Sterne erben, Sterne färben - Marica Bodrožić - E-Book

Sterne erben, Sterne färben E-Book

Marica Bodrozic

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Beschreibung

Das Deutsche, ein »Gewirk aus Bewegungen, Tönen, Gerüchen, Kopf- und Körperhaltungen, aus Augenblicken, Augenfarben, Mundregionen und Wangenleuchten«: so sinnlich hat es sich dem neunjährigen Kind nach dem Umzug aus Jugoslawien dargestellt und gleich, trotz vieler Widerstände, wie ein »wärmendes Kleidungsstück« um sie gelegt. Lag es am Widerstand oder an der Wärme, dass Marica Bodrožic´ Schriftstellerin geworden ist? In Sterne erben, Sterne färben beschreibt sie ihren Weg von den Lücken zu den Wörtern, vom stockenden Atem zum Leben selbst.

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Zum Buch

Das Deutsche, ein »Gewirk aus Bewegungen, Tönen, Gerüchen, Kopf- und Körperhaltungen, aus Augenblicken, Augenfarben, Mundregionen und Wangenleuchten«: so sinnlich hat es sich dem neunjährigen Kind nach dem Umzug aus Jugoslawien dargestellt und gleich, trotz vieler Widerstände, wie ein »wärmendes Kleidungsstück« um sie gelegt. Lag es am Widerstand oder an der Wärme, dass Marica Bodrožić Schriftstellerin geworden ist? In »Sterne erben, Sterne färben« beschreibt sie ihren Weg von den Lücken zu den Wörtern, vom stockenden Atem zum Leben selbst.»Diese Prosa ist durch und durch poetisch.«Frankfurter Allgemeine Zeitung

Zur Autorin

MARICA BODROŽIĆ kam 1973 in Dalmatien zur Welt. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien, darunter den Förderpreis für Literatur der Akademie der Künste in Berlin, den Kulturpreis Deutsche Sprache, den Literaturpreis der Europäischen Union und zuletzt für den Band »Mein weißer Frieden« den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2015. Marica Bodrožić lebt als freie Schriftstellerin in Berlin.MARICA BODROŽIĆ BEI BTBDas Gedächtnis der Libellen Kirschholz und alte Gefühle Tito ist tot

Marica Bodrožić

Sterne erben,Sterne färben

Meine Ankunft in Wörtern

Für Zdravka.Für Ivan. Und für unsere Eltern.

Die meisten von uns kennen die Eltern und Großeltern, von denen sie abstammen. Aber die Linie unserer Vorfahren reicht weiter zurück, bis ins Unendliche; bei jedem von uns reicht sie zurück bis zum allerersten Anfang; in unserem Blut; in unseren Knochen, unseren Köpfen ruht die Erinnerung an Tausende lebender Wesen.

V. S. Naipaul

In der Sprache zu sein heißt gewissermaßen, diese Blasen, die an der Oberfläche platzen, in sich aufsteigen zu lassen, als wäre man selbst nichts als Brandung.

Georges-Arthur Goldschmidt

Grenzen,Sperren,Drähte, Reisepässe.Und bis zum Ende der Erdeohne Mauernschwebt die Schwalbe,schweifen die Füchse.

Fuad Rifka

1

Das Erzählen aus der Geschichte des menschlichen Herzens ist eine Befreiung aus der Umzäunung der Biographie. Die deutsche Sprache baut in mir an einem Gerüst, an einem Lobgesang; an der Erinnerung der Seele. Der Bildteppich bekommt in meinem Inneren ganz eigene Ohren. Europa wird der Kopf, in dem das Gedächtnis sich ankleiden kann wie ein Mensch. In den Bildern wohne ich, als eine mit allem Inneren und Äußeren verwandte Haut.

Die Kindheit führte sich erstmalig als Name in der deutschen Sprache spazieren. Der eigene Name wurde dabei ein mit Buchstabenbackpulver zu erobernder Planet. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Wälder des Slawischen in mir liegen, wird mir erst im Schreibengehen bewußt. Dieses Unterpfand, das immer aus der ersten Sprache herauftönt und mich endlich zu jemand macht, der etwas von sich sagen kann. Aber erst in der deutschen Sprache wird mein eigenes Zuhause für mich selbst hörbar.

Die Buchstaben sind ein Vorzimmer Gottes, in dem sich mir mein eigenes Träumen, die Biographie meiner vormenschlichen Herkunft erzählt. (Habe ich eine Herkunft und gehe ich irgendwo hin?) Das und verbindet nicht nur mich und den Satz, näht nicht nur die Lücken in eins, es ruft die Möglichkeit einer fortwährenden Erzählung herauf. Und ist das Versatzstück des Atems, in dem sich eins in eins fügt, ganz auf die Weise der unsichtbaren Welt, nur daß in den Buchstaben beim Erschreiben der Welt diese Hand plötzlich sichtbar wird, die Lungen der Wörter ermunternd und als Jakobsleiter des Sinns.

Die im Gleichmaß lebendig werdende Erzählung spricht zu mir in der deutschen Sprache, ist wie ein Telefonanruf eines lieben Menschen, bei dem ich ein Aufnahmegerät hinstellen möchte, um das Gespräch für immer unverlierbar zu machen. Etwas erzählen zu wollen, das begann mit dem Wunsch, etwas bewahren zu wollen, behüten auch, von meinem Großvater. Wegen ihm nahm ich zum ersten Mal das Erlebnis und Wagnis der Prosa auf mich. Eine im Grunde kindliche Vorstellung brachte mich auf diesen Gedanken, als ich das Leuchten seiner blauen Augen, den rötlichen apfelgleichen Schimmer seiner Wangen eines Tages wie ein Bild vor mir sah, das vielleicht ein großer Maler erschaffen haben könnte, hätte sich ihm die Aufgabe gestellt, die Innerlichkeit an einem menschlichen Gesicht farblesbar zu gestalten. Mein Großvater hatte dieses Gesicht, von dem die Maler träumen. Mir ist es stets als das Inbild von Form und Menschlichkeit erschienen. Mein erstmalig bewußt erlebter Verwandter war nicht ein Mensch. Es war das Gesicht meines Großvaters.

Dieses Bild der unsterblichen Wangen und der in meiner Herzerinnerung fortlebenden blauen Augen habe ich nie in meiner ersten Sprache erinnert. Im Deutschen meldete es sich gleich einem Mitbewohner meines Hauses an und kehrte so lange beharrlich zu mir zurück, bis ich zu einem Stift griff und es zu beschreiben versuchte. Es ist so lange geblieben, bis alles erzählt zu sein schien, was die Farbe von Wangen und Augen mir gesagt hatten, und bis ich verstand, daß der Tod dafür zuständig ist, uns an das gelebte Leben zu erinnern. Er erinnert auch an das Versäumte, an das uns vom Leben Trennende, die Trägheit auch, die uns von der eigentlichen Fähigkeit zu empfinden abhält. Zu empfinden: in der Sprache selbst zu lieben.

In den Sätzen muß der Atem wohnen. Er will das, er ist ein Zuarbeiter des Satzes. Wenn das Herz vor Aufregung klopft oder Tränen selbsttätig die Wangen herunterrollen, geht der Atem ein bißchen schlafen. Der Atem geht, er geht woandershin, vielleicht wird er gerade in diesem Moment von einem anderen Menschen gebraucht, von einer wachsenden Margerite oder einer Katze, die sich einer schlagenden Menschenhand selbstlos zur Verfügung stellt. Die Menschenhand wüßte nichts von sich, wenn sie nicht auch etwas von sich als Stein wüßte, in dem die Hoffnung wohnt und das Metier der Rose.

Während des Atemschlafs können die Buchstaben nicht zueinanderfinden, die Jakobsleiter ruht sich aus. Das Sprachinnere sortiert sich, bringt sich ins Zählbare. Der Stille bedarf es, um die nun dem Menschenohr zugewandten Buchstaben zu hören, wie sie gehört werden möchten. Der Stille bedarf es, um das Ich und den dazugehörigen Namen auf seine Brauchbarkeit hin zu umpflügen. Und wieder auf eine neue Tonart der Erde zu stoßen. Die rote Erde der Maler lebt im Semikolon, im Punkt, im Komma, im Nichts zwischen Wort und Wort, zwischen Groß- und Kleinbuchstabe.

Dieses Fließen erlebe ich nur in der deutschen Sprache, in der die Wurzeln der Buchstaben ganz mit mir und meinem Nabel verbunden sind. Die Buchstaben sind Bewohner einer inneren Landschaft, in der das Slawische als Rhythmus und als Hintergrundmusik lebt, niemals aber als Chor der Buchstaben, als Singen schon und vielleicht auch als das Innere der Luft.

Die erste Sprache kommt nie aus dem Rund des Nabels. Aber mein Nabel ist auch nicht immer nur rund. Mein Nabel ist wie bei allen Menschen eine runde Narbe in der Bauchwand. Die Ansatzstelle der Nabelschnur. Die Berührungsstelle von vorher und nachher. Bevor der Nabel ein Nabel war, gab es das althochdeutsche Wort Nabe, ein walzenförmiges Mittelteil des Rades bezeichnete es im neunten Jahrhundert. Mein Nabel ist verwandt mit dem Kreis des Rades. Ob dem Nabel manchmal eng ist in mir?

Nur im Deutschen läßt es sich denken, daß Engel auch etwas mit Enge zu tun haben müssen, einer Enge, die sich in den Buchstaben der Liebe ausdehnt, in die Lebensflure der Imagination, und daß diese Enge zum Menschsein dazugehört, ergänzt und beschirmt vom Buchstaben L, dem sich das Licht von oben her zuspricht, sich aus der Senkrechten in die Waagrechte legend, um der Erde etwas ihr Zugehöriges zu bringen. Lieder aus dem Lichtinneren, Lieder, die in einer direkten Linie zu dem fruchtbaren Land eilen, auf dem die Menschen ihre Häuser, Träume und Schmerzen bauen.

In meiner ersten Muttersprache heißt das Wort für Liebe ljubav, auch hier bringt der Buchstabe L es ins Sichtbare, bringt es, so zeigt sich mir dieses Buchstabenbild, hinüber in das Land des Buchstabens J, der zu großen Teilen in der Erde lebt, dort, wo die Wurzeln der Pflanzen und Bäume verwandt sind mit den Küssen, wo sie sich und die Zukunft ihrer Farben besprechen. Dieser Buchstabe begibt sich ins Erdige wie eine Suppenkelle, um später wieder etwas Neues zu werden. Liebe und das Neue sind mir dadurch immer als ein und dasselbe erschienen, weshalb sie auch manchmal weh tun können, in jener ersten, in jener zweiten, mir mich erzählenden und in jeder anderen lebendigen Sprache. (Und sei es auch, daß diese Sprache die reine Stille wäre.)

In den Namen haben sich hin und wieder beweisbare Regungen der ersten Sprache erhalten. Filomena1, beispielsweise, ist ein Wort, das sich bei mir wie ein Reisekoffer vor die Türen der deutschen Sprache gestellt hat. Das Wort wollte hier wohnen, auf der anderen Seite meiner selbst eine feste Sprachadresse haben, ansprechbar sein, gleich einem ferngereisten Verwandten, der nach der Kenntnis anderer Kontinente nun das Eigentliche erleben muß, sich selbst, als Mittler zwischen der Vergangenheit und der eigenhändig gebauten Brücke zur Gegenwart.

Als ich meiner Schwester erzählte, diesen Namen für eine literarische Figur gefunden zu haben, lange hatte ich gesucht, Sanja und Paula waren Filomena vorausgegangen, sich aber nicht bewährt, da sagte meine Schwester, Filomena sei in jeder Hinsicht das richtige Wort. Und: »Das war einmal ich, ich selbst bin das einmal gewesen.«

Wo auch immer sich dieses einmal für sie befunden haben mochte, ob in einem anderen Leben oder im archivierten Atem aller Namen, die je auf der Erde vergeben wurden, sie hatte einen Echoraum mit ihrer eigenen Stimme betreten, in dem sie für mich endgültig ein erwachsener Mensch geworden war und dem gegenüber ich mich, die ältere Schwester, nun wie jemand fühlen durfte, dem auch das Händereichen und das Schwachsein erlaubt waren. Als Ältere, hatte ich immer gedacht, müßte ich immer ohne Unterbrechung stark sein. Von der Schwester-Stimme kam aber jetzt die Erlaubnis für das Schwachsein. Und auch ihr hiesiger Name forderte dazu auf, der die Gesunde bedeutet.

Zdravka heißt sie, und die deutschen Zungen holen sich schon vor dem Aussprechen dieses Namens, bereits in Gedanken einen leichten Muskelkater, dort, wo alle Gedanken beginnen, an jenem Ort, an dem die Menschen sich gleichermaßen vor sich selbst wie vor dem Unbekannten fürchten.

Dabei bedeutet zdrav einfach nur gesund und das ka hallt nach als ein kleiner Freund dieses gesunden Menschen, als ein richtiger Jemand, der auch in den Bergen beheimatet sein könnte, als Träger der menschlichen Wörter, die sich in Gebirgsgegenden von Bergspitze zu Bergspitze als Widerhall tragen und den Menschen an seine Aufgabe erinnern, die Wörter gut zu kennen, sie richtig zu sagen und nicht zu vergessen, daß es einen großen kosmischen Hut gibt, in dem das je Gesagte selbstlos wohnt.

In diesem Hut ist der Platz nicht räumlich zu denken, die Zeit gleicht überall im Universum einer mittelgroßen Kerze, die so lange brennt, wie die Stofflichkeit es ihr erlaubt. Nur auf der Erde sieht es so aus, als sei die Zeit wirklich etwas überprüfbar Beständiges.

Meine Schwester liebt Rätsel und sieht in der Luft Zahlen. Die Dächer bestehen für sie aus aneinandergereihten Zahlen. Ich denke seit Jahren in Zahlen, sagte sie einmal zu mir, und ich sagte zu ihr, das können nur sehr intelligente Menschen. Heute stelle ich mir vor, daß in meiner gesunden Schwester die Zahlen eine Mittlerrolle übernommen haben zwischen der ersten und der zweiten Sprache.

Die Zahlen haben ihren Himmel wie Vögel bevölkert, mit ihnen war das in der frühen Kindheit begonnene Singen wieder möglich geworden. Die einzige Art, sich zu erhalten, haben die Zahlen an sich genommen, und aus der Enge der Sehnsucht nach einem sicheren Ort, hat der Zahlenengel sie besucht, hat sich bei ihr angemeldet, als Untermieter ihrer Welt. Die Eltern hatten ihr immer vorgeworfen, sie träume, schleppe die Schärpe der nächtlichen Bilder in die tagträumenden Stunden der Normalität, des Alltags und so könne, darin waren Mutter und Vater sich ausnahmsweise einmal einig, niemals etwas aus ihr werden.

Der Zahlenengel bringt den Rosenquarz, legt ihn auf die Herzgegend und liest eine Zeitung, in der keine Nachrichten wohnen, eine Zeitung aus bloßem Nichts, aus entblößter, nur im Nacken hörbarer Stille. Diese Stille flüstert meiner Schwester ein, daß weder Paula noch Sanja je das werden können, was Filomena schon lange ist, und deshalb weiß meine Zdravka, daß sie diese Filomena war, die lange gelebt haben muß, vielleicht in den Bergen, an einem deutschsprachigen See, an dem die Identitätskarten von Beginn an belangloses Papier sind, immer aber etwas Sinnentblößtes geworden wären, hätte dort nur ein Graswesen gefragt, wer man eigentlich ist, wenn die beschreibbare Hälfte unserer Träume jetzt in die Pflanzenwelt überginge und wir als wir wehen müßten, kommen müßten wie der Wind mit der Luft.

Es ist denkbar, daß Fichten die besseren Schwingen haben, größere Rücken die Pappeln, mit denen die Buchstaben gleichberechtigt leben können und nicht erst die Hürden des Kopfes und die Zwischen-Orte der Ohren überwinden müssen, um sich im richtigen Atemmaß zu bewegen. Die Lichtschnur, zwischen den Ohren, verbindet die Fähigkeit der Fichten und Pappeln mit der möglichen Wortruhe der Menschen. Die Lichtschnur kann sterben, wenn die Sprache auf das Wollen zurückfällt, wenn nur das Habenwollen die Wörter beherrscht und die Sätze sich in die Unterwelt legen müssen, zu den namenlosen Toten, vor denen wir Furcht haben, offenbar, weil sie uns lehren, daß das Sagbare begrenzt ist.

In der deutschen Sprache habe ich begonnen, diese Grenzen zu verstehen und an das Leben zu glauben. An die Geschwisterschaft von Baumkronen und die erfahrbare Beharrlichkeit eigener Erinnerung. Selbst wenn diese Erinnerung nie als eine Linie im Raum gedacht werden kann, ist sie doch etwas ähnliches und einer überirdischen Kontinuität zuzuschreiben. Verwandt mit dem Atem ist sie, und mit der Anwesenheit der Bilder.

Im Alphabet beginnt die eigene Art des Staunens, ein im Deutschen fühlbarer Echoraum der Ursprünge, der sinnlichen Sonne eines inneren Glaubens an die eigene Fähigkeit, etwas Großes zu vollbringen, ohne einen anderen Menschen dabei zu bestehlen. Vielleicht ist die einzige gültige Weise des Seins jene, in der das Nehmen so etwas Selbstverständliches ist wie eine Obsternte, bei der auch niemand zu schaden kommt und keinem etwas genommen wird, außer eben dem Baum, der aber ein Gebender ist, und also läßt er sich gar nicht bestehlen.

Das Größere der Freiheit ist mir im Deutschen möglich geworden, gerade durch den Entzug alles Vertrauten. Die Baumnamen wollten alle noch einmal neu gelernt sein. Die Linde hieß jetzt nicht mehr lipa, auch ihr Geruch wurde noch stärker als einst auf den Höfen der kleinen Jahre, in denen die Kinderfüße neben den Hunde- und Katzenpfoten müde im sommerdarbenden Gras lagen, fern des zukünftigen Alphabets und jenseits des Begreifens und Fühlens des eigenen Namens.

Schon die slawisch gewobenen Buchstabenwelten in meinem Namen sorgten für die Sorge im Kind, jetzt werde ich schon vom Namen her nicht erkannt, dachte das Kinder-Ich sich. Es ist kein Satz dabei in ihm entstanden wie der heutige in mir. Nur der Geruch des Schwierigen zog in mein neues Kinder-Ich ein, die hellen Räume zogen gleichsam sofort weiter ins Innere. Das Gesicht fing an, zuerst den Schatten der langen Winter und erst sehr viel später auch den deutschen Sommer in sich selbst zu gestatten, ihn gelten zu lassen. Der deutsche Sommer hatte es schwer. Er hatte einen großen Konkurrenten: den Mediterran. Und wer konnte besser sein, als dieser ins Wesenhafte wachsende Mitspieler der Kindheit. Ein Verbot lag seitens der Eltern in der Luft, stützte unausgesprochen die mediterrane Herkunft. Das Deutsche könne gar keinen richtigen Sommer hervorbringen, jedenfalls keinen mit dem Süden vergleichbaren.

Lange schien es auch so zu sein. Aber irgendwann wurde die deutsche Sprache ein Terrain des Wissens, des Fragens auch, und damit kehrte etwas wie Entschiedenheit in mein Leben ein. Nur im Deutschen ließ es sich präzise träumen. Das Fließen der Sprache wurde zur Gewißheit, zur Mathematik des sich aufbahrenden Geheimnisses, so, als wolle das Unerlöste, das von den Wunden der Kindheit umzäunte Gebiet, hinausgelangen, hinaus aus sich, aus mir, als seinem Statthalter, hinein in die Welt, in der die Namen und Wörter atmen dürfen, ohne eine Begründung dafür haben zu müssen, ohne Rechtfertigung und auch ohne eine Absicht.

Wo lebten wir nur jetzt, fragten wir Kinder uns, und wie waren wir nur in dieses Land geraten (wie kam man überhaupt auf die Erde?). Einmal dachte ich, die ganze Außenwelt könnte sich bei genauer Betrachtung als eine erfundene Welt entpuppen, zu so etwas wie Theater werden, und wir gingen die ganze Zeit in Wirklichkeit nur in uns selbst herum, im tiefen Ausland unserer eigenen Leben.

Da dieses Ausland noch keinen Namen hat, muß es gefunden werden. Der Grund ist immer die Suche nach einem besseren Leben, begleitet von der Vorstellung, es warte an einem anderen Ort auf uns und wir müßten es nur holen gehen, es abholen wie ein kleines Kind, das noch nicht weiß, zu wem es bald gehören wird. »Da du mich in der Not anriefst«, heißt es im Psalm 81, »half ich dir aus, ich erhörte dich, da dich das Wetter überfiel und versuchte dich am Haderwasser.« Hätte Moses sich auf das Hadern seiner Landsleute eingelassen, wäre er nie weitergekommen.

In Wirklichkeit war auch keiner von uns nur der Arbeit wegen in ein anderssprachiges Gebiet gegangen, auch wenn dies von außen betrachtet seine Stimmigkeit zu haben schien. Wir Kinder sahen es ohnehin nur als Unterwegssein an. Als Zugfahrt von Küste zu Küste und dann ins Innere der Berge, wofür uns Österreich stets das richtige Bild lieferte, mit seinem Schnee im Winter und dem hellen Strahl der Sonne im Sommer, als wasche sie nur, unterwegs wie wir, die oberen ihr zugeteilten Gipfel. Unsere Not war nicht das Neue. Unsere Not war das Alte. Und so auch ist es für unsere Mutter gewesen. Sie ging fort, weil das Fortgehen ihr die einzige Möglichkeit bot, für etwas anderes als für die Tradition, für die Ehre, für Hab und Gut, für die Felder und die Sittengefühle ihrer Familie zu leben. Sie war keine Gastarbeiterin. Sie ist dann eine geworden, weil man damals kein Wort für Frauen hatte, die sich als Frauen auf die Reise gemacht hatten; und nicht als Geldverdienerinnen.

Ihre Sehnsucht trug sie fort, eines Tages ging sie einfach weg, zu ihren beiden Geschwistern, die in einem kleinen hessischen Ort namens Sulzbach Arbeit gefunden hatten. Die Geschichte meiner Eltern, die sich in der Nähe von Frankfurt in einer Kirche begegnet sind, habe ich nur in der deutschen Sprache ganz erfassen können. In der ersten Sprache machte die Tradition, in die Vater und Mutter eingebunden waren, den Eindruck einer Notwendigkeit. Es schien, als gelte dort das in dieser Sprache Gesagte für alle Zeiten, über die Zeiten hinaus und niemand habe das Recht, sich aus der Tyrannei der Stunden zu befreien, vor allem meine Mutter nicht.

Im Deutschen wollte die Tradition mir überhaupt nicht einleuchten, womöglich, weil in dieser Sprache die Wunde und das Wunder so nahe beieinanderliegen, als wärmte das eine Wort schon die Ankunft des anderen vor, damit die Zukunft eine Sache und Wirkkraft eines einzigen Buchstabens und mit ihm der Ewigkeit würde, damit ich erkennen konnte, daß dieser eine Buchstabe nicht nur eine wichtige Mittlerrolle im Alphabet meines von den Sternen mitgebrachten Lebens übernehmen wollte, sondern auch, daß sein Erkennen über den Glauben an Leben und Tod entschied und auch die Liebe zwischen meinen Eltern prägte.

Erklären läßt es sich nicht, doch über diese beiden Wörter, mit dem Bedarf der Lungen gebeugt, verstehe ich gleichsam Zellkern für Zellkern, daß nicht Leben und Tod, aber Leben und Sterben jene beiden Gegensatzpaare sind, die jeden gehenden Menschen in den Abschied einführen, ihn begleiten, jeden, denn jeder ist ein Grenzgeher auf seine Art. Jeder Einzelne ist ein Bewohner jenes großen kosmischen Hutes, in dem, neben den je vergebenen Namen dieser Erde, auch die Sprachen unseres Planeten wohnen, die dort, in diesem Kleidungsstück des Himmels, faßbare Gestirne geworden sind, Wirkungen aus Tönen, Zahlen, Buchstaben und menschlichen Stimmen.

Gesagtes, als Fährte Gelegtes. In keiner anderen Sprache kann ich mir vorstellen, daß selbst die Stimme nur ein Unterwegssein ist, in einem inneren Wandergebiet, dessen Grenzen ich mir selbst ausgedacht habe, um auch das Springen in der Haut zu üben, das Springen über Flüsse und Bäche, über meinen eigenen Schatten und über jedes noch so gemein gestellte Bein. Erst beim Hinübergesprungensein werde ich erkannt haben, werde ich meinen Sprung gelebt haben. Meine eigenen Füße sind dann die Mittler meiner Wünsche; Mittler auch meiner Altlast der Sorge, die ich mit jedem geschriebenen deutschen Wort abwerfe, mit jedem Satz in Richtung Unsichtbarkeit die Illusion der Sorge erfahre und auch von ihrer Falle, von ihrer Art Genossenschaft und Suggestion, in der sie sich so unabdingbar zeigt, als gehöre sie wirklich fest zu einem Menschenleben.

Über Jahre hinweg war meine gesunde Schwester bekümmert, es könnte ihr kein richtiger Lebenssatz gelingen, wenn sie ihn laut über sich sagte. In der ersten Sprache war auch ihr jede Selbstaussage zur egoistischen Übersprungshandlung entwischt, hatte sich angehört wie etwas Unbrauchbares, und kaum hatte eine von uns etwas Schlichtes und gleichermaßen Schönes über das eigene Leben auszudrücken versucht, gab die erste Sprache uns Tritte, die vielen Pferde aus ihrem Besitz flogen wie fremdgesteuert davon, ritten ohne uns weg, und nur der Bruder, der Junge, schien, in beiden Sprachen, eine richtige Erlaubnis zum Leben zu haben.

Die hatte er sicherlich mitgebracht, aus dem Land seiner Zeugung; aus seinem Nabel-Ursprung und den Liebesgedanken der Eltern. Schöner wäre uns allen vorgekommen, daß wir hätten sagen können, wir stammten von der Venus, von Sirius, von den Plejaden (oder wenigstens von einem ihrer Trabanten). Aber das mußte auch fragenden Kindern reichen, die Zeugen der Liebe sind und als solche auch ihr Recht auf Leben viel früher erkennen, als die Erwachsenen glauben. Erkennen ist Teilhabe am Geheimnis. Deswegen machen sich Kinder bei den Erwachsenen schnell grundlos verdächtig.