Stella Maris - Cormac McCarthy - E-Book
SONDERANGEBOT

Stella Maris E-Book

Cormac McCarthy

0,0
19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sechzehn Jahre nach seinem Weltbestseller Die Straße kehrt Pulitzer-Preisträger Cormac McCarthy zurück mit seinem zweibändigen Meisterwerk. Der Passagier und Stella Maris:Zwei Romane ohne Vorbild. Die Wahrheit des einen negiert die des anderen. 1972, Black River Falls, Wisconsin: Alicia Western, zwanzig Jahre alt, lässt sich mit vierzigtausend Dollar in einer Plastiktüte und einem manifesten Todeswunsch in die Psychiatrie einweisen. Die Diagnose der genialen jungen Mathematikerin und virtuosen Violinistin: paranoide Schizophrenie. Über ihren Bruder Bobby spricht sie nicht. Stattdessen denkt sie über Wahnsinn nach, über das menschliche Beharren auf einer gemeinsamen Welterfahrung, über ihre Kindheit, in der ihre Großmutter um sie fürchtete – oder sie fürchtete? Alicias Denken kreist um die Schnittstellen zwischen Physik, Philosophie, Kunst, um das Wesen der Sprache. Und sie ringt mit ihren selbstgerufenen Geistern, grotesken Chimären, die nur sie sehen und hören kann. Die Protokolle der Gespräche mit ihrem Psychiater zeigen ein Genie, das an der Unüberwindbarkeit der Erkenntnisgrenzen wahnsinnig wird, weder im Reich des Spirituellen noch in einer unmöglichen Liebe Erlösung findet und unsere Vorstellungen von Gott, Wahrheit und Existenz radikal infrage stellt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 251

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cormac McCarthy

Stella Maris

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren

 

Über dieses Buch

1972, Black River Falls, Wisconsin: Alicia Western, zwanzig Jahre alt, lässt sich mit vierzigtausend Dollar in einer Plastiktüte und einem manifesten Todeswunsch in die Psychiatrie einweisen. Die Diagnose der genialen jungen Mathematikerin und virtuosen Violinistin: paranoide Schizophrenie. Über ihren Bruder Bobby spricht sie nicht. Stattdessen denkt sie über Wahnsinn nach, über das menschliche Beharren auf einer gemeinsamen Welterfahrung, über ihre Kindheit, in der ihre Großmutter um sie fürchtete – oder sie fürchtete? Alicias Denken kreist um die Schnittstellen zwischen Physik, Philosophie, Kunst, um das Wesen der Sprache. Und sie ringt mit ihren selbst gerufenen Geistern, grotesken Chimären, die nur sie sehen und hören kann. Die Protokolle der Gespräche mit ihrem Psychiater zeigen ein Genie, das an der Unüberwindbarkeit der Erkenntnisgrenzen wahnsinnig wird, weder im Reich des Spirituellen noch in einer unmöglichen Liebe Erlösung findet und unsere Vorstellungen von Gott, Wahrheit und Existenz radikal infrage stellt.

Vita

Cormac McCarthy wurde 1933 in Rhode Island geboren und wuchs in Knoxville, Tennessee auf. Für sein literarisches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzerpreis und dem National Book Award. Die amerikanische Kritik feierte seinen Roman «Die Straße» als «das dem Alten Testament am nächsten kommende Buch der Literaturgeschichte» (Publishers Weekly). Das Buch gelangte auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und verkaufte sich weltweit mehr als eine Million Mal. Mehrere von McCarthys Büchern wurden bereits aufsehenerregend verfilmt, «Kein Land für alte Männer» von den Coen-Brüdern, «Der Anwalt» von Ridley Scott und «Ein Kind Gottes» von James Franco. Cormac McCarthy starb im Juni 2023 in Santa Fe, New Mexico.

 

Dirk van Gunsteren, 1953 geboren, übersetzte u.a. Jonathan Safran Foer, Colum McCann, Thomas Pynchon, Philip Roth, T.C. Boyle und Oliver Sacks. 2007 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis, 2018 den Übersetzerpreis der Landeshauptstadt München.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Stella Maris» bei Alfred A. Knopf, Inc., New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

 

«Stella Maris» Copyright © 2022 by Cormac McCarthy

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Rich Bowman

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01558-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

– STELLA MARIS –

Black River Falls, Wisconsin

Gegründet 1902

 

Seit 1950 eine nicht konfessionelle psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt

Offene Abteilung

Fall 72–118

27. Oktober 1972

 

Die Patientin ist eine zwanzigjährige jüdische Weiße. Attraktiv, möglicherweise anorektisch. Traf vor sechs Tagen ein, offenbar per Bus und ohne Gepäck. Aufnahme durch Dr. Wegner. Die Patientin hatte in ihrer Tasche eine Plastiktüte voll Hundertdollarscheine – etwas über vierzigtausend Dollar –, die sie beim Empfang abgeben wollte. Sie ist Doktorandin der Mathematik an der University of Chicago. Es wurde eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert, verbunden mit seit Langem bestehenden visuellen und auditorischen Halluzinationen. Zwei frühere Aufenthalte in dieser Einrichtung.

I

Hallo. Ich bin Dr. Cohen.

Sie sind nicht der Dr. Cohen, den ich erwartet habe.

Tut mir leid. Sie dachten wahrscheinlich an Dr. Robert Cohen.

Ja. An Dr. Cohens herrscht wahrscheinlich kein Mangel.

Wahrscheinlich nicht. Wie fühlen Sie sich? Geht es Ihnen gut?

Ob es mir gut geht.

Ja.

Ich bin in der Klapsmühle.

Na ja. Davon abgesehen, meine ich.

Wie lange machen Sie das schon?

Etwa vierzehn Jahre.

Sie nehmen das hier auf.

Ich glaube, so war es vereinbart. Ist das in Ordnung?

Wahrscheinlich. Da dachte ich noch, Sie wären jemand anders.

Also nicht in Ordnung.

Nein, ist schon okay. Obwohl ich darauf hinweisen sollte, dass meine Einwilligung nur für Gespräche gilt. Nicht für irgendeine Art von Therapie.

Ja. Gibt es irgendetwas, das Sie mich fragen möchten? Bevor wir anfangen.

Wir haben schon angefangen. Was zum Beispiel?

Vielleicht sollten Sie etwas von sich selbst erzählen.

Oh Mann.

Nein?

Was wird das hier? Malen nach Zahlen?

Wie bitte?

Schon gut. Ich bin nur so naiv, dass ich immer wieder denke, es wäre vielleicht möglich, diese Erkundungen auf einem Vektor durchzuführen, der nicht durch Heuchelei total ins Unplausible gelenkt wird.

Was meinen Sie? Meinen Ton?

Schon gut. Wir machen’s auf Ihre Art. Was soll’s.

Tja. Ich möchte nicht, dass wir auf dem falschen Fuß anfangen. Ich dachte nur, Sie wollen mir vielleicht erzählen, warum Sie hier sind.

Ich konnte nirgendwo anders hin.

Und warum hierhin?

Ich war schon mal hier.

Und warum ursprünglich?

Weil sie mich in St. Coletta nicht haben wollten.

Und warum St. Coletta?

Dahin haben sie Rosemary Kennedy gebracht. Nachdem ihr Vater ihr das Hirn hat verschmoren lassen.

Haben Sie eine Verbindung zur Familie Kennedy?

Nein. Ich wusste auch nichts von psychiatrischen Kliniken. Ich dachte nur, wenn sie diesen Ort für sie ausgesucht hatten, musste es wohl ein ziemlich guter Ort sein. Ich glaube, das Hirn haben sie ihr irgendwo anders verschmort.

Sie sprechen von Lobotomie?

Ja.

Warum haben sie das mit ihr gemacht?

Weil sie absonderlich war und ihr Vater Angst hatte, jemand könnte sie vögeln. Sie war nicht, was er sich vorgestellt hatte.

Ist das wahr?

Ja. Leider.

Warum hatten Sie das Gefühl, Sie müssten irgendwohin gehen?

Sie meinen diesmal?

Ja. Diesmal.

Ich hatte es einfach. Ich hatte Italien verlassen. Wo mein Bruder im Koma lag. Sie wollten den Stecker ziehen und setzten mir zu. Ich sollte mich einverstanden erklären. Ich sollte die Papiere unterschreiben. Also bin ich geflohen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.

Sie haben es nicht über sich gebracht? Die lebenserhaltenden Geräte abschalten zu lassen?

Ja.

Ist er hirntot?

Ich will nicht über meinen Bruder sprechen.

Na gut. Sagen Sie mir nur, warum er im Koma liegt.

Er hatte einen Autounfall. Er war Rennfahrer. Ich will wirklich nicht.

Na gut. Gibt es etwas, das Sie mich fragen wollen?

Was denn?

Irgendwas. Zu meiner Person, wenn Sie wollen. Darf ich Sie Alicia nennen?

Ich soll Ihnen Fragen über Sie selbst stellen.

Wenn Sie wollen.

Sie lehren an der Uni.

In Madison. Ja.

Ich weiß, wo die Uni ist. Für einen Akademiker sind Sie ziemlich gut gekleidet.

Danke.

Das war kein Kompliment. Sie sind kein Psychoanalytiker.

Ich bin Psychiater.

Sie sind kein Arzt.

Doch, bin ich.

Was sonst noch?

Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder. Meine Frau leitet ein städtisches Kinderprogramm. Ich bin dreiundvierzig.

Was tun Sie, wenn es niemand sieht?

Nichts. Und Sie?

Ich rauche hin und wieder eine Zigarette. Ich trinke nicht und nehme keine Drogen. Oder Medikamente. Ich nehme an, Sie haben keine Zigaretten.

Nein. Aber ich könnte welche mitbringen.

Okay.

Was noch?

Ich führe heimliche Gespräche mit angeblich nicht existenten Figuren. Man hat mir vorgeworfen, ich würde die Männer Sie-wissen-schon-was machen, aber ich finde, das stimmt nicht. Die Leute scheinen mich interessant zu finden, aber ich habe es mehr oder weniger aufgegeben, mit ihnen zu reden. Ich rede mit meinen Mitverrückten.

Sie sprechen nicht mit anderen Mathematikern?

Nicht mehr. Na ja. Mit einigen.

Warum?

Das ist eine lange Geschichte.

Beschäftigen Sie sich noch immer mit Mathematik?

Nein. Nicht mit dem, was Sie als Mathematik bezeichnen würden.

Mit welchem Zweig der Mathematik haben Sie sich beschäftigt?

Mit Topologie. Mit der Topos-Theorie.

Aber das tun Sie jetzt nicht mehr.

Nein, ich bin abgelenkt worden.

Was hat Sie abgelenkt?

Die Topologie. Die Topos-Theorie.

Vielleicht sollten wir das fürs Erste ausklammern.

Gut. Ich hatte sowieso keine Ahnung.

Das überrascht mich. Hätten Sie nicht Hilfe von anderen Mathematikern bekommen können?

Nein. Die hatten ja auch keine Ahnung.

Sind Sie sicher, dass es in Ordnung ist, wenn ich das aufnehme?

Klar. Was ist, wenn ich vögeln oder so sage? Ich glaube, ich hab’s schon mal gesagt. Und jetzt wieder.

Ich weiß nicht. Ich glaube, die Vereinbarung war, dass Sie nichts im Nachhinein verändern können.

Das war nicht ernst gemeint.

Aha.

Alicia ist okay. Das gefällt mir besser als Henrietta.

Das war schon wieder nicht ernst gemeint.

Nein.

Na gut. Sie wollen mir nichts über ihren Bruder erzählen?

Das klingt wie das Eliza-Programm. Nein, will ich nicht.

Sie meinen das psychiatrische Computerprogramm.

Ja.

Na gut. Worüber möchten Sie denn sprechen?

Ich weiß nicht. Ich glaube, ich will bloß ein bisschen klugscheißen. Wenn wir wirklich miteinander sprechen wollen, müssen wir wenigstens einen Teil von dem Quatsch weglassen. Meinen Sie nicht? Oder doch?

Ja. Ich glaube, Sie haben absolut recht.

Wie zum Beispiel das jetzt.

War das Quatsch?

Natürlich war das Quatsch. Nie im Leben glauben Sie, dass ich absolut recht habe.

Ich verstehe.

Und sagen Sie bitte nicht: Ich verstehe.

Es soll nur heißen, dass ich versuche, Ihren Standpunkt zu verstehen. Sind Sie mit irgendjemandem in Kontakt?

Sie meinen echte Menschen?

Vorzugsweise, ja.

Eigentlich nicht.

Keine Mathematiker? Niemand von der Uni?

Ich dachte, wir wollten nicht über Mathematik sprechen.

Na gut.

Ich schreibe noch immer an Grothendieck, aber er hat das IHES verlassen und antwortet mir nicht. Das ist in Ordnung. Ich habe es auch nicht erwartet.

Ist er Mathematiker?

Ja. Er war es jedenfalls.

Wo lebt er?

Ich weiß nicht. Ich nehme an, er ist noch in Frankreich.

Es ist kein sehr französischer Name.

Es ist überhaupt kein französischer Name. Sein Vater hieß Schapiro. Später Tanarow. Er ist staatenlos. Als Kind wurde er während des Krieges interniert. Er konnte fliehen und sich verstecken. Sein Vater wurde in Auschwitz ermordet.

Wohin schicken Sie Ihre Briefe?

An das IHES. Sie wissen nicht, wer er ist, stimmt’s?

Nein.

Schon in Ordnung. Wir waren befreundet. Wir sind befreundet. Wir teilen die gleiche Skepsis.

In Hinblick auf was?

Auf die Mathematik.

Ich weiß nicht, ob ich Ihnen folgen kann.

Schon gut.

Sie sind skeptisch in Hinblick auf die Mathematik?

Ja.

Hat eines der Fachgebiete Sie enttäuscht? Ich weiß nicht, wie man in Hinblick auf die ganze Mathematik skeptisch sein kann.

Ich weiß.

Aber die Mathematik hat Sie enttäuscht.

So könnte man es ausdrücken.

Wie hat sie das getan?

Tja, in diesem Fall wurde sie angeführt von einer Gruppe schlimmer, abweichender und durch und durch bösartiger partieller Differenzialgleichungen, die sich gegen die fragwürdigen Schaltkreise im Gehirn ihres Erschaffers verschworen hatten, um ihnen, ganz ähnlich wie in der von Milton beschriebenen Rebellion, die Herrschaft über ihre eigene Realität zu entreißen und die Flagge einer unabhängigen Nation zu hissen, die weder Gott noch Menschen Rechenschaft schuldet. Oder so.

Sie finden meine Fragen naiv.

Entschuldigung. Nein. Tue ich nicht. Der Fehler liegt nicht beim Fragenden.

Ist er ein bedeutender Mathematiker? Ihr Freund.

Grothendieck. Er gilt allgemein als der bedeutendste Mathematiker das zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn man außer Acht lässt, dass Hilbert und Poincaré und Cantor bis ins zwanzigste Jahrhundert gelebt haben. Und das sollte man, denn ihre wichtigsten Arbeiten stammen allesamt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Und ich bin kein allzu großer Fan von Neumanns.

Tut mir leid, aber diese Namen kenne ich nicht.

Ich weiß. Das ist schon in Ordnung. Nein, eigentlich nicht. Aber es ist okay.

Grothendieck.

Ja.

Haben Sie mit ihm zusammengearbeitet?

Ich weiß nicht, ob Sie es Arbeit nennen würden. Wir haben viel geredet. Er kam dienstags ins Institut. Und ich habe viel Zeit in seinem Haus verbracht. Mit der Familie gegessen. Die Gespräche danach gingen bis tief in die Nacht. In gewisser Weise waren wir in derselben Klapsmühle. Das Institut war für ihn und einen anderen Mathematiker namens Dieudonné gegründet worden, von einem reichen und komplett verrückten Russen namens Motchane – sofern das sein richtiger Name war. Vorbild war das IAS. In Princeton. Einer der Berater war Oppenheimer. Ich war ein Jahr lang dort, aber damals wurden die Mittel langsam knapp. Am Ende hab ich nicht mal mein ganzes Stipendium ausgezahlt gekriegt. Ich war die einzige Frau dort. Anfangs haben sie gedacht, ich arbeite in der Küche.

Ich nehme an, das war keine schöne Erfahrung.

Es war fantastisch. Ich hatte auch in Chicago einigen Ärger gehabt. Aber Grothendieck hörte einem sehr aufmerksam zu. Er nickte und machte sich Notizen. Er redete. Stellte Fragen, die man sich selbst nicht gestellt hatte.

Wie alt waren sie?

Siebzehn.

Und das war kein Thema? Ihr Alter.

Es kam ihm gar nicht in den Sinn.

Warum schreibt er Ihnen nicht?

Hauptsächlich, weil er die Mathematik aufgegeben hat.

Wie Sie.

Ja. Wie ich.

War das schwer?

Na ja. Ich glaube, es ist vielleicht schwerer, nur eine Sache zu verlieren, als alles zu verlieren.

Eine Sache könnte alles sein.

Ja. Könnte sie. Die Mathematik war alles, was wir hatten. Es war nicht so, als hätten wir die Mathematik aufgegeben und angefangen, Golf zu spielen. Jetzt wird er zu Seminaren eingeladen und hält dort Tiraden über die Umwelt und gegen die Kriegstreiber. Seine Eltern waren politische Aktivisten. Er hält ihr Ansehen in hohen Ehren. Auf seinem Schreibtisch stehen ein Bleistiftporträt seines Vaters und eine Totenmaske – die seiner Mutter, wie man mir sagte. Tatsache ist, dass sie ihn als Kind verlassen haben, um ihren politischen Traum von einer Welt, die es nie geben wird, zu verwirklichen, und ich nehme an, er sah sich gezwungen, in ihre Fußstapfen zu treten, um ihren Verrat an ihm zu rechtfertigen. Er ist verheiratet und hat Kinder. Und ich fürchte, er wird dasselbe tun.

Weinen Sie?

Tut mir leid.

Aber er hat das alles aufgegeben.

Ja.

Warum?

Seine Freunde glauben, dass er psychisch zunehmend instabil geworden ist.

Ist das so?

Es ist kompliziert. Letztlich geht es um Glauben. Um das Wesen der Realität. Einige meiner Mitmathematiker wären sehr erheitert zu hören, dass die Abkehr von der Mathematik als Anzeichen für psychische Instabilität gewertet wird.

Wie alt ist er?

Vierundvierzig.

Und Sie sind nach Frankreich gegangen, weil Sie ein Stipendium von seinem Institut hatten.

Ich bin nach Frankreich gegangen, um bei meinem Bruder zu sein. Ich wusste nicht, ob er zurückkommen würde. Aber ja, ich wollte an das Institut. Die machten dort das, was ich machen wollte.

Da hatten Sie Ihr Studium an der University of Chicago bereits abgeschlossen.

Ja.

Mit sechzehn.

Ja. Ich war im Doktorandenprogramm. Ich nehme an, das bin ich noch immer. Ich hatte eigentlich kein Leben. Ich habe nur gearbeitet.

Was wären Sie gern geworden, wenn nicht Mathematikerin?

Tot.

Wie ernst meinen Sie diese Antwort?

Ich habe Ihre Frage ernst genommen. Dann sollten Sie meine Antwort auch ernst nehmen.

Geht es Ihnen gut?

Ja. Vielleicht habe ich Ihre Frage doch nicht so ernst genommen. Was ich wirklich wollte, war ein Kind. Was ich wirklich will. Wenn ich ein Kind hätte, würde ich nachts zu ihm hineingehen und mich zu ihm setzen. Ganz still. Ich würde mein Kind atmen hören. Wenn ich ein Kind hätte, wäre mir die Wirklichkeit egal.

Sie überraschen mich.

Ja. Na ja.

Wollen Sie fortfahren?

Mir geht’s gut. Jedenfalls haben sich Grothendieck und Motchane überworfen. Motchane sagte ihm, er werde auch Forschungsgelder des Militärs annehmen, weil er wollte, dass Grothendieck zurücktrat. Was er dann auch tat. Ich weiß nicht mal, ob es überhaupt stimmte. Das mit dem Geld.

Ist er wirklich ein großer Mathematiker?

Ja.

Hat er etwas herausgefunden, das ich verstehen könnte?

Ich weiß nicht. Er hat jedenfalls mehr gearbeitet, als man von fünf Mathematikern hätte erwarten können. Fast wie Euler. Schließlich hat er sich darangemacht, die gesamte algebraische Geometrie umzuschreiben. Er hat nur etwa ein Drittel geschafft. Ein paar tausend Seiten. Aber er hat die Mathematik grundlegend verändert. Er war der Anführer des Bourbaki-Kreises, doch letztlich konnten die anderen ihm nicht folgen. Oder wollten nicht. Ihre Mathematik gründete sich auf die Mengenlehre – die inzwischen immer mehr Löcher bekommen hatte –, und darüber war er schon ein gutes Stück hinaus. Auf einer ganz neuen Ebene logischer Abstraktion. Mit einem neuen Blick auf die Welt. Er hat vollendet, was Riemann begonnen hatte: Euklid für immer vom Thron zu stoßen. Das fünfte Postulat vorerst unbeachtet zu lassen. Das Eindringen der Unendlichkeit, mit der Euklid nicht zurechtkam. Wenn man sich mit der Topos-Theorie beschäftigt, steht man am Rand eines anderen Universums. Man hat einen Punkt gefunden, von wo man aus dem Nirgendwo auf die Welt zurückblicken kann. Das ist nicht bloß irgendeine Gestalttheorie. Es ist fundamental.

Sie haben sich selbst eingewiesen.

Ins Stella Maris.

Ja.

Wenn man eingewiesen wird, gibt es einen amtlichen Vermerk, aber nicht wenn man sich selbst einweist. Anscheinend denken die, dass man einigermaßen bei Verstand sein muss, sonst wäre man ja nicht gekommen. Von allein. Also kriegt man keinen Vermerk. Wenn man gesund genug ist, um zu wissen, dass man verrückt ist, ist man nicht so verrückt, wie wenn man denken würde, man ist gesund.

Wie oft waren Sie hier? Zweimal?

Ja.

Warum diesmal? Ich glaube, das will ich eigentlich fragen.

Ich habe ständig Fremde in meinem Zimmer angetroffen.

Das ist ja offenbar nichts Neues.

Ich wollte hier einige Leute sehen.

Patienten.

Ja. Denken Sie, ich komme her, um das Personal zu besuchen?

Sie meinen die Ärzte.

Ja.

Ich weiß nicht.

Natürlich wissen Sie das.

Sie nehmen keinerlei Medikamente.

Nein.

Halten Sie das für klug?

Ich weiß nicht, was klug ist. Ich bin kein kluger Mensch.

Aber Sie denken nicht, dass Sie verrückt sind.

Ich weiß nicht. Nein. Jedenfalls passe ich nicht in Ihr Verrücktenbuch.

Sie meinen das DSM.

Ja. Ich bin natürlich nicht die Einzige, die nicht dadrin steht.

Haben Sie noch immer Halluzinationen?

Ich habe nie behauptet, dass sie Halluzinationen sind.

Sie haben Ihre Besucher als nicht existente Personen bezeichnet.

Figuren.

Dann also Figuren.

Ich habe aus der Literatur zitiert.

Aus welcher Literatur?

Aus der über mich. Aber nein, ich habe sie in letzter Zeit nicht gesehen. An einem Ort wie diesem tauchen sie nicht gern auf. Er ist ihnen unbehaglich. Sie lächeln.

Das hört sich fast so an, als wollten Sie sagen, dass diese Einrichtung an sich der geistigen Gesundheit dienlich ist. Inwiefern? So wie eine Kirche böse Geister abwehrt?

Das könnte man wohl als Analogie gelten lassen. Die Kirche hört nie auf, von Sündern zu sprechen. Die Geretteten werden kaum erwähnt. Jemand hat mal darauf hingewiesen, dass Satans Interessen ausschließlich spiritueller Natur sind. Chesterton, glaube ich.

Ich glaube, ich verstehe nicht ganz.

Satan interessiert sich nur für Ihre Seele. Wie es Ihnen sonst geht, ist ihm scheißegal.

Interessant. Ihre Besucher. Was immer sie sind. Was können Sie mir über sie sagen?

Ich weiß nie, wie ich diese Frage beantworten soll. Was wollen Sie wissen?

Haben sie Namen?

Niemand hat einen Namen. Man gibt ihnen Namen, damit man sie im Dunkeln finden kann. Ich weiß, dass Sie meine Akte gelesen haben, aber die lieben Ärzte passen nie besonders gut auf, wenn man ihnen halluzinierte Figuren beschreibt.

Wie wirklich erscheinen sie Ihnen? Haben sie etwas Traumartiges?

Ich glaube nicht. Traumfiguren sind unzusammenhängend. Man sieht Teile von ihnen und ergänzt den Rest. Es ist wie mit dem blinden Fleck in Ihrem Auge. Sie sind nicht beständig, sie verwandeln sich in andere Wesen. Ganz zu schweigen davon, dass die Landschaften, in denen sie sich bewegen, Traumlandschaften sind.

Die Hauptfigur ist ein glatzköpfiger Liliputaner.

Ein kleinwüchsiger Mensch. Ja.

Der Zwerg.

Der Zwerg. Ja.

Aber er ist nicht wie die Figuren aus Ihren Träumen.

Nein. Er ist wie eine Figur in meinem Zimmer.

Ich würde gern wissen, ob Sie irgendeine Vorstellung haben, warum die Figuren diese bestimmte Erscheinung annehmen.

Möchten Sie es vielleicht mit einer anderen Frage probieren? Sie nehmen die Erscheinung an, aus der ihre Erscheinung besteht. Ich vermute, eigentlich wollen Sie wissen, was diese Figuren symbolisieren. Aber ich habe keine Ahnung. Ich bin keine Jungianerin. Ihre Frage deutet auch darauf hin, dass Sie denken, es wäre möglich, diese bescheuerte Menagerie zu orchestrieren. Irgendwie. Dabei leuchtet jede der Figuren geradezu vor Wirklichkeit. Ich sehe die Haare in ihren Nasenlöchern, ich sehe in ihre Gehörgänge, ich sehe die Knoten in ihren Schnürsenkeln. Und Sie denken, Sie könnten daraus eine Oper über meine gestörten mentalen Vorgänge machen. Viel Glück.

Aber Ihnen ist bewusst, dass andere Menschen nicht an die Existenz solcher Wesen glauben.

Definieren Sie Existenz.

Wie bitte?

Was andere glauben, ist mir ziemlich egal. In meinen Augen sind sie für eine Meinung nicht qualifiziert.

Weil andere sie nicht gesehen haben.

Tja, ich glaube, das hier könnte man als logische Sackgasse bezeichnen. Was meinen Sie?

Sie wissen sicher, dass die Wahrscheinlichkeit von Halluzinationen der Art, wie Sie sie beschreiben, gegen null geht. Mehrere Ärzte haben die Vermutung geäußert, Sie hätten sie sich ausgedacht.

Ausgedacht.

Ja.

Ein ziemlich seltsamer Ausdruck, oder?

Sie hätten sich ausgedacht, dass Sie sie sich ausgedacht haben.

Tja, die dürfen sich auch keine Meinung erlauben.

Die Ärzte?

Die Ärzte.

Vielleicht. Wann hat das angefangen? In welchem Alter waren Sie?

Finden Sie, dass ich wie eine blühende Psychotikerin rüberkomme?

Nein. Das finde ich nicht. Andererseits: Sie mögen keine Tests.

Nein. Sie denn?

Nein. Es sei denn, ich glaube, dass ich gut abschneiden werde. Aber Sie finden, Tests sind generell … ja, was eigentlich? Verfehlt? Invasiv?

Sagen wir einfach, ich mag sie nicht.

Aber Sie haben einige gemacht. Beim APM haben Sie ein perfektes Ergebnis erzielt.

Das haben auch schon andere geschafft.

Aber nicht in Ihrem Tempo.

Die ersten Fragen sind ziemlich dämlich. Man trägt einfach das fehlende Element ein. Die Komplikation ist einigermaßen primitiv. Die Aufgaben werden zwar schwieriger, sind aber nicht grundsätzlich anders. Außerdem gibt es, ganz gleich, wie komplex die Elemente werden, nicht mehr als sechs Regeln.

Am Ende des Tests haben Sie ein paar dreidimensionale Elemente gezeichnet.

Gitter. Ja. Das eine war geometrisch, das andere rechnerisch. Die waren nicht so schwer. Aber ich fand, sie sahen vielversprechend aus. Ich sah, dass sie ziemlich schnell ziemlich verzwickt werden konnten. Wenn man die Dimensionalität nicht richtig hinbekam, konnte man die Progression nicht verfolgen. Ich habe nie wieder was von ihnen gehört. Ich hatte das Gefühl, wenn Leute die Tests, die man sich ausgedacht hat, mit links schaffen, sollte man sich lieber schwierigere Tests ausdenken. Ich dachte, Sie wollten über die Horte sprechen.

Über die was?

Die Horte. Die Wesenheiten. Horte wie in Kohorte.

Ist das ein Wort? Horte?

Jetzt ist es eins. Ich vermute, am nächsten kommt ihm ort, im Englischen ein Rest, im Deutschen eine bestimmte Stelle. Jedenfalls: In welchem Alter war ich? Um Ihre Frage zu beantworten. Ich glaube, in meiner Akte steht: mit Einsetzen der Menstruation.

Ich wollte nur wissen, ob das korrekt ist. Das wäre ziemlich früh.

Man könnte von Frühreife sprechen.

Ich hoffe, Sie entschuldigen meine Frage, aber wie alt waren Sie da?

Zwölf.

Schizophrenie tritt bei Frauen normalerweise erst in den späten Teenagerjahren oder mit Anfang zwanzig auf.

Ich bin nie offiziell als schizophren diagnostiziert worden.

Nein.

Vielleicht sollte man mal einen Test für allgemeine Absonderlichkeit erstellen. Was meinen Sie?

Sie haben hier den MMPI gemacht. Vor zwei Jahren.

Na gut.

Und da wir gerade von allgemeiner Absonderlichkeit sprechen: Sie wurden als soziopathisch und verhaltensgestört eingestuft, es folgten noch einige weitere unschöne Adjektive. Das betraf Skala 4. Kannten Sie den Minnesota-Test?

Nein. Ich setze mich nicht hin und beschäftige mich mit Ihren Tests. Ich finde sie atemberaubend idiotisch und bedeutungslos. Das Ganze ging mir immer mehr auf den Geist. Also versuchte ich mich als möglicherweise gemeingefährliche Verrückte zu qualifizieren.

Hatten Sie keine Sorge, man könnte Sie einsperren?

Ich war eingesperrt.

Sie konnten dem Minnesota-Test nichts abgewinnen.

Nein.

Beim Stanford-Binet haben Sie sechsundneunzig Punkte erzielt.

Ich hab versucht, hundert zu kriegen.

Warum?

Weil das der genaue Durchschnitt ist.

Wie groß ist Ihr tatsächlicher IQ?

Ich habe keinen.

Ist das nicht eine Form von Hybris? Sich für nicht testbar zu halten?

Nicht wenn man es tatsächlich ist. Außerdem ist der Stanford-Binet rassistisch. Unter anderem.

Wie kann er rassistisch sein?

Es wird nicht nach Musik gefragt. Zum Beispiel. Musik zählt offenbar nicht. Und so gibt es da diesen schwarzen Typen mit einem festgestellten IQ von fünfundachtzig, der nach jedem Maßstab, den man anlegen könnte, ein musikalisches Genie ist. Einfach überirdisch. Aber für die IQ-Typen ist er kaum mehr als ein Halbidiot.

Ich nehme an, Sie finden, dass diese Testleute selbst nicht besonders intelligent sind.

Ich habe in dieser Branche noch nie jemanden kennengelernt, der auch nur die leiseste Ahnung von Mathematik hatte. Und Intelligenz, das sind Zahlen. Nicht Wörter. Wörter haben wir erfunden. Die Mathematik nicht. Die Mathematik- und Logikfragen in den IQ-Tests sind ein Witz.

Wie ist es dazu gekommen? Dass Intelligenz an Zahlen gekoppelt ist.

Vielleicht war es schon immer so. Oder vielleicht sind wir durchs Zählen zur Intelligenz gekommen. Eine Million Jahre bevor das erste Wort gesprochen wurde. Wer einen IQ von über hundertfünfzig haben will, sollte ein gutes Verhältnis zu Zahlen haben.

Ich hätte gedacht, es müsste schwierig sein, die Fragen so zu beantworten, wie Sie es getan haben, ohne mit den Tests vertraut zu sein.

Ich hatte eine gewisse Übung. Immerhin musste ich auf dem College in den Geisteswissenschaften Bestnoten erreichen, ohne diese idiotischen Texte zu lesen.

Sie haben sie aus Prinzip nicht gelesen?

Nein. Ich hatte einfach keine Zeit.

Warum nicht?

Weil ich mich achtzehn Stunden am Tag mit Mathematik befasst habe.

Manche würden sagen, dass das unmöglich ist.

Ja. Das würden sie sagen.

Was war mit Skala 8?

Ich weiß nicht, was das ist.

Damit wird unter anderem auf Schizophrenie getestet.

Ach ja? Und wie habe ich da abgeschnitten?

Sie haben’s ganz knapp geschafft. Wenn Sie also den Test manipuliert haben, könnte das nicht bedeuten, dass Sie schizoid sind und es irgendwie geschafft haben, das zu verbergen? Natürlich dient der Test auch dazu, Hinweise auf Schädeltraumata oder Epilepsie zu finden.

Als Kind hat man mich auf den Kopf fallen lassen.

Ist das wahr?

Nein.

All diese Mathematik – das können doch nicht alles Hausaufgaben gewesen sein.

Nichts davon waren Hausaufgaben.

Was hat Sie am meisten interessiert?

Ich habe mich einige Zeit mit Spieltheorie beschäftigt. Sie hat etwas Verführerisches. Von Neumann hat sich darin verfangen. Vielleicht ist das nicht das richtige Wort. Aber ich glaube, ich habe schließlich eingesehen, dass sie Erklärungen versprach, die sie nicht geben konnte. Es ist wirklich Spieltheorie. Nichts anderes – Conway hin oder her. Alles, mit dem man anfängt, ist erst einmal ein Werkzeug, aber man hofft natürlich immer, dass tatsächlich eine Theorie daraus wird.

Aber die Spieltheorie ist eine Theorie, oder?

Wenn Sie es sagen.

Sie lebten im Dachgeschoss des Hauses Ihrer Großmutter.

Ja. Nachdem meine Mutter gestorben war. Bobby hatte das arrangiert.

Und dort kam es zum ersten Mal zu diesen Erscheinungen?

Ja.

Was haben die gemacht, während Sie sich mit Mathematik beschäftigt haben?

Ich weiß nicht. Nach einer Weile habe ich sie meistens ignoriert. Außer den Zwerg. Der war schwer zu ignorieren.

Es wundert mich, dass Sie sie nicht verstörend fanden.

Na ja, ich war zwölf. Woher sollte ich wissen, dass das nicht normal war?

Aber das wussten Sie doch.

Ich wusste, dass es nicht normal war. Aber dass es für mich nicht normal war, wusste ich nicht.

Warum heißt er der Zwerg?

Das ist die Kurzform von Contergan-Zwerg. Er hat keine Hände. Nur Flossen.

Das ist also der Liliputaner.

Der kleinwüchsige Mensch.

Und wer noch?

Nur ein Haufen Leute. Unterhaltungskünstler. Vermutlich.

Fanden Sie sie unterhaltsam?

Nein.

Und sie erscheinen einfach. Aus dem Nichts.

Woher denn sonst? Aus dem Etwas? Aber gut – aus dem Nichts. Bleiben wir beim Nichts. Wissen Sie, ich kann diese Unterhaltung so gut wie auswendig.

Von früheren Therapeuten.

Ja.

Was soll ich tun?

Mich überraschen.

Sie überraschen.

Ja. Na ja, es muss ja nicht sofort sein. Tatsächliches und Vermutetes trüben sich im Lauf der Zeit. In der Erinnerung an Ereignisse verschmilzt alles, und darum ist sie in Hinblick auf die Realität aufgeschmissen. Wenn man aus einem Albtraum erwacht, spürt man eine gewisse Erleichterung. Aber die löscht ihn nicht aus. Er ist immer da. Selbst wenn er vergessen ist. Das quälende Gefühl, dass es etwas gibt, das man nicht verstanden hat, wird noch lange bleiben. Zu der Frage, die Sie versucht haben zu stellen: Die Antwort ist nein. Sie erscheinen einfach. Ohne Ankündigung. Keine seltsamen Gerüche, keine Musik. Ich höre ihnen zu. Manchmal. Manchmal gehe ich auch einfach schlafen.

Können Sie schlafen, wenn sie im Raum sind?

Das hier ist, als würde man sich mit Zeno unterhalten. Haben Sie über diese Frage nachgedacht? Ist es nicht komisch, dass das, was man sucht, immer da ist, wo man zuletzt nachsieht?

Na gut. Im Allgemeinen finden Sie sie also nicht beängstigend.

Nein.

Und das erscheint Ihnen nicht seltsam.

Nein. Ich war zwölf. Wahrscheinlich dachte ich, es sei eine Begleiterscheinung der Pubertät. Alle anderen dachten das. Jedenfalls waren nicht die Phantome beängstigend, sondern die Pubertät. Je harmloser dein Leben, desto beängstigender deine Träume. Das Unbewusste versucht, dich zu wecken. In jeder Hinsicht. Gefahr ist bodenlos. Solange man atmet, kann man noch mehr Angst bekommen. Aber nein. Sie waren, was sie waren. Was auch immer sie waren. Ich habe sie nie als übernatürliche Wesen betrachtet. Letztlich gab es nichts, wovor ich hätte Angst haben sollen. Ich hatte bereits gelernt, dass es in meinem Leben Dinge gab, die ich am besten für mich behielt. Als ich sieben war, hörte ich auf, irgendwelche Bemerkungen über Synästhesie zu machen. Zum Beispiel. Ich dachte, es wäre normal, aber das ist es natürlich nicht. Also erwähnte ich es nicht mehr. Jedenfalls wusste ich, dass irgendwas kommen würde, ich wusste nur nicht, was. Letztlich nimmt man sein Leben hin, ganz gleich, ob man es versteht oder nicht. Wenn ich Angst vor diesen Figuren hatte, dann nicht wegen ihrer Existenz oder ihrem Erscheinungsbild, sondern wegen dem, was sie vorhatten. Davon hatte ich keinen Begriff. Ich verstand nur, dass sie versuchten, etwas Gestalt und Namen zu verleihen, das beides nicht besaß. Und natürlich traute ich ihnen nicht. Vielleicht sollten wir über was anderes reden.

Aber sie kommen und gehen, wie sie wollen?

Wie sie wollen?

Ja.

Herrgott. Ich kann Ihre Frage nicht beantworten. Der einzige Wille, dem sie unterliegen, müsste so was wie Schopenhauers Wille sein.

Ich wollte nur darauf hinweisen, dass sich Patienten mit ihren Halluzinationen gewöhnlich nicht wohlfühlen. Meist verstehen sie, dass diese Erscheinungen eine Disruption der Realität darstellen, und das kann für sie nur beängstigend sein.

Für sie.

Ja.

Ich verstehe davon Folgendes: Im Kern der Welt der Verrückten ist die Erkenntnis, dass es eine andere Welt gibt und sie nicht Teil davon sind. Sie sehen, dass von ihren Wärtern nur wenig verlangt wird, von ihnen selbst aber viel.

Glauben Sie, das ist wahr?

Nein. Aber sie.