Stein - Reinhard Kleindl - E-Book

Stein E-Book

Reinhard Kleindl

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die ehemalige Wiener Mordermittlerin Anja Grabner will den Fall, der sie ihre Karriere kostete, einfach nur vergessen: die Entführung des Bankiers Bert Köhler, das grausame Katz-und-Maus-Spiel des Täters, die Lösegeldforderungen, denen Körperteile des Opfers beigelegt waren. Und den Ort Stein, wo sich nach einem anonymen Hinweis die Spur verlor. Doch ein Anruf ihres ehemaligen Partners zwingt Anja genau dorthin zurück. Und die schrecklichen Geheimnisse und der abgrundtiefe Hass der verschworenen Dorfgemeinschaft von Stein drohen ihr erneut zum Verhängnis zu werden …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 473

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die ehemalige Wiener Mordermittlerin Anja Grabner will den Fall, der sie ihre Karriere kostete, einfach nur vergessen. Vor fünf Jahren wurde der erfolgreiche Bankier Bert Köhler brutal entführt. Die Täter spielten ein grausames Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei und schickten immer wieder Lösegeldforderungen, denen Körperteile des Opfers beigelegt waren. Ihre Ermittlungen führten Anja damals in einen kleinen Ort auf dem österreichischen Land – Stein –, wo sich nach einem anonymen Hinweis die Spur verlor. Doch ein Anruf ihres ehemaligen Partners Kaspar Deutsch zwingt Anja genau dorthin zurück. In der Hoffnung, den Fall endlich abschließen zu können, rollt sie ihn neu auf. Und die schrecklichen Geheimnisse und der abgrundtiefe Hass der verschworenen Dorfgemeinschaft von Stein drohen Anja erneut zum Verhängnis zu werden …

Autor

Reinhard Kleindl, 1980 in Graz geboren, hat ein Faible für Hochspannung. Der studierte Naturwissenschaftler ist professioneller Slackliner und spannte sein Band schon über die Victoriafälle. Seine zweite Leidenschaft ist das Schreiben. »Stein« ist der erste Thriller um die Ermittlerin Anja Grabner.

Mehr zu Reinhard Kleindl unter: http://www.reinhardkleindl.at

und https://www.instagram.com/reinhard.kleindl

Reinhard Kleindl

Stein

Thriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Der Ort Stein und alle in diesem Roman vorkommenden Personen sind fiktiv. Ähnlichkeiten zu realen Personen, so vorhanden, sind zufällig und ohne Bedeutung.
Copyright © 2018 by Reinhard Kleindl Copyright © der Originalausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: FinePic®, München KS · Herstellung: kw Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN: 978-3-641-22750-0V002
www.goldmann-verlag.de
Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für euch

1

Es ist ein herrlicher Tag. Ganz lau, nicht zu warm. Die Blätter rascheln, wenn der Wind hindurchfährt, sie sind jetzt ganz gelb. Die Brombeeren sind gerade reif, ich habe heute schon welche geerntet. Ich mag den Herbst am liebsten. Wenn man merkt, dass jede Stunde kostbar ist. Wenn man in der Sonne sitzt und die letzten Strahlen genießt, bevor der Winter kommt.

Schade, dass Sie das nicht sehen können. Ich habe schon überlegt, ob ich Sie in den Garten bringe, aber da ist leider nichts zu machen. Nicht, dass jemand Sie entdecken könnte, davor habe ich keine Angst. Meine Nachbarin ist heute nicht zu Hause, im Garten wären wir sicher. Es ist die Treppe. Ich weiß einfach nicht, wie ich Sie die Stufen hinaufkriegen soll, wo Sie doch nicht mehr gehen können. Ich werde Ihnen einfach erzählen, wie es draußen aussieht. Das bin ich Ihnen schuldig.

Wie die Zeit vergeht. Bald wird der Winter da sein. So lange sind Sie jetzt schon hier bei mir.

Mittwochvormittag

Symptome: Kopfschmerzen, Unwohlsein, flauer Magen. Chemische Ursachen: Dehydration, Dysäquilibrium, Denaturierung körpereigener Eiweiße durch Acetaldehyd. Letzteres entsteht, wenn der Körper Ethanol abbaut. Die Summe dieser Anzeichen wird in der Medizin Veisalgia genannt, besser bekannt unter dem Begriff »Kater«.

Anja Grabner wälzte sich aus dem Bett und landete auf einem Haufen benutzter Kleidungsstücke, die ihren Aufprall dämpften. Sie musste dringend auf die Toilette, doch als sie so auf dem Rücken lag, die Arme links und rechts ausgestreckt, ließ der Druck in ihrem Kopf nach, und sie gab sich dem Gefühl hin. Der Euphorieschub währte nur kurz, bevor ihr Magen rebellierte und sie feststellte, dass sie wirklich auf dem schnellsten Weg zur Toilette musste.

Mühsam kam sie auf die Beine, wankte nackt über den Flur und versuchte, die kreisenden Bewegungen ihres Kopfes unter Kontrolle zu bekommen. Er schien einfach zu weit oben zu sein, sie konnte ihn nicht ruhig halten. Schon als Kind war sie sehr groß für ein Mädchen gewesen. »Den Kopf in den Wolken«, hatten ihre Lehrer gesagt. Später bei der Polizei hatte ihre Größe ihr Autorität verschafft. Heute kam sie sich noch größer vor als sonst, wie ein schwankender Mast, der jeden Moment umzustürzen drohte.

Nachdem sie sich erleichtert hatte, ging sie in die Küche, um etwas zu trinken. Wasser, für alles andere war es zu früh. Auf dem Tisch standen benutzte Gläser, daneben lag ihr Handy und blinkte nervös. Sie nahm es und sah, dass sie eine Reihe neuer Facebook-Nachrichten erhalten hatte.

Super Bilder!!! :D :D schrieb Fred, ihr Arbeitskollege.

Welche Bilder?

Als Anja auf ihre Timeline ging, starrte ihr ein Foto von ihr selbst entgegen: gerötete Augen, glänzende Haut, enthemmtes Lachen. Ihr langes dunkelblondes Haar war zerzaust, sah aber gar nicht schlecht aus, fand sie. Ihre Naturlocken hatten sich ohnehin noch nie bändigen lassen, ein geringer Preis dafür, dass sie durch ihre Mähne erheblich jünger wirkte – eine attraktive Mittdreißigerin in Partylaune. Der Hintergrund des Bildes war dunkel, vereinzelte bunte Lichter durchbrachen die Schwärze. Jemand namens Mi Ka hatte das Foto auf ihre Timeline gestellt, vor wenigen Stunden erst. Wer zur Hölle war Mi Ka? Laut Facebook war sie mit ihm befreundet.

Vor ihrem geistigen Auge tauchten Erinnerungsfetzen des vergangenen Abends auf. Anja ging zurück ins Schlafzimmer und stellte fest, dass jemand in ihrem Bett lag, den nackten Rücken und kurzhaarigen Hinterkopf ihr zugewandt.

Ja, da war etwas gewesen. Nun wusste sie es wieder.

Was genau passiert war, konnte sie nicht mehr sagen, aber sie hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon. Das Prozedere war immer das gleiche, nur die Männer wechselten. Zumindest glaubte sie, dass es sich bei der halb zugedeckten Person in ihrem Bett um einen Mann handelte. Eigentlich stand sie auf Männer, möglichst so groß wie sie selbst oder größer, doch so genau konnte sie nie einschätzen, was ihr einfiel, wenn sie etwas getrunken hatte. Dann übernahm eine wildere, zwanzig Jahre jüngere Anja die Kontrolle. Eine Version ihrer selbst, auf die sie im Moment keine Lust hatte, obwohl der Typ, der sich gerade auf den Rücken drehte und zu ihr aufsah, ihr sogar gefiel. Wieder ein Junger. Nicht schlecht, kleine Anja, du hast es immer noch drauf.

Ihr fiel auf, dass sie nach wie vor nackt war, also griff sie nach dem schwarzen Slip, der vor ihr auf dem Boden lag, und zog ihn an. Dann trat sie mit verschränkten Armen näher an das Bett.

»Sorry«, sagte sie, »du musst jetzt gehen. Ich fliege in den Urlaub und muss noch packen. Nichts für ungut, aber ich sag’s dir gleich. Ich habe keine Ahnung mehr, wie du heißt. Und was gestern passiert ist, hat nichts zu bedeuten. Ist nichts Persönliches, okay?«

Er rieb sich die Augen. »Okay«, antwortete er nach einer Schrecksekunde. »Kann ich noch aufs Klo?«

»Sicher kannst du aufs Klo. Du kannst auch ein Glas Wasser haben.«

»Danke.«

Fünf Minuten später stand er angezogen im Flur. Sie wich seinem Blick aus.

»Tschüss«, sagte er.

»Tschüss.«

Anja öffnete ihm die Tür. Sie hatte Angst, dass er noch etwas sagen, sie vielleicht umarmen oder sogar auf die Wange küssen wollte. Doch er trat einfach an ihr vorbei auf den Gang. Er hatte auch nicht nach ihrer Nummer gefragt. Von ihm würde nichts zurückbleiben als sein Geruch und das Gefühl der Leere, das sie so gut kannte.

Gedankenverloren schloss sie die Wohnungstür und ging zurück in die Küche. Sie warf einen Blick auf ihr Handy, das noch immer blinkte. Ein entgangener Anruf. Anja wunderte sich, dass sie das Klingeln nicht gehört hatte. Es war eine unbekannte Nummer. Wer konnte das sein? Hatte sie letzte Nacht etwa noch mehr Unsinn angestellt? Sie rief zurück.

»Hallo, Anja«, meldete sich eine vertraute männliche Stimme. »Geht es dir gut?«

Anja streckte die Hand aus, um sich an der Lehne eines der Küchenstühle abzustützen. Das Schwindelgefühl war wieder da, heftiger als zuvor. Es war Kaspar Deutsch, der Leiter der Abteilung für Gewaltverbrechen beim Landeskriminalamt. Ihr ehemaliger Kollege.

»Was willst du?«, fragte sie.

»Ich möchte mit dir reden. Kannst du vorbeikommen?«

»Wozu?«

»Es gibt da etwas, das ich mit dir besprechen muss«, sagte er. »Es ist wichtig.«

»Was ist so wichtig?«

Kaspar Deutsch zögerte. »Es geht um Stein«, sagte er dann.

Bevor er noch etwas hinzufügen konnte, drückte Anja ihn weg. Einige Sekunden lang klammerte sie sich an die Stuhllehne, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als das Schwindelgefühl nachließ, bemerkte sie, dass das Handy auf den Boden gefallen war. Sie hob es auf, legte es auf den Tisch und ging ins Badezimmer. In der Dusche drehte sie das kalte Wasser auf und hielt das Gesicht unter den Strahl. Die Kälte tat ihr gut und ließ das Schwindelgefühl endgültig verschwinden.

Anjas Vater lebte in einem Plattenbau im 10. Bezirk in Wien, zwanzig Minuten Autofahrt von ihrer Wohnung entfernt. Als Teenager hatte Anja selbst eine Zeit lang mit ihm zusammen hier gewohnt. Nach ihrem Auszug war ihr Vater geblieben. Ein in die Jahre gekommener Lift ohne Innentür brachte sie in das fünfte Stockwerk.

Ihr Vater umarmte sie kurz, als er ihr die Tür öffnete.

»Ich wollte nur ein paar Sachen holen«, erklärte sie. »Ich fliege nämlich in den Süden.«

Anjas altes Zimmer war praktischerweise zum Abstellraum umfunktioniert worden. Das Bett, das ihr Vater immer noch für sie frei hielt, war inzwischen von Umzugskartons umstellt. Fairerweise musste man sagen, dass diese zum Großteil ihr gehörten. Zwischen Stofftieren und Sandspielzeug fand sie eine Taucherbrille mit Schnorchel und ein Paar Flipflops, das ihr noch passte, wie sie zufrieden feststellte. Die beiden Bikinis, die sie aus einem der Kartons angelte, rochen muffig, aber etwas Meerwasser würde Wunder wirken. In der Kiste befand sich auch ihr luftiges Strandkleid mit einer aufgedruckten Palme und der Aufschrift Waikiki Bitch. Anja musste lachen, als sie es sah. Sie trug selten Röcke oder Kleider, Jeans und T-Shirt waren eher ihr Ding, gelegentlich auch ein weißes Hemd. Für den Strand war dieses Teil aber perfekt.

»Und wo geht die Reise hin?«, fragte ihr Vater, der in der Tür stand.

»Sansibar.«

Er nickte beifällig. »Hast du so schnell Urlaub bekommen?«

»Ja«, entgegnete Anja lapidar.

»Toll, wenn das geht. Gefällt dir die neue Arbeit? Was machst du da noch einmal genau? Ich vergesse das immer.«

»Da, halt mal«, sagte sie und drückte ihm zwei Taucherflossen in die Hand, um sich nach einer Badetasche umzusehen. Sie fand eine und packte alles hinein.

»Kommst du noch mit raus auf den Balkon, bevor du gehst? Nimm dir einen Kaffee.«

Ihr Vater wandte sich um und ging in die Küche. Anja war erleichtert. Sie hatte keine Lust, ihm von ihrem Job beim Sicherheitsdienst zu erzählen. Dass sie sich in zweitklassigen Techno-Clubs von besoffenen Halbstarken anmachen lassen musste, die ihr gerade mal bis zur Brust reichten. Ob sie nach ihrem Urlaub weiter dort arbeiten würde, hatte sie noch nicht entschieden. Vielleicht würde sie länger auf Sansibar bleiben als geplant.

In einer der Kisten fand Anja einen Plüschhund in Polizeiuniform.

»Officer Colin!«

Ihn hatte sie völlig vergessen. Ein Exfreund hatte ihr Colin geschenkt, als sie noch beim Landeskriminalamt gewesen war. Er sollte sie immer daran erinnern, die Polizeiarbeit nicht zu ernst zu nehmen. Es hatte nicht funktioniert. Weder Colin noch die Beziehung. Anja packte Officer Colin zu den anderen Sachen in die Tasche.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, alles Wichtige beisammenzuhaben, zog sie ihre Softshelljacke wieder an und nahm sich in der Küche wie befohlen eine Tasse Filterkaffee, den ihr Vater immer bis zur Mittagszeit in der Kaffeemaschine warmhielt. Dann trat sie hinaus auf den Balkon, wo er vor einem überquellenden Aschenbecher in der Sonne saß. Er sah schmächtiger aus als das letzte Mal, als sie ihn besucht hatte, aber es schien ihm gut zu gehen. Er verließ die Wohnung immer seltener. Der Balkon, von dem aus er den Innenhof der Siedlung überblicken konnte, war für ihn die Welt. Vor einiger Zeit hatte er Anja anvertraut, dass er kein Problem damit hätte, einmal in einem Altersheim zu leben, woraufhin sie natürlich entschieden widersprochen hatte, es gäbe überhaupt keinen Grund, warum er in ein Heim ziehen sollte. Sie musste ihn wirklich öfter besuchen. Ihre Brüder kamen nur alle paar Monate vorbei, Martin lebte in München, und Anders war nach Kanada ausgewandert. Ihr Vater hatte nur noch sie.

Sie sahen zu, wie drei Jungs im Innenhof auf einer kleinen, von Gemüsebeeten umgebenen Rasenfläche Fußball spielten und dabei laut stritten. Neben ihnen ragten drei stark zurückgeschnittene Nussbäume empor.

»Du wirst dich verkühlen«, meinte Anja mit einem Blick auf die dünne Windjacke ihres Vaters, deren Reißverschluss er bis zum Kinn geschlossen hatte.

Er wischte den Kommentar mit einer Handbewegung beiseite.

»Vielleicht solltest du auch mal in Urlaub fahren«, schlug sie vor, als sie sich zu ihm setzte und die angebotene Zigarette mit einem Kopfschütteln ablehnte.

»Was soll ich denn im Urlaub? Ich hab hier doch alles«, antwortete ihr Vater.

Anja schmunzelte. Der wilde Nik Grabner mit seiner chromblitzenden Suzuki – was war aus ihm geworden? Wussten seine alten Motorradfreunde, dass er nichts mehr unternahm? Sie musste aber zugeben, dass sie genau das auch in Sansibar vorhatte: in der Sonne liegen und alle viere von sich strecken. Allerdings bei angenehmeren Temperaturen.

»Ich bin so froh, dass es dir wieder besser geht«, sagte ihr Vater.

Anja verzog das Gesicht. »Nicht, Papa. Müssen wir jedes Mal darüber reden? Es ist jetzt fünf Jahre her.«

»Ich weiß schon. Gönn deinem alten Vater die Freude.«

»Ich gönn sie dir ja«, gab sie kleinlaut zurück.

»Und es ist das erste Mal, dass du seitdem verreist. Stimmt’s?«

Anja drehte die Kaffeetasse in den Händen. »Stimmt.«

»Es ist gut, dass du wegfliegst. Auch ohne Mann. Man muss das nicht erzwingen, du machst das genau richtig. Nur weil du jetzt zweiundvierzig bist …«

»Noch ein Wort, Papa, und ich bin sofort weg.«

Er hob besänftigend eine Hand. »Ich hör ja schon auf.«

Sie saßen noch eine Weile schweigend nebeneinander und lauschten den Jungen im Hof und den Nachbarn, die in einer fremden Sprache stritten. Bevor Anja ging, umarmte sie ihren Vater und drückte ihn dabei ein wenig fester als sonst. Das Klingeln ihres Handys ignorierte sie.

Jetzt noch einmal schnell nach Hause und den Rest packen, dann konnte es losgehen.

Als Anja ihre Wohnung betrat, fiel ihr auf, dass sie dringend aufräumen und putzen musste. Die Toilette begann zu riechen. Das musste sie noch erledigen, alles andere konnte warten.

In ihrem Schrank fand sie noch etwas frische Wäsche und packte alles, was keine Wintermode war, in eine Sporttasche – den alten Trolley konnte sie nirgends finden. Danach zog sie mehrere halb ausgelesene Bücher aus dem Regal. Sie war unentschlossen. In Wahrheit hatte sie seit geraumer Zeit keine Lust zu lesen. Sie konnte sich einfach nicht lange genug konzentrieren. Und würde sie in Sansibar überhaupt Zeit zum Lesen haben? Sie spielte im Kopf durch, wie der Urlaub verlaufen würde, und packte schließlich doch zwei Bücher ein. Allein sein, zur Ruhe kommen. Nur sie und das Meer, der weiße Sand, das Geräusch der Wellen. Cocktails mit viel Crushed Ice.

Als Anja fertig gepackt hatte, fiel ihr auf, dass für Officer Colin kein Platz mehr in der Sporttasche war. »Sorry, Officer, du wirst hierbleiben müssen. Wir sehen uns in zwei Wochen.«

Sie warf einen Blick auf die Uhr und war zufrieden mit sich. Ihr blieben noch drei Stunden bis zum Abflug. Wenn sie jetzt aufbrach, wäre sie viel zu früh am Flughafen.

Sie beschloss, noch etwas essen zu gehen, und fuhr zu ihrem Lieblingsrestaurant, einem kleinen Italiener, der eigentlich nicht auf dem Weg zum Flughafen lag und in dessen Kellerlokal die vermutlich besten Pizzen der Welt serviert wurden. Die Wände boten kaum Platz für die vielen Urkunden von internationalen Wettbewerben, bei denen die Pizzeria ausgezeichnet worden war.

Davide, der Besitzer, kam wie immer persönlich an ihren Tisch, um sie zu bedienen, und Anja wechselte einige Worte mit ihm in gebrochenem Italienisch. Es war zehn Jahre her, dass sie regelmäßig Italienisch gesprochen hatte. Damals war sie in einen Italiener verliebt gewesen, der ihre Liebe allerdings nur für kurze Zeit erwidert hatte. Inzwischen hatte sie viele Vokabeln vergessen. Davide sprach dennoch immer wieder Italienisch mit ihr, und sie konnte seinem harmlosen Machocharme nicht widerstehen. Sie bestellte eine seiner preisgekrönten Pizzen, eine Kreation mit Prosciutto di San Daniele und Spargel, und ein Glas Primitivo.

Während sie auf das Essen wartete, las sie noch einmal die Infos über das Resort durch, die sie zusammen mit dem Flugticket ausgedruckt hatte. Bungalows unter Palmen für Naturliebhaber, die Ruhe suchen. Der Strand ist nur zwei Gehminuten entfernt. Es erwarten Sie glasklares Wasser und himmlische Stille. In der Bar bereitet man Ihnen rund um die Uhr Erfrischungen zu. Ein Traum für Sonnenanbeter und Chillaxer! Es fühlte sich richtig gut an. Mit ihrem Gepäck im Auto war Anja nun offiziell auf Reisen.

Als sie die Pizza halb aufgegessen hatte, fiel ihr Blick auf ihr Handy, das sie neben den großen Teller gelegt hatte. Es blinkte unaufhörlich. Während der Autofahrt hatte es erneut geklingelt.

Sie bemerkte, dass sie zu kauen aufgehört hatte. Anja schluckte den Bissen hinunter, startete Facebook und schrieb auf ihre Timeline, dass sie die nächsten Tage nicht erreichbar wäre, weil sie Besseres zu tun hätte. Sie fügte einen Zwinker-Smiley hinzu, dann legte sie das Handy weg und aß weiter. Davide kam erneut an ihren Tisch und zog sie auf, weil sie während des Essens mit dem Handy spielte. Anja schenkte ihm ein Lächeln und erklärte, dass sie gerade mit all ihren Freunden geteilt hätte, wie großartig seine Pizzen seien. Davide versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er geschmeichelt war. Anja bestellte ein zweites Glas Wein sowie einen Espresso zum Abschluss.

Um Punkt 13 Uhr bezahlte sie und machte sich auf den Weg zum Flughafen. Sie hatte noch zwei Stunden, es blieb also genug Zeit. Morgen würde sie bereits ihre Füße in feinen weißen Sand stecken.

Gerade als sie den Zündschlüssel drehen wollte, klingelte ihr Handy erneut. Kurz überlegte sie, es endgültig auszuschalten, dann nahm sie den Anruf an.

»Anja, verdammt noch mal, warum hast du mich vorhin weggedrückt?«, schallte ihr die aufgeregte Stimme von Kaspar Deutsch ins Ohr.

»Ich will nicht mit dir reden, Kaspar«, entgegnete Anja knapp.

»Ist mir egal«, sagte er. »Du musst vorbeikommen.«

Anja schloss die Augen. »In zwei Wochen vielleicht«, schlug sie vor.

»Warum nicht heute? Ich bin mir sicher, es wird dich interessieren.«

»Vergiss es, ich muss zum Flughafen.«

»Was?«

»Sansibar.« Anja hörte etwas, das wie eine am Hörer vorbeigezischte Schimpftirade klang.

»Hör zu, wenn du nicht sofort zu mir ins Büro kommst, ruf ich die Kollegen am Flughafen an. Dann kannst du deinen Urlaub vergessen. Hast du verstanden? Bis gleich.«

Anja warf das Handy auf den Beifahrersitz und schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett. Wütend startete sie den Motor und fuhr noch einmal in die Innenstadt.

Am Eingang des Landeskriminalamtes im 9. Bezirk wurde Anja von einem uniformierten Beamten empfangen. Mit gemischten Gefühlen betrat sie das historische Gebäude in der Berggasse, in dem seit über hundert Jahren Polizisten arbeiteten. Sie kämpfte die aufsteigende Wehmut nieder. Darauf hatte sie gerade überhaupt keine Lust. Der Beamte verhielt sich auffällig freundlich und zuvorkommend, als er sie am Portier vorbeiführte, wich ihren Blicken aber aus. Sie überquerten den Innenhof und nahmen im gegenüberliegenden Gebäudeteil den Lift ins obere Stockwerk. Anja kannte den Weg – das Büro, zu dem der Polizist sie führte, war einmal ihres gewesen. Er klopfte und öffnete die Tür, ohne auf eine Antwort von drinnen zu warten. Mit einem Nicken grüßte er Kaspar Deutsch, dann entfernte er sich.

Anja erkannte ihr altes Büro nicht wieder. Der Schreibtisch stand nun am anderen Ende des Raumes, und deutlich mehr Topfpflanzen schmückten das Büro. Eine Zimmerpalme war so groß, dass ihre ausladenden Blätter von an der Decke befestigten Schnüren gehalten werden mussten. Kaspar Deutsch hatte sich hier häuslich eingerichtet.

Er hatte sich verändert. Sein Haar war grauer, was ihm erschreckend gut stand. Die Gesichtszüge wirkten etwas härter, die Furchen um seine Mundwinkel waren tiefer geworden. Seine Miene strahlte Autorität aus, ebenso wie das gut sitzende Jackett. Deutsch hatte doch sonst immer nur Pullover getragen. Er fühlte sich sichtlich wohl in der Rolle des Chefs der Mordgruppe. Fast zu wohl für Anjas Geschmack. Sie überlegte, sich nach seinen Kindern zu erkundigen, entschied sich aber dagegen. Dafür hatte sie keine Zeit.

»Du hast zehn Minuten«, sagte sie grußlos.

Kaspar Deutsch stand auf, um die Tür des Büros zu schließen. »Wie geht es dir?«, fragte er. Dann setzte er sich wieder und musterte sie. »Meine Güte, ist das lange her.«

»Die Uhr tickt«, entgegnete Anja.

»Das ist alles, was du zu sagen hast? Fünf Jahre, und du gehst mir immer noch aus dem Weg. Du drückst meine Anrufe weg. Was ist los mit dir?«

»Ich hatte Besuch«, sagte Anja.

»Wie, Besuch?«, fragte Deutsch.

Anja ließ ihren Blick über ein Regal hinter ihm schweifen. Sie entdeckte darin einen Pokal, den sie einmal bei einer Polizeimeisterschaft im Skifahren gewonnen hatte. Danach hatte ihr eine Woche lang das Knie wehgetan, aber das war es wert gewesen. Er stand nun an einem anderen Platz, aber es war definitiv ihr Pokal. Sie überlegte, Deutsch darauf anzusprechen, ließ es aber bleiben.

»Komm zur Sache«, drängte sie. »Was willst du?«

Kaspar Deutsch schluckte seinen Zorn hinunter. »Es gibt eine neue Entwicklung. Vielleicht eine Spur.«

Anja konnte es nicht glauben. Sie spürte, wie heißer Zorn in ihr aufstieg. »Geht es um Bert Köhler?«

»Nein, um den Weihnachtsmann … Natürlich geht es um Bert Köhler!«

Anja sah auf die Uhr, die an der Wand hing. »Was ist es diesmal? Wieder ein Spinner, von dem sich dann herausstellt, dass er in Behandlung ist?«

»Diesmal ist es anders«, versicherte Kaspar Deutsch. »Die Jungs vom Verfassungsschutz haben etwas aufgeschnappt. Sie sagen, es könnte wichtig sein.«

Anja schwieg und wartete.

»Tu nicht so, als würde es dich nicht interessieren!«, setzte er nach. »Das kauft dir niemand ab.«

»Weißt du, dein schlechtes Gewissen interessiert mich einen Dreck«, gab Anja zurück.

»Mein schlechtes Gewissen?«, fragte Deutsch ungläubig.

»Kann ich jetzt gehen? Ich verpasse sonst meinen Flug.«

»Du gehst nirgendwohin!«, brüllte er.

Sie funkelten sich wütend an. Die Luft zwischen ihnen schien zu knistern.

»Eine Adresse«, sagte er etwas ruhiger. »Sie ist in versteckten Chats im Netz aufgetaucht. Erlenweg 16. Sagt dir das was?«

Der Boden unter Anjas Füßen schien plötzlich nachzugeben. Sie schloss die Augen und hatte das Gefühl, in einen schwarzen Abgrund zu stürzen. Da war nichts, woran sie sich festhalten konnte. Das Schwindelgefühl wurde übermächtig. Reiß dich zusammen, dachte Anja. Du bist in Kaspars Büro. Sie zwang sich zu einem Räuspern und öffnete die Augen.

»Nie gehört«, entgegnete sie. »In Stein?«

Kaspar Deutsch schien ihre Reaktion nicht bemerkt zu haben. »Wo sonst?«, fragte er.

»Und wo haben sie die Adresse her, deine Verfassungsschützer?«

»Aus einer Facebook-Gruppe«, erklärte er. »Es gibt nach wie vor Leute, die sich mit dem Fall beschäftigen. Wir haben doch immer vermutet, dass die etwas wissen könnten.«

Anja kratzte sich an der Nase und betrachtete ihre Fingerspitzen. »Und du glaubst, das ist der Ort, wo er gefangen gehalten wurde? Habt ihr euch dort schon umgesehen?«

»Ja, aber da ist nichts«, erwiderte Kaspar Deutsch enttäuscht. »Ich dachte, du weißt vielleicht etwas.«

Anja musste lachen. »Warum sollte ich etwas wissen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Willst du es dir ansehen?«, fragte er.

Anja glaubte sich verhört zu haben. »Wie kommst du auf diese Idee?«

»Nur so. Warst du denn nie wieder in Stein?«

»Nie. Warum ausgerechnet ich?«

»Weil du die Beste warst«, meinte er und drehte scheinbar beiläufig seinen Kugelschreiber zwischen den Fingern. »Ich dachte, es interessiert dich vielleicht.«

Anja ärgerte sich über das Gefühl, das sein Kompliment in ihr auslöste. »Ich habe Urlaub«, entgegnete sie.

Deutsch lachte.

»Was ist daran so witzig?«

»Du fährst in den Urlaub. Schön! Und dann?«

»Was dann?«

Er ließ den Kugelschreiber auf den Tisch fallen und sah ihr in die Augen. »Schau dich doch an! Es lässt dir auch keine Ruhe, oder?«

»Du warst es, der die Ermittlungen eingestellt hat«, gab Anja zurück. »Kommst du jetzt damit nicht mehr klar?«

»Die Ermittlungen wurden nie offiziell eingestellt, das weißt du!«

Anja würdigte ihn keiner Antwort.

»Ist dir das nicht peinlich?«, fragte Kaspar Deutsch traurig. »Wir waren doch einmal richtig gut. Und jetzt ist dir alles scheißegal?«

»Ich bin nicht mehr bei der Polizei.«

»Das ließe sich regeln«, entgegnete er, ohne zu zögern.

»Im Ernst?«, lachte sie. »Ich dachte, da muss man von vorne anfangen. Zurück in die Polizeischule.«

Er schüttelte den Kopf. »Ein Anruf genügt.«

Anja verschränkte die Arme. Sie erkannte, dass er es ernst meinte.

Deutsch sah sie mit einer Mischung aus Ärger und Mitgefühl an. »Warum hast du damals eigentlich aufgehört?«, fragte er. »Ich habe es nie verstanden.«

Anja wandte sich zum Gehen. »Sind wir fertig? Ich muss jetzt los.«

»Wir sind noch nicht fertig!«

»Tschüss. Ich schick dir eine Postkarte.« Sie winkte über die Schulter. Seine Antwort hörte sie nicht mehr.

Anja lief zu ihrem Auto und ließ den Motor ihres Citroën aufheulen. Doch als sie wenige Minuten später an der Autobahnauffahrt im Stau stand und beobachtete, wie eine dunkle Wolkenfront aufzog, ahnte sie bereits, dass sie es nicht rechtzeitig zum Flughafen schaffen würde.

Zwei Sicherheitsleute des Flughafens begleiteten Anja aus dem Abflugterminal. Keiner von beiden wagte es, sie anzufassen. Das war auch gut so, denn sie hätte für nichts garantieren können. Damals bei der Polizei kursierte lange Zeit das Gerücht, dass sie in ihrer Jugend wettkampfmäßig Kickboxen betrieben hätte. Die Geschichte hatte sich hartnäckig gehalten, obwohl sie nicht stimmte. Anjas definierte Oberarme waren ein Andenken an ihre Jugend, als sie in bayerischen Bierzelten gekellnert hatte, und hatten nichts mit Kampfsporttraining zu tun. Wenn sie zuschlug, tat sie es ohne Technik, aber blitzschnell.

Fünf Minuten hatten am Ende den Ausschlag gegeben. Der Flieger stand natürlich noch auf dem Rollfeld, darum ging es nicht. Regeln seien Regeln, hatte die Mitarbeiterin der Airline gesagt, sie könne leider keine Ausnahme machen. Dabei hätte Anja ihre Sporttasche einfach stehen gelassen und wäre nur mit Handgepäck geflogen. Doch wie sie auch argumentierte und wie sehr sie bettelte und fluchte, es half nichts. Die Dame am Schalter blieb vollkommen ruhig und beteuerte, dass es ihr leidtue, doch ihr Blick sagte etwas anderes, dass ihr so etwas nicht zum ersten Mal passierte, was Anja nur noch mehr aufregte. Für 600 Euro könne sie ein Ticket für einen anderen Flug buchen, meinte die Mitarbeiterin der Airline, das sei ein Entgegenkommen der Fluggesellschaft. Anja erklärte, sie könne sich die 600 Euro sonst wohin stecken. Als sie laut wurde, kamen auf einmal die Securitys. Da wusste sie, dass sie verloren hatte. Die beiden geleiteten sie im einsetzenden Regen bis zu ihrem Auto. Der Himmel war inzwischen zur Gänze mit dunklen Wolken verhangen. Anja ging absichtlich langsam, damit die beiden Männer auch ordentlich nass wurden.

Kurz darauf saß sie in ihrem Wagen und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Der Regen prasselte heftig auf das Dach und die Windschutzscheibe. Der Urlaub war ein Strohhalm gewesen, an den sie sich geklammert hatte.

Erlenweg.

Kaspar hatte nicht bemerkt, wie sehr sie erschrocken war, diesen Straßennamen zu hören. Hätte sie etwas sagen sollen? Doch was? Die Sache war viel zu kompliziert, und es würde ohnehin zu nichts führen.

Anja überlegte, in eine Bar zu gehen und sich ein paar Cocktails zu genehmigen. Sie trank aus Prinzip nur Gute-Laune-Getränke, wenn sie wütend oder traurig war. Stattdessen blieb sie sitzen. Ihre Jacke roch noch nach dem Rauch in dem Club, den sie am Abend zuvor besucht hatte. Der Geruch glich dem eines feuchten Aschenbechers und ekelte sie an, doch sie zwang sich, ruhig weiterzuatmen. Von draußen drang das Dröhnen der Turbinen eines startenden Flugzeugs. Vermutlich handelte es sich um irgendeine x-beliebige Maschine, doch in ihrem Kopf war es der Flieger nach Sansibar. Eine Reise, die ohne sie begann. Erst nach einer Ewigkeit ließ sie den Motor an und fuhr los.

Der Regen hatte aufgehört und war in Schneefall übergegangen. Die zerbrechlichen Flocken landeten geräuschlos auf der Windschutzscheibe, bevor sie schmelzend nach unten glitten. Mit dem Motor war auch die Heizung ausgegangen. Anja hatte die Jacke fest um sich gewickelt und versuchte angestrengt, im Schneetreiben etwas zu erkennen. Ein kleines Einfamilienhaus zeichnete sich im trüben Licht ab. Sie glaubte sich daran erinnern zu können. Soweit sie es beurteilen konnte, sah hier alles noch so aus wie damals.

Sie hatte die richtige Abzweigung nach Stein mühelos gefunden. Die schmale Straße, die zuerst durch dichten Wald führte, bald darauf durch eine enge Schlucht mit hohen Felswänden, bevor sich diese öffnete und die ersten Häuser auftauchten. Nun parkte sie am Straßenrand und starrte auf die Adresse, die sie auf dem Handy notiert hatte. Nicht dass das nötig gewesen wäre.

Erlenweg 16.

Ihr war wieder übel geworden. Sie lehnte sich an die Kopfstütze, versuchte, ruhig zu atmen. Langsam ließ der Schneefall nach. Müdigkeit überkam sie. Es war Zeit, nach Hause zu fahren. Als sie zum Zündschlüssel greifen wollte, entdeckte sie ihn.

Ein Schatten, nicht weit von ihrem Auto entfernt.

Anja kniff die Augen zusammen und spähte in das Schneetreiben hinaus. Es war der Umriss eines Menschen, ihr zugewandt, regungslos.

Jemand beobachtete sie.

Panisch ließ Anja den Motor an und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

2

Heute habe ich Grießbrei für Sie. Freuen Sie sich? Ich weiß, dass Sie den mögen. Vorsicht, er ist sehr heiß. Warten Sie, ich rühre ein wenig um, dann wird er kühler. Jetzt geht es. Mund auf, so ist es gut.

Gerade habe ich mit meiner Nachbarin gesprochen. Wir haben uns am Zaun unterhalten, nur über das Wetter, aber es war sehr nett. Sie wirkt immer fröhlich, aber ich weiß, dass ihr Vater sehr krank ist. Sie ist eine sehr starke Frau. Ich habe ihr eine Schüssel voll Brombeeren geschenkt. Die habe ich gestern gepflückt, und nachdem Sie sie nicht essen, wusste ich nicht, wohin damit. Sie hat sich sehr gefreut.

Wollen Sie einen Nachschlag? Ich habe noch Grießbrei oben, nicken Sie einfach. Nein? Ist gut. Ich werde ihn im Kühlschrank aufbewahren, dann ist morgen noch welcher für Sie da.

Ich verstehe meine Nachbarin. Natürlich darf ich ihr nicht sagen, wie gut ich sie verstehe. Wie es ist, einen Kranken zu pflegen. Uns beiden hat das Schicksal Prüfungen auferlegt, und wir müssen immer weitermachen, auch wenn es schwer ist.

Mittwochnachmittag

Anja schrak aus dem Schlaf hoch, drehte sich zur Seite und tastete die zerknüllte Decke ab. Neben ihr lag niemand im Bett. Ein milchiger Lichtschein fiel durch das Fenster ihres Schlafzimmers. Ihr wurde klar, dass es noch nicht einmal Abend war. Nach ihrer verfrühten Rückkehr in die Wohnung hatte sie sich ein Glas Gin Tonic genehmigt und musste dann eingeschlafen sein. Wie spät war es? Da erst bemerkte sie, dass ihr Handy klingelte. Von dem Geräusch war sie aufgewacht.

»Ja?«

»Anja Grabner. Sie sind es. Ich erkenne Sie.«

Es war die Stimme eines Mannes. Er schien älter zu sein und sprach sehr leise, sie verstand ihn kaum.

»Wer sind Sie?«

»Erinnern Sie sich nicht an mich? Ich war mir sicher, dass Sie sich erinnern.«

Anja unterdrückte den Impuls, sofort aufzulegen. Es war 16 Uhr, sie hatte gerade einmal eine Stunde geschlafen.

»Ist es wichtig? Ich habe gerade keine Nerven für solche Spielchen.«

Sie hörte ein heiseres Lachen.

»Eine lange Nacht gestern?«

»Was soll das? Sagen Sie endlich, wer Sie sind.«

»Der Fall Köhler. Denken Sie nach.«

Anja ertappte sich dabei, dass sie tatsächlich nachdachte. Sie legte sofort auf. Als sie aufstand, verlor sie beinahe die Balance.

Sie schloss die Augen und versuchte, ruhig stehen zu bleiben. Nach ein paar Augenblicken ging es ihr besser. Wenig später stand sie unter der Dusche und musste sich eingestehen, dass sie nicht aufhören konnte, über den Anruf nachzudenken. Woher sollte sie den Mann kennen? Hatte der Anruf etwas mit ihrer Fahrt nach Stein zu tun? Das war abwegig. Wer konnte davon wissen? So gut wie alle, die sie persönlich kannte, glaubten, dass sie gerade im Flieger nach Sansibar saß.

Als sie sich abgetrocknet hatte und im Bademantel vor ihrem kleinen Laptop saß, auf dem sie »Last Minute Urlaub«in Google eingab, fiel ihr ein, woher sie den Anrufer kannte.

Rolf Vychodil. Er war vor acht Jahren der Polizist gewesen, der die erste Anzeige im Fall Köhler aufgenommen hatte. Anja hatte in Summe vielleicht dreimal mit ihm gesprochen, kein Wunder, dass sie sich nicht an ihn erinnert hatte. Er musste längst im Ruhestand sein.

Sie nahm ihr Handy und rief ihn zurück.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte Anja.

Der Mann räusperte sich. »Das möchte ich Ihnen lieber persönlich sagen.«

Das Haus lag im 22. Wiener Bezirk, versteckt zwischen Wohnblöcken und Reihenhäusern. Ein winziges, zweistöckiges Wohnhaus mit ungepflegtem Garten, ein Relikt zwischen den funktionalen, gepflegten Wohnbauten jüngeren Datums, deren kleine Gartenparzellen von jungen Familien gut in Schuss gehalten wurden. Davor stand ein Mann in einer ausgeleierten Strickweste und großen Filzpantoffeln und winkte Anja zu. Auf seiner Nase und seinen Wangen waren rote Äderchen zu sehen, unter seinen Augen wölbten sich eindrucksvolle Tränensäcke.

Vychodil begrüßte sie mit einem Nicken und führte sie ins Haus, das drinnen heimeliger war, als es von außen den Anschein hatte. Er schien sich von nichts trennen zu können. Das Wohnzimmer war vollgestellt mit zwei unterschiedlichen Sofas, hölzernen Skulpturen, die den Oberflächenspuren nach mit einer Motorsäge bearbeitet worden waren, und zwei Fahrrädern. Überall an den Wänden hingen vergilbte Nachdrucke von Van-Gogh-Gemälden, und Bücher, sehr viele Bücher, quollen aus den Regalen oder waren einfach auf dem Boden gestapelt. Anja entdeckte auf die Schnelle Ausgaben von Dostojewski, Nietzsche und Shakespeare. Ganz schön schwere Kost für einen kleinen Polizisten, dachte sie. Auf einem schmalen Schreibtisch stand ein Laptop, Facebook war geöffnet. Eine dunkle, warme Höhle, die trotz der Unordnung etwas Sympathisches hatte. Anja hielt nach leeren Schnapsflaschen Ausschau – aus irgendeinem Grund schien es für sie unvorstellbar, dass er ganz allein hier lebte, ohne zu trinken –, doch sie fand keine. Vychodil sah auch nicht aus wie ein Alkoholiker. Nur etwas zerknittert vielleicht, wie jemand, der zu viel Zeit in den eigenen vier Wänden verbrachte.

Anja setzte sich auf eines der Sofas und kam sofort zur Sache. »Woher haben Sie meine Nummer? Warum rufen Sie mich an?«

Rolf Vychodil setzte sich ihr gegenüber auf das andere Sofa. »Sie interessieren sich wieder für den Fall Köhler. Das ist gut. Ich wollte Ihnen persönlich mitteilen, wie sehr ich mich darüber freue. Ich finde, es war überfällig.«

»Wie kommen Sie denn darauf? Was wollen Sie überhaupt von mir? Wir kennen uns kaum.«

Er lächelte. »Der größte Kriminalfall der Republik, die Entführung des bekanntesten Bankiers dieses Landes«, sagte er mit glänzenden Augen. »Das war schon ein Ding, finden Sie nicht? Der abgetrennte Finger, der an seine Villa geschickt wurde. Zuerst wussten Sie nicht, wem er gehörte. Dann fanden Sie heraus, dass es Köhlers Finger war. Der Bankier war verschwunden. Alle warteten auf ein Bekennerschreiben, irgendeine Erklärung. Stattdessen tauchte das nächste Paket auf mit Köhlers Zeh. Die Medien stürzten sich darauf. Was haben Sie damals gedacht? Ich habe mich das immer gefragt. Sie wirkten so ruhig, souverän. Ich war mir sicher, dass Sie den Fall aufklären würden, aber der Täter gab Ihnen einfach zu wenige Anhaltspunkte, nur diese grässlichen Postsendungen. Noch eine, und noch eine. Später dann die Lösegeldforderungen, verwirrend, geradezu dilettantisch vorbereitet. Und schließlich die Stille, gespenstisch. Keine weiteren Nachrichten, kein Lebenszeichen von Köhler. Als hätte sich die Erde aufgetan und ihn verschluckt. Bis zu dieser mysteriösen SMS aus Stein. Sie wurden zur tragischen Figur, Ihr Name wird auf ewig mit diesem Fall verknüpft sein.«

Vychodil schien die Bilder von damals vor sich zu sehen. Sein Gesicht hatte einen verklärten Ausdruck angenommen. Anja hingegen fühlte sich beklommen.

»Sie haben sich Zeit genommen«, fuhr er fort. »Abstand. Das war richtig, finde ich. Da sieht man manche Dinge klarer. Haben Sie eine neue Theorie über die Entführung? Glauben Sie, es war ein Täter, oder mehrere? Es passiert immer wieder, dass man kein plausibles Täterprofil erhält, wenn es sich um mehrere Täter handelt. Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht?«

»Nein«, entgegnete Anja und kratzte mit dem Fingernagel über die Lehne des Sofas.

Vychodil ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Macht nichts. Was ist mit den Amputationen? Was denken Sie darüber, nun da Sie Zeit hatten?«

Anja sah aus dem Fenster. Eine Betonmauer nahm fast das ganze Blickfeld ein. Nur ein winziges Stückchen Himmel war zu sehen.

»Waren Sie wieder einmal dort?«, setzte Vychodil nach.

»Nein. Und ich habe es auch nicht vor.«

»Sie sollten wieder hinfahren«, sagte er mit Nachdruck.

Anja stand auf.

»Was tun Sie?«

»Ich gehe jetzt. Sie erzählen mir ja sowieso nicht, warum Sie mich angerufen haben.«

»Jemand hat Sie gesehen«, sagte er schnell.

Anja erschrak. Die Gestalt im Schneetreiben. Sie hatte schon daran gezweifelt, dass da wirklich jemand gewesen war. Doch sie versuchte, sich nichts von ihrer Überraschung anmerken zu lassen. »Wer?«

»Ganz Stein redet davon.«

Anja schüttelte ungläubig den Kopf und setzte sich wieder. »Ich saß im Auto! Woher wollen die wissen, dass ich es war?«

»Wer sonst?«, fragte er.

»Und da hat man gleich Sie angerufen, oder was?«

Vychodil wich ihrem Blick aus und verschränkte die Finger. Ihm war die Situation sichtlich peinlich. »Sie sind wieder hingefahren. Warum?«

»Ich habe einen Flug verpasst.«

Vychodil sah sie forschend an. Er verstand kein Wort. »Das war der Grund?«

»Genau.«

Er nickte langsam. »Ich verstehe.«

»Sie verstehen gar nichts.«

»Doch, natürlich. Sie können nicht wegfliegen. Weil diese Geschichte Sie nicht loslässt. Das ist doch ganz klar.«

»Es war ein Missgeschick.«

Er schien darüber nachzudenken, dann nickte er. »Ich habe etwas für Sie.« Er stand auf und zog einen Ordner aus einem der Regale, der aussah wie ein Fotoalbum.

»Was ist das?«

»Mein Hobby, wenn Sie so wollen. Informationen über den Fall. Hauptsächlich Zeitungsausschnitte, nicht alles, nur das, was ich für wichtig hielt. Hier, schauen Sie rein.« Vychodil hielt ihr den Ordner hin.

Zögerlich griff Anja danach. Als sie ihn aufklappte, sah sie vergilbte Kinderfotos und runzelte die Stirn. Vychodil sah sofort, dass etwas nicht stimmte, und nahm ihr den Ordner aus den Händen.

»Tut mir leid, das ist natürlich falsch. Der falsche Ordner. Das ist sehr peinlich, warten Sie, ich habe ihn hier irgendwo.«

Er klappte das Album zu und stellte es zurück an seinen Platz. Dann begann er, die Bücherregale zu durchsuchen. Anja sah, dass seine Hände zitterten.

»Er sieht genauso aus wie der hier. Deshalb habe ich sie verwechselt. Warten Sie einen Moment, das haben wir gleich.«

Anja wartete, doch der Moment dauerte länger und länger. Vychodil begann, die Bücherstapel zu verschieben, wobei einer umfiel. Er unterdrückte einen Fluch, während seine Suche immer verzweifelter und das Zittern seiner Hände immer stärker wurde. Also doch ein Trinker, dachte Anja.

Nach ein paar Minuten gab er auf. »Ich finde ihn nicht«, stellte er resigniert fest. »Es tut mir leid.«

»Was tut Ihnen leid? Dass Sie mich angerufen haben? Die Geheimniskrämerei?«

Er konnte es immer noch nicht fassen. »Ich habe alles gesammelt. Das hätte Ihnen geholfen. Bei Ihren Ermittlungen.«

Anja seufzte. »Ich habe einen Flug verpasst, und dann habe ich mich verfahren.«

Vychodil wischte ihre Rechtfertigung mit einer Geste beiseite. »Nach Stein kann man sich nicht verfahren. Die Straße dorthin ist eine Sackgasse.«

Sie sah ihm in die Augen. »Es gibt keine Ermittlungen«, sagte sie ruhig. »Ich habe mit der Sache abgeschlossen. Das sollten Sie auch tun. Es ist nur ein weiterer ungelöster Fall. Es gibt viele davon, Sie waren doch lange genug bei der Polizei, um das zu wissen.«

Vychodil schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das mit dem Flug ein Missgeschick war.«

Entnervt zuckte Anja mit den Schultern. »Glauben Sie, was Sie wollen.«

Sie schwiegen. Vychodils Miene war düster geworden. Er schien zu grübeln. Erst als Anja sich vom Sofa erhob, erwachte er aus seiner Trance.

»Sie sollten wieder hinfahren. Sie müssen sich erinnern.«

»Ich will mich nicht erinnern.«

»Die Leute dort haben eine hohe Meinung von Ihnen.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich!«

»Natürlich! Nachdem Sie weg waren, hat sich niemand mehr um den Fall gekümmert. Viele haben Ihre Hartnäckigkeit geschätzt. Viele, die das nicht offen ausgesprochen haben, gerade in Stein. Gehen Sie zurück, es wird Ihnen guttun. Es wird Ihnen helfen.«

»Ich brauche keine Hilfe«, erwiderte Anja und wandte sich zum Gehen.

Vychodil musterte sie nachdenklich. »Haben Sie jemals darüber nachgedacht, warum Sie diesen Fall nie lösen konnten?«

Anja blieb mit dem Rücken zu ihm stehen. »Ich habe jahrelang über nichts anderes nachgedacht.«

»Sie hatten mit vielem recht. Stein ist für diesen Fall zentral, Sie haben das als Einzige gesehen. Dennoch sind Sie irgendwann nicht weitergekommen. Ich kann Ihnen sagen, warum.«

Sie drehte sich zu ihm um. »Tatsächlich?«

»Sie haben diesen Fall nie wirklich ernst genommen.«

Anja war perplex. »Das ist jetzt ein Scherz, oder? Nach allem, was passiert ist, unterstellen Sie mir, ich hätte nicht richtig ermittelt?«

»Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass Sie keinen Blick mehr für den Fall hatten«, sagte er bestimmt.

Ihr wurde auf einmal ganz heiß vor Zorn. »Jetzt hören Sie mal zu, Sie Provinzpolizist! Während Sie auf Streife waren, habe ich Mordfälle aufgeklärt, und zwar eine ganze Menge! Und wenn man Erfahrung damit hat, weiß man, dass sich manche Fälle einfach nicht lösen lassen. Fälle ohne Verdächtige, ohne Motiv. Das hat nichts damit zu tun, dass man den Fall nicht ernst nimmt.«

Vychodil schien zufrieden mit sich zu sein, dass er sie aus der Reserve gelockt hatte. Er lehnte sich genüsslich zurück und schlug die Beine übereinander. »Sie haben sich nicht die nötige Zeit genommen. Einen solchen Fall kann man nicht mit dem Verstand allein lösen.«

»Ich habe alles getan, was nötig war. Kein Polizist hätte mehr tun können. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.«

»Und doch werden Sie mit dieser Sache nicht fertig«, erklärte Vychodil. »Sie sind auf der Suche. Das ist offensichtlich.«

»Woher haben Sie eigentlich meine Telefonnummer? Sie haben mir doch nicht nachspioniert?«

»Ich habe darauf gewartet, dass Sie in Stein auftauchen«, antwortete er gelassen. »Ich wusste, Sie kommen irgendwann, wenn die Zeit reif ist. Gehen Sie dorthin zurück, sprechen Sie mit den Leuten.«

»Ich gehe bestimmt nicht wieder nach Stein.«

»Wie Sie meinen. Ich werde diesen Ordner suchen.«

Lächerlich.

Es war eine Frechheit, was Vychodil ihr unterstellte. Sie hätte viel schärfer reagieren sollen. Überhaupt war es ein Fehler gewesen, zu ihm zu fahren.

Anja war im Auto sitzen geblieben, nachdem sie vor ihrer Wohnung geparkt hatte, und hielt ihr Handy in der Hand. Seit zwanzig Minuten klickte sie sich schon durch Facebook. Vychodil hatte ihr inzwischen eine Freundschaftsanfrage gesendet, doch sie blockierte ihn sofort. Wieder einmal spielte sie mit dem Gedanken, ihren Account ein für alle Mal zu löschen. Was natürlich nie passieren würde.

Sie scrollte durch das Profil einer Freundin, mit der sie früher Volleyball gespielt hatte. Sie hatte sich schon vor Monaten bei ihr melden wollen, die Volleyballerinnen waren eine lustige Runde, und dank ihrer Körpergröße war Anja sogar richtig gut. Als sie noch bei der Polizei gewesen war, hatte sie sich immer fit gehalten. Unschlüssig ließ sie den Finger über dem Button für eine neue Nachricht kreisen, bevor sie das Smartphone wieder in die Tasche schob.

Was ist los, Anja? Warum gehst du nicht hinauf in deine Wohnung?

Weil da nichts ist, dachte sie. Ich will da gerade nicht sein. Ich habe auch keine Lust auf Sport. In Wirklichkeit habe ich keine Lust auf irgendwas.

Sie ließ den Motor an und fuhr los.

In der einsetzenden Dämmerung hielt Anja an der Schnellstraße direkt hinter der Abzweigung nach Stein. Ihr Citroën stand zur Hälfte auf dem Randstreifen und zur Hälfte auf der Straße. Sie ließ den Motor weiterlaufen und umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad.

Inzwischen hatte der Schneefall aufgehört und war in Regen übergegangen. Ein Porsche Cabrio mit geschlossenem Verdeck schoss zu schnell um die Kurve, wich im letzten Moment ihrem Wagen aus und kam kurz ins Schleudern. Der Fahrer hupte und gestikulierte hysterisch, bevor er wieder beschleunigte. Das Gehupe riss Anja aus ihrer Trance.

Sie seufzte. »Anja, damit das klar ist: Du fängst auf keinen Fall an zu ermitteln. Mit dieser Geschichte bist du fertig.«

Entschlossen legte Anja den ersten Gang ein und fuhr los. Dorthin zurück, wo alles passiert war.

3

Überraschung! Ich habe etwas für Sie. Erraten Sie nie. Ich habe Ihnen ein Buch mitgebracht. Es ist ein Kinderbuch. Ich habe zuerst überlegt, eines für Erwachsene zu nehmen, aber da dauert das Lesen so lange. Außerdem finde ich Kinderbücher ehrlicher. Erwachsenenbücher erzählen oft auch ganz einfache Geschichten, aber sie verpacken sie oft so schrecklich kompliziert. Dieses hier handelt von einer Ente, die auf eine Reise geht. Sie lässt dafür ihre Freunde im Stich. Das ist natürlich eine ganz dumme Idee, und am Ende kommt sie zurück, worüber sich ihre Freunde unglaublich freuen. Sie sehen, ganz einfach. Komplizierter muss es gar nicht sein.

Sie weinen ja. Habe ich etwas Falsches gesagt? Nicht doch, hören Sie auf. Sonst muss ich auch weinen.

Na toll, jetzt haben Sie es geschafft. Sie wertloser Klotz, mit Ihnen kann man nicht einmal ein Kinderbuch lesen.

Mittwochabend

Es nieselte nur noch leicht, als Anja mit ihrem Citroën in die Schlucht fuhr. Die Abzweigung nach Stein war nur eine Dreiviertelstunde Autofahrt von Wien entfernt, lag aber so versteckt, dass kaum jemand aus der großen Stadt sich je hierherverirrte. Die Straße wirkte schmal neben dem kleinen Bach, der sich durch die Schlucht wand. Schwer vorstellbar, dass hier einst die LKW des Zementwerks durchgebraust waren. Die Felswände rechts und links der Straße stiegen steil an und waren zum Teil mit riesigen Schrauben und Netzen aus Stahlseilen gesichert. Die Schlucht maß nicht einmal dreißig Meter in der Tiefe, dennoch war sie an trüben Tagen wie diesem sehr düster, wenn es Abend wurde. Anja passierte eine Ausweiche, die in den Fels gesprengt worden war. An der Steilwand sah sie verblasste Graffiti und versuchte sich zu erinnern, ob diese das letzte Mal auch schon da gewesen waren.

Als die Felswände sich zurückzogen und den Blick auf das Tal freigaben, erschien ein Bild vor Anja, das sich auf verwirrende Weise vertraut anfühlte. Zur Rechten der riesige Steinbruch, der von Nebelschwaden halb verdeckt wurde und dessen Felsstufen aus Kalkstein durch die Nässe fast schwarz wirkten. Direkt darunter das stillgelegte Zementwerk mit seinen weißen Türmen und Förderbändern. Auf der anderen Seite des Tals ragte der Kirchturm mit seinem Zwiebeldach aus grünem Kupfer empor, rundherum verteilten sich kleine Häuser mit spitzen Giebeln auf dem Hang, der sanft anstieg, bis er in einen steilen, von Felspfeilern durchsetzten Wald überging. Das Tal endete wenige Kilometer weiter vor einem Wasserfall, der sich seinen Weg aus einer Lücke am Bergkamm über viele kleine Stufen bis ins Dorf suchte und es dabei oft in Dunst hüllte.

Stein.

Hier hatte sich nichts verändert. Anja erinnerte sich an das letzte Mal, als sie in dieses Tal gefahren war. An die Wut, mit der sie das Gaspedal durchgetreten hatte, neben ihr Kaspar Deutsch, blass und schwitzend, den Haltegriff an der Beifahrertür fest umklammernd …

… um nicht mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe zu knallen. Was ihm nicht immer gelingt.

»Anja, jetzt beruhig dich endlich. Das bringt doch nichts.«

Anja ignoriert Kaspar und nimmt einen Schluck aus ihrer Trinkflasche. Sie hat Aspirin darin aufgelöst, gegen die Kopfschmerzen. In einer Kurve quietschen die Reifen.

»Du fährst wie eine Irre! Du wirst uns noch umbringen«, brüllt Kaspar.

»Das ist sie«, sagt Anja nur.

»Was?«

»Unsere heiße Spur. Dieser Typ weiß etwas.«

Kaspar interessiert sich nicht für irgendeine Spur. Die Angst steht ihm ins Gesicht geschrieben. Schweiß rinnt über sein Gesicht, er trägt einen Mantel, Anja nur ein T-Shirt. Sie hat ihre Jacke vergessen, und die Heizung läuft auf Maximum.

»Dann wird er auf uns warten!«

Anja macht eine Vollbremsung. Nicht weil sie auf ihren Kollegen hört. »Hier ist es«, sagt sie und deutet aus dem Fenster.

Durch den Regen sehen sie undeutlich ein brachliegendes Feld. Auf der einen Seite steht ein seltsam trostloses Bauernhaus einsam in der Landschaft, auf der anderen Seite grenzt das Feld an den Wald. Zwischen aufsteigenden Dunstschwaden erkennen sie, dass da niemand ist. Das Feld ist verlassen.

Anja will es nicht glauben, sie steigt aus. Der Regen prasselt auf sie herab. Schon nach wenigen Sekunden kleben ihr die langen Haare am Kopf, ist ihr T-Shirt durchnässt. Sie geht auf die freie Fläche hinaus, fast knöcheltief sinkt sie in der matschigen Erde ein. Ihre Schuhe werden schwer, sodass sie humpelt.

Da ist niemand. Der Absender der SMS ist nicht da. Minutenlang bleibt sie auf dem Feld stehen, dreht sich im Kreis, sucht alle Himmelsrichtungen mit den Augen ab. Sie spürt weder Nässe noch Kälte.

Anja stand auf einem abgeernteten Maisfeld außerhalb des Ortes und blickte sich um. Der Boden mit den umgeknickten Maisstängeln fühlte sich unter ihren Schuhen hart an, nur an der Oberfläche hatte sich eine dünne Schicht Matsch gebildet. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Anja hatte den Reißverschluss ihrer Jacke bis oben geschlossen, doch ihre Haare wurden vom Nieselregen feucht. Sie war sich ziemlich sicher, dass dies die Stelle war.

Zu einer Zeit, als die Ermittlungen völlig festgefahren waren und Anja als Einzige wie eine Besessene Befragung um Befragung durchgeführt und die Nächte mit dem Lesen von Akten zugebracht hatte, war auf ihrem Handy eine SMS von einer unbekannten Nummer eingegangen. Jemand behauptete zu wissen, wo Köhler sich befand. Das war der Treffpunkt, den er genannt hatte. Ein Feld. Ein verlassenes Feld …

… das ihr wie ein Hohn erscheint.

»Vielleicht stimmen die Koordinaten nicht«, sagt Kaspar Deutsch, der zu ihr tritt.

»Die Koordinaten stimmen. Er ist nicht da. Ihm muss etwas passiert sein.«

»Was?«

»Wir müssen ihn suchen.«

Kaspar senkt den Kopf. »Anja …«

»Was?«, fährt sie ihn an.

»Es melden sich ständig Leute, die vorgeben, irgendwas zu wissen. Das sind Spinner!«

»Ich gehe ihn suchen. Jemand hat ihm etwas angetan.«

»Anja, da ist niemand! Finde dich damit ab! Es gibt keine Spur, es wird auch keine mehr geben.« Er beugt sich zu ihr, sieht ihr fest in die Augen. »Du reagierst völlig irrational, merkst du das nicht? Wir werden Köhler nicht finden, akzeptier es endlich! Der Staatsanwalt wartet nur noch darauf, die Ermittlungen einzustellen. Keiner glaubt noch daran. Es ist sinnlos, Anja!«

Anja packt ihn blitzschnell am Kragen. Er ist nur einen halben Kopf kleiner als sie und stärker gebaut, dennoch berühren nur noch seine Zehenspitzen den Boden, als sie ihn zornig zu sich zieht.

»Lass mich los!«, krächzt her.

Sie bleckt die Zähne, dann stößt sie ihn in den Dreck. Er sieht sie entgeistert an, Schock und Enttäuschung liegen in seinem Blick. Anja ist selbst erschrocken, doch sie will sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen, stapft zurück zum Auto.

»Bleib stehen, Anja. Stehen bleiben, sofort!«, ruft Kaspar.

Sie dreht sich um.

Kaspar rappelt sich mühsam hoch. »Du bleibst jetzt hier. Und du gibst mir deine Dienstwaffe.«

»Warum soll ich dir meine Waffe geben?«, erwidert sie. »Bist du verrückt, oder was?«

»Du darfst da jetzt nicht hinfahren, du bist nicht bei Sinnen! Hör auf mich, gib mir deine Waffe, und dann fahren wir in aller Ruhe zurück nach Wien.«

Anja hört nicht auf ihn. Sie springt ins Auto und fährt los.

Mit einem hatte Kaspar recht. Sie war besessen gewesen. Sie hatte es selbst nicht bemerkt, weil sie den Grund dafür nicht verstand. Kaspar hatte sie einmal bei einer Weihnachtsfeier eine Gerechtigkeitsfanatikerin genannt, doch sie hatte das heftig geleugnet. Gerechtigkeitsfanatiker waren aus ihrer Sicht ernste Leute mit Prinzipien. Sie hingegen hasste alles Ernste und folgte nur ihrem Bauchgefühl. Sie war nicht aus Überzeugung Polizistin geworden. Freunde hatten sie dazu überredet. Warum hatte ausgerechnet sie die Distanz zum Job derartig verlieren können? Kaspar hatte es gesehen. Vielleicht hätte sie auf ihn hören sollen.

Anja stieg wieder in ihren Citroën. Langsam fuhr sie in den Ort und sah nicht weit vor sich einen Bus anhalten. Aus ihm stieg niemand Geringerer als Rolf Vychodil. Er musste unmittelbar nach ihrem Gespräch losgefahren sein. Sie verringerte die Geschwindigkeit und suchte nach einer Möglichkeit zum Wenden, doch er hatte sie bereits entdeckt und winkte aufgeregt. Also fuhr sie weiter bis zur Bushaltestelle und kurbelte die Scheibe herunter.

Er lächelte fröhlich, obwohl er inzwischen ganz nass war. »Schön, dass Sie so schnell gekommen sind. Darf ich einsteigen?«

»Wo bin ich hier?«, gab Anja zurück. »Ich habe mich total verfahren und suche einen Platz zum Umdrehen. Wissen Sie, ob es da vorne eine Gelegenheit gibt?«

»Ach, seien Sie nicht beleidigt. Sie müssen nicht zugeben, dass ich recht hatte, es reicht, dass Sie gekommen sind. Darf ich jetzt einsteigen?«

Anja kurbelte die Scheibe hinauf, legte den Gang ein und fuhr weiter. Im Rückspiegel sah sie den verdatterten Blick Vychodils. Sie passierte die Stelle, wo sie zuvor geparkt hatte. Ihre panische Flucht kam ihr nun lächerlich vor. Jemand hatte ihr Auto bemerkt und nachsehen wollen, welcher Fremde da in der Straße parkte. Wovor hatte sie sich gefürchtet?

Anja folgte der gewundenen Straße, die zwischen Häusern mit geschlossenen Fensterläden hindurchführte. Bei einem der Häuser waren die Fenster mit Brettern zugenagelt, ein kleiner Supermarkt schien geöffnet zu haben. In einem Geschäft daneben lagen geflochtene Körbe im Schaufenster, etwas weiter die Straße hinunter folgte ein Feinkostladen mit verblassten Postern von lachenden Menschen, die einen Schinken hielten. Anja fuhr kaum hundert Meter weit, als ihr von der anderen Straßenseite jemand zuwinkte. Sie kniff die Augen zusammen. War das möglich? Sie bekam eine Gänsehaut, als sich die Silhouette deutlicher abzeichnete. War das der Beobachter, den sie vom Auto aus gesehen hatte? Er trug einen Schirm und war viel jünger, als sie gedacht hatte, auf jeden Fall jünger als sie. Je näher sie kam, desto mehr zweifelte sie an ihrem ersten Eindruck. Es war unmöglich zu sagen, wen sie da gesehen hatte.

Anja bremste und kurbelte erneut die Scheibe herunter. Der Mann lächelte und kam auf sie zu, wobei er seinen Schirm über die offene Scheibe hielt. Er trug eine braune Lederjacke, die auf den Schultern dunkel war von der Nässe, und musste sich bücken, um durch das Fenster zu sehen. Er war fast so groß wie sie.

»Ich dachte nicht, dass Sie wiederkommen«, sagte er.

»Kennen wir uns?«

»Nein, tut mir leid. Rudi List, ich bin der Bürgermeister. Ich weiß natürlich, wer Sie sind. Willkommen in Stein.«

Anja musterte den Mann skeptisch. Er hatte graues Haar an den Schläfen, war aber noch keine vierzig, schätzte sie. Seine Stimme hatte etwas Einnehmendes. Sie konnte keine Spur von Ironie in seinen Worten entdecken.

»Danke«, sagte sie.

»Wo wollen Sie hin?«

»Eigentlich nur umdrehen.«

List schmunzelte. »Ach ja? Sind Sie dafür hergekommen?«

Anja suchte nach Worten, hob ausweichend eine Hand.

»Vychodil, nicht wahr?«, sagte er.

»Sie kennen ihn?«

»Natürlich. Er kommt oft hierher. Ich habe gestern mit ihm gesprochen. Er vermutete, dass Sie in dem Auto saßen.«

»Merken Sie sich jedes Auto, das hier am Straßenrand stehen bleibt?«

Er zuckte mit den Schultern. »Bei unserer Geschichte? Wir sind da vielleicht sensibel.«

»Er hat mich ausgetrickst«, sagte Anja. »Sie sollten wissen, dass ich nicht vorhabe, mich noch einmal mit dem Fall zu beschäftigen. Egal, was Vychodil Ihnen erzählt hat.«

List nickte. »Natürlich. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee, wo Sie schon einmal hier sind?«

Anja zögerte.

»Verzeihung«, lächelte List. »Ich wollte Sie nicht überrumpeln. Sie sind jedenfalls herzlich eingeladen vorbeizukommen, falls Sie Zeit und Lust haben.«

»Nein, schon gut«, hörte sie sich sagen. »Ich trinke gern einen. Wohin?«

List beschrieb ihr den Weg, und sie fuhr voraus. Sie parkte vor dem Rathaus, einem weinrot gestrichenen alten Gebäude mit Stuckaturen und zwei Türmchen an den Ecken. Während sie auf ihn wartete, sah sie sich verstohlen um, ob jemand sie beobachtete. Was irgendwie lächerlich war. Doch sie konnte nicht anders.

Die Straße verbreiterte sich vor dem Rathaus zu einem kleinen Platz, der fast zur Gänze von zwei Reihen Parkplätze eingenommen wurde. Vor dem Gebäude war gerade noch Raum für einen schmalen Grünstreifen, auf dem zwei Birken standen.

Nun bist du hier, dachte Anja. Was hast du erwartet?

List machte einen sympathischen Eindruck. Es gab keinen Grund, seine Einladung auszuschlagen.

Wenig später sah Anja zu, wie List mit geübten Bewegungen eine silberne Espressomaschine bediente und zwei winzige Tassen mit einem cremigen Gebräu füllte, das so dickflüssig war, dass es sich fast nicht bewegte, als er es ihr hinstellte. Er hatte sie in den ersten Stock des Rathauses geführt, wo es eine eigene Wohnung für den Bürgermeister gab. Die Einrichtung aus dunkel gebeizten Eichenmöbeln war alt und passte nicht zu ihm, fand sie.

»Ich hoffe, Sie mögen ihn stark. Ich kann mit diesen Kapsel-Maschinen nicht umgehen.«

»Ich dachte, jeder kann mit den Kapsel-Maschinen umgehen. Das ist doch der Sinn dabei.«

»Schon, aber mir schmeckt der Kaffee nicht.«

»Dafür gibt es vielleicht andere Gründe.«

List schien kurz nachzudenken, dann lachte er. »Probieren Sie!«

Anja nippte. Der Kaffee war bitter, ungewöhnlich sauer und pelzig auf der Zunge. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so einen guten Espresso getrunken hatte. Jener bei Davide war nicht halb so gut.

»Ausgezeichnet«, sagte sie.