlich, zuckte mit den Schultern und ließ die Arme hängen.

„Und warum, wenn ich fragen darf?!“ fragte Stephanie, und es gelang ihr, die Stimme verächtlich, andeutungsvoll und scharf wie einen Peitschenhieb klingen zu lassen.

Sie war ziemlich zufrieden damit, aber dann fiel ihr ein, was passiert war: Sie war rot angelaufen, ihr war schwindelig geworden und – sie war ohnmächtig geworden. ‚Das kann doch wohl nicht wahr sein. Das ist mir ja noch nie passiert.‘

„Weil du ohnmächtig geworden bist, versteht sich. Als du – ähm, mich gesehen hast. Und ich ...“

„Wo ist meine Tasche?!“

„Draußen ...“

Ohne den Blick von ihm zu lassen, ging sie schnell hinaus in die Halle, hob die Tasche auf und schob mit einer gekonnten Bewegung den Schulterriemen über die rechte Schulter. Dann stellte sie sich in die Tür zum Wohnzimmer, lehnte sich an den Türpfosten und versuchte, cool auszusehen. Das war nicht so leicht, ging aber ein bißchen besser, nachdem sie einen Blick auf ihre neuen Wildleder-Jodphurs geworfen und festgestellt hatte, daß die auf jeden Fall supercool aussahen.

Theodor stand immer noch beim Sofa und folgte ihr mit dem Blick. Er kam allmählich über den Schock hinweg, der allerdings wurde durch eine gewisse Verärgerung ersetzt:

„Wenn du vielleicht die Güte haben könntest mir zu sagen, warum du verflucht noch mal versucht hast, hier einzubrechen!“ schrie er und blitzte sie an.

Stephanie fand es richtig anstrengend, wie er sie so anstarrte, und deshalb wandte sie ihren Blick ab und ließ ihn im Zimmer umherschweifen. Der stellte rasch fest, daß es groß und länglich war und ziemlich kahl aussah. Sie war einmal über das Wort „spartanisch“ gestolpert, und wenn sie es richtig verstanden hatte, dann wäre es der passende Ausdruck, um ein solches Zimmer zu beschreiben.

An der hinteren Schmalseite stand ein riesiger schwarzer Fernseher, so ein Großbildfernseher, wie sie ihn bisher nur in der Werbung und in Schaufenstern gesehen hatte.

Mitten im Zimmer auf dem teppichlosen Parkettfußboden stand ein Chesterfieldsofa neben einem kleinen runden Tisch. ‚Man hat zwar schon abgewetzte Sofas gesehen, aber das hier schießt den Vogel ab.‘ Groß war es außerdem, und an der einen Armlehne lag ein zusammengeknautschtes weißes Kissen. Die Wand zum Garten war mit vollgestopften Bücherregalen bedeckt, die beide Fenster einrahmten. Das war alles. Es war also ziemlich leer. Oder wenigstens spartanisch. Die anderen Wände waren weiß, und es hing kein Bild, kein Foto, nicht einmal ein Plakat daran.

„Einbruch? Pah!“ schnaubte sie. „Ich habe ganz oft geklingelt.“

„Die Türklingel ist kaputt“, sagte Theodor müde.

„Und wie soll ich das ahnen?“

„Natürlich kannst du das nicht wissen. Aber wenn niemand kommt und aufmacht, dann kannst du dir doch denken, daß niemand zu Hause ist, und später wiederkommen, anstatt zu versuchen, das Fenster einzuschlagen.“

„Ich habe ans Fenster geklopft. Und im übrigen warst du doch zu Hause, nicht wahr?“

„Widersprich mir nicht!“

„Und außerdem steht da, daß du von acht an aufhast, oder?“

„Ja, ja, man sagt viel im Leben, was man nicht so ernst meint.“

„Hast du einen Ausweis?“

„Ausweis?“ Theodor traute seinen Ohren nicht. ‚Lernen die denn in der Schule überhaupt nicht mehr, ein bißchen Respekt vor der Reife des Alters zu haben?‘ dachte er sauer. „Natürlich habe ich einen Ausweis, ich bin schließlich autorisiert. Das steht doch auf dem Schild, aber vielleicht ist es ja ein zu schwieriges Wort für dich.“

Sie schleuderte wütend die Haare über die Schulter nach hinten und warf so einen „Mein-Gott-bist-dublöd-Blick“ zur Decke und stellte fest, daß die Dekkenlampe wirklich nur eine Lampe an der Decke war – eine ganz normale Glühbirne, die einsam an einem schwarzen Kabel baumelte.

Theodor zog die Hand durch die Haare und versuchte sie zu glätten, aber sobald er die Hand wieder wegnahm, schnurrten die Locken wieder zusammen und standen nach allen Seiten ab. Stephanie mußte lächeln.

„Grins nicht so blöd! Was zum Teufel willst du eigentlich?“ schrie er und richtete sich mit einem Ruck auf.

Stephanie spürte, wie ein Stich von Angst sie durchfuhr, und machte einen Schritt rückwärts, holte dann aber tief Luft und versuchte, ganz ruhig zu sein, als sie sagte: „Ich bin hergekommen, weil ich Hilfe in einer Angelegenheit brauche und dachte, daß so jemand wie du vielleicht der Richtige sein könnte. Aber ich glaube, ich habe es mir anders überlegt. Und außerdem ist dein Hosenstall offen.“

Theodor warf einen langen Blick zum Fenster und zuckte mit den Schultern, zog beide Mundwinkel nach unten und verdrehte die Augen. Es sah aus, als ob er jemand anderem da draußen im Nebel Grimassen schneiden würde.

„Ja, ich weiß“, sagte er und schaute sie ganz ernst an. „Und wenn schon. Stört es dich etwa?“

Sie ließ wieder den Blick schweifen. ‚Mit diesem Knallkopp kann man ja kein Wort reden. Da kann ich genausogut in die Schule gehen.‘

Sie drehte sich um, ging zur Haustür, schaute verwirrt die vielen Schlösser an und wußte nicht, welches sie zuerst aufmachen sollte. Sie war schon wieder durcheinander und verwirrt. Das machte sie so wütend, daß sie die Tasche auf den Boden fallen ließ und sich wieder zum Zimmer umdrehte.

Theodor Bach stand immer noch neben dem Sofa und versuchte, den Hosenstall zuzumachen, hatte aber ganz offensichtlich Probleme damit. Er spürte ihren Blick und schaute hoch.

„Er will nicht“, seufzte er kummervoll.

„Was?!“

„Er läßt sich nicht betten und will nicht.“

Er konzentrierte sich stark, zog noch einmal, und da ging mit einem Ritsch! der Reißverschluß hoch.

„So!“ sagte er zufrieden. „It’s done.“

„Du spinnst ja“, sagte Stephanie und merkte zu ihrem Erstaunen, daß sie ihn anlächelte.

„Stimmt genau.“ Er nickte. „Hast du schon gefrühstückt?“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Das weißt du nicht? Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe. Man muß doch verdammt noch mal wissen, ob man gefrühstückt hat oder nicht? Oder hast du so ein Black-out bekommen beim Down-coolen?“

„Frühstücke nie.“

„Kein Wunder, daß du so schwach auf der Brust bist. Ich habe Hunger wie ein Wolf. Du kannst den Kaffee machen.“

3

Tsss ...

In den folgenden Stunden wollte Stephanie mehrere Male ihre Tasche nehmen und gehen, Theodor Bach in der großen Küche im ersten Stock sitzenlassen und versuchen, den ganzen Vormittag und ihr peinlich dummes Vorhaben zu vergessen. Unzählige Male hatte sie sich gewünscht, das gelbe Schild unten am Tor nicht gesehen zu haben.