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Lukas Kowalski, Top-Manager einer großen Versicherungsgruppe in Hannover, wird nach einem millionenschweren Verlust zwangsversetzt. Von Hameln aus muss er sich mit kleinen Fischen im Weserbergland abgeben. Die Routine endet abrupt mit einer kuriosen Anfrage: Kowalski soll eine versteinerte Saurierspur in Obernkirchen versichern. Kaum ist die Police unterzeichnet, verschwindet die Sandsteinplatte über Nacht und es gibt das erste Todesopfer. Kowalski nimmt die gefährliche Spur auf, die ihn in eine bizarre Welt der Glückskekse und chinesischer Gangsterkartelle führt. Ein Krimi weit abseits der üblichen Pfade: zu keiner Zeit vorhersehbar, kurios, abgedreht und superspannend. Kowalski, mit trockenem Humor und Cleverness ausgestattet, ist eine Figur mit Kultpotenzial.
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Veröffentlichungsjahr: 2012
Im Verlag CW Niemeyer sind bereits
folgende Bücher der Autoren erschienen:
Todesstreich
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Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller
unter Verwendung eines Motivs von shutterstock.com
Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Printed in Germany
ISBN 978-3-8271-9417-6
E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
E-Book ISBN 978-3-8271-9827-3
Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten des Weserberglands, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Über den Autor:
Jan Beinßen, geboren 1965 in Stadthagen, war viele Jahre in der Welt der Zeitung zu Hause. Dabei führte ihn sein Weg von Stadthagen über Hameln nach Nürnberg, wo er seitdem als Journalist und Autor arbeitet. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.
Mehr über Jan Beinßen und seine Aktivitäten erfahren Sie unter www.janbeinssen.de
Er lief so schnell ihn seine Beine trugen. Untrainiert, wie er war, reichte das nicht aus. Er atmete hektisch, seine Lungen brannten wie Feuer. Auf dem unebenen Boden, übersät mit Schotter und Geröll, geriet er immer wieder ins Stolpern.
Angstvoll sah er sich um. Sein Vorsprung schmolz mehr und mehr dahin. Sein Jäger holte schnell auf. Doch das durfte er nicht zulassen. Er wollte keine Beute sein. Er wollte nicht sterben!
Lukas Kowalski suchte nach einem Ausweg. Ein Unterschlupf, in den er sich vor seinem Verfolger flüchten konnte. Oder einen Abzweig des Weges, der zu schmal für den anderen wäre. Irgendwohin, nach links oder rechts in den Wald. Denn die Bäume würden ihm Schutz bieten. Zwischen den Stämmen müsste der Jäger im Zickzack laufen, das würde ihn bremsen.
Ja, dachte Kowalski und schöpfte frischen Mut. Im dichten Wald mit seinen Kiefern- und Laubbaumstämmen und den mannshohen Farnen hätte er eine Chance, den anderen abzuschütteln. Vielleicht würde er sogar auf eine Höhle stoßen, in der er sich verkriechen könnte.
Wieder blickte er sich um. Keine zwanzig Meter trennten ihn mehr von seinem Verfolger! Mit riesigen Sätzen hastete der Jäger ihm nach. Kowalski musste handeln. Jetzt sofort! Sonst wäre es aus mit ihm.
Er sprang über ein schmales Rinnsal, das den Weg vom Wald trennte. Landete auf weichem Untergrund, sackte mit dem linken Fuß ein, fiel der Länge nach hin, rappelte sich wieder auf und rannte. Rannte durchs Dickicht, riss sich die Hosenbeine an dornigem Geäst in Fetzen, umrundete Baum um Baum. Bis weit hinein in den Wald, der immer finsterer wurde, weil die Kronen das Sonnenlicht schluckten.
Kowalski war körperlich am Ende, ein fürchterliches Seitenstechen plagte ihn. Seine Hände und Beine schmerzten, die Haut von spitzen Ästen zerkratzt. Die Schwäche wurde übermächtig, zwang ihn zu einer Pause. Er blieb stehen, beugte sich schwer atmend vor, stützte sich mit den wunden Händen auf den Knien ab.
Wie weit war er gelaufen? Hatte er den Verfolger abgeschüttelt? Denn der war zwar schnell auf geraden, hindernisfreien Strecken. Aber hier im Wald lagen die Vorteile bei Kowalski.
Diese wollte er unbedingt nutzen! Also weiter, stachelte er sich an. Er musste um sein Leben rennen, wenn er nicht enden wollte wie die anderen. Die Bilder ihrer toten Körper hatte er noch plastisch vor Augen. Grauenhafte Eindrücke, die er nie mehr loswerden würde. Leichname, die von unfassbaren Wunden entstellt waren. Die eine erschlagen, die andere verblutet nach schweren Verletzungen. Tiefe Schnitte, entsetzliche Fleischwunden, zerquetschte Gliedmaßen, gesplitterte Knochen. Waren am Ende auch sie die Opfer dieser Bestie?
Doch Kowalski hatte eine Chance, dem Verfolger zu entkommen. Denn der Wald bot ihm einen sicheren Unterschlupf. Hoffte er zumindest …
… und wurde im nächsten Moment dieser verzweifelten Hoffnung beraubt: Er hörte das Rascheln von Laub, das Knistern im Unterholz, das Knacken der Zweige. Der Jäger war ihm nach wie vor auf den Fersen! Er näherte sich mit unverminderter Wucht und Stärke: Statt sich, wie erwartet, beim Slalomlaufen um die Bäume zu verirren, ließ sich der Killer ausschließlich von seiner Witterung leiten. Folgte seinem Opfer wie ein Bluthund.
Der Jäger wich den Hindernissen nicht etwa aus, sondern walzte sie nieder! Büsche und kleine Bäume knickten unter dem Gewicht seines massigen Körpers ein, die mannsdicken Stämme stolzer Nadelhölzer bebten angesichts seiner unbändigen Energie.
Fassungslos beobachtete Kowalski das Spektakel, unfähig, sich auch nur einen einzigen Zentimeter weiter zu bewegen.
Als sein Gegner mit einem letzten gewaltigen Satz vor ihm zum Stehen kam, erzitterte der Boden. Es regnete Nadeln und Tannenzapfen.
Drei Wochen vorher.
„Nein, nein, Nele, mir geht es hier wirklich gut. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.“
Lukas Kowalski lag auf dem ausgeklappten Schlafsofa in seiner frisch bezogenen Einzimmerwohnung, das Handy zwischen Kopf und Schulter geklemmt, in der Hand eine Fünf-Minuten-Terrine haltend. Draußen war es längst dunkel, im Fernseher lief eine uralte Folge von Simon Templar.
„Ist wirklich eine hübsche Stadt mit netten Menschen. Hätte mich weitaus schlimmer treffen können“, sagte er zu seiner Frau und hob den Blick, der auf einer Energiesparlampe haften blieb, die in einer nackten Fassung von der Decke hing. „Würde dir auch gefallen, da bin ich ganz sicher. – Ja, das ist mir schon klar, dass du nicht einfach alles stehen und liegen lassen kannst, um mir zu folgen. Ich weiß ja auch, wie sehr du in Hannover verwurzelt bist.“
War ich bis vor Kurzem auch, dachte Kowalski und bekam prompt ein Ziehen in der Brust, als er sich gewahr wurde, was er alles hinter sich gelassen und zwangsweise aufgegeben hatte: ein tolles Appartement in der Nordstadt. Grenzte direkt an die Herrenhäuser Gärten, nur zehn Minuten in die Innenstadt, einmal über den Klagesmarkt und schon war man am Steintor, ruhig war es auch im Allgemeinen und aufgrund der tollen Lage wohnten im Umfeld viele junge Leute und auch sonst ein buntes Volk im positiven Sinne. Darunter so ziemlich sein kompletter Freundeskreis, den er zurückgelassen hatte wie seine Frau Nele und ihren Sittich Tweety.
„Trotzdem solltest du am Wochenende vorbeikommen und es dir ansehen. – Ja, ich weiß, dass Anne-Sophie Mutter im großen Sendesaal des Landesfunkhauses auftritt und du Premierenkarten für den Ballhof hast. Aber glaub mir, Schatz, die Provinz kann auch einiges bieten. Man muss ihr nur eine Chance geben.“
Ihm war vollkommen klar, dass er drauf und dran war, sich sein neues Zuhause schönzureden und gewisse Realitäten schlichtweg auszublenden. Aber: Was blieb ihm denn anderes übrig?
Bis vor wenigen Wochen hatte er ein äußerst komfortables Leben in der Landeshauptstadt geführt, das neben der großen Wohnung samt yuppihaftem Lebensstil vor allem glänzende Karriereaussichten als leitender Angestellter bei der Hannoverschen Versicherungsgruppe Nord, kurz HVN, beinhaltete. Seine Lebensplanung sah einen weiteren steilen beruflichen Aufstieg ebenso vor wie den Wechsel vom VW Passat zum Touareg, den Erwerb einer Immobilie im schnieken Isernhagen und die längst überfällige Gründung einer Familie, wobei ihm zwei brave, pflegeleichte Töchter am liebsten wären.
Doch dieser Traum war geplatzt und sein Lebensweg zurückgesetzt, nicht gerade auf null, aber irgendwo in die Nähe. Denn als Risikobewerter der HVN, ausgestattet mit den nötigen Vollmachten fürs sogenannte „Underwriting Leben“, hatte er seiner Gesellschaft zuletzt einen Bärendienst erwiesen, der dermaßen kostspielig ausfiel, dass ihn seine Bosse nur noch an einem Ort sehen wollten: Nämlich außer Sichtweite, was faktisch bedeutete, dass er die Stadtgrenzen Hannovers hinter sich lassen musste.
Es handelte sich nicht um eine Strafversetzung im herkömmlichen Sinne, denn niemand wollte diese Sache an die große Glocke hängen. Vielmehr lief es so, dass sein Hauptabteilungsleiter Druck aufbaute, bis ihm klar wurde, dass seine Dienste in der Hauptstelle nicht mehr erwünscht waren. Man bot ihm die Wahl zwischen einem Posten in der Dependance Hameln oder im Keller Briefmarken zu sortieren. Dann doch lieber Hameln, hatte er entschieden: ein übersichtliches Kundenservicebüro mit einem personalverantwortlichen Filialleiter und Risikoprüfer, einem Sachverständigen und zwei Außenschadenbeauftragten.
Dank der Besitzstandwahrung behielt er immerhin seine Bezüge, nicht aber seinen Einfluss und schon gar nicht seine Chance auf einen schnellen Aufstieg. Als kleines Entgegenkommen gab man ihm immerhin die Chance, seine Kreativität und seinen Geist in dem neuen Umfeld auszutesten. Ein Umfeld allerdings, das mit den Herausforderungen einer Großstadt wenig gemein hatte.
„Schau es dir wenigstens einmal an“, appellierte er dem eigenen Frust zum Trotz an seine Frau. „Ich kann mir gut vorstellen, dass du dich hier wohlfühlen würdest.“
Aber stimmte das wirklich? Oder hatte er eine rosarote Brille auf, wenn er seiner Frau von seiner neuen Zwangsheimat vorschwärmte? Wäre es nicht besser, die bestehenden Vorbehalte zu pflegen und alles daranzusetzen, so bald wie möglich eine Rückversetzung in die Zentrale zu erreichen?
Wie auch immer: Eine Wochenendbeziehung, so wie sie sie derzeit führten, kam für ihn auf Dauer nicht in Betracht. Auch hatte er keine Lust, sich jeden Morgen und Abend in den Stau einzureihen und über die chronisch verstopfte B 217 nach Hannover zu pendeln. Irgendetwas musste also geschehen und zwar möglichst bald!
Nachdem sie noch eine Weile weitergeplaudert hatten, drückte Kowalski einen Kuss auf den Telefonhörer und wünschte Nele eine gute Nacht. Die Instantnudeln waren inzwischen kalt, sodass er sie in den Müll warf und ein Ersatzessen in Form von Kartoffelchips aus seinem dürftig gefüllten Vorratsschrank holte. Die Chips nahm er mit auf den Balkon und genoss beim Knabbern die laue Abendluft.
Der Ausblick, der sich ihm von hier aus bot, spiegelte die Ambivalenz seiner neuen Lebenslage wider: Zu seiner Linken erstreckte sich der Gemeinschaftsgarten des Mietshauskomplexes bis an die nahe Uferpromenade heran. Dahinter strömte ruhig und im Mondlicht glitzernd die Weser. Auf der rechten Seite dominierten grauer Beton und Asphalt: Autos und Lkws dröhnten über die mehrspurige Pyrmonter Straße, die sich genau neben seiner Wohnung zur Überbrückung der abzweigenden B 1 aufschwang und den Lärm auf die Höhe seines Balkons trug.
Kowalski fasste dies als Symbol auf: Sein Verhältnis zu Hameln war von zwiespältigen Gefühlen geprägt.
Na dann gute Nacht!, wünschte er sich selbst, ging zurück ins Zimmer und schloss die Balkontür.
Die Sonne strahlte vom Himmel, als er am Morgen über die Münsterbrücke schlenderte, die Aktentasche fröhlich schwenkend. Nach ein paar Stunden Schlaf sah die Welt nämlich viel freundlicher aus. Zu seiner guten Laune trugen die mit einer Salzkruste überzogenen Brötchen vom Bäcker gegenüber bei, die er mit reichlich Butter drauf und einer Tasse Kaffee dazu genossen hatte.
Pfeifend überquerte er den Münsterkirchhof, vorbei am machtvoll stolzen Münster St. Bonifatius, um gleich darauf in die bereits vom Lieferverkehr belebte Bäckerstraße abzubiegen. Die Fachwerkhäuser, die an beiden Seiten akkurat herausgeputzt Spalier standen, hatten es ihm mit ihren farbenfrohen Fassaden seit seinem ersten Tag in Hameln angetan. Kowalski kreuzte den Markt, geprägt vom Hochzeitshaus im lupenreinen Stil der Weserrenaissance und der Marktkirche mit ihrem schlanken Glockenturm und obendrauf einem bronzenen Schiff anstelle des üblichen Wetterhahns.
Nun hatte er es nicht mehr weit bis zu seinem Büro, der HVN-Niederlassung mit Zuständigkeitsbereich Weserbergland: die Ritter- und Neuetorstraße entlang, dann rechts ab auf den Kastanienwall.
Im neonbeleuchteten Büro saßen bereits seine Kollegen an ihren Schreibtischen, ausgenommen Jürgen, dem Niederlassungsleiter, der es sich als Chef herausnahm, erst nach neun den Dienst anzutreten. Das Büro, seit knapp zwei Wochen Kowalskis neue Wirkungsstätte, war modern und stilsicher eingerichtet. Die Farbtöne weiß, grau und mattmetallic dominierten und trugen zum seriösen Gesamteindruck bei. Vier Kollegen teilten sich den Raum: Neben Kowalski waren das Michael, der ihm direkt gegenübersaß, sowie Andrea und Susanne, genannt Susi. Jürgen saß in einem eigenen Zimmer, doch ließ er die Verbindungstür meistens offen stehen.
Dass sich das Team der HVN-Niederlassung in Hameln duzte, ging auf den ausdrücklichen Wunsch Jürgens zurück. Als Skandinavien-Fan hatte er die dort übliche Praxis des kollegialen Duzens in Firmen kurzerhand importiert und seinen Mitarbeitern aufgezwungen. Kowalski behagte diese Zwangsverbrüderung zwar nicht besonders, doch hatte er sich nicht schon zum Einstieg gegen die Gepflogenheiten im neuen Büro stemmen wollen.
„Ich habe dir ein paar Vorgänge rübergeschoben“, sagte Michael anstelle einer Begrüßung und deutete auf einen Stapel Akten, der sich neben Kowalskis Tastatur auftürmte. Michael, ein etwas aus der Form geratener Mittvierziger mit blassem Teint, schludrig gekämmtem Seitenscheitel und ungebändigten Haarbüscheln, die ihm aus Nasenlöchern und Ohren quollen, fungierte als Sachbearbeiter und Gutachter für die HVN, bekam aber mangels ausreichendem Personal auch Aufgaben der Risikobewertung auf den Tisch. Da er der vielen zu prüfenden Versicherungsanträge allein nicht Herr wurde, hatte Jürgen Unterstützung für Michael angefordert – und mit Kowalski bekommen.
„Ein paar Vorgänge?“, fragte Kowalski zweifelnd, als er die Hefter durchzählte und auf die abschreckende Zahl siebenundzwanzig kam. Angesichts der Tatsache, dass Michaels Schreibtisch so gut wie leergeräumt war, wollte er wissen: „Hast du vor, das Gros der Arbeit auf mich abzuwälzen? Schau mich an: Ich bin ein alter Hase in unserem Job, mich kannst du nicht bescheißen wie ’nen Azubi.“
Michael reagierte genauso, wie er es in den vergangenen Tagen immer wieder getan hatte, wenn er einer unangenehmen Situation ausweichen wollte. Er erhob sich leicht von seinem Stuhl und ließ für jeden hörbar einen fahren.
Nicht zu fassen, dachte Kowalski, sah sich nach den beiden Kolleginnen um, die jedoch seelenruhig weiter auf ihre Bildschirme starrten. „Ist das deine Antwort?“, fragte er, klappte die erste Akte auf und las laut vor: „Antrag auf Brandschutzversicherung für einen Schnellimbiss in Bückeburg.“ Er schlug in der nächsten nach: „Familienuniversalversicherung mit individuellem Schutz für den fallschirmspringenden Sohn.“ Und die dritte: „Wetter- und Hagelschutz für einen Coppenbrügger Saatzüchter.“ Kowalski blickte auf und monierte: „Samt und sonders Kleinkram – aber siebenundzwanzig Mal Kleinkram wird zur großen Nummer, und die bedeutet Überstunden satt.“
Michael machte Anstalten, sich abermals von seinem Stuhl zu erheben, doch Kowalski kam ihm zuvor. Er schob den Stapel zurück auf Michaels Schreibtisch, setzte ein nicht zu nettes, aber auch nicht zu freches Lächeln auf und formulierte einen Vorschlag zur Güte: „Ich habe dein Spielchen einige Tage mitgemacht, aber nun ist es an der Zeit, die Regeln zu ändern: Du übernimmst meinen Teil, dafür darfst du mir deinen rüberreichen.“ Mit Blick auf den leeren Schreibtisch des anderen rechnete er mit heftigem Widerspruch. Doch der blieb aus.
Michael hob die Brauen, wirkte ansonsten aber ungerührt. „Okay“, meinte er nach langen Sekunden des Abwägens. „Wenn du meinst, dass du schon so weit bist, will ich mal nicht so sein.“
Kowalski kniff die Augen zusammen. Was bildete sich dieser Provinzdepp eigentlich ein? Meinte er ernsthaft, einen ausgekochten Profi aus der Zentrale in Hannover über den Tisch ziehen zu können? Kowalski wusste doch längst, was hier gespielt wurde: Dass Michael seine Arbeitszeit vornehmlich damit verbrachte, in der Nase zu bohren. Was er wohl auch meistens konnte, denn die wahren Herausforderungen hatten im verschlafenen Weserbergland doch eher Seltenheitswert.
„Rück raus damit!“, forderte Kowalski ultimativ und sah seine Erwartungen bestätigt, als Michael die Schublade seines Schreibtisches aufzog und eine einzige, noch dazu sehr dünne Mappe herausholte.
„Bitte sehr“, sagte Michael und legte sie Kowalski hin. „Du wolltest es ja nicht anders: Wir tauschen.“
Kowalski konnte nicht an sich halten und lachte laut auf. Dass sich sein Kollege eine solche Blöße gab – unglaublich! „Ein einziger Antrag? Willst du mich verkackeiern?“
Michael schürzte die Lippen. „Ich habe es nur gut gemeint. Wollte einem neuen Kollegen nicht gleich die harten Brocken hinknallen.“ Gedämpft fügte er hinzu: „Es ist uns ja nicht verborgen geblieben, weshalb dich die Bosse in Hannover ins Exil geschickt haben. Da wollte ich dir was Gutes tun mit ein paar Routinefällen.“
Kowalski zuckte zusammen. Michael hatte einen wunden Punkt getroffen. Oder besser: einen noch blutenden Punkt, der nicht heilen wollte und wieder und wieder aufsprang. Diese böse Geschichte aus Hannover, über die er gestolpert war und die ihm vorerst alles verbaut hatte. Diese missliche Fehleinschätzung …
„Ach was!“, tat er die Sache ab. „Was wisst ihr denn schon!“
Michael streute munter weiter Salz in die Wunde: „Immerhin so viel, dass der Konzern einen Millionenverlust hinnehmen musste. Mehr Geld, als du in deinem ganzen verbleibenden Vertreterleben jemals wieder einspielen kannst.“
Kowalski hasste die Zwangsduzerei in diesem Moment mehr denn je. „Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Jeder in meiner Lage hätte es genauso gemacht.“ Er spürte, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg. Um sich abzulenken, hob er den Deckel der nun vor ihm liegenden Akte an.
Auf der ersten Seite des Vorgangs wurden die Antragsteller aufgeführt. Als Kowalski den Stempel einer öffentlichen Institution entdeckte, atmete er erleichtert auf. Denn für einen Augenblick hatte er angenommen, dass er von Michael einen ähnlich gelagerten Fall übernommen hatte wie sein persönliches Waterloo aus Hannover. Das Gegenteil war der Fall: Statt einer Privatperson bat eine behördenähnliche Einrichtung um die Gewährung von Versicherungsschutz. Für Kowalski war dies gleichbedeutend mit einer Garantie auf Seriosität.
„Mein lieber Mann“, sagte er nun schon wieder lächelnd zu seinem Kollegen. „Das niedersächsische Landesmuseum fragt um einen Versicherungsschutz an. Ich verwette mein heutiges Mittagessen beim Italiener dafür, dass ich einen guten Tausch gemacht habe.“
Michael behielt seine Schlechtwettermiene bei, als er konterte: „Lies dir alles in Ruhe durch und lass dir damit Zeit bis um 12 Uhr. Dann darfst du gern aus lauter Dankbarkeit meine Lasagne zahlen. Oder eben nicht, denn die vermeintlich simpelsten Fälle entpuppen sich oft als die härtesten Nüsse.“
Kowalski schüttelte nur den Kopf und vertiefte sich in die Unterlagen. Schnell war ihm klar, dass der Kollege nur bluffte. Wie dem auch sei: Seine Lasagne sollte Michael mal schön selbst bezahlen!
„Nele, Schatz, ja, ich weiß. Es ist spät geworden. Ich war noch ein Bierchen zischen im Kitzinger. Eine recht nette Kneipe in der Innenstadt. Urig, gemütlich, ein bisschen auf bayerisch getrimmt“
Kowalski stand vor der Mikrowelle in seiner Küche und wartete auf das „Ping“, das ihm das Ende der Garzeit seiner Frikadellen mit Reis ankündigen würde, während er telefonierte.
„Nee, nicht mit ’ner Kollegin. Was du wieder denkst! Einfach nur so. Allein mit meiner Akte. – Was für eine Akte? Ach, nicht so wichtig. Ein neuer Vorgang eben, nicht der Rede wert.“
Seine Frau aber bestand darauf, dass er ins Detail ging. Also machte er sich die Mühe, ihr das Wenige zu berichten, was er für erwähnenswert hielt: etwa, dass es um den Schutz einiger kulturhistorischer Objekte ginge, genauer gesagt einige fossile Spuren von Urzeittieren, dass diese im Weserbergland nahe der Kleinstadt Obernkirchen gelegen wären und dass die bereits vorhandenen Sicherheitsmaßnahmen seiner Meinung nach vollkommen ausreichten.
„Das ist ein Klacks für uns“, sagte er leicht dahin. „Wir versichern sie und kassieren eine ordentliche Prämie, aber zum Schadensfall wird es bestimmt nie kommen.“
Nele, die dieses sehr spezielle Thema erstaunlicherweise zu interessieren schien, hakte nach und löcherte ihn mit Fragen. Er nahm an, dass sie es sich deshalb so genau erklären ließ, weil sie eingreifen wollte, bevor er wieder einmal Mist baute. Doch kaum eine ihrer Fragen konnte Kowalski beantworten, da er bisher selbst nicht tief genug in die Materie eingetaucht war. Nur auf die zentrale Frage seiner Frau vermochte er einzugehen – und zwar auf seine ihm eigene offenherzige Art:
„Mal freiheraus gesagt, interessieren mich Dinosaurier einen Scheißdreck. Du weißt ja, dass ich diese ganzen blöden Jurassic-Park-Filme gemieden habe wie die Pest. Der Dino-Kult hat mich immer bloß genervt.“ Er grinste. „Aber zum Schutz von ein paar Spuren dieser zähnefletschenden Fleischklopse gegen gutes Geld eine Police auszustellen, dafür bin ich zu haben! Das ist ein sicheres Geschäft.“
Seine Frau ließ sich überzeugen, als er meinte: „Sind doch nur Steine, wer klaut schon Steine? Außerdem kann man so einen metergroßen Block ja nicht einfach in die Tasche stecken und mitgehen lassen.“
Am Ende bestärkte Nele ihn sogar in seiner Auffassung und meinte, dass diese Aufgabe doch mal etwas ganz anderes sei als die üblichen Routinefälle und ihm guttun würde. Wahrscheinlich spekulierte sie darauf, dass er dadurch von seinem ganz persönlichen Trauma, dem Versicherungs-Supergau in Hannover, abgelenkt werden würde. Nun, es sollte ihm recht sein, wenn es so käme.
Da er nach dem Telefonat noch nicht müde war und seine Frau ihm einen Motivationskick verpasst hatte, beschloss er, seine dünnen Kenntnisse über Urzeittiere auszuweiten. Internetrecherche kam für Kowalski allerdings nicht infrage, da er ja den lieben langen Tag im Büro am Computer saß und seine Wohnung zur Offline-Zone deklariert hatte. Für den Notfall stand ihm zwar ein iPad zur Verfügung, mit dem die HVN alle höheren Mitarbeiter ausgestattet hatte. Doch den Tablet-PC benutzte er vorwiegend im Wortsinn als Tablett, auf dem er mit Vorliebe seine Kaffeetasse abstellte.
Zunächst knipste er den Fernseher an und schaltete sich durch eine Unzahl von Programmen, die ihm die Satellitenschüssel ins Wohnzimmer lieferte. Vielleicht lief ja irgendwo ein Dino-Film oder eine Doku. Doch nach einhundertachtundsiebzig Senderwechseln gab er entnervt auf. Außer einem japanischen Godzilla-Streifen in lausiger Qualität hatte er nichts finden können, was ihm weiterhalf. Und Godzilla diente wohl kaum als wissenschaftliches Anschauungsobjekt für seine Zwecke.
Darum versuchte er sein Glück, indem er sein dürftig bestücktes Bücherregal im Flur durchstöberte. Die meisten Bände waren in Hannover geblieben, nach Hameln hatten es nur einige Krimis und Branchenfachbücher geschafft, aber eben auch ein Karton voller Zeitschriften. Die hatte ihm Nele aufgedrückt mit der Aufforderung, sie entweder zu entsorgen oder aufzuheben, um sie bei Anflügen von Langeweile in Hameln durchzublättern. Kowalski versenkte seine Hände in der Kiste und beförderte einige GEO-Magazine zutage. Vielversprechend, wie er fand.
Und tatsächlich: In einer drei Jahren alten Dezember-Ausgabe stieß er auf den gesuchten Artikel. Mehrere furchteinflößende Dinos mit spitzen Krallen und noch spitzeren Zähnen machten Anstalten, ihm aus dem Titelbild entgegenzuspringen. „Saurier, Panzertiere und Terrorvögel“, lautete der reißerische Titel des Textes. Gleich im ersten Absatz erfuhr Kowalski, dass er sich gedanklich in die Zeiten zwischen dreihundert und fünfundsechzig Millionen Jahren vor unserer Zeit zurückversetzen musste, historische Epochen, die sich in Perm, Trias, Jura und Kreidezeit gliederten.
In unbequemer Haltung auf dem Boden des Flurs kauernd, las Kowalski mit wachsendem Interesse über bizarre Kreaturen wie Opabinia, einem matratzenähnlichen Räuber mit Fangrüssel und fünf pilzförmigen Augen. Oder Anomalocaris, dem ersten Panzerknacker der Geschichte, ein stieläugiger Beutegreifer mit nicht weniger als zwanzig Flossen und zwei stacheligen Klauen, der Jagd auf kleine Schalentiere machte.
Er hatte ein knappes Drittel des packend geschriebenen Berichts verschlungen, als das Telefon klingelte. Ob es noch einmal Nele war? Vermisste sie ihn so sehr? Dann wäre es wohl das Beste, wenn er sich ins Auto setzen und schnell rüber nach Hannover sausen würde. Um diese Zeit würde er die fünfzig Kilometer in einer Dreiviertelstunde schaffen, morgen früh im Berufsverkehr dann aber umso länger für den Rückweg brauchen.
„Ja, hallo, Schatz, bist du es?“, meldete er sich.
„Äh. Nein, ich glaube nicht“, antwortete eine Männerstimme nach einigen Sekunden des Zögerns. „Michael am Apparat.“
„Michael?“ Kowalski sah auf seine Armbanduhr: kurz vor halb elf.
„Noch Lust auf einen Drink?“, fragte der späte Anrufer.
Kowalski überlegte, dann sagte er kurzentschlossen zu.
Eine Viertelstunde später hockte er wieder dort, wo er heute Abend schon einmal gesessen hatte: an der Theke des Kitzinger, von der sich Michael seitdem nicht wegbewegt zu haben schien. Dafür hatte er etliche Biere Vorsprung und lallte leicht. Das Lokal war trotz der fortgeschrittenen Stunde noch gut gefüllt. Die meisten Tische waren besetzt, und im abgetrennten Raucherpavillon saß eine Knobelrunde einträchtig beieinander.
„Weißt du“, hob Michael an, „dass bei der Industrie- und Handelskammer zweihundertsechzigtausend Versicherungsvermittler registriert sind? Hast du eine Vorstellung davon, wie viele das sind? Wir sind eine Plage! Großbritannien kommt mit dreizehntausend aus.“
„Ja, ähm, wenn du meinst.“ Kowalski wusste nicht recht, wie er auf die kritische Selbstanalyse seines Kollegen reagieren sollte.
