Sternwolke und Eiszauber - Uschi Zietsch - E-Book

Sternwolke und Eiszauber E-Book

Uschi Zietsch

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Beschreibung

Die Legende ist zurück! Der Kampf um das Träumende Universum beginnt. Kelric, ein junger Ziegenhirte aus einem abgelegenen Bergdorf, verfügt über magische Kräfte, ohne es selbst zu wissen. Eines Tages erscheinen drei Magier eines fernen Landes und fordern Kelrics Eltern auf, ihnen den Sohn zu überlassen, damit er zum Meisterzauberer ausgebildet werde. Kelric trifft seine Entscheidung und zieht mit in die Fremde. Noch ahnt er nicht, was diese Berufung für einen Mann bedeutet: Verzicht und ein Leben voller Einsamkeit und Selbstaufopferung im schicksalhaften Kampf gegen einen dunklen Gott, der Anspruch auf die von zwei sanften Göttern behütete Welt erhebt, aber auch ein Leben voller Abenteuer und des Wissens um Dinge, die normale Menschen nicht einmal erahnen. Behutsam überarbeitete und szenarisch erweiterte Ausgabe. Diese Geschichte spielt zeitlich vor den "Chroniken von Waldsee" auf der Welt Lerranee, genannt "Sternwolke", im Träumenden Universum.

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Seitenzahl: 372

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Uschi Zietsch

Sternwolke und Eiszauber

Das Träumenden Universum

fabEbooks

Über die Autorin

Uschi Zietsch wurde 1961 in München geboren. Sie ist verheiratet und lebt seit Jahren als Schriftstellerin und Verlegerin mit ihrem Mann und vielen Tieren auf einem kleinen Hof im bayerischen Allgäu. Außerdem gibt sie Schreibseminare.

Ihre erste Veröffentlichung war 1986 der in der vorliegenden Fassung leicht überarbeitete und erweiterte Fantasy-Roman »Sternwolke und Eiszauber« im Heyne-Verlag. Darauf folgten bis heute kontinuierlich über zweihundert Veröffentlichungen in den Bereichen der Science Fiction, Fantasy, Kinderbücher, TV-Serien und vielen mehr. Unter dem Künstlernamen »Susan Schwartz« schrieb sie jahrelang als Teamautorin bei »Perry Rhodan«, »Maddrax« und anderen Heftserien mit. Für die exklusiv bei BS-Editionen (Bertelsmann) erschienenen sehr erfolgreichen und beliebten Urban-Fantasy-Serien »Elfenzeit« und »Schattenlord« zeichnet sie für das gesamte Konzept und die Exposés verantwortlich und schrieb die meisten Romane.

2008 erhielt sie den Literaturpreis von amnesty international für ihre Kurzgeschichte »Aische« zum Thema Menschenrechte.

Als eBooks aus dem Träumenden Universum sind ferner erhältlich:

Romane von Waldsee (in chronologischer Reihenfolge):

Der Stern der Götter

Die Chroniken von Waldsee (Trilogie)

Nauraka

Fyrgar

Eine Geschichte aus Waldsee

Der wahre Schatz

Umschlagbild: Crossvalley Smith

© des eBooks 2012 by fabEbooks

Erweiterte und leicht überarbeitete Ausgabe der Erstveröffentlichung von 1986

ISBN: 978-3-943570-13-7

Umschlagbild: Crossvalley Smith 

© 1986/2016

Jubiläumsausgabe

Hinweis: Die Printausgabe (€ 10,00) enthält die Karte, einen weiteren Anhang und farbige Illustrationen.

ISBN: 978-3-943570-13-7

Die Legende ist zurück!

Der Kampf um das Träumende Universum beginnt.

Kelric, ein Junge mit Psi-Talenten, verfügt über magische Kräfte, ohne es selbst zu wissen. Eines Tages erscheinen drei Magier eines fernen Landes und fordern Kelrics Eltern auf, ihnen den Sohn zu überlassen, damit er zum Meistermagier ausgebildet werde. Die Eltern willigen ein, und Kelric zieht mit den drei Magiern in die Fremde. Noch ahnt er nicht, was diese Berufung für einen Mann bedeutet: den Verzicht auf seine Männlichkeit und ein Leben voller Einsamkeit und Selbstaufopferung im schicksalhaften Kampf gegen einen dunklen Gott, der die von zwei sanften Göttern behütete Welt für sich beanspruchen will, aber auch ein Leben mannigfacher Abenteuer und des Wissens um Dinge, die normale Menschen nicht einmal erahnen.

Wiederauflage zum 30-Jährigen Jubiläum 1986-2016.

INHALT

ERSTER TEIL

Melwin

1. Rotnebel

2. Schatten im Nebel

3. Auf See

4. Koboldark 

5. Hungerland

6. Im Nebelgebirge

7. Ankunft in Laïre

8. Umriss der Geschichte von Lerranee 

9. Die Ausbildung

10. Prüfung 

ZWEITER TEIL

Gorwyna

11. Heimkehr nach Loïree 

12. Ein Gespräch mit Oloïn 

13. Schloß Emhold

14. Die Prinzessin

15. Im Phantomland

16. Im Regental

17. Entscheidung in Laïmor

18. Zurück in Laïre 

19. Der Sternwolf

20. 

ERSTER TEIL

Melwin

1.

Rotnebel

Kelric saß versunken auf seinem Lieblingsfelsen und spielte mit den Wanderblumen, wie er es immer tat: Er öffnete sie mit seinem Geist und schloss sie wieder, gab ihnen die schillerndsten Farben und verlieh ihnen Namen.

Jener Felsen war der höchste Punkt des Plateaus, auf dem das Dorf in den Bergen erbaut worden war, und er bot den besten Blick in die Bergwelt hinaus. Es war noch so früh, dass Kelric sehen konnte, wie die Sonne aus ihrem Bett in den Tälern über die Berge hinaufkletterte und die vertrauten Morgennebel mit ihren Strahlen rot wie Blut färbte; die solchermaßen getönten Wolkenschleier ergossen sich Wasserfällen gleich über die Felsen und die an sie angeschmiegten Häuser und ließen die Umgebung in einem verzauberten Traum aus verhüllter Röte und verborgener Lebendigkeit versinken.

Kelric liebte diese Stunde am Morgen am meisten, denn er saß allein hier auf seinem Felsen, spielte mit den Blumen und begrüßte die Sonne, während er auf die Geräusche seiner erwachenden Eltern im Ersten Haus am Platz wartete. Er war immer derjenige, der dem neuen Tag als Erster entgegensah, danach kamen seine Eltern, der ältere Bruder und die jüngeren Geschwister; schließlich, wie auf ein verabredetes Zeichen hin, erwachte das ganze Dorf zu hektischer und fröhlicher Betriebsamkeit: Den Ziegenhirten, die auf die Sommerweiden aufbrachen, wurde das Frühstück bereitet und der Segen zugesprochen; sie liefen winkend an Kelric vorbei, der ihnen lächelnd nachsah; nur seinen Bruder grüßte er laut. Bald darauf vertiefte er sich wieder in die Beschäftigung mit seinen Blumen, denn der Alltag hinter ihm interessierte ihn nicht mehr; schließlich geschahen jeden Tag immer die gleichen, unveränderlichen Vorgänge: Es wurde zum Frühstück gerufen, Hunde begannen sich zu balgen, in der Schmiede wurde das erste Eisen gehämmert, am Brunnen standen die Frauen an. Kelric wusste, dass er noch Zeit hatte, er brauchte die Himmelszeichen nicht zu beobachten, um zu wissen, wann es soweit war, zur Morgenmahlzeit zu erscheinen.

Und plötzlich war alles anders. Es lag nicht am Wetter, das nun zu einem herrlichen Sommertag aufklarte, und nicht an den Blumen, die in langsamer Flucht aus Kelrics strapaziösem Machtbereich zu wandern versuchten. Es lag ganz einfach daran, dass er auf einmal nicht mehr allein war und, was sich als schlimmer erwies, dass er auch noch beobachtet wurde. Mit einer raschen, zornigen Bewegung der Hände fuhr er herum und verharrte überrascht in einer unbequemen, fluchtbereiten Stellung; die dunklen Augen schwärzten sich vor Ablehnung und Misstrauen, das erfrischend anzuschauende Kindergesicht verschloss sich. Fünf Männer unterschiedlicher Statur und Größe und unbestimmbaren Alters standen am Fuß des Felsens, die von Kapuzen halb verborgenen Gesichter zu Kelric gewendet. Sie trugen alle dieselben dicken Umhänge, die vor der Nebelfeuchtigkeit, der Kälte der Nacht und vor neugierigen Blicken schützten; ihr Aussehen mochte bis auf die Hautfarbe und die Haare verschieden sein, aber die mystische Ausstrahlung, jene geheimnisvolle Aura der Macht, ließ erkennen, dass sie die Zauberer von Laïre waren, die Heiligen Wanderer, und Brüder im Geiste.

Kelric starrte finster aus großen dunklen Augen auf die Männer hinab, die ihn ebenso schweigend fixierten; er fühlte sich gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen und versuchte, sein natürliches Misstrauen Fremden gegenüber deutlich genug zu zeigen, damit sie endlich wieder gingen. Als die Zauberer seinen stummen, jedoch nicht weniger dringlichen Wunsch keineswegs beachteten, ging er dazu über, sie der Reihe nach streng zu mustern. Drei alte und zwei junge Gesichter, die er alle für recht bemerkenswert in ihrem Ausdruck hielt. Aber es wuchs auch eine große Unruhe in ihm, als er in allen Augen, die bei jedem von tiefem Blau waren, eine geheimnisvolle, herzumschließende Trauer sah, die einen uralten, entsetzlichen, für Menschen niemals zugänglichen und zu erfassenden Namen hatte. Diese sonderbare Erkenntnis erschreckte ihn so sehr, dass er seinen Blick abwandte und scheinbar gedankenlos die Felsen betrachtete. Als wäre ein Bann von ihnen genommen, begannen die unheimlichen Männer plötzlich zu sprechen, leise nur und wenige Worte, aber mit Stimmen, die man nicht so schnell wieder vergisst.

»Faszinierend«, hörte Kelric eine alte weiche Stimme, und aus dem Augenwinkel schielend sah er, dass der älteste Mann, der zugleich der Führer zu sein schien, gesprochen hatte.

»Ein Ziegenhirte«, bemerkte eine andere, sehr schöne und starke Stimme verächtlich schnaubend. »Nichts als ein Ziegenhirte. Ein Zufall.«

Kelric, der merkte, dass wohl von ihm die Rede war, drehte rasch den Kopf zurück zu der Gruppe und starrte in das Gesicht des jungen Mannes, der zuletzt gesprochen hatte; seine Miene war hochmütig, und er musterte den Jungen geringschätzend. In diesem Augenblick trat eine Frau aus dem Haus des Dorfvorstands und rief: »Kelric! Das Frühstück wartet!«

Der Junge erwachte aus seiner Starre. »Ich komme, Mutter!«, antwortete er, und in einem plötzlichen Impuls streckte er dem jungen Mann blitzschnell die Zunge heraus, bevor er leichtfüßig von seinem Felsen hinab sprang und an den Fremden vorbei zum Haus lief, ohne weiter auf sie zu achten.

Die Zauberer sahen ihm nachdenklich nach. Schließlich blickte der Älteste zu dem Jüngeren und sprach mit mildem Vorwurf: »Das hätte es nicht gebraucht, Herr Melwin. Auch einem Kind gegenüber ist Höflichkeit angebracht.«

»Ja, Lord Sargon«, murmelte der Getadelte.

Fergon, der Zweitälteste, warf ein wenig schmunzelnd ein: »Der Junge rügte Euer Benehmen jedenfalls, und zu Recht! Vergesst nicht, dass Ihr hier Gast seid. Dieses Land mag nur aus Bergen, Ziegen und Bauern bestehen, dennoch gibt es hier nichtsdestoweniger einen guten König, der uns auf sein Schloss einlud. Loïree steht wieder einmal vor einem Krieg mit Laïmor.«

Melwin grinste plötzlich. »O ja, und während unsere Brüder in Lefrad für dasselbe Geschäft bezahlt werden, haben wir hauptsächlich Blasen an den Füßen.«

»Herr Melwin«, sagte Taimon streng, »wir führen keinen Krieg, sondern versuchen ihn zu verhindern.«

»Das tun doch schon die landschaftlichen Verhältnisse hinreichend«, brummelte Melwin vor sich hin. »Natürlich können wir helfen, eine Einigung zu erzielen, aber das nützt nicht lange. Schließlich schicken sie ihre Heere wieder los, und wenn sie die Hälfte Wegs zurückgelegt haben, haben sie ihr Vorhaben längst vergessen und werden zudem noch von den Anderen bedrängt. – Hm«, lenkte er zuletzt ein, als er die zunehmende Verärgerung der anderen bemerkte, »reden wir wieder von dem Jungen. Ich sehe Euch an, Lord Sargon, dass Ihr ihn für geeignet haltet.«

Der alte Mann wiegte nachdenklich den Kopf. »Ja und nein. Er ist begabt«, sagte er leise. »Etwas schlummert in ihm ... eine ungeheure Kraft ...«

»Ha!«, machte Melwin.

»Geehrter Melwin!«, tadelte Fergon entrüstet. »Was soll das denn?«

»Das kann ich Euch sagen, Herr Fergon«, entgegnete der junge Zauberer, »ich habe Angst. Und warum? Auch ich spüre die Magie in diesem unschuldigen Kind, und ich fürchte sie. Diese Magie ist anders als unsere, und wir könnten sie nie kontrollieren. Wir wissen nicht, was wir heranziehen, wenn wir ihn nach Laïre bringen. Die heutigen Zeiten sind nicht mehr so, dass wir Vertrauen haben dürfen. Das ist alles.«

Erwartungsvoll schaute er in die Runde. Als er jedoch bei den Gefährten Übereinstimmung gegen ihn fand, schwieg er und gab widerstrebend nach.

Erwartungsgemäß wurden sie in dem Haus ehrerbietig aufgenommen und scheu bedient. Das Frühstück war bereits beendet; die Hütte war klein und einfach, aber gemütlich eingerichtet. Im ersten Stock lagen zwei Schlafräume: der der Eltern und jener der Kinder; unten gab es einen einzigen Raum mit Tisch und Stühlen, erlesenen Thar- und Bellhirschfellen an den Wänden, einer Kochstelle mit Stein- und Blechgeschirr und einem großen warmen Ofen mit einer herrlichen Ofenbank. Auf dem Fußboden nahe der Kochstelle spielten zwei kleine Kinder mit Hemdchen und Rotznäschen; die junge Frau des ältesten Sohnes war oben mit dem Säugling beschäftigt; die Hausfrau brachte den Zauberern eine bescheidene, aber lecker duftende Mahlzeit, während der Mann ruhig und pfeiferauchend bei ihnen saß.

Kelric saß mit angezogenen Beinen auf der Ofenbank und beobachtete die Fremden unablässig; besonders lange hing sein Blick auf dem schönen, so tragischen und anziehenden Gesicht von Melwin, dessen vorheriger Hochmut wie weggewischt war; ganz ernst und verschlossen aß er, ohne den Blick zu heben oder ein Wort zu sprechen.

Erst nach beendeter Mahlzeit richtete Lord Sargon das Wort an die Eltern, unterhielt sich mit ihnen über dieses und jenes, Sorgen und Nöte, Allgemeines und Spezielles; seine Augen glitten unterdessen immer wieder zu Kelric, dem zusehends unheimlicher zumute wurde, denn den seltsamen rätselvollen Blick konnte er nicht deuten, und er rutschte unruhig auf seinem Hosenboden hin und her. 

Aber auch die Mutter spürte wohl, wie sich die Situation allmählich bedrohlich änderte, ein unbestimmtes furchtsames Gefühl beschlich sie, denn sie begann zerfahren zu antworten, machte mehr sinnlose Gesten als verständliche Worte und schwieg schließlich ganz.

Und als sie verstummte, herrschte plötzlich Stille in der Hütte. Der Vater blickte pfeiferauchend vor sich hin; die junge Frau kam mit dem schlafenden Kind auf dem Arm herunter, verharrte jedoch verwirrt auf der Treppe und starrte auf die nicht minder erstaunt blickenden Kinder, die mit dem Spielen aufgehört hatten und mit großen Augen die Zauberer anglotzten. 

Jene hatten diese Stimmung schon erlebt; sobald ein Familienmitglied augenscheinlich in irgendeiner Weise durch etwas Fremdes bedroht wurde, spürten es die anderen sofort, gleich welchen Alters, und Stille breitete sich aus, in die der Führer der Magier sprechen und dem Fürchterlichen Ausdruck verleihen musste.

»Gute Frau«, sagte Lord Sargon langsam zu Kelrics Mutter, »wir werden Ihren Sohn mitnehmen.«

Seine Rede klang völlig sachlich und nüchtern in die reglose Stille hinein, dennoch hatte sie die Wirkung eines erschütternden Donnerschlags in einer Sturmnacht. Der Vater legte seine Pfeife beiseite, die junge Frau sank mit einem Seufzer auf der Treppenstufe nieder. 

Kelrics Mutter regte sich nicht, sie wurde nur sehr blass, und ihre Augen weiteten sich. »Nein«, flüsterte sie.

Lord Sargon wies auf den Jungen, der nach wie vor ruhig, beinahe gleichmütig auf der Ofenbank kauerte und die Szene wie ein unbeteiligter Zuschauer beobachtete. »Er hat Magie«, fuhr der alte Zauberer fort, »die wunderbare Gabe.«

Die Mutter löste sich endlich aus ihrer Starre und lief zu ihrem Kind, mit der Haltung einer Bärin, die um ihr Junges kämpfen will. »Aber er – Kelric ist erst zehn!«, rief sie.

»Er ist alt genug. Zehn Jahre ist das richtige Alter«, erwiderte Sargon.

»Nein!«, schrie sie auf und warf verzweifelte und hilfeheischende Blicke zu ihrem Gatten. »Ich lasse ihn mir nicht wegnehmen! Er ist mein Kind, und er gehört mir!« Sie brach in Tränen aus, als Kelrics Vater langsam und traurig den Kopf schüttelte.

»Es ist Gesetz«, sagte er leise. »Wir dürfen sie nicht daran hindern.«

»Ich werde Ihnen zahlen, soviel Sie wollen«, sagte Sargon sanft.

Hass blitzte jetzt in den schmerzerfüllten Augen der Frau auf. »Schweigt!«, schrie sie wild. »Ich verkaufe mein Kind nicht! Ihr –«

»Verzeihen Sie mir!«, bat Sargon, sie unterbrechend. »Es war eine unbedachte Bemerkung. Trotzdem: Kelric muss nach Laïre. Er ist begabt, und Sie wissen selbst, dass es nur wenige Menschen gibt, die Magie in sich tragen.«

»Warum sorgt Ihr nicht selbst dafür, dass es mehr werden?«, rief die Mutter anklagend und bitter. »Anstatt einer Mutter das Herz zu brechen und ihr das geliebte Kind wegzunehmen, solltet Ihr endlich für eigene Söhne sorgen!«

»Weib!«, sagte ihr Mann scharf und angstvoll. »Du vergisst dich!«

»Er ist mein Sohn!«, schrie sie außer sich. »Ich lasse ihn mir nicht stehlen! Warum vererben sie denn ihre Magie nicht selbst?«

Niemand außer Kelric sah das Zucken eines Muskels in Melwins Gesicht, das er beständig beobachtet hatte, ganz kurz nur; und auf einmal fühIte er sich zu dem jungen Mann stark hingezogen, wenngleich er nicht wusste weshalb.

»Liebe Frau«, sprach Sargon unterdessen mild und ruhig wie zu einem bockigen Kind. »Die Götter schenkten uns die Magie mit der Bedingung, niemals Kinder haben zu dürfen. Die Gefahr der Abkapselung ist einfach zu groß, wenn wir uns selbst vermehren – wir würden vielleicht größenwahnsinnig werden und eine hohe Rasse heranzüchten, die magieunbegabte Menschen wie Sie eines Tages unterdrückt und versklavt, anstatt zu dienen, wie es unsere Aufgabe und Bestimmung ist. Außerdem vermeiden wir Inzucht, da die magiebegabten Kinder aus allen Teilen der Welt stammen. Solange wir dem Heiligen Zölibat in Treue verpflichtet bleiben, solange wird es Kinder mit Magie geben. Sie sollten stolz auf Ihren Sohn sein, anstatt um ihn zu klagen. Er erhält eine Bildung wie kein normaler Mensch, sein Wissen und seine Macht werden der Welt Lerranee einmal von großem Nutzen sein. Er wird einst als Zauberer in den Annalen stehen und stolz darauf sein, seinem Volk gedient zu haben.«

Die Mutter weinte nur noch, das Gesicht in den Händen vergraben. Ihr Mann trat zu ihr und nahm sie tröstend in die Arme.

»Ihr könnt lange reden«, sagte er leise. »Der Schmerz bleibt doch immer derselbe. Das werdet Ihr nie verstehen.«

Kelric sah, wie Melwin erneut zusammenzuckte; er erhob sich und stellte sich vor ihn. »Seid Ihr auch dafür, dass ich nach Laïre gehe?«, fragte er. »Ich spüre, dass Ihr gegen mich seid. Warum?«

Melwin starrte ihn verblüfft an. »Wie kannst du das wissen?«, fragte er forschend.

Kelric hob die schmalen Schultern. »Ich lese Eure Gedanken«, erklärte er schlicht. »Ihr glaubt, dass ich einen Dämon nach Laïre trage, weil ich eine unheimliche Begabung habe. Und Ihr denkt in Verbindung mit mir an einen Aranwir, der ...«

Er verstummte erschrocken, als ihm Melwin die Hand auf den Mund presste. »Still!«, zischte er. »Sprich niemals diesen Namen aus!«

Einige Zeit herrschte lastendes Schweigen in der Hütte, und Kelric fühlte sich unbehaglich unter den vielen Augen, die auf ihn gerichtet waren.

»Oh, Kind!«, flüsterte seine Mutter schließlich in abgrundtiefem Schrecken. »Welch Dämon besitzt dich?«

Sargon stand auf und legte seine alte Hand um Kelrics Schultern. »Keiner, Frau«, sagte er ernst und beruhigend. »Haben Sie keine Sorge um ihn. Er ist ungewöhnlich begabt, aber seine Kraft ist natürlich und nicht eingegeben. Ich sehe Reinheit in seiner kleinen Seele.«

Auch die anderen Zauberer erhoben sich, und Fergon, der ein gutes Stück kleiner und rundlicher war als seine Gefährten, sprach freundlich: »Nun haben wir viele Worte gemacht und den Jungen kein einziges Mal gefragt, ob er überhaupt mitgehen will. Ich finde, dass er ein Recht darauf hat, seine Meinung zu äußern, da es um ihn geht.« Er stieß Kelric sacht mit einem Finger an. »Na, kleiner Mann?«, sagte er. »Willst du mit uns kommen nach Laïre auf eine Schule, die zehnmal so groß ist wie dein Dorf, in der es ganz viele Kinder deines Alters gibt, mit denen du spielen kannst, wo du im Sommer im See baden kannst, grüne Wiesen und Bäume siehst, und wo du eine Menge lernen kannst, was dich viel klüger als alle anderen macht? Willst du deine Eltern stolz auf dich machen?«

Kelric starrte den alten Mann aus großen Augen an. Er hörte seine Mutter im Hintergrund schluchzen, spürte die besorgten, traurigen Blicke seines Vaters. Sie würden ihm fehlen. Alles würde ihm fehlen. Und er hatte sich nicht einmal von seinem großen Bruder verabschieden können.

Und dennoch nickte er.

In der fürsorgenden Mitte der Zauberer verließ Kelric die Stätte seiner Kindheit; wohl stahlen sich ihm ein paar Tränen in die Augen, als er an seine zurückgelassene weinende Familie dachte; aber als die Heimat seinen Blicken entschwunden war und sich vor ihm ein neuer Weg zwischen den Felsen hindurchschlängelte, blinkend in der Vormittagssonne, nur hin und wieder von kleinen Nebelschleiern der Zukunft verhüllt, da wurde das verwirrte Herz ruhiger, der Blick klarer, der Geist beschwingt und fröhlich, als er an das große Abenteuer dachte, das ihm bevorstand.

Sie folgten einige Zeit dem sanft steigenden Pfad, bis sie ein gutes Stück über dem Dorf auf einem Scheideweg ankamen: Der eine Pfad führte nun südwärts hinab in die Täler, der andere nordwärts tiefer in die Berge und in das Herz von Loïree hinein. Die Zauberer hielten zu einem kurzen Gespräch an; aber bevor Lord Sargon einen Vorschlag machen konnte, erklärte Melwin ruhig und fest:

»Ich werde mit Kelric gehen.«

Sie sahen ihn verwundert an. Sargon erwiderte: »Ich wollte Euch eigentlich bei mir haben auf dieser Fahrt.«

Melwin warf einen seltsamen Blick auf Kelric, der ihn still und neugierig beobachtete. »Etwas drängt mich dazu«, sagte er leise. »Ich möchte ihn begleiten.«

Sargon lächelte plötzlich leise in sich hinein, auch Fergon, der wohl seine Gedanken erriet, schmunzelte und murmelte ganz leise: »Mit einem Ziegenhirten? Soso.«

Melwin beachtete ihn nicht, sondern blickte den Führer erwartungsvoll an.

»Einverstanden«, nickte jener schließlich. »Im Grunde ist das die beste Entscheidung. Ich nehme an, Herr Fergon, dass Ihr der Dritte im Bunde sein werdet.«

Der Zauberer bejahte mit einem heiteren Lächeln, und sie besprachen noch einige Dinge, die Kelric nicht mehr interessierten. Er war zufrieden, dass Melwin mitkam, und dem gemütlichen Fergon brachte er ohnehin schon Vertrauen entgegen. Seine kindliche Neugier richtete sich nun auf das aufregende kleine Höhlenloch mitten in den Felsen, in dem bestimmt ein nach verfaultem Käse stinkender und wurmglitschiger Kwilliwaq oder ein in eine Felsenschlange verwandelter Mensch lebte. Der Zauber war reich und stark auf Lerranee, und es gab immer nur wenige Magier unter den Menschen, die das Volk gegen ihn verteidigen konnten. Kelric fragte sich, weshalb die Könige der Drei Reiche sich ständig den Krieg erklärten, obwohl sie so weit auseinander lagen und erst gefahrvolle Gebiete durchqueren mussten, ehe sie das feindliche Land erreichten. Von dem Legendenerzähler wusste Kelric, dass die Menschen ihr Vorhaben unterwegs meist wieder vergaßen, weil sie angegriffen und vertrieben wurden. Der Krieg war eine völlig sinnlose Angelegenheit, und dennoch war er die Lieblingsbeschäftigung der Königshäuser. Vielleicht, hatte der Legendenerzähler einmal gesprochen (Kelric wusste seine Worte noch, obwohl er sie nicht recht verstanden hatte), vielleicht tun sie das, um die Menschen von der Angst vor den Fremdvölkern abzulenken. Wenn sie sich nicht auf belanglose Dinge konzentrieren würden, würden sie möglicherweise unter der ständigen magischen Bedrohung wahnsinnig werden. Allerdings gab es zwischen Laïre und Lindala ein Menschenvolk, die Graumenschen, die niemals Krieg führten, selten in andere Länder zogen und sehr verborgen lebten. Nur wenn ein Königreich bei ihnen einfiel, griffen sie zu den Waffen, aber das war schon sehr lange nicht mehr vorgekommen, denn die Graumenschen waren stark und brachten viele Zauberer hervor. Und er, Kelric, kam aus Loïree und sollte auch ein Zauberer werden. Er wusste vom Geschichtenerzähler des Dorfes, dass es noch nie einen Zauberer aus seinem Land gegeben hatte, und Stolz erfüllte ihn plötzlich, als er begriff, dass er nicht nur die vielen Geheimnisse von Lerranee würde erforschen dürfen, sondern zudem etwas Besonderes war.

Sargon, der seine Gedanken offenbar erriet, zwinkerte ihm zu, als er sich mit seinen Begleitern verabschiedete. 

Als sie den Blicken der Zurückgebliebenen entschwunden waren, fragte Kelric: »Wohin gehen wir jetzt?«

Fergon antwortete: »Wie du vermutlich weißt, besteht fast ganz Loïree aus dem Großen Gebirge, welches das Riesental in seiner Mitte mit der Stadt Gorga und Schloss Emhold umschließt; an der Ostgrenze beginnen die Kleinebenen, die sich bis zur Uleba-See hinabziehen, an deren Küste mehrere kleine Städte und die große Hafenstadt Lardi liegen, zu der wir hinwollen, und dazu müssen wir den südlichen Weg nehmen. Dann überqueren wir die Uleba-See weiter nach Süden hinab und landen im Hafen Labron in Koboldark in den Auwäldern. Danach erwartet uns nur noch Hungerland, bis wir das Nebelgebirge erreichen. Dort hindurch gibt es einen Geheimgang, der uns zum Tal von Laïre führt. Laïres westliche und südliche Grenze ist das Endzeitmassiv. – Was? Nein, keine Fragen jetzt. Später. Halt dich an Melwin!«

»Ist es sehr weit?«, wollte Kelric dennoch wissen.

»Weit? Ja, Sohn. Sehr weit. Und gefährlich – wie eben eine jede Welt Gefahren birgt für jene, die in fremden und unbekannten Landen wandern. Und auch wenn wir zumeist reisen, wird selbst für Zauberer unsere Welt immer ein See ohne Grund bleiben. Wir werden einige Sternzeichenwechsel unterwegs sein.«

»Oh!«, machte Kelric, der sich darunter noch nicht so sehr viel vorstellen konnte. »Also mehrere Jahreszeitenwechsel?«

»Beinahe, ja.«

»Warum zaubern wir uns nicht einfach fort?«

»Erste Lektion«, antwortete Melwin daraufhin mahnend, »alles zu seiner Zeit, Söhnchen. Wenn wir es nicht tun, dann haben wir einen Grund dafür. Wir werden die Zeit verkürzen, wenn wir es für richtig halten. Du sollst im Augenblick erst einmal Ausdauer erlernen. Der Beruf eines Zauberers ist hart und anstrengend. Außerdem gibt dir das einen klaren Vorteil vor den anderen Jungen, die aus näheren Ländern kommen.« Er zwinkerte Fergon zu, der gütig lächelte. Kelrics Gesicht, das zuvor ein wenig missmutig gewesen war, hellte sich daraufhin sichtlich auf und zeigte freudigen Ehrgeiz.

Die Fahrt begann!

2.

Schatten im Nebel

Für Kelric waren die nächsten Tage genauso aufregend, wie er sie sich vorgestellt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er weiter als zwei Wegstunden von zu Hause fort; zwar war die Landschaft so ähnlich wie die Umgebung, in der er aufgewachsen war, aber er spürte die Fremdheit in der Luft und begegnete ausschließlich fremden Menschen. Die Reise war sehr anstrengend, und Kelric war froh, dass er früher heimlich dem älteren Bruder in die Höhen gefolgt war, denn diese Ausdauer bewahrte ihn davor, jetzt schon zusammenzubrechen. 

Anfangs machten sie jeden Abend in einem Dorf Rast, aber nun befanden sie sich auf einem steilen Abkürzungsweg, der ihnen zwei Tage ersparte, aber in der Nähe befand sich keine Siedlung. Kelric musste zum ersten Mal auf dem harten, unwegsamen Felsenboden schlafen und sich an eiskalten Rinnsalen waschen, die sich von höhergelegenen Gebirgsbächen abzweigten; sein kleiner Körper war rasch dünn geworden und von blauen Flecken übersät, aber er klagte nur in der Nacht leise in seinen Umhang hinein. 

Die beiden Zauberer, die ihn rasch sehr liebgewonnen hatten, beobachteten ihn unbemerkt; sie behandelten ihn kaum als Kind, sondern eher als Partner, was den Jungen offensichtlich stolz machte und ihm stets neue Kraft gab. Sie schätzten seine stillvergnügte Art und seine direkten, offenen Fragen; sie lachten versteckt, wenn er auf Geheimnissuche ging, die Welt um sich herum vergessend, und zauberten ihm die eine oder andere Illusion herbei, auf die er stets mit der wahrsten Begeisterung hereinfiel.

Aber auch Kelric gefiel die ruhige, heitere Gesellschaft dieser seltsamen Männer, die trotz ihres großen Altersunterschiedes beide schneeweiße lange Haare hatten; an die geheimnisvolle Trauer in ihren tiefblauen Augen hatte er sich längst gewöhnt, sie gehörte zu der sagenumwobenen Aura wie ihre Schweigsamkeit. Ihre Aufmerksamkeit ihm gegenüber und die Nähe halfen ihm immer besser über das Heimweh hinweg; bald verlor er seine natürliche Scheu und Schüchternheit und bestürmte sie mit den unterschiedlichsten Fragen.

»Melwin«, begann Kelric eines Abends, als sie satt und zufrieden an einem kleinen Feuer saßen und verträumt in die Flammen starrten; er hatte gewartet, bis Fergon zum üblichen Erkundungsgang aufgebrochen war, denn Melwin fühlte er sich enger verbunden und war dementsprechend zutraulicher. »Melwin, gibt es eigentlich nur männliche Zauberer?«

Der junge Magier nickte. »Der Himmel mag wissen, warum. Die Schule von Laïre gibt es nun schon seit vielen Jahrtausenden, aber nie erzog sie einen weiblichen Schüler. Sicherlich leben überall die Kräuterhexen, die gut heilen können, allerlei Getränke zusammenbrauen, dumme Zaubersprüche murmeln und ein wenig prophezeien; echte Magie besitzen sie jedoch nicht«, erzählte er.

»Und wird das immer so bleiben?«

Melwin hob die Schultern. »Genau weiß man nie etwas. Die Legenden wechseln wie die Jahreszeiten, viele verwehen wie eine Staubfigur im Wind, andere wachsen auf uralten, halb vergessenen Sagen neu. Aber es gibt tatsächlich eine Legende, die sich von Anbeginn bis in unsere Tage erhalten hat; sie ist Teil einer großen, schönen und schrecklichen Geschichte, in der auch unsere Götter eine Rolle spielen. Du musst wissen, dass alle Schicksale und Geschichten dieser Welt mit ihren Beschützern eng verbunden sind. Und in jener Legende ist in der Tat von einem Mädchen die Rede, das mit einer großen Geistesgabe in einem Land, wo niemand es vermuten würde, geboren werden soll. Sie soll die einzige Frau sein, die jemals Laïre betritt und die Wahrheit erfährt.«

»Was für eine Wahrheit?«, unterbrach Kelric, der zusehends aufgeregter auf seinem Sitz umherrutschte; er hing gebannt an Melwins Lippen, und immer mehr Fragen stellten sich ihm im Laufe der Erzählung; aber erst jetzt war es ihm gelungen zu sprechen.

»Die Wahrheit eben«, antwortete Melwin abwehrend.. »Du wirst sie beizeiten kennenlernen. Alle Zauberer kennen sie. Diese Frau ist eine Außenstehende und wird sie ebenso erfahren.«

»Hm«, brummte Kelric einigermaßen zufrieden.

»Und mit diesem Wissen«, fuhr Melwin fort, »mit diesem Wissen wird sie gegen den Alten Zauberer ziehen und seine Macht brechen, aber sie wird nicht allein kämpfen müssen. Ein Mann wird sie begleiten, und am Ende dieser Schlacht wird nichts mehr sein, wie es war, und auch das Orakel weiß nicht, was dann geschieht.« Er drehte die Handflächen nach außen und spreizte die Finger. »So heißt die uralte Legende, und keiner weiß, wann und ob und unter welchen Umständen sie jemals eintreffen wird. Man nennt sie Legende, weil keiner weiß, ob sie wirklich eine Prophezeiung ist. Man weiß im Grunde gar nichts, nur dass sie uralt ist, im Götterepos vorkommt und nie vergessen oder verfälscht wurde.«

Kelric kratzte seinen Kopf, seine Augen leuchteten.

»Eine tolle Geschichte!«, stellte er fest. »Diese Geschichten habe ich immer am meisten gemocht, wenn sie der alte Legendenerzähler im Winter erzählte. Und was für eine große Geistesgabe ist denn das, die das Mädchen besitzen soll?«

Melwin zuckte die Achseln. »Darüber gibt es keine Auskunft. Vielleicht Gedankenlesen, so wie du.« Er betrachtete den Jungen prüfend. »Kannst du das wirklich?«

»Aber ja!« versicherte Kelric eifrig. »Jetzt zum Beispiel denkt Ihr, wenn ich sage, was Ihr denkt, dann glaubt Ihr mir. Und jetzt denkt Ihr einen zweiten Beweis, den niemand außer Euch kennt: der Name Eurer verstorbenen Mutter Lydia.«

»Erstaunlich«, murmelte Melwin; auf seinem aristokratischen Antlitz malte sich leichte Verwunderung. »Wirklich erstaunlich.«

»Aber ich muss mich dazu stark konzentrieren«, sprach Kelric weiter. »Und wenn Ihr Euch verschließt, kann ich gar nichts mehr sehen. Ich lausche ohnehin nicht einfach so herum, das gehört sich doch nicht. Ähm ... Melwin ...«

»Ja?«

»Dieses Mädchen ist bestimmt wunderschön, nicht wahr?«

Melwin lachte. »Wir sitzen nicht am Winterfeuer, Kelric, und ich bin kein Legendenerzähler, der Wahres und Unwahres, wunderbar ausgeschmückt, für kleine Helden fabuliert.«

Kelric verlor sich in träumerischer kindlicher Begeisterung. »Sie ist sicherlich eine wunderschöne Prinzessin ...«

»... ja, und du der große Drachentöter. Ach, Kelric, vergiss diese Märchen! Sie werden nicht Wirklichkeit.«

»Nie?«

»Nie.«

»Aber ein Traum vielleicht!«, brummelte Kelric hartnäckig. »Ich finde solche Träume eben schön.« Und leise maulend fügte er hinzu: »Jawohl.«

Melwin lächelte. »Ohne Träume findest du keinen Frieden. Sie sind ein Ausdruck der Hoffnung, die dir deine Lebenskraft gibt. Träum nur, Kleiner! Aber vergiss darüber nie die wahren Dinge – und dein reines Selbst.«

»Das verstehe ich nicht«, meinte Kelric. »Was ist denn schon wahr? Mein Bruder hat einmal geschworen, dass die Löffelpfeifer Eier legen, und Papa hat ihn ausgeschimpft, weil er mich nur hochnehmen würde, dabei hat auch er nie gesehen, wie diese Tiere Junge bekommen. Sie sind doch so scheu. Und als ich meiner Mutter einmal sagte, ich hätte eine grüne Maus gesehen, sagte sie, es gäbe keine grünen Mäuse, überhaupt nicht. Dabei war die Maus wirklich grün, sie war nämlich in den Farbtopf vom Schmied gefallen, der die Scheune vom Schafhirten streichen wollte. Das war also wahr, oder?«

Melwin zeigte erdenkliche Mühe, nicht zu lachen. »In diesem Fall durchaus, Kelric«, sagte er ernsthaft. »Aber normalerweise gibt es keine grünen Mäuse. Sie sind grau.«

Kelric sah nicht überzeugt aus; eine Weile starrte er gedankenverloren ins Feuer, dann stellte er endlich die Frage, die Melwin vermutlich schon die ganze Zeit befürchtet hatte.

»Wer ist der Alte Zauberer?«, wollte er wissen.

Das Gesicht des Magiers verdüsterte sich. »Das wirst du später in Laïre erfahren«, wich er aus. »Ich verspreche es dir. Ich darf darüber nicht reden.«

»Niemand darf das«, fügte Fergon hinzu, der soeben zurückkehrte und die Frage gehört hatte. »Melwin, das nächste Mal werdet Ihr gehen, und ich bleibe bei Kelric.«

Der junge Zauberer zog eine verschlossene, trotzige Miene.

Fergon setzte sich seufzend neben ihn. »So viel Zorn ist in dir«, sagte er leise. »Obwohl du weiser als wir alle bist, leben die Gefühle noch so stark in dir. Vielleicht liegt es daran, dass du erst seit zwei Jahren in die Bruderschaft aufgenommen bist.«

Melwin blickte den Älteren an. »Alter Raubart!«, brummte er zärtlich. »Du wirst dir doch bis ans Ende deiner Tage Sorgen um mich machen.«

Fergon lächelte traurig und zog sich auf seinen Schlafplatz zurück.

»Wie alt seid Ihr, Melwin?«, fragte Kelric neugierig, der zwar nur die Hälfte der Worte verstanden hatte, aber trotzdem begriff, dass Melwin etwas Besonderes war.

»Ich bin zweiundzwanzig«, antwortete Melwin. »Ich bin sehr früh geweiht worden. Das hängt von der Begabung ab, weißt du.« Er zögerte kurz vor den nächsten Worten. »Kelric, ich kann dir das Du nicht anbieten, das verstieße gegen die Regeln, solange du Schüler bist. Aber ... sei dir meiner Freundschaft unverbrüchlich versichert. Und entschuldige, dass ich dich als Ziegenhirt beschimpfte.«

»Wieso ist das eine Beschimpfung, wenn viele in meiner Heimat Ziegenhirten sind? Mein Bruder ist auch einer, und alle sind stolz auf ihn. Ihr liebt Fergon sehr, nicht?«

Melwin nickte. »Wir Zauberer lieben alle Menschen sehr. Aber untereinander haben wir noch ein besonderes Verhältnis, denn alle teilen wir dasselbe Wissen und dasselbe Schicksal.«

»Welches?«, fragte Kelric. Er erschrak, als er sah, wie Melwins Gesicht für einen kurzen Augenblick in Aufruhr geriet.

»Wir sind einsam, Kelric«, antwortete er leise. »O Junge, du ahnst nicht, wie entsetzlich einsam ein Mensch sein kann!«

Kelric war so eingeschüchtert und erschüttert, dass er von nun an schwieg und sich zum Schlafen niederlegte. 

Die beiden Zauberer schliefen schon lange tief in regelmäßigen Atemzügen, als er immer noch wachlag. Ein schwarzes schreckliches, namenloses Grauen erwuchs in seinem aufgewühlten Verstand; vor seinem geistigen Auge zog wiederholt Melwins seltsamer Gesichtsausdruck vorbei, den er sich nicht erklären konnte, und schließlich war er so verstört, dass er drauf und dran war, aufzuspringen und laut um Hilfe zu rufen. Aber bevor er dazu kam, legte sich ihm eine bleierne Schwere auf die Glieder, die ihm die Augen zudrückte und ihn in die Schlafebenen entführte.

Er träumte vom Sonnenaufgang auf seinem Lieblingsfelsen, jener vertrauten Stunde am Morgen, die nie mehr wiederkehren würde, und er begrüßte den gewohnten Nebel mit freudiger Erwartung, als Panik in ihm ausbrach, denn in dem heimatlichen Bild entstand plötzlich ein Schatten: Irgendwo aus dem Nichts kam er heran, klein noch in der Ferne, jedoch schrecklich groß und entsetzlich in der Nähe, und er wuchs und wuchs immer mehr an zu einem fernen düsteren Geheimnis, das ihn mit seiner ganzen Unwissenheit umschloss und umfing und ihn mit seiner Riesenhaftigkeit und Schwere schließlich zu erdrücken und zu würgen begann, bis der Junge schweißgebadet und erstickt keuchend hochfuhr und mit wild klopfendem Herzen angstvoll in die Nacht starrte. Der Alpdruck war von ihm genommen, als er erwacht war; aber er brauchte lange, bis er die Schrecken des Traumes abgeschüttelt hatte. Um sich abzulenken, und noch in leiser Furcht vor einem erneuten Schlaf mit einem solchen Gesicht, stand er auf und lief ein paar Schritte in die Felsen hinein, in vertrautes, sicheres Land. Wie üblich war bereits der Nebel aufgekommen und kroch in allen Ecken und Nischen herum; Kelric fühlte sich nun beruhigt und getröstet und schnupperte in die Dunstschleier hinein. Da er mit den Nebeln aufgewachsen war, hatten sie statt Bedrohlichkeit das Gefühl der Geborgenheit für ihn, sie waren sein guter Freund, der ihn schützend umhüllte und seinen gut geschulten scharfen Sinnen alle fernen Geräusche heimlich zutrug. Er vertraute dem Nebel absolut, sodass er alle Vorsicht und die Gefahren der Nacht vergaß und träumend weiterging ... und zu Tode erschrak, als sein Alptraum Realität wurde. Giftig und geifernd schoss ein Schattenungeheuer, eine riesige unförmige Kreatur, aus der Finsternis hervor und umschloss mit eiskalten Knochenfingern Kelrics Kehle. Der Junge stürzte unter der Wucht des Angriffs und prallte auf den Rücken; unfähig, einen Schrei auszustoßen, schlug er keuchend und angstvoll mit Armen und Beinen um sich, aber der schreckliche Alb war so glatt und nachgiebig wie ein Schlammglibber und seine Kraft entsetzlicher als die eines Felstrolls. Kelric schlug eine Welle ekelerregenden Gestanks entgegen, als das Finsterwesen das Maul öffnete und einen rotblitzenden scharfen Fang entblößte; das abscheuliche Aussehen der Kreatur raubte ihm beinahe die Besinnung. Würgend und krächzend versuchte er um Hilfe zu rufen; hysterische Panik ließ die Gewissheit, sterben zu müssen, wie glühende Hämmer auf seinen angstgepeinigten Verstand niedersausen. Mit letzter Kraft stemmte er sich gegen das mörderische Ungeheuer, wollte durch Drehen und Winden des Körpers dem Würgegriff entkommen, als ihm für einen kurzen Moment schwarz vor Augen wurde. In diesem Augenblick gab es einen blendenden Blitz über ihm, und der Alb ließ mit einem fürchterlichen Aufschrei von ihm ab und raste brüllend im Schutz der Dunkelheit davon.

»Schon gut«, sagte Melwin, während er den zitternden und hustenden Jungen hochhob und zum Lager zurücktrug.

»M-mir ist s-so k-kalt«, stotterte Kelric zähneklappernd.

»Ich weiß.« Melwin nickte. »Das war ein Frostalb, einer von der schlimmsten Sorte. Er spürt deine schlechten Träume, wie ein Raubtier die Beute wittert; sie ziehen ihn unwiderstehlich an. Er schuf sich eine Schattengestalt im Nebel und suchte dich heim, um dich von uns fortzulocken. Ein Frostalb ist eiskalt und friert stets; er ist dauernd hungrig nach der Wärme lebendiger Wesen, die er ihnen mit seinem Eiszauber absaugt, den auch wir Zauberer in gewisser Weise beherrschen.«

Fergon sah ihnen besorgt entgegen. »Er ist in Ordnung«, berichtete Melwin rasch. »Ich kam zur rechten Zeit.«

Der Ältere lächelte. »Eine sehr gute Arbeit.«

Melwin lachte. »Einen Frostalb zu verjagen, ist wahrhaft keine schwere Aufgabe, Herr Fergon. Kelric, du schläfst heute bei mir. Du kannst viel Wärme gebrauchen, glaube ich, du hast ja immer noch eine ganz blaue Nase.«

Kelric war unendlich dankbar für Melwins Vorschlag, und er kuschelte sich dicht an den jungen Mann, der ihm nicht nur Wärme gab, sondern auch väterliche Geborgenheit, die vor neuen Alpträumen und der Erinnerung an den Schrecken schützte.

3.

Auf See

Viele Tage später befanden sie sich auf See. Kelric, dem anfangs trotz herrlichsten Wetters einige Male übel geworden war, gewöhnte sich schließlich an das ewige leichte Schaukeln wie an das leise Knarzen des Schiffsholzes in der Nacht. Am meisten hatte ihn, den Bergbewohner, die riesige, endlos scheinende Weite ohne Höhen und Tiefen ringsum beängstigt; er kam sich hilflos und schutzlos vor, denn es gab keinen Ort, wo er sich hätte verstecken können. Einige Zeit streckte er die Nasenspitze kaum zur Kajütentür hinaus. Als er jedoch feststellte, welch aufregender Ort so ein Schiff war, tobte er vergnügt auf dem Deck herum. Die frische Seeluft machte ihm solchen Appetit, dass die beiden Zauberer jeden Abend die Köpfe schüttelten und die Matrosen Tränen lachten. Zu jener Zeit schon begann Kelric sich seinen Namen zu machen, denn die Seeleute der Windsbraut erzählten überall eine lange fröhliche Geschichte; es wurde zwar nicht alles davon geglaubt, denn niemand wagte an der Ehrwürdigkeit der Heiligen Wanderer zu zweifeln, aber immerhin entwickelte sich doch eine recht heitere Anekdote daraus, die später durch die Ballade Kelrics Kinderjahre so berühmt wurde, dass ihm stets die Sagen vorausliefen, wohin er sich später als Zauberer auch wenden mochte.

Der Kapitän behauptete, dass sie in spätestens vier Tagen in Labron landen würden. Kelric, dem allmählich schon recht langweilig wurde, weil es kaum mehr Abwechslung gab, machte ein enttäuschtes Gesicht. Die ungeheure Weite der See begann ihn wieder zu bedrücken, und er sehnte sich nach der vertrauten Enge seiner Berge. Fergon und Melwin, die unter seinen pausenlosen Fragen litten, entschlossen sich dazu, ihm ein paar magische Spielereien beizubringen und leichte Konzentrationsübungen mit ihm zu machen, damit er endlich Ruhe gab. So lernte Kelric, aus einzelnen Wassertropfen kleine Hüpfwesen zu formen, die lustig umherhopsten; das Spiel bereitete ihm bald genauso viel Freude wie die Verwandlung der Wanderblumen, und die beiden Zauberer ließen ihn zufrieden allein. 

Einige Zeit ging das Spiel recht gut, bis er einmal nicht aufpasste und die kleinen Illusionswesen sich zu einer großen nassen Kugel mit vier Füßen zusammenschlossen, die wie ein Riesenwollbär umherpatschte und eimergroße Lachen als Spuren hinterließ. Kelric wollte sich vor Lachen ausschütten, als er aus der angrenzenden Kombüse einen schrecklichen Lärm hörte; denn der Schiffskoch, der zu Recht annehmen konnte, dass ihm in seinem Heiligtum keine Gefahr drohte, glitt auf einer Pfütze der Wasserkugel aus, die wie ein Ball quer durch die Kombüse sprang, wuselnd durch den Türspalt entkam und mit einem Satz über die Reling hüpfte und auf ewig verschwand. Der erschrockene Mann hingegen schlitterte mit heftig rudernden Armen auf dem nassen Boden dahin und kam erst zum Halten, als er nach den aufgehängten Töpfen griff; wobei einige Haken unter der Überbeanspruchung des Gewichts nachgaben und er zusammen mit dem Geschirr stürzte. Kelric wartete nicht ab, was weiter geschah, sondern ergriff vorsorglich die Flucht auf das Kapitänsdeck, wo er den Kapitän derart in ein geschicktes Gespräch verwickelte, dass der sich nicht wenig wunderte, als der Schiffskoch wutschnaubend mit feuerrotem Gesicht und einer großen Pfanne in der rechten Hand herangetobt kam. Nur die mächtige Gestalt des Kapitäns bewahrte Kelric davor, dass der zornige Mann ihn erwischte; und während die Matrosen schallend lachten, brüllte der Schiffsführer um Ruhe, bevor er sich an Kelric wandte:

»Was hast du angestellt, Junge?«

Kelric sah ihn mit seiner treuherzigsten Miene an und erwiderte unschuldig: »Nichts, Herr Kapitän, das wissen Sie doch. Ich war schließlich die ganze Zeit bei Ihnen und unterhielt mich mit Ihnen über die Orientierung in der Nacht anhand des nördlichen Sternenhimmels. Sie verstehen es so gut, mir Ihr großes Wissen verständlich zu vermitteln.«

»Hm«, brummte der Kapitän geschmeichelt.

Der Schiffskoch stand zunächst da, sprachlos und mit offenem Mund, dann hob er die Hand mit der Pfanne und wies auf Kelric.

»Der ist ja raffiniert!«, protestierte er anklagend. »Zuerst spielt er mir einen solchen Streich, dann wickelt er Sie auch noch um den Finger ... «

»Niemand wickelt hier irgendwen um irgendwas herum!«, brüllte der Kapitän und wedelte wütend mit beiden Händen. »Und überhaupt, fuchtle hier nicht mit deiner Pfanne herum! Der Junge war bei mir, das weißt du schließlich selbst! Du wirst schon wieder vollgesoffen sein, du Faultier, und Wahnvorstellungen haben – nimm dir ruhig ein Beispiel an Kelric, der vor Wissbegier nahezu platzt!«

»Ich platze gleich vor Wut!«, schrie der Koch verzweifelt zurück. »Ich bin stocknüchtern, bei meiner Seele, und der Bengel da hat mir einen Wasserball in die Kombüse gezaubert und eine Überschwemmung angerichtet, bevor er nach draußen hüpfte!«

Die Augen des Kapitäns blitzten, und er grinste hinterlistig.

»Aaahh«, machte er lang gedehnt und blickte in die kichernde Runde. »Hat einer von euch etwa so ein Ding gesehen?«, fragte er rhetorisch mit dröhnender Stimme. Ein Brüllgelächter antwortete ihm, die Matrosen schnitten Grimassen und feixten; sie rächten sich nun für jedes misslungene und schlecht zubereitete Essen, dem sie wehrlos ausgeliefert waren.

Einer rief: »Aber ja, ich sah eine weiße Riesenmaus mit blauer Nase, die aus der Kombüse lief und sang:

O mein Liebling Zara, jetzt is der Verhau noch immer da,

weil ich bin so blau-au 

Und sehe nur noch grau-au ... «

Ein anderer fiel sogleich ein: »Und der Smutje kam mit der Pfanne hinterher und rief: ›Wehe, wenn ich dich nochmal an meinen Schnitzeln erwisch!‹«

Der Rest ging im lauten Hohn unter. Der Schiffskoch erkannte, dass jegliche Verteidigung zwecklos war, und schlich unglücklich an seinen Arbeitsplatz zurück.

 Kelric, den nun doch das Gewissen plagte, lief ins Unterdeck hinab, weckte die beiden Zauberer aus ihrem Mittagsschlaf und beichtete ihnen alles. Fergon starrte ihn erstaunt an, während Melwin sich nicht mehr zurückhalten konnte und Tränen lachte. Der Ältere blickte ihn missbilligend an und rügte ihn:

»Herr Melwin, Euer Verhalten lässt zu wünschen übrig! Es ist eines Zauberers unwürdig!«

»Bitte um Entschuldigung«, kicherte Melwin und versuchte mit seinem Ärmel die Tränen zu trocknen, »aber die Vorstellung ist so erheiternd ... stellt Euch nur so ein Patschewesen vor ...« Er kämpfte wiederum mit einem Lachausbruch und flüchtete keuchend und nach Luft schnappend in eine entferntere Ecke.

Kelric schrumpfte sichtlich zusammen, als er den harten tiefblauen Blick aus Fergons Augen auf sich fühlte; selbst das sonst so freundliche runde Gesicht war streng geworden.

»Auch du, mein Sohn«, fuhr der alte Zauberer energisch fort, »hast dich absolut unwürdig verhalten. Wenn ich kein Magier wäre, würde ich dir jetzt den Hintern versohlen, aber so etwas tun wir nicht. Und es spricht für dich, dass du gebeichtet hast. Außerdem sind wir beide nicht ganz unschuldig an dem Geschehen, denn wir haben dir diesen Unsinn beigebracht und dich allein spielen lassen. Darum lassen wir eine Bestrafung lieber sein, aber von nun an tust du derartige Dinge nur noch unter Aufsicht, verstanden?«

Kelric ließ den Kopf sinken. »Ja, Herr«, murmelte er beschämt.

»Allerdings wirst du nicht darum herumkommen, dich bei dem Schiffskoch zu entschuldigen.«

Kelric fuhr hoch. »G-ganz allein?«, stotterte er schreckensbleich und suchte hilflos nach Melwin, der zurückgekehrt war und an seiner Koje lehnte.

»Tja, Kleiner«, sagte er freundlich. »Was man gepflanzt hat, das muss man auch ernten. Wenn du gleich zu ihm gehst, hast du es schneller hinter dir. Und er wird dich schon nicht fressen.«

Kelric versuchte verzweifelt, den Kloß hinunterzuschlucken, der ihm plötzlich im Hals steckte, während er mit zitternden und weichen Knien und klopfendem Herzen hinüber zum Zwischendeck tapste; blass und verstohlen drückte er sich langsam um die Ecken herum, bis er genug Mut gefunden hatte, um die Stufen hinabzusteigen, ohne zu fallen. Wacklig stand er in der Kombüse und verhakte die Finger ineinander, bis der Koch ihn bemerkte.

»Nun?«, brummte er böse. »Was hast du jetzt wieder für einen Spaß, mit dem du mich lächerlich machen kannst?«

»Aber das wollte ich doch gar nicht ...«, begann Kelric piepsig (der dumme Kloß im Hals!) und räusperte sich. »Bestimmt, Herr, ich wollte Sie nicht lächerlich machen! Das Dings ist mir ausgerückt, und bevor ich es einfangen konnte, war alles schon passiert, und dann habe ich solche Angst bekommen, dass ich den Unschuldigen spielte. Bitte, glauben Sie mir, es war keine Absicht!«

Der Mann musterte ihn eindringlich, und als er sah, dass der Junge mit den Zähnen klapperte, verrauchte sein Zorn.

»Na ja ... hm ... gut, in Ordnung«, murmelte er schlie߬lich. »Ich will dir glauben, weil du eigentlich ein nettes Kerlchen bist ... und du hast mein Essen immer verdrückt. Also, vergessen wir's.« Er streckte Kelric die Hand hin, der sie freudestrahlend drückte.

»Sind wir Freunde, ja?«

»Hu? Na ja, schön, das eben auch noch. Hier hast du ein Stück Räucherschinken, und nun troll dich und lass dich hier nicht mehr blicken!«