Still missing you - Valentina Fast - E-Book + Hörbuch

Still missing you Hörbuch

Valentina Fast

5,0

Beschreibung

Es ist nie zu spät für die wahre Liebe Zur Beerdigung ihrer Großmutter kehrt Hazel widerwillig in die Kleinstadt zurück, aus der sie überstürzt geflohen ist. Denn niemand sollte je erfahren, wie sehr Hazel ihren Pflegebruder Derek geliebt hatte und dass er ihr Herz brach, ohne es zu wissen. Da hilft es nicht gerade, was ihr und ihren Pflegegeschwistern bei der Testamentseröffnung verkündet wird: Alle zusammen sollen eine alte Villa der Großmutter erben und diese zu einem Hotel umbauen. Und dann tauchen auch noch alte Notizbücher auf, die Hazels Gefühle für Derek enthüllen ...

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Zeit:8 Std. 54 min

Sprecher:Carolin-Therese Wolff

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Valentina Fast

Still missing you

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

1Hazel

»Was fasst du nicht? Dass wir noch leben?«

Es war sicher unangemessen, sich auf einer Beerdigung vorzustellen, wie man den Typen neben sich am Kragen packte und einfach schüttelte.

Doch das war meine Art, mich vom Heulen abzuhalten, während ich blicklos auf den dunklen Sarg starrte, auf dem unzählige Rosen lagen. Sie waren rot, wie Betty sie am schönsten fand.

Ich ließ das Händeschütteln und die Beileidsbekundungen an mir vorüberziehen. Dabei hasste ich mich dafür, dass ich nicht vollständig trauerte. Ich hasste die leise Erleichterung, die ich vor allen verbarg, und ich hasste es, dass meine Granny so hatte sterben müssen. Nein, Granny hatte ich sie nur als Kind genannt, weil sie sich deshalb immer so alt gefühlt und ich sie damit so gerne geärgert hatte. Betty ist ihr Name gewesen. Bethany, um genau zu sein.

Alte Leute sollten friedlich im Bett einschlafen. Doch sie hatte in einem beschissenen Krankenhaus gelegen, kaputt von der Chemo und verwirrt von all den Medikamenten.

Betty hatte Besseres verdient. Verdammt, niemand sollte mit so einem Ende bestraft werden.

Ich blinzelte angesichts der beißenden Tränen, die sich in meinen Augen sammelten, und schluckte hart gegen die plötzliche Enge im Hals an.

Jemand räusperte sich und ich ließ hastig die Hand vor mir los, die ich viel zu fest geschüttelt hatte.

Ich machte mir nicht die Mühe, mich zu entschuldigen.

Meine Pflegeschwester Amber plapperte drauflos und überspielte damit diesen Fauxpas. Ihre Stimme war eine Konstante in dem beständigen Summen aus geflüsterten Worten, die nur gedämpft durch das Rauschen in meinen Ohren drangen.

Ich atmete tief durch und zwang mich, nicht nach rechts zu sehen, wo Derek stand und sich so verhielt, als wäre ich gar nicht hier.

Seit ich knapp vor Beginn der Beerdigung angekommen war, hatte er mir nur kurz zugenickt und mich ansonsten ignoriert. Es war also nur allzu leicht gewesen, meine Trauer in Wut umzuwandeln und direkt auf ihn zu lenken.

Er tat so, als wäre nie etwas geschehen. Und im Grunde stimmte das auch. Es war nichts passiert, außer der Tatsache, dass er mir das Herz gebrochen hatte. Jetzt, von Trauer umspült, wallte der Schmerz von damals heftig auf. Er drückte mir gegen die Augenlider und brannte in meiner Kehle.

Die Trauergesellschaft begab sich langsam in Richtung Gemeindesaal und ich ließ mich zurückfallen.

Obwohl Amber mir einen warnenden Blick zuwarf, als sie und ihr Freund – dessen Namen ich schon längst wieder vergessen hatte – neben meinen beiden Pflegebrüdern dem Pulk vorausgingen.

Doch ich blieb am Grab stehen und schaute dabei zu, wie zwei Männer Erde auf den Sarg schaufelten. Es besaß etwas seltsam Meditatives, hier herumzustehen und zu wissen, dass Betty bereits irgendwo anders war, während wir hier unten trauerten.

»Mach es dir so schön wie möglich, Kleines. Die Welt ist die verrückteste unserer Etappen, bevor wir endlich Frieden finden. Also riskier ruhig etwas und sei nicht so nachtragend.« Bettys Stimme hallte in meinen Ohren wider. Ich lachte traurig, was mir seltsame Blicke der Männer einbrachte.

Einen Moment lang kam mir der Gedanke, mich einfach wieder in den nächsten Zug in Richtung New York zu setzen. Es reichten wenige Stunden in dieser Stadt, um das Gefühl zu bekommen, völlig fehl am Platz zu sein.

Mein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, als mir die morgige Testamentsverkündung einfiel und die immerwährende Wut, mit der Amber mich strafen würde, falls ich sie verpasste.

Deshalb straffte ich meine Schultern und lief in Richtung Gemeindesaal, der an den Friedhof Eastwoods grenzte. Er lag eingebettet in den Ausläufern eines Laubwaldes, dessen Äste noch nackt vom Winter waren und im frischen Februarwind ächzten.

Draußen standen ein paar Trauergäste, die rauchten und sich leise unterhielten. Immer wieder schnappte ich Grannys Namen auf – Betty. Sie flüsterten ihn, als wäre es verboten, ihn laut auszusprechen. Dabei war es einer, der aus voller Kehle in die Welt hätte hinausgeschrien werden müssen. Betty war auch laut gewesen. Genauso wie unhöflich, dickköpfig und der beste Mensch von allen. Betty, die coolste Granny, die ich mir hätte wünschen können, und die einzige Person der Familie, die mich wie zugehörig behandelt hatte. Vielleicht, weil wir beide irgendwie Außenseiter gewesen waren.

Ich betrat den großen stickigen Raum, in dem die Gäste auf zu klein wirkenden Eichenstühlen saßen und ihr obligatorisches Stück Kuchen vertilgten. Es war viel zu warm, sodass ich meinen schwarzen Mantel aufknöpfte, während ich auf den Tisch ganz vorne zusteuerte, an dem die einzige Familie saß, die ich jemals gehabt hatte – und die doch keine war. Zwei der langen Wände bestanden fast ausschließlich aus Fenstern, wobei eine Seite auf den Wald hinaus zeigte und man durch die andere den Friedhof sah. Graue Wolken hingen über den schlichten Gräbern.

»Wieso bist du nicht sofort mitgekommen?« Ambers geknurrte Worte standen im starken Kontrast zu ihrem süßlichen Lächeln, das sie für alle anderen aufgesetzt hatte. Sie hatte ihr blondes Haar zu einem tiefen Dutt gedreht und war dezent geschminkt, was ihre natürliche Schönheit noch einmal unterstrich. Amber konnte man einfach nur als schön bezeichnen. Schön und eiskalt.

Ich ließ mich neben meinem Pflegebruder Ryan nieder, der gerade auf seinem Handy herumtippte. Ein kurzer Blick verriet mir, dass er eine Mail beantwortete. Ernsthaft? Er arbeitete auf einer Beerdigung? Aber vielleicht war das auch seine Art, mit der Trauer umzugehen. Sein Anzug saß perfekt und wie früher schon trug er sein dunkelblondes Haar zur Seite gekämmt.

Ich drapierte meinen Mantel über der Stuhllehne und nahm Platz. Der Sitz war hart und die Lehne nicht viel besser. Erst als ich eine halbwegs bequeme Position gefunden hatte, lächelte ich meine nur wenig ältere Pflegeschwester gepresst an. Sie war Mitte zwanzig und die verklemmteste Person überhaupt. »Ich wollte mich ohne all diese Heuchler von ihr verabschieden.«

»Das sind keine Heuchler«, zischte sie und hektische Flecken bildeten sich auf ihren Wangen, wobei ihre Augen hin und her schossen. »Und sprich gefälligst leiser, wenn du dich schon so bescheuert aufführen musst.«

»Sorry«, säuselte ich gedehnt und schaute mich nach dem Kuchenbüfett um, bevor ich wieder aufstand. »Aber die halbe Stadt hat Betty gemieden, als sie noch lebte.«

»Vermutlich, weil sie genauso unhöflich war wie du.« Dereks Stimme klang tiefer als früher und mein Magen zog sich geradezu schmerzhaft zusammen. Mit einem Pappteller voll Kuchen in der einen und einer Kaffeetasse in der anderen Hand setzte er sich zu uns an den Tisch.

Derek, dessen Anwesenheit reichte, um mich wieder in das achtzehnjährige Mädchen zu verwandeln, das sich so sehr nach Halt gesehnt hatte und doch gefallen war. Meine Kehle wurde eng, und ich hasste es, dass er noch immer diese Wirkung auf mich hatte. Es war das erste Mal, dass wir uns wiedersahen, nachdem ich so lange auf ihn gewartet hatte.

Die Erinnerungen von eiskaltem Regen auf meinem Gesicht und das beklemmende Gefühl, alleine an einem gespenstischen Bahnhof zu stehen, waren so intensiv, dass ich für einen Moment seinem Blick ausweichen wollte. Doch ich war stärker als damals und deshalb hielt ich seinen Augen stand.

Er trug sein dunkles Haar so kurz, dass es beinahe militärisch wirkte. Wo er früher schlank gewesen war, schien er jetzt nur noch aus Muskeln zu bestehen. Das dunkelgraue Jackett spannte sich um seine Schultern und Oberarme, als er seine Arme bewegte, um drei Zuckertütchen aufzureißen und in seinen schwarzen Kaffee zu schütten.

Seine blauen Augen betrachteten mich kühl und distanziert. »Nenn sie nicht Heuchler, wenn du doch diejenige bist, die sich in den letzten sechs Jahren nicht hat blicken lassen.«

Wut verwandelte sich in Schmerz, als ich die Verachtung in seinen Augen erkannte. »Du hast doch keine Ahnung.« Mit dieser absolut schlagfertigen Antwort drehte ich mich von ihm weg und steuerte auf den langen Tisch mit diversen Kuchen zu. Meine Beine bewegten sich wie ferngesteuert und ich straffte die Schultern, da mir die Verachtung meiner Pflegegeschwister im Nacken brannte. Außer natürlich von Ryan, aber der schien sowieso nur mit seinem Handy beschäftigt zu sein.

Den ganzen Torten und Kuchen sah man an, dass sie selbst gemacht waren. Wenn die Frauen dieser Kleinstadt etwas konnten, dann war es backen.

Ich wollte gerade nach einem Teller greifen, als ein gackerndes Lachen ertönte, und ich erstarrte. Ruckartig fuhr mein Kopf herum, denn fast hatte ich erwartet, Betty zu sehen, doch an dem Tisch links von mir hatten sich zwei andere alte Damen niedergelassen. Eine von ihnen war Maggy, Bettys kleine Schwester, und neben ihr saß Elinor. Beide gehörten zu den Hexen von Eastwood – wie ich Bettys Clique immer genannt hatte. Sie waren genauso unbeliebt und biestig, wie Betty es gewesen war, und ich liebte sie heiß und innig.

Ein ersticktes Lachen entschlüpfte mir, während ich auf sie zusteuerte und die zwei alten Damen nacheinander einmal fest umarmte. »Ich fasse es nicht!«

»Was fasst du nicht? Dass wir noch leben?«, fragte Maggy neckend.

»Also, ich fasse es nicht, dass du hier als Single auftauchst.« Auch Elinor zog mich auf und wedelte dann mit ihrer Hand in Richtung der Kuchen. »Hol uns noch ein bisschen was von der Schokoladentorte. Aber nicht die von Amanda Simmens, die schmeckt nach Diätschokolade.«

Ich hörte ein leises Keuchen und entdeckte Mrs Simmens, eine ehemalige Klassenkameradin der alten Damen, die sich an die Brust griff und einen finsteren Blick zu unserem Tisch warf.

»Sicher.« Ich verbarg mein Lachen hinter zusammengepressten Lippen. Dann holte ich uns drei Pappteller mit verschiedensten Kuchenstücken und sparte dabei den aus, an dem Mrs Simmens’ Name stand. Es war eine seltsame Tradition in Eastwood, bei sämtlichen Veranstaltungen der Stadt eine inoffizielle Tortenshow auszurichten – auch bei Trauerfeiern. Aber niemand beschwerte sich, solange man sich als Trauernder nicht selbst um das Büfett kümmern musste.

»Erzählt mir den neuesten Klatsch«, forderte ich die beiden auf, stellte die Teller auf den Tisch und setzte mich zu ihnen. Ambers finsterer Blick kribbelte in meinem Rücken, doch es war ja wohl erlaubt, mit den Trauergästen zu sprechen. Dafür war ich immerhin hier. Um Betty zu verabschieden, waren mir weder ein Grab noch Kuchen wichtig. Das alles war für die anderen da.

»Elinors Blähungen sind schlimmer geworden, seit sie die neuen Tabletten nimmt.« Maggy kicherte hämisch.

Ich lachte auf und schob mir schnell ein Stück Zitronenkuchen in den Mund.

»Du bist doch nur sauer, weil ich dich beim letzten Bingo geschlagen habe.« Elinor verdrehte die Augen und strich sich über ihr dunkel gefärbtes Haar. Sie wirkte müde, auch wenn sie es mit extraviel Schminke zu verbergen versuchte. Müde und traurig.

»Wie ich sehe, ist alles beim Alten.« Sofort bereute ich die Worte. Nichts war wie früher. Betty war weg. Für immer.

Maggy schien Gedanken lesen zu können, denn mit einem Mal legte sie ihre Hand auf meinen Unterarm und ihre Stimme wurde ganz weich. »Sie hat endlich ihren Frieden.«

Ich starrte auf ihre rot lackierten Fingernägel und nickte langsam, während ich die Trauer hinunterschluckte, die mich plötzlich erneut zu überrollen drohte. »Sie fehlt mir trotzdem.«

»Uns auch.« Elinor legte ihre Hand auf meinen anderen Arm. »Sie war unser Puffer. Ohne sie werden wir uns innerhalb eines Monats zerstritten haben.«

Ich lachte, da sie recht hatte, und gleichzeitig, weil es so guttat, mit den beiden zu sprechen. Dabei nahm ich ihre Hände und sah sie abwechselnd an. »Bitte zerstreitet euch nicht. Einzeln seid ihr nicht mehr die Hexen von Eastwood, sondern einfach nur …« Ich suchte nach einem passenden Wort.

»Unfreundliche alte Schachteln?«, half Maggy mir grinsend aus.

Ich machte eine seltsame zustimmende Geste, die so blöd aussah, dass die beiden losgackerten.

»Es ist schön, dass du zurück bist, Kindchen.« Maggy tätschelte mir noch einmal den Arm, bevor sie sich eine Gabel nahm und ebenfalls ein Stück Kuchen aß. »Meine Güte«, stieß sie dann hervor und schob den Teller mit angewidert verzogener Miene von sich. »Der schmeckt nach Sojamilch!«

Ich lachte leise und lauschte ihr und Elinor, die sich nun über – ihrer Meinung nach – falsch gebackenen Kuchen aufregten.

Es war wie früher, wenn ich bei Betty in der Küche gesessen und den alten Damen beim Kartenspielen zugesehen hatte – zumindest so lange, bis die Fetzen flogen, weil eine von ihnen mal wieder geschummelt hatte.

»Wann reist du wieder ab?« Elinor lächelte mich an und schien zu wissen, wo meine Gedanken gerade waren.

»Nach der morgigen Testamentsverkündung. Bettys Nachlassverwalter hat gesagt, wir Pflegekinder sollen alle da- bei sein.« Dereks Vorwurf schwirrte in meinem Kopf herum, und allein um ihn vom Gegenteil zu überzeugen, hätte ich den Termin am liebsten sausen lassen. Doch ich war mir sicher, dass Betty sich etwas dabei gedacht hatte, wenn ihr Anwalt so vehement auf unser aller Anwesenheit bestand. Deshalb würde ich den Termin hinter mich bringen und anschließend in mein neues Leben zurückkehren. In ein Leben, das ich mir vor sechs Jahren, bei meiner Flucht aus dieser Kleinstadt, doch irgendwie anders vorgestellt hatte.

Der bittere Geschmack des Versagens breitete sich auf meiner Zunge aus und ich aß ein Stück Schokoladenkuchen. Es half nur wenig.

Maggy beugte sich vor und senkte vertraulich ihre Stimme. »Aber du sagst mir Bescheid, wenn meine Schwester euch eine Stange Geld vererbt, ja?«

»Selbst wenn es eine Million wäre, wärst du bereits tot, bevor du sie ausgeben kannst«, frotzelte Elinor und kicherte hämisch in ihre Kaffeetasse.

»Betty schuldet mir noch ein paar Dollar. Sie hat doch ständig ihre Geldbörse«, mit einer bedeutungsvollen Pause setzte Maggy das nächste Wort in Anführungszeichen, »vergessen. Ich bin nur neugierig.«

Dann sah sie mich wieder an. »Keine Angst. Ich werde nichts einfordern.«

Ich schmunzelte und sah mich nach Kaffee um. »Es wäre schon verwunderlich, wenn sie reich gewesen wäre. Aber ich sage dir Bescheid.«

»Gut. Ich will nämlich nicht, dass du einfach abhaust, ohne dich zu verabschieden. Schon wieder.«

Ich quittierte diesen offensichtlichen Vorwurf mit einem gezwungenen Lächeln und erhob mich, um mir einen Kaffee zu holen. Die Kannen standen am Ende des Büfetts, und in dem Moment, in dem ich sie erreichte, fiel ein Schatten neben mich.

Obwohl ich Derek heute das erste Mal seit sechs Jahren wiedergesehen hatte, erkannte ich seinen Geruch nach Kiefern und Zedernholz sofort. Herb und doch irgendwie frisch. Ein Sommerregen während einer schwülwarmen Nacht.

Ich sah im Augenwinkel, wie er zurücktrat, und biss mir auf die Unterlippe, schenkte mir Kaffee ein und tat einen Schuss Milch dazu. Aus einem Körbchen nahm ich mir einen kleinen Löffel und rührte dann vernehmlich in meiner Tasse herum. Ein Geräusch, so erinnerte ich mich schlagartig wieder, das Derek immer schier wahnsinnig gemacht hatte.

Ich blieb einen Moment länger als nötig stehen, bevor ich zu meinem Platz zurückkehrte. Kurz glaubte ich, ihn mit den Zähnen knirschen zu hören, doch er sagte nichts.

Die ganze Zeit tat ich so, als wäre er mir nicht aufgefallen. Kindisch? Vermutlich. Aber es hob meine Laune um ein Vielfaches.

Ich setzte mich zurück an den Tisch der beiden verbliebenen Hexen von Eastwood und ließ mir den neuesten Klatsch und Tratsch erzählen. Etwas, das Betty immer geliebt hatte.

2Hazel

»Sie hat uns eine Bruchbude vererbt.«

Das alte Brot vom Frühstück im Hotel hatte einen seltsamen Nachgeschmack in meinem Mund hinterlassen, den ich nun mit einem heißen Kaffee herunterzuspülen versuchte.

Ich saß etwa zehn Minuten zu früh im Besprechungsraum der Anwaltskanzlei Henderson & Stewards, die für Bettys Angelegenheiten zuständig war. Mit nervösen Fingern tippte ich auf dem dunklen Tisch herum.

Vor mir dampfte der Kaffee aus einer glänzend weißen Porzellantasse und vertrieb den Geruch von altem Papier. Durch das Fenster schien die Sonne und ließ Staubkörnchen tanzen. Gleichzeitig erzeugte sie eine wohlige Wärme, die hoffentlich diese eisige Kälte aus meinen Gliedern vertreiben würde.

Mein Hotel lag zwar nah an der Bushaltestelle, aber leider befand sich die Kanzlei eine Ortschaft weiter in Westwood. Ich hatte die hirnrissige Idee gehabt, zu Fuß zu gehen, und dafür knapp eine halbe Stunde eingeplant. Gerade der Spaziergang durch den Black Bridge Forest hatte all die Anspannung des gestrigen Tages von mir abfallen lassen. Der Wald trennte East- und Westwood voneinander und war nach der kleinen Brücke benannt, die aus ebenholzschwarzem Holz über den Wood River gebaut worden war. Einer Legende zufolge wurde einem der größte Wunsch erfüllt, wenn man auf der Brücke stand und ganz fest daran glaubte. Natürlich durfte dabei der obligatorische Penny nicht fehlen, den man in den Fluss warf. Allein die Erinnerung, wie oft ich mir gewünscht hatte, dass Derek endlich mehr als nur eine Pflegeschwester in mir sehen konnte, ließ meine Ohren rot werden.

Die Einsamkeit des Waldes hatte viele verloren geglaubte Erinnerungen wieder hochgeholt. Gute wie schlechte.

Zudem hatte ich die Kälte unter- und die Dicke meiner Schuhsohlen überschätzt.

Meine verfrorenen Zehen begannen zu kribbeln, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie langsam auftauten. Ich schaute auf die leise vor sich hin tickende Uhr an der Wand über der Tür. Noch fünf Minuten.

Ich seufzte und nippte an meinem Kaffee. Hoffentlich würde der Termin schnell enden. Ich hatte ein Ticket nach New York für den heutigen Nachmittag und musste noch vor dem Mittag im Hotel auschecken.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und mit einem kühlen Luftzug traten meine drei Pflegegeschwister in den Raum.

Dereks Augenbrauen hoben sich abschätzig, als er mich entdeckte, während Amber mit ihrer Zunge schnalzte und sich auf den Platz links von mir setzte. »Wenigstens bist du dieses Mal pünktlich.«

»Sind wir doch auch«, erwiderte Ryan, dessen Augen an dem Display seines Handys klebten. »Fahr deine Krallen ein, Blondie.«

»Und du solltest endlich dein Handy wegpacken.« Sie rümpfte die Nase und legte ihre Designerhandtasche auf ihrem Schoß ab. Oha, Chanel.

»Euch auch einen guten Morgen«, erwiderte ich und nippte wieder an meinem Kaffee, dankbar, mich auf etwas anderes als sie konzentrieren zu können.

In diesem Moment trat der Anwalt, Mr Stewards, ein. Er war ein älterer Herr mit weißem Haar und roter Krawatte, und er schüttelte uns nacheinander die Hände. Währenddessen nahm seine Sekretärin die Getränkebestellungen meiner Pflegegeschwister auf.

Mr Stewards setzte sich uns gegenüber hinter den Schreibtisch. Dabei legte er eine Akte vor sich und verschränkte seine Unterarme darauf.

Beim Lächeln verzog sich sein grauer Schnäuzer. »Ich danke Ihnen, dass Sie alle gekommen sind. Zunächst einmal mein herzliches Beileid.« Er machte eine kurze Pause und musste sich vor ehrlicher Betroffenheit räuspern. »Betty und ich waren gute Freunde und es ist mir ein persönliches Anliegen, mich um ihre Belange zu kümmern. Schon zu ihren Lebzeiten hat Betty mich zu ihrem Nachlassverwalter benannt.« Nun öffnete er die Akte und zog einige Unterlagen heraus, bevor er eine Lesebrille aus seinem Jackett fischte und sich auf die Nase setzte. »Betty hatte nicht viele Besitztümer. Das meiste hat sie vor ihrem Tod veräußert.«

Ich blinzelte hektisch angesichts der Tränen, die plötzlich in meinen Augen brannten. Erinnerungen an ihr eingefallenes Gesicht, das Piepen der Monitore und den Geruch von Desinfektionsmitteln überschwemmten mich.

Mr Stewards’ Blick traf meinen und er sah mich mitfühlend an. »Sie war so dankbar für Ihre Hilfe.«

»Am Ende hat es nichts genützt«, flüsterte ich und schluckte schwer, während ich die Blicke meiner Pflegegeschwister auf mir spürte.

»Welche Hilfe?«, wollte Amber mit unverhohlener Neugier wissen.

»Nun«, fuhr Mr Stewards fort und warf mir einen fragenden Blick zu, woraufhin ich nickte. »Hazel war so nett, ein paar Dinge für Betty zu veräußern. Für ihre Krankenhausrechnungen. Sie wollte kein Geld annehmen, aber ihre Ersparnisse neigten sich dem Ende zu und so entschied sie, dass möglichst viele ihrer Besitztümer verkauft werden sollten.«

Ich starrte auf meine Finger und blinzelte hektisch. »Sie war so verdammt stur.«

»Du warst bei ihr?«, fragte Amber leise und so langsam, als könnte sie es nicht fassen.

»Jede Woche.« Ich hob die Schultern und griff nach dem Kaffee, um den Kloß im Hals herunterzuspülen. Dabei entstand eine unangenehme, drückende Pause. »Seit sie ins Westwood Hospital kam.«

»Nun, deshalb gibt es aus ihrem Hausstand auch nichts mehr, was sie Ihnen hätte vererben können«, knüpfte der Anwalt an seine vorherige Rede an. »Dennoch war sie Besitzerin einer Immobilie, die sie erworben hat, kurz bevor ihre Krankheit diagnostiziert wurde.«

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen, denn davon hatte Betty nie etwas erwähnt.

Mr Stewards holte ein Foto heraus, das mit minderwertiger Qualität ausgedruckt worden war. Darauf sah man ein altes Herrenhaus, das wirkte, als hätte es seine besten Jahre längst hinter sich gebracht. Doch das konnte auch an der mangelnden Bildqualität liegen. »Es geht um dieses alte Hotel. Betty erwarb es mit dem Wunsch, es wiederzueröffnen. Der alte Besitzer weigerte sich bis zu seinem Tod zu verkaufen. Zu ihrem Glück waren die Erben froh über eine Abnehmerin.«

»Warum hat sie das Haus gekauft?«, fragte nun Derek hörbar irritiert. »Wieso hat sie uns nichts davon erzählt?«

»Nun, sie wollte wieder gesund werden und das Projekt dann in Angriff nehmen. Doch als es immer schlechter um sie stand, wurde es ihr letzter Wille, dass dieses Hotel renoviert wird.«

»Das verstehe ich nicht.« Amber schüttelte langsam ihren Kopf. »Warum sollte sie das gewollt haben? Wir könnten es doch auch einfach verkaufen, oder nicht?«

»Nein. Es gibt nur zwei Möglichkeiten für Sie. Entweder Sie lehnen das Erbe ab, dann geht das Hotel in den Besitz der Stadt über. Oder Sie nehmen es an und renovieren das Hotel, sodass es wiedereröffnet werden kann. Dann steht es Ihnen frei zu verkaufen. Sie müssen jedoch gemeinschaftlich das Erbe annehmen. Niemand darf sich verweigern. Dies war Bettys Bedingung.«

Ryan brach neben mir in schallendes Gelächter aus. »So will sie uns also dazu bringen, wieder einen auf Familie zu machen.«

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und saugte die Unterlippe ein. »Wir müssten die Renovierung gemeinsam machen? Was genau bedeutet das?«

Der Anwalt nickte bedächtig und lächelte, als hätte er diese Frage bereits erwartet. »Sie alle müssen vor Ort sein und sich regelmäßig, am besten wöchentlich, zusammenfinden, um den Fortschritt zu überprüfen. Je nachdem, ob Sie die Sanierung vergeben oder selbst durchführen.«

Im Augenwinkel sah ich, wie Amber ihren Kopf zu mir drehte. »Du müsstest bleiben.«

Ich verdrehte meine Augen. »Das ist mir auch klar.«

Mr Stewards erhob sich langsam und schob uns ein paar Zettel zu. »Besprechen Sie sich in Ruhe.«

»Ich möchte das Hotel sehen, bevor ich eine Entscheidung treffe.« Derek deutete auf das ausgedruckte Foto. »Nur aufgrund dieses Bildes will ich so eine Verpflichtung nicht eingehen.«

»Er hat recht.« Amber setzte sich noch aufrechter hin als zuvor schon. »Wir sollten es uns ansehen.«

Der Anwalt nickte langsam und zog eine Taschenuhr aus seiner Hosentasche, wobei er nachdenklich brummte. »Mein nächster Termin ist in einer Stunde. Von mir aus könnten wir sofort aufbrechen, falls Ihnen das passt. Ansonsten machen wir einen Termin in den nächsten Tagen aus.«

»Mir passt es gerade gut«, meinte Ryan und erhob sich bereits. »Ich muss nur meine Assistentin anrufen und einen Termin verschieben lassen.«

Auch Amber nickte und Derek stimmte ebenfalls zu.

Sofort lagen alle Blicke erwartungsvoll auf mir. »Klar schauen wir es uns an. Ich bräuchte nur jemanden, der mich mitnimmt.«

»Du kannst mit Derek fahren«, entschied Amber und warf diesem einen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu. »Entschuldige, aber ich verzichte diesmal. Ich habe bei unserer letzten Fahrt sicher eine Stunde gebraucht, um alle Sägespäne von meiner Jacke zu bekommen, die im Auto herumlagen.«

»Klar.« Derek betrachtete den Anwalt, der freudig etwas auf zwei Zetteln notierte.

»Sehr gut. Dann sehen wir uns gleich bei dieser Adresse.«

Ich ließ mir nicht anmerken, dass mir schon die Vorstellung, mit ihm alleine in einem Auto zu sitzen, reichte, um mir ein böses Grummeln im Magen zu bescheren. Dabei hatte ich sechs Jahre Zeit gehabt, um all diese Gefühle für ihn loszuwerden. Ich war über ihn hinweg! Da sollte es sicher kein Problem sein, für zehn Minuten neben ihm zu sitzen.

Gemeinsam verließen wir das Gebäude und mit knappen Verabschiedungen zerstreuten wir uns in Richtung der verschiedenen Fahrzeuge.

Amber und Ryan steuerten einen schwarzen Sportwagen an. Ein Jaguar. Da Ryan auf der Fahrerseite einstieg, ging ich davon aus, dass ihm das Auto gehörte.

Betty und ich hatten uns nur selten über die anderen unterhalten, aber ich wusste, dass Ryan nun Geschäftsmann war. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, was genau er für Geschäfte machte.

Mr Stewards lief auf eine Limousine zu, während Derek zu einem knallroten Ford Pick-up ging. Das Auto war riesig, dreckig und einfach nur schön. Ich liebte große Autos, auch wenn ich seit sechs Jahren nicht mehr selbst gefahren war.

Derek stieg wortlos ein und ich umrundete die Ladefläche, auf der Holzplatten unter einer Plane hervorlugten, bevor ich auf der Beifahrerseite einstieg.

Wie Amber bereits erwähnt hatte, waren die Sitze voller Sägespäne. Als hätte jemand Holz zerkleinert und sich nicht die Mühe gemacht, sich vorher abzuklopfen, bevor er sich setzte.

Ich wischte das Gröbste auf den Boden und kletterte auf den Sitz.

Als Derek den Wagen startete, heulte der Motor wütend auf, und im selben Moment ertönte leise Countrymusik.

Ich hob meine Augenbrauen, was er allerdings nicht sah, da er viel zu konzentriert auf die Straße starrte.

Es dauerte genau dreißig Sekunden, bis wir auf die Hauptstraße abbogen und ich es nicht mehr aushielt. »Willst du mich jetzt den ganzen Tag ignorieren?«

»Fühlst du dich ignoriert?«, konterte er leise und auf diese desinteressierte Weise, die an meinen Nerven zupfte.

Ich lehnte mich auf dem erstaunlich gemütlichen Sitz zurück und schaute nach draußen. Wir fuhren direkt auf die einzige Straße zwischen East- und Westwood. Die Bäume des Black Bridge Forest ragten rechts und links über uns auf. Wenn es etwas gab, das ich in New York vermisst hatte, dann war es die Natur Vermonts.

»Ja. Immerhin haben wir seit Ewigkeiten nicht mehr miteinander gesprochen.«

Er stieß ein leises Brummen aus, als wüsste er genau, auf welche Begegnung ich anspielte. »Was willst du hören?«

Ich wollte ihn am Kragen packen und schütteln. »Geht es dir gut?«

»Ja.«

Ich seufzte ergeben und schaute auf die schwarze Brücke, die vor uns auftauchte. Einst hatte sie nur aus dunklem Ebenholz bestanden, doch zur Sicherheit war sie schon vor Jahrzehnten mit Stahlstützen verstärkt worden.

Vor uns fuhr Ryans Jaguar, der kurze Zeit später blinkte.

Ich runzelte die Stirn und versuchte, mich an ein altes Herrenhaus in der Nähe zu erinnern. Erst vor knapp einer Stunde war ich hier zu Fuß entlanggelaufen, doch auch da war mir nichts aufgefallen.

Derek blinkte ebenfalls und bog auf einen geschotterten und ziemlich unscheinbaren Waldweg ab. Wir passierten ein verrostetes Tor, das weit geöffnet worden war. Den frischen Schleifspuren auf dem Schotterweg nach sogar erst kürzlich.

Nur wenige Augenblicke später glitzerte ein kleiner See zu meiner Rechten.

Dann lichteten sich die Bäume und zum Vorschein kam ein altes Herrenhaus, das in echt viel größer aussah als auf dem ausgeblichenen Foto.

Der viktorianische Baustil mit der breiten vorderen Veranda und den vielen kleinen Erkern verlieh dem dreistöckigen Gebäude etwas Romantisches.

Wir parkten auf einer Schotterfläche vor der Veranda und erst jetzt sah ich den abblätternden, ergrauten Putz und die eingeschlagenen Fenster.

»Sie hat uns eine Bruchbude vererbt«, hörte ich Derek leise sagen, bevor er ohne ein weiteres Wort aus dem Wagen stieg.

»Großartig«, murmelte ich und folgte ihm hinaus zu den anderen, die sich gemeinsam mit etwas Abstand vor dem Haus aufgestellt hatten.

»Was sagen Sie?« Mr Stewards strahlte unter seinen ergrauten Augenbrauen.

»Ist es überhaupt sicher, da reinzugehen?« Amber wedelte unschlüssig mit der Hand. »Das Gebäude sieht ein bisschen so aus, als würde es jeden Moment einstürzen.«

»Es ist sicher. Der ehemalige Besitzer hat die Statik vor dem Verkauf prüfen lassen. Er hatte selbst vor, das Hotel zu renovieren, kam aber nicht mehr dazu.«

»Was ist mit dem Rest?« Derek trat näher an das Haus, um es sich genauer anzusehen.

»Die Substanz ist gut. Die Elektrik ist veraltet. Die Heizung ebenfalls und die Wasserleitungen müssten auch geprüft werden. Zudem fehlen natürlich noch ein paar Schönheitsreparaturen. Etwas, das bei der Größe des Objektes allerdings nicht ohne sein wird.«

»Das wird Zeit und Geld kosten.« Ryan summte leise, wie früher, wenn er überlegte.

Ich schaute an dem Haus hoch und lächelte auf einmal, weil ich das Gefühl hatte zu erkennen, was Betty beim Kauf gesehen haben musste. »Es hat wirklich viel Potenzial.«

»Hast du Ahnung davon?«, fragte Amber skeptisch und sah mich an.

»Nein«, erwiderte ich und deutete auf das Haus. »Doch ich verstehe, warum Betty sich die Arbeit machen wollte.«

»Aber wollen wir das auch?« Derek macht einen ersten Schritt auf die Stufen der Veranda und stampfte einmal auf. Außer einem leisen Ächzen des Holzes passierte nichts. Vorerst schien das Holz sicher zu sein.

»Überlegen Sie es sich in Ruhe.« Mr Stewards kramte einen Schlüsselbund aus seinem Jackett und reichte ihn Amber. »Bringen Sie mir den Schlüssel zurück und teilen Sie mir Ihre Entscheidung mit. Ich denke, Sie sollten das Anwesen auf sich wirken lassen. Natürlich könnte ich Ihnen eine Führung geben, aber ehrlich gesagt möchte ich es Ihnen nicht verkaufen. Sie müssen dieses Projekt gemeinsam durchziehen wollen. Das war es, was Betty sich gewünscht hat.«

Er verabschiedete sich und lief zurück zu seinem Wagen.

»Dann gehen wir mal rein und verschaffen uns einen ersten Eindruck.« Amber straffte ihre Schultern, doch sie wirkte kein bisschen überzeugt.

»Es wird schon nicht einstürzen«, zog Ryan sie auf und nahm ihr die Schlüssel ab, bevor er Derek auf die Veranda folgte.

»Zumindest nicht sofort«, fügte ich hinzu und lief ihm hinterher.

»Danke, Hazel!«

Über die Schulter hinweg zeigte ich Amber ein kurzes Grinsen und folgte Ryan in das Anwesen.

Eine zugenagelte Eingangstür begrüßte uns, hinter der sich eine zerbrochene Scheibe offenbarte.

Das Erste, was mir auffiel, war der Geruch nach Holz, Tabak und Moschus. Sofort stiegen in mir Bilder von rauchenden älteren Herren auf, die sich hier in der Lobby trafen, um einen Whisky zu trinken. Dazu hing der Geruch von Vanille in der Luft, als hätte jemand versucht, den Tabakgeruch zu überdecken.

Ich atmete tief ein und lächelte, weil dieser unvergleichliche Geruch etwas Warmes in mir auslöste, das ich nicht ganz benennen konnte.

»Wow, hier haben wohl Raucher eine Vanillebombe platzen lassen«, murmelte Ryan und zog die Nase kraus. »Hat irgendwie was.«

»Ja, oder?« Ich betrachtete das Foyer, in dessen Ecken sich vertrocknetes Laub gesammelt hatte, das dort sicher schon ewig liegen musste. Im Eingangsbereich ließ ich die dunkle Vertäfelung an den Wänden und an der Decke auf mich wirken. Rechts von mir befand sich ein großer Raum und unter der geschwungenen Treppe stand ein alter Empfangstresen. Es war ein dunkles, schweres und vermutlich handgefertigtes Möbelstück, das beinahe zu klein für einen Empfang wirkte. Dennoch verströmte es Erhabenheit. Daneben war ein offener Kamin in die Wand gemauert worden, in dem sich allerlei Müll angesammelt hatte.

Mir kam das Bild von gemütlichen Sesseln in den Sinn. Ich runzelte die Stirn und versuchte mir vorzustellen, wie man diesen Eingangsbereich gestalten könnte.

»Was meinst du?«, hörte ich Ryan links von mir fragen.

Ich drehte mich um und entdeckte ihn und Derek am Fuße der Treppe. Ryan wirkte in seinem schwarzen Anzug und seinen dunkelbraunen Lackschuhen völlig fehl am Platz, während Derek in seiner dunklen Jeans, den hellen Sneakers und der schwarzen Steppjacke aussah, als hätte er von Anfang an vorgehabt hierherzukommen. Aber sein Kleidungsstil war schon immer eher sportlich und schlicht gewesen.

Derek inspizierte gerade das Treppengeländer. Mir fiel ein, dass Betty mal erwähnt hatte, dass er jetzt etwas mit Holz machte.

Amber trat zu ihnen. »Das würde mich auch interessieren. Also hübsch ist es ja irgendwie.«

»Auf den ersten Blick sieht es gut aus.« Derek richtete sich auf und schaute sich gedankenverloren um. »Ich werde gleich mal Sam anrufen. Vielleicht könnte er sich das Gebäude einmal ansehen und uns sagen, was wir so investieren müssten.«

»Sehr gute Idee! Wer eine Baufirma hat, hat sicher auch Ahnung von alten Gebäuden!« Ryan klopfte Derek auf die Schulter. »Mach das und informier uns später. Ruf meine Assistentin an. Sie kann uns einen Telefontermin vereinbaren. Vielleicht auch ein Abendessen. Dann können wir uns entscheiden.« Er gestikulierte mit seinem Smartphone in der Hand herum. »Die Hütte macht bisher gar keinen schlechten Eindruck auf mich. Aber ich muss jetzt auch los. Bis später.«

»Warte, du musst mich mitnehmen«, rief Amber aufgebracht, als er schon mit großen Schritten in Richtung Ausgang lief. »Melde dich bei mir, Derek! Bis dann, Hazel.«

Ihre Stimme hallte noch in dem leeren Eingangsbereich, bevor auch sie nach draußen verschwand.

Mit erhobenen Augenbrauen sah ich ihr hinterher. »Ist sie immer noch ständig gestresst?«

»Das wüsstest du, wenn du dich gemeldet hättest«, erwiderte Derek trocken.

»Telefone sind keine Einbahnstraße. Das weißt du schon, oder?«

Doch statt mir zu antworten, drehte Derek sich einfach mit dem Handy am Ohr weg. »Hey, Sam. Hast du zufällig gerade Zeit für ein kleines Gutachten? Ja – ein Gebäude am Stadtrand. Super. Danke! Ich schicke dir gleich die Adresse. Ja, den Rest erkläre ich dir später.«

Das bedeutete, dass er vorhatte, eine Weile zu bleiben.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Ganz offensichtlich verlängerte sich meine Anwesenheit hier, wenn zuerst noch geprüft werden musste, ob unser Erbe etwas taugte. Was hatte Betty sich dabei nur gedacht? Wir vier waren keine Familie mehr. Nicht so wie früher. Wie kam sie auf die Idee, dieses Hotel könnte etwas daran ändern?

Ich stieg über die Treppe ins nächste Stockwerk. Dabei zog ich mein Handy heraus und schaute aus der großen Fensterfront im nächsten Stock, von der aus man auf den hinteren Garten blickte. Unter mir lag das zerbrochene Glasdach des Wintergartens. Es war völlig zerstört und dennoch war es nicht schwer, mir vorzustellen, wie schön es sein musste, sich dort hinzusetzen und auf den kleinen See hinauszublicken.

Das Hotelzimmer um eine Nacht zu verlängern war glücklicherweise kein Problem. Das Zugticket konnte ich gegen eine Gebühr umbuchen.

Nun musste ich nur noch abwarten, was das Gutachten ergeben würde. Jedoch hatte ich bisher keine Zeit gehabt, alles zu überdenken. Das Erbe anzunehmen und dieses Projekt mit den anderen gemeinsam zu starten, würde bedeuten, dass ich wieder nach Eastwood zurückkehren musste. Zumindest zeitweise. Keine Ahnung, ob ich dafür schon bereit war.

3Hazel

»Ich habe deine vor Lebensfreude sprühende Laune wirklich vermisst.«

Ich legte auf und ging weiter durch das alte Gebäude. Die Räume waren entrümpelt worden und voller Staub. Die Bäder, die zu den einzelnen Zimmern gehörten, mussten allesamt renoviert werden – daran war nichts Charmantes mehr. Nicht an den vergilbten Fliesen und schon gar nicht an den altrosa Schüsseln.

Zugleich war jeder Raum besonders, mit einem Erker, einem ausgefallenen Schnitt oder einem kleinen Balkon.

Eisiger Wind pfiff durch das alte Herrenhaus und zeugte von der Arbeit, die vor uns liegen würde. Ich zog meinen dicken Schal noch etwas fester um den Hals und erklomm die Treppe zum obersten Stockwerk.

Hier gab es nur zwei Zimmer, deren spitz zulaufende Decken sicher vier Meter hoch waren und von dunklen Holzbalken getragen wurden. Gleichzeitig entdeckte ich einige feuchte Flecken an der Decke, wo vermutlich das Dach undicht war. Hinter der großen Fensterfront befand sich ein endloses Meer aus Wäldern, in dessen Rücken sich die Berge Vermonts dem Himmel entgegenstreckten.

Ehrfürchtig ging ich zu dem großen Fenster und wollte auf den Balkon hinaustreten. Ich drehte den Fenstergriff und zog. Nichts passierte.

»Muss wohl geölt werden«, murmelte ich und zerrte etwas fester daran.

Plötzlich ertönte ein Knacken. Dann ein Reißen. Im nächsten Moment kam mir die gesamte zwei Meter breite Fensterfront entgegen.

Ich sog scharf die Luft ein und sprang zurück. Die aufgerissene Kante des Rahmens erwischte mich dennoch am Ellenbogen und ich schrie laut vor Schreck und Schmerz.

Mit einem dumpfen Knall krachte das Fenster auf dem Boden vor mir auf und schlug tiefe Dellen in den Holzboden, worauf Staub lawinenartig durch den Raum gewirbelt wurde.

Ich hustete keuchend und drückte meinen pochenden Arm an den Körper, während ich hektisch atmend auf das Loch in der Wand starrte.

»Hazel!« Dereks nahezu panischer Ruf ließ mich zusammenzucken. Gleichzeitig hörte ich, wie er losrannte und seine polternden Schritte im Haus widerhallten.

»Hier oben. Alles gut«, rief ich nach unten und wagte nicht, meinen Ellenbogen anzusehen, der sich mittlerweile unnatürlich heiß anfühlte und immer noch pochte.

Derek kam in den Raum gestürzt und sah aus, als würde er jemandem den Hals umdrehen wollen.

Ich deutete auf die Fensterfront, die zu meinen Füßen lag, und dann auf das Loch in der Wand, hinter dem ich auf den Wald blicken konnte. Kühler Wind wehte hinein und ließ mich frösteln.

»Ich wollte das Fenster aufmachen«, brachte ich heraus und hasste es, dass meine Stimme zitterte.

Derek starrte mich an, als wäre ich völlig wahnsinnig geworden. Sein Mund öffnete sich und er knurrte unwillig, als er meinen Ellenbogen sah. »Du bist verletzt.«

»Ist es schlimm?«, fragte ich und zog die Nase kraus.

Er hob seine Augenbrauen und in seinen Augen erkannte ich die Frage, ob ich das wirklich ernst meinte. »Sieht nicht so aus, aber wir gehen besser zum Arzt. Komm.« Er drehte sich um und zog im selben Moment sein Handy heraus.

Ich warf einen letzten Blick auf die Zerstörung. Dann folgte ich ihm und hörte zu, wie er seinen Kumpel Sam anrief und ihm erklärte, was passiert war. Er deponierte den Schlüssel für das Hotel in einer Ecke auf der Veranda unter einen Stapel Holz und sagte ihm, wo er versteckt war.

Dann legte er auf und bedeutete mir, in seinen Wagen zu steigen.

Während ich einstieg, ließ der Schock langsam nach, aber mein Ellenbogen brannte immer schlimmer.

Derek setzte sich hinters Steuer und fuhr ruckartig los, wobei er das Lenkrad umklammerte, als würde er es gleich zerquetschen. Sein Kiefer war angespannt und ich meinte, auf seiner Schläfe eine Ader pochen zu sehen.

»Sag mal, bist du sauer? Das Fenster wird sicher nicht –«

»Denkst du, ich bin wegen dem Fenster sauer?«, fuhr er mich an, ohne seinen Blick von der Straße zu nehmen. »Was ist los mit dir? Wir sind in einem verdammt alten Gebäude gewesen. Da macht man nicht einfach die Fenster auf und lässt sich beinahe davon erschlagen!«

»Du brauchst mich gar nicht so anzufahren«, blaffte ich zurück. »Woher hätte ich das denn wissen sollen?«

»Gesunder Menschenverstand?«, fragte er langsam.

»Wow!«, stieß ich aus und starrte ihn fassungslos an. »Du denkst wohl, ich wäre ein Volltrottel, was?«

»Was soll man schon anderes von einem New Yorker Mädchen erwarten?«

»Wie bitte? Was soll denn der Unsinn? Kann ich dich jetzt als Hinterwäldler bezeichnen? Ist das wirklich der Weg, den diese hirnrissige Unterhaltung nehmen soll?«

Derek schnaubte, schwieg aber und ignorierte mich. Etwas, das ich schon immer gehasst hatte.

Meine Hände zitterten vor plötzlicher Wut und mir wurde der Hals eng. »Rede gefälligst mit mir!«

»Vergiss es«, meinte er auf einmal und lockerte den Griff seiner Finger um das Lenkrad.

»Nein! Lass raus, was du zu sagen hast!«

»Es tut mir leid«, platzte er heraus und nahm mir damit völlig den Wind aus den Segeln.

»Was?«

»Das war unfair von mir. Ich habe mich erschrocken und deshalb wie ein Arsch verhalten.«

»Stimmt.« Ich sackte in mich zusammen und blinzelte ein paarmal zu oft, während ich nach draußen blickte. Mit einem Mal war ich müde und der Schmerz schien immer intensiver zu werden.

»Mehr hast du dazu nicht zu sagen?« Er stieß ein schnaubendes Lachen aus und wurde langsamer, als er mich zu dem einzigen Hausarzt von Eastwood brachte – Dr. Dexter. Er wartete draußen, während ich reinging und eine nette Arzthelferin meine Wunde reinigte und ein riesiges Pflaster draufklebte. Es war nur eine Schürfwunde, die schon bald verheilen würde.

Als ich wieder in das Auto stieg, sagte Derek: »Sam hat das Gutachten beendet.«

»Was will er dafür?« Ich erinnerte mich noch vage an Sam und daran, dass ich ihn früher mal ganz süß fand – falls wir überhaupt von demselben Kerl redeten.

»Ein Essen. Wir könnten alle zusammen essen und er sagt uns, was mit dem Haus ist.«

»Klar.« Ich antwortete, obwohl er schon wieder sein Handy am Ohr hatte und mir gar nicht zuhörte. Er hatte nicht einmal gefragt, wie ich mich fühlte. Aber vermutlich war ihm bewusst, dass es nur eine Schürfwunde war.

»Hey, das Gutachten ist abgeschlossen. Nein, ich weiß nicht, was dabei rumgekommen ist. Organisierst du einen Tisch oder so was? Sam wird uns beim Essen sagen, was mit dem Haus ist. Ich muss was erledigen.« Er wartete kurz auf die Antwort und tippte ungeduldig auf dem Lenkrad herum. Den Schlüssel hielt er noch immer in der Hand. »Danke, Amber. Bis später.«

Was erledigen. Damit meinte er vermutlich mich. Wie nett.

Als er aufgelegt hatte und den Motor startete, zog ich einen Zettel aus der Handtasche und notierte darauf meine Nummer. »Du kannst mir die Adresse und die Uhrzeit einfach schicken.«

Er nickte und nahm den Zettel von mir an, nur um ihn in seine Hosentasche zu stopfen. »Wo bist du untergebracht?«

»Im Rosas Hotel.«

Derek brummte lediglich zustimmend und drehte dann das Radio lauter. Scheinbar war unsere Unterhaltung damit beendet.

Dankbar, dass wir dieses Erzwungene zwischen uns endlich pausieren lassen konnten, lehnte ich mich zurück und schaute aus dem Fenster. Die Schmerztabletten, die ich beim Arzt genommen hatte, ließen meinen Magen gluckern und im nächsten Moment knurrte er wütend vor Hunger. Das Geräusch war so laut, dass Derek es sicher gehört hatte, aber nichts sagte.

Er brachte mich bis vor mein Hotel, wo wir uns knapp voneinander verabschiedeten. Ohne mich noch einmal nach ihm umzudrehen, ging ich hinein.

Nicht, dass er gewartet hätte.

Er fuhr quasi in dem Moment los, als ich mit beiden Füßen die Straße berührt hatte.

Noch während ich mir aus einem Automaten in der Lobby eine Tüte mit Nüssen kaufte, war ich mir ganz und gar nicht sicher, ob ich wirklich hierbleiben wollte.

Ich atmete tief durch und ging auf mein Zimmer.

Das würde ich später entscheiden, wenn feststand, ob man aus diesem Gebäude etwas machen konnte.

 

 

Ich war noch nie gut darin gewesen, Freundschaften zu pflegen oder gar zu halten. Das hatte ich schon vorher gewusst, doch richtig klar wurde mir es erst jetzt, nachdem ich ein paar Stunden alleine in einem Hotelzimmer gesessen hatte und die ganze Zeit mit mir haderte, wen ich anschreiben konnte. In mir brannte das Verlangen, mich mit irgendwem über die letzten Stunden auszutauschen.

Doch es gab niemanden. Da waren ein paar Kollegen aus meiner Bar oder Leute aus dem Fitnessstudio, in dem ich zusätzlich jobbte. Ich hatte mich schon öfter mit ihnen getroffen, gefeiert und zusammengesessen, aber dennoch würde ich sie nicht als Freunde bezeichnen. Ein trauriger Gedanke. Ich hatte all die Jahre nur gearbeitet und versucht, mich über Wasser zu halten. Dabei wurde mir erst jetzt klar, wie einsam ich eigentlich war.

Derek hatte mir vorhin die Adresse für das Essen mit Sam geschickt und ich hatte sofort erkannt, dass es sich um das Haus handelte, in dem ich die längste Zeit meines Lebens verbracht hatte.

Nun war ich auf dem Weg genau dorthin und ließ mich von lauter Musik beschallen, die aus meinen Kopfhörern drang, um all die aufwallenden Gefühle zu unterdrücken.

Mit achtzehn Jahren hatte ich Eastwood verlassen, diese Stadt mit wunderschönen kleinen Läden und einladenden Bänken am Straßenrand, auf denen stets jemand saß und tratschte.

Nun lief ich durch das Zentrum der Stadt, an die ein Park grenzte und auf dessen Spielplatz noch ein paar Kinder tobten, deren Eltern sich lachend unterhielten. Der Kirchplatz bildete den Mittelpunkt der Innenstadt. Gegenüber drängten sich nette Boutiquen aneinander und luden zum Bummeln ein.

Wäre alles anders gekommen, hätte ich es vielleicht geliebt, hier aufzuwachsen. Doch obwohl mich in dieser Pflegefamilie niemand geschlagen hatte, war sie fast schlimmer als die anderen zuvor.

Meine Eltern waren gestorben, als ich noch ein Baby war. Weil sie keine Verwandten hatten, wurde ich in das öffentliche Pflegesystem übergeben. Ich wechselte sechs Mal die Familien, bis ich schließlich mit fünf Jahren in Eastwood landete. An alle Familien zuvor hatte ich nur verschwommene Erinnerungen. Als neugieriger Teenager hatte ich damals Recherchen angestellt, die jedoch ergaben, dass ich offenbar wegen Drogen, Gewalt, einer Scheidung oder einem Kind, das bald auf die Welt kommen sollte, weitergereicht wurde.

Hier in Eastwood blieb ich aber und es lief die ersten Jahre auch wirklich gut. Amber und Ryan waren meine besten Freunde geworden und Jack, unser Pflegevater, behandelte mich und die anderen wie seine eigenen Kinder.

Doch dann starb er und ließ uns mit Lauren zurück. Seine Frau hatte sich nie sonderlich für uns interessiert, und als sie plötzlich die Verantwortung für uns trug, zeigte sich ihr wahres Gesicht.

Amber und Ryan konnten gut mit ihr umgehen, doch ich wollte nicht von ihr geformt werden oder mich gar brechen lassen. Ich kämpfte gegen jede ungerechte Behandlung an, bot ihr die Stirn und zog so all ihre Wut auf mich.

Meine Kehle wurde eng, als ich an die kommenden Jahre dachte. An Laurens Wut auf mich, weil ich für sie nur ein Störenfried war, der die Familienidylle ruinierte, die sie all unseren Nachbarn so gerne vorgaukelte.

Irgendwann, als ihr das Geld ausging, nahm sie Derek aus dem Pflegesystem bei uns auf. Er war schon fast volljährig, was ihr in die Karten spielte, da sie keine kleinen Kinder mehr großziehen wollte.

Betty hatte sich nicht sehr für uns interessiert, aber weil es zu Hause kaum auszuhalten war, stand ich ständig vor ihrer Tür, wie eine streunende Katze. Ihre raue, jedoch stets ehrliche Art hatte mich damals eingeschüchtert und mir zugleich imponiert.

Ich lächelte bei dem Gedanken daran, wie sie immer gespielt ihre Augen verdreht hatte, wenn ich mal wieder aufgetaucht war. Und mein Lächeln vertiefte sich, als ich an den Moment dachte, als sie begann, sich über meine Anwesenheit zu freuen – auch wenn sie dies natürlich lange nicht zugegeben hatte.

Es schnürte mir die Kehle zu und ich blieb vor einer Bäckerei mit duftenden Backwaren in der Fensterfront stehen. Ich hatte noch genau vierzig Dollar in der Tasche.

Geld, das ich nicht für einen Kaffee ausgeben konnte. Niemals hätte ich gedacht, länger in Eastwood bleiben zu müssen und deshalb wichtige Schichten meines Barjobs zu verpassen.

Also schluckte ich das plötzliche Verlangen hinunter und lief weiter.

Die Laternen sprangen an und die ersten Läden schlossen bereits. Menschen schlenderten entspannt durch die Stadt und genossen den anbrechenden Abend.

Ich stopfte die Hände in meine Jackentasche und versuchte, nicht an die verdammte Verliebtheit in Derek zu denken, die mit den Jahren immer mehr gewachsen war.

Er hatte sie nie erwidert. Das glaubte ich zumindest – bis er mich an meinem achtzehnten Geburtstag küsste. Wir waren völlig betrunken gewesen, weil ich einen Bekannten dazu hatte überreden können, mir Bier zu besorgen.

Er hatte mich in eine Nische des Partykellers gezogen, geküsst und gesagt, dass er mich mag. Etwas, das mein dummes, kleines Mädchenherz sich damals in tausend Varianten bereits erträumt hatte und dennoch völlig überwältigt war, als es eintraf.

Mein flüsterndes Geständnis, dass ich die Stadt in der nächsten Nacht verlassen würde, klang mir noch in den Ohren. Damals hoffte und bangte ich, dass er mich begleiten würde.

Doch stattdessen verließ ich diese Kleinstadt vierundzwanzig Stunden später mit einem gebrochenen Herzen.

Derek war nicht aufgetaucht.

Er hatte sich nicht einmal von mir verabschiedet.

Ich befeuchtete meine Lippen und wich ein paar lachenden Teenagern aus, die den Gehweg blockierten. Dabei blinzelte ich die Erinnerungen an den Schmerz weg, der mich noch wochenlang begleitet hatte. Auch wenn ich natürlich wusste, dass es bescheuert war. Immerhin hätte ich nicht erwarten können, dass Derek mir nach nur einem Kuss in die Großstadt folgte. Dennoch verband ich seine Zurückweisung mit all den Steinen, die mir danach im Weg gelegen hatten.

New York verschlang mich noch in der Nacht, in der ich dort ankam.

Bei dem Gedanken an die darauffolgenden Monate wurde mir ganz kalt und ich vergrub die Fäuste tiefer in den Jackentaschen.

Die ersten Wohnhäuser säumten meinen Weg, als ich die Innenstadt verließ. Weiß gestrichene Gartenzäune umrahmten einen gepflegten Vorgarten, hinter dem hübsche viktorianische Häuser standen.

Ich liebte diese romantischen Veranden mit ihren hängenden Hollywoodschaukeln und die verspielten Erker und Vorsprünge, an denen man sich gut herunterhangeln konnte. Bei der Erinnerung daran lächelte ich.

Ich näherte mich dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, und mir wurde klar, dass ich vielleicht mit meiner Pflegefamilie abschließen musste, bevor ich endlich neu beginnen konnte.

In der Zeit in New York war es mir vorgekommen, als hätte ich die Pausetaste gedrückt und als würde mein Leben niemals weitergehen. Aber wenn ich darüber nachdachte, wie viele alte Gefühle allein durch Dereks Anwesenheit in mir ausgelöst wurden, erkannte ich, dass ich noch nicht mit meiner Vergangenheit fertig war.

Ich brummte nachdenklich und blieb vor einem der niedrigen Gartenzäune stehen.

Dahinter stand ein weiß gestrichenes Haus mit Sprossenfenstern und warmem Licht, das auf den Garten fiel. Dort sah ich bereits Amber, die sich gerade mit ihrem Freund unterhielt.

Möglicherweise musste ich all die unausgesprochenen Dinge klären, die noch in mir brodelten, um mich voll und ganz von dieser Familie lösen zu können.

Ich hörte, wie sich ein Auto näherte, und drehte mich zur Straße. Direkt hinter mir hielt ein schwarzer Jaguar und der Motor röhrte noch einmal, bevor er erstarb.

Meine Augenbrauen hoben sich, als ich sah, wie Ryan ausstieg. »Schwesterchen!«

»Da hat aber jemand gute Laune.«

»Die Familie ist vereint.« Er blieb grinsend vor mir stehen. »Das ist ein Grund zum Feiern.«

»Seit wann bist du ein Familienmensch?«

Sein Mundwinkel zuckte. »Ich habe deine vor Lebensfreude sprühende Laune wirklich vermisst. Du hättest dich ruhig mal melden können. Zu Weihnachten oder so.«

»Gehen jetzt die Vorwürfe los? Ist ja nicht so, als hätte ich meine Nummer gelöscht.«

»Touché.« Sein Grinsen fiel in sich zusammen und er blickte ernst an mir vorbei zum Haus. »Ich denke, jeder hat so seine Päckchen mitgenommen.«

»Und eure waren so schwer, dass ihr nicht gehen wolltet?« Nun klang ich vorwurfsvoll, denn einen Teil von mir machte es wütend, dass sie hier so weitergemacht hatten, als wäre nichts passiert.

»Ich habe meine Firma aufgebaut und Amber – du kennst sie doch. Sie hat sich einen Typen geangelt und macht jetzt einen auf Vorstadtlady.« Er schnaubte. »Und Derek hat seine Arbeit auch hier. Weißt du, es wurde leichter, als Lauren mit ihrem Neuen die Stadt verlassen hat.«

»Betty hat mir davon erzählt. Ich kann nicht fassen, dass sie nicht einmal zur Beerdigung ihrer eigenen Mutter gekommen ist.«

»Sie war einfach schon immer ein beschissener Mensch.«

Ich stieß ein zustimmendes Brummen aus und sah die Straße hinunter, als ein Paar gelber Lichter aufblitzte.

»Pünktlich auf die Minute.« Ryan sah auf seine teure Armani-Uhr und schaute mit mir zu, wie Derek den roten Pick-up hinter seinem Jaguar parkte.

Derek stieg aus dem Wagen und mit ihm ein blonder Kerl, der viel größer war als in meinen Erinnerungen. Er begrüßte Ryan lachend und erstarrte, als er an ihm vorbei zu mir sah.

»Hazel!« Sein Mund dehnte sich zu einem Grinsen, und bevor ich reagieren konnte, zog er mich in eine feste Umarmung. »Du bist noch genauso hübsch wie damals!« Er ließ von mir ab und grinste zu mir herunter, denn er war fast anderthalb Köpfe größer als ich. Dann drehte er sich mit einem vorwurfsvollen Blick zu Derek um. »Wieso sagst du mir nicht, dass Hazel wieder da ist?«

»Wozu denn?« Er warf mir einen genervten Blick zu. »Ist ja nicht so, als hätte sie vor, lange zu bleiben.«

»Deine Stimmung ist mal wieder der Hammer.« Ich löste mich aus Sams Umarmung und verdrehte die Augen. Dabei nahm ich eine Bewegung aus dem Haus wahr. »Wir sollten reingehen. Amber sieht aus, als fände sie unsere Outdoor-Party nicht so gut.«

Wie aufs Stichwort gab Amber ihren Platz am Fenster auf und ging zur Haustür, um sie weit zu öffnen. »Wenn ihr wollt, kann ich das Essen auch rausbringen.« Sie versuchte es als Scherz zu verpacken, aber ihre Stimme klang dafür zu spitz.

»Der Stock in ihrem Arsch scheint in meiner Abwesenheit ja noch länger geworden zu sein.« Ich sprach leise, doch Ryan hörte es trotzdem.

Er stieß ein bellendes Lachen aus und schob mich in Richtung Haus, bevor er flüsterte: »Das liegt an ihrem Freund. Ein richtiger Schnösel. Aber er behandelt sie gut, also ist er wohl okay.«

»Er scheint zu ihr zu passen.« Das war mein erster Gedanke, als ich ihn auf der Beerdigung gesehen hatte. Er trug einen teuren Anzug und schien genauso steif zu sein wie Amber. Das perfekte Pärchen.