Stillschweigen - Katrin Pichler - E-Book

Stillschweigen E-Book

Katrin Pichler

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Beschreibung

Caroline versucht sich nach ihrem schweren Unfall zurück ins Leben zu kämpfen. Die Amnesie die sie dadurch erlitten hat, macht ihre Reise nicht gerade einfacher und auch nicht nachvollziehbarer. Mit Tante Emma, ihrem geliebten Ehemann Samuel und Sohn Benjamin an ihrer Seite, versucht sie all das, was geschehen war, zu rekonstruieren. Was sie dabei entdeckt, lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren. Was ist damals passiert? Dass sie sich selbst in Gefahr begibt nur um das zu finden was sie war, weiß sie noch nicht. »Wovor hast du Angst, wenn es draußen dunkel wird?«

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Seitenzahl: 237

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Katrin Pichler, geboren 1997 in Italien, ist gelernte Verkäuferin. Nach drei Jahren Berufserfahrung im Verkauf entschied sie sich, in eine neue Welt einzutauchen und eine Lehre zur Maschinenbauschlosserin zu starten, die sie auch im Jahr 2022 erfolgreich abgeschlossen hat. Seit sie 18 Jahre alt ist, engagiert sie sich freiwillig beim Weißen Kreuz und steht den Bürgerinnen und Bürgern dabei jederzeit zur Hilfe.

Inhaltsverzeichnis

EINS

DIENSTAG MORGEN

#I

ZWEI

DIENSTAG VORMITTAG

# II

DREI

DIENSTAG MITTAG

#III

VIER

DIENSTAG ABEND

DIENSTAG NACHT

#IV

FÜNF

MITTWOCH MORGEN

#V

SECHS

MITTWOCH MORGEN

#VI

SIEBEN

MITTWOCH MITTAG

MITTWOCH NACHMITTAG

#VII

ACHT

MITTWOCH NACHT

#VIII

NEUN

DONNERSTAG MORGEN

#IX

ZEHN

DONNERSTAG VORMITTAG

#X

ELF

SPÄTER DONNERSTAGVOR - MITTAG

#XI

ZWÖLF

DONNERSTAG NACHMITTAG

DONNERSTAG ABEND

#XII

DREIZEHN

DONNERSTAG NACHT

22:03 U H R

VIERZEHN

FREITAG MORGEN

FÜNFZEHN

FREITAG VORMITTAG

#XIII

SECHZEHN

FREITAGNACH MITTAG

#XIV

SIEBZEHN

FREITAG ABEND

#XV

ACHTZEHN

21:35 UHR

#XVI

NEUNZEHN

23:46 UHR

ZWANZIG

00:24 UHR

EINUNDZWANZIG

16:45 UHR

EINS

DIENSTAG MORGEN

Die kalte Luft durchströmt meine warme Lunge. Dabei schließe ich meine Augen und lasse meinen Kopf nach hinten in meinen Nacken fallen. Alles, was ich jemals wollte, war, dass alles wieder so wird wie damals.

Ich höre einen Vogel zwitschern. Er redet mit jemandem und bleibt dabei hörbar immer auf demselben Ast sitzen. Ein zweiter antwortet ihm und beide kommunizieren vermutlich miteinander. Was sie wohl zu bereden haben? Gespräche über das Wetter oder lästern sie etwa über mich?

Gänsehaut läuft mir über meinen Rücken. Eine Haarsträhne, die im Wind dahinflattert, kitzelt mich im Nacken. Ich versuche, die Bank mit meinen Handflächen buchstäblich zu erdrücken, um das Holz unter meiner Haut zu spüren.

Es ist schon alt und rau, das kann ich fühlen. Daran könnte ich mir leicht einen Schiefer einfangen und mich verletzen.

Ich öffne meine Augen und starre kopfüber auf den Baum, der sich hinter mir befindet. In der Mitte hat er ein Loch. Vermutlich wohnen darin Eichhörnchen oder es lebt dort gar ein Specht. Der Baum ist alt. Er muss mindestens schon 100 Jahre alt sein. Das erkenne ich an seiner dunklen, aber rustikalen Rinde, die sich an einigen Stellen am Stamm löst. Darin ist ein Herz eingeritzt worden. Die Anfangsbuchstaben eines Paares sollen diesen Baum schmücken.

Eine Autohupe, die hörbar aus der Stadt kommt, rüttelt mich aus meiner Trance. Ich schrecke auf und blicke den Hügel nach unten. Alles dreht sich, weil ich mich vermutlich zu schnell nach vorne gebückt habe.

Ist ein Unfall passiert oder ist einfach nur ein Fußgänger über eine rote Ampel gegangen? Ich weiß es nicht und ich kann von hier aus nichts erkennen.

Die Sonne scheint mir ins Gesicht und wärmt meine Arme, die nicht bekleidet sind. Die Härchen auf meinem Arm stellen sich auf. Mein Top flattert im Wind, der immer stärker wird. Die Vögel hinter mir haben aufgehört zu singen.

Ich sollte nach Hause gehen und mir etwas Wärmeres anziehen. Der Herbst ist einfach nicht die richtige Jahreszeit, um nur mit einem Top bekleidet aus dem Haus zu gehen, auch wenn das Wetter anfangs nach Sommer ausgesehen hat.

Mein rechter Fuß ist mittlerweile eingeschlafen und kribbelt bis hoch an meine Leiste. Ich versuche ihn wachzurütteln und klopfe mit meiner rechten Hand darauf, um die Durchblutung anzuregen. Ob es etwas bringt, bezweifle ich, aber ich versuche es trotzdem.

Ich blicke in den bunten Wald, aus dem ich gekommen bin und atme tief ein. Erinnerungen an früher habe ich nicht mehr und vielleicht will ich mich auch gar nicht daran erinnern. Das, was geschehen ist, und das, was ich dabei gefühlt haben muss, sollte ich vergessen und nach vorne blicken.

»Komm, mein Schatz, lass uns nach Hause gehen!«, schreie ich nach hinten.

Benjamin ist mein neun Jahre alter Sohn und anders. Er sieht die Dinge so, wie sie sind, und hat schon in frühen Jahren mitbekommen, dass das Leben nicht einfach ist.

»Was hast du da in der Hand, mein Schatz?«, frage ich ihn verwundert.

Es sieht so aus, als hätte er sich aus zwei Hölzern ein kleines Kreuz gebastelt und es mit Grashalmen fixiert.

»Mami, das habe ich für dich gebastelt. Es soll dich vor Bösem schützen.«

Ich nehme das Kreuz an mich und kauere mich zu ihm nach unten. Was will er mir damit sagen? Was weiß er, was ich nicht weiß? Kinder haben einfach eine blühende Fantasie. Meines besonders.

»Vielen Dank, mein Schatz«, sage ich zu ihm und streiche dabei sein schwarzes, etwas längeres Haar nach hinten.

Ich sehe mir das Kreuz genauer an und kann kleine Zeichen darin erkennen. Es ist ein Gemisch aus Zahlen und Buchstaben. Was diese Zeichen wohl bedeuten? Wie konnte er sie so präzise ins Holz schnitzen? An allen vier Enden des Kreuzes hat er weitere, kleinere Kreuze eingeritzt und diese umrandet.

Eine Wolke zieht über die Sonne und es wird dunkel. Ich blicke über seine Schultern hinweg und fixiere den Wald, der tief und düster aussieht. Die ersten zwei Baumreihen kann ich erkennen und dahinter ist es nur schwarz. Kiefern und Tannen, die sich aneinanderreihen, bilden die dunkle Waldgrenze.

»Mami, ich will gehen. Die Frau kommt«, sagt er mit einer leicht panischen Stimme.

»Welche Frau, mein Schatz? Da ist niemand.« Unsicher nehme ich Bens Hand und zerre ihn von der Wiese runter.

Der Weg ist mit Kieselsteinen übersät. Viele bunte, kleine und große, die uns den Weg nach Hause zeigen. Unser Heim, in das wir kurz vor meinem Unfall gezogen sind, befindet sich inmitten des Waldes. Abgelegen von der Zivilisation und abgelegen von alten Erinnerungen.

Samuel, mein Mann, hat sich dieses Haus gekauft, bevor ich im Herbst vergangenen Jahres einen Unfall hatte. Er soll schlimm und fürchterlich gewesen sein. Ich kann mich daran nicht mehr erinnern und das ist vielleicht auch besser so.

Der Arzt hat gesagt, dass es womöglich für immer so sein wird, dass ich mich niemals an alles erinnern werde, was passiert ist. Es ist alles wie ausradiert in meinem Kopf. Leer – so als würde etwas fehlen und ich weiß nicht was.

»Aua, Ben, du tust mir weh.«

Ein Druck in meiner rechten Handfläche macht sich bemerkbar. Ich blicke ihn an und er ignoriert mich. Er starrt auf den Kieselweg vor uns und beachtet mich gar nicht. Ruckartig drehe ich mich in die Richtung, in die er sieht.

Da ist niemand. Der Kieselweg, auf dem wir stehen, ist leer.

»Was hast du da gesehen, mein Schatz?«

Ich wende meinen Blick von der Straße ab und beobachte ihn. Er starrt immer noch nach vorne, ohne eine Andeutung, dass er dies ändern wird. Er fängt an zu zittern und Schweißperlen machen sich auf seiner Stirn bemerkbar. Ich knie mich hin und streichle seine Wange. Sie ist kalt und ganz nass.

»Schatz, fühlst du dich krank? Du hast doch Fieber.«

Geschockt nehme ich mein kleines Kind auf den Arm und gehe den Weg entlang nach Hause.

»Ben, wie fühlst du dich?« Abermals versuche ich den Kontakt zu meinem Jungen herzustellen. Vergeblich.

Meine Schritte werden immer schwerer und der Himmel hat sich mittlerweile ganz grau gefärbt. Meine Arme fühlen sich an, als wären sie von einem Lastwagen überrollt worden, und die eiskalte Luft brennt meine Lunge hinunter.

Die Hütte, die sich am Wegesrand befindet, kommt mir bekannt vor. Ich denke, ich habe sie schon einmal gesehen. Sie ist wie der Baum. Alt. Die Bretter sind durch den Regen und den Schnee ziemlich morsch und heruntergekommen. Dass diese Bretter noch das Dach mit den alten Ziegelsteinen halten, wundert mich. Vielleicht ist dennoch nicht alles, was unmöglich erscheint, unmöglich.

Auf der anderen Seite erstreckt sich eine alte Buche inmitten der Tannen hervor. Ihre weiße Rinde sticht durch das ganze Braun und die Blätter sind so schön bunt inmitten des Grüns.

Ich kann unser Haus schon von der Ferne erkennen. Es ragt durch die Baumkronen hindurch und ist noch ziemlich weit entfernt. Jedenfalls fühlt sich der Weg dorthin für mich heute wie eine Ewigkeit an.

»Mami, die Frau kommt immer näher« Ben hört sich sehr besorgt an.

Ich drehe mich nach hinten um und starre auf die zurückgelegte Strecke.

»Mami, siehst du sie denn nicht? Sie wird uns beide holen kommen, wenn du nicht schneller bist als sie.«

»Wo ist die Frau, mein Schatz? Siehst du sie?«, frage ich ihn besorgt.

Er gibt mir keine Antwort mehr. Es scheint, als würde es ihm zunehmend schlechter gehen.

···

Ich suche meinen Schlüssel in meiner Hosentasche und kann ihn auf Anhieb nicht finden. Nervös suche ich nochmals die linke Hosentasche ab und fühle die kleine, gezackte Metallplatte darin.

Zitternd und voller Angst um meinen Sohn öffne ich die schwere, knarrende Tür nach innen und betrete das viel zu große Haus.

Ohne die Schuhe auszuziehen steige ich auf die erste Stufe der knarrenden Treppe und bewege mich rasch nach oben in den ersten Stock. Ben hat auf dem restlichen Fußmarsch nichts mehr gesagt und das bereitet mir nur noch mehr Sorgen.

Ich lege ihn in sein frisch bezogenes Bett und streiche ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sein Kopf glüht förmlich und seine Hände sind eiskalt. Er zittert am gesamten Körper und er hat die Augen fest verschlossen.

»Ben?«, frage ich niedergeschlagen.

Schlagartig schließt sich das Fenster von seinem Zimmer, das ich vorhin geöffnet habe. Ich zucke zusammen, als ich den lauten Knall höre und Ben reagiert darauf.

»Mami, es ist alles in Ordnung. Wir sind jetzt in Sicherheit.«

In Sicherheit vor was oder wem? Was meint er damit? Was sieht er, was ich nicht sehe?

Er sieht mich mit seinen blauen, markanten Augen an und es scheint, als würde es ihm wieder besser gehen.

Ruckartig schnellt sein Oberkörper in die Höhe und er fokussiert dabei einen Punkt neben mir. Seine Augen füllen sich mit Angst und sein Lächeln verstummt. Angstperlen machen sich auf seiner Stirn bemerkbar und seine Hand zerdrückt meine.

Er wendet den Blick von dem, was er gerade gesehen hat, ab und starrt buchstäblich durch meine Augen. Seine Augen füllen sich mit Tränen und ich sehe ihn nur an. Ich wende meinen Blick von ihm ab und blicke vorsichtig über meine Schulter und starre auf die Wand, auf die er sich vorhin fixiert hat. Wovor hat er Angst? Was hat er gesehen?

»Mami?«

Ich drehe mich zu Ben und sehe eine Träne über sein Gesicht kullern.

»Warum hast du das getan?«, fragt er mich mit zittriger Stimme.

»Warum habe ich was getan, mein Schatz?«, frage ich nach.

Er wendet den Blick abermals von mir ab und sieht runter auf meine Hand. Er dreht sie so, dass er meinen gesamten Handrücken begutachten kann. Es scheint, als würde er darauf etwas suchen. Nur was?

Der Handrücken ist gekennzeichnet von Narben, die damals vom Unfall zurückgeblieben sind. Eine davon erstreckt sich über die gesamte Fläche. Er nimmt seine freie Hand und streicht mit seinem Finger über das vernarbte Gewebe. Dabei wendet er den Blick nicht ab.

»Alles in Ordnung, Ben?«, frage ich ihn ängstlich.

Ruckartig hebt er den Kopf und auf meine Lippen starrend sagt er: »Ja, was soll denn sein, Mami?«

Erstaunt beobachte ich ihn dabei, wie er meine Hand immer noch streichelt. Seltsam, wie schnell er seine Laune wechseln kann. Im ersten Moment bereitet er mir Todesängste und im anderen scheint es so, als wäre nie etwas passiert.

···

Ich nehme Geräusche wahr, die hörbar vom Dachboden kommen. Ein eiskalter Schauer zieht sich so über meinen Rücken hinab, als würde jemand einen Eiswürfel in mein Top fallen lassen. Merkwürdig, denn Ben und ich sind allein zu Hause. Samuel ist bei der Arbeit und kann unmöglich schon zurück sein. Ansonsten hätte ich das Quietschen der Tür sicher wahrgenommen.

Ben sieht mich mit großen Augen an. Die Angst sieht man darin. Er hält meine Hand nun noch fester und ein leichtes Stechen macht sich darin bemerkbar. Er krallt seine Fingernägel in meine Handfläche und zittert leicht.

»Das sind bestimmt nur die Waschbären, mein Schatz«, versuche ich ihn zu beruhigen.

Seitdem Samuel das Haus gekauft hat, haben wir Probleme mit Waschbären, als wären sie mit uns eingezogen. Die Vorbesitzer dieses Grundstückes hatten vorher nie Probleme damit. Jedenfalls hat Samuel mir das versichert.

Ben scheint müde zu sein, denn aus seinen großen Augen wurden jetzt kleine Schlitze. Er ist heute sehr früh munter gewesen. Zudem ist er mit Samuel schon in den Stall gegangen, um die zwei Kühe und fünf Ochsen zu füttern, die sich mein Mann letztes Jahr gekauft hat.

Es hat schon seine Vorteile, inmitten des Nichts zu leben. Niemand stört dich, keine Menschenseele weit und breit. Man kann tun und lassen, was man will, und niemanden interessiert es.

Ab und zu ist es hier aber auch etwas gespenstisch. Nachts, wenn es dunkel wird, kann ich alles wahrnehmen, was draußen passiert. Äste, die gegen das Fenster klopfen, Eulen, die durch die Nacht singen und Züge, die durch die Stadt brettern. Auch wenn die nächste Stadt 15 Kilometer von hier entfernt ist, höre ich die harten Räder des Zuges über die Gleise donnern.

»Schlaf ein bisschen, Ben«, sage ich mit ruhiger Stimme, während ich ihn zudecke.

Er dreht sich von mir weg und nimmt sein Lieblingskuscheltier – einen Fisch – in den Arm, als würde ihn jemand stehlen wollen.

Ben hat gerade keine Schule, denn ihm geht es gerade nicht gut. Er wird dort gehänselt, weil er die Dinge anders wahrnimmt als andere. Ab und zu macht er Geräusche, die den Kindern Angst machen und man hat uns empfohlen, ihn zu einem Therapeuten zu bringen.

Für mich ist Ben ein normales Kind. Mein Kind, das eine blühende Fantasie hat, und mein Kind, das besonders ist. Kaum passt jemand nicht in das Schema dieser Menschheit, ist man komisch, verrückt oder ein Fall für die Klapse.

Vorsichtig schleiche ich mich nach draußen und schließe die Tür hinter mir. Sie ist – wie alles in diesem Haus – alt und voller Risse. Die Böden sind aus Holz und jede einzelne Diele kracht. Mich wundert es immer noch, dass das Haus noch steht. Es fällt unter Naturschutz, wieso oder weshalb weiß ich auch nicht.

Ich spüre, wie eine kleine Brise durch das Haus zieht. Habe ich etwa in meiner Eile vergessen, die Eingangstür zu schließen?

Vorsichtig steige ich Stufe für Stufe die knarrende Treppe nach unten und begutachte dabei die Umgebung, die ich unser Zuhause nennen darf. Die Bilder an den Seiten des Treppenhauses haben wir immer noch nicht entfernt. Seltsam, denn ich finde sie nicht mal schön.

Auf einem der größten Bilder ist das Grundstück abgebildet. Es ist schwarz-weiß und ich könnte mir auch gut vorstellen, dass es eines der ersten Fotos war, das aufgenommen worden ist.

Die Eingangstür steht sperrangelweit offen, obwohl ich immer gewissenhaft darauf achte, dass alles geschlossen ist – außer Ben spielt wieder draußen.

Voller Verwunderung schließe ich die Tür und gehe in die Küche. Sie ist verhältnismäßig recht neu, auch der Boden musste erst vor Kurzem gelegt worden sein. Das Holz glänzt und der Unterschied zu den restlichen Böden ist groß.

Ich gehe zur Kaffeemaschine. Sie ist neu. Samuel hat sie mir letztes Jahr nach meinem Unfall gekauft, als wollte er sich damit für etwas entschuldigen.

Ich hole meine Lieblingstasse aus der obersten Schublade und drücke den Knopf der Kaffeemaschine. An das Zerkleinern der Kaffeebohnen, das automatisch vom Automaten erledigt wird, konnte ich mich jedoch bis heute nicht gewöhnen.

Ich nehme meine Tasse vom silbernen Auffangbehälter runter und begebe mich ins Wohnzimmer. Es ist der größte Raum in diesem unendlichen Gebäude. Alles in diesem Haus scheint unendlich zu sein. Das Treppenhaus, der Flur und das Grundstück. Mich wundert es immer noch, dass ich mich darin noch nie verloren habe.

Ich setze mich auf die Couch und umfasse meine Tasse mit beiden Händen. Langsam erwärmen sie sich dank des heißen Kaffees, der sich in ihr befindet. Es ist kalt geworden und es sieht auch so aus, als würde es jede Sekunde anfangen zu regnen.

Ich starre aus dem Fenster und erwische mich dabei, wie ich in alten Erinnerungen umherirre. Ich weiß nicht mehr viel. Ich kann mich an kaum noch etwas erinnern, das vor meinem Unfall passiert ist. Samuel hat zu mir gesagt, dass mir ungefähr zwei Jahre fehlen würden, aber für mich fühlt es sich so an, als hätte ich mein halbes Leben verloren.

Seitdem arbeite ich nur mehr Teilzeit in einer neuen Arbeitsstelle, weil ich von meinem vorherigen Arbeitgeber entlassen wurde. Ich war Reporterin und mein damaliger Chef meinte, dass ich so nicht mehr arbeiten könne.

Viele denken, dass ich einen Dachschaden habe, das habe ich schon bemerkt. Jedes Mal, wenn ich in die Stadt fahre, sehen die Leute mich an, als hätten sie eine Leiche gesehen. Niemand traut sich mich anzusprechen. Vermutlich haben sie Angst vor mir.

Die ersten Regentropfen prasseln gegen das Fenster. Erst schwach, dann wird der Regen immer stärker. Wie es wohl Samuel geht? Er ist der Ranger hier im Naturschutzgebiet. Vermutlich treibt er gerade die Kühe zusammen oder ein Pferd ist wieder davongaloppiert.

Ich kann den Regen förmlich riechen und die Feuchtigkeit direkt auf meiner Haut spüren. Es wird kälter in unserem Haus und kälter im Wohnzimmer. Ich nehme mir die Decke, die auf der Couch zusammengefaltet liegt, und lege sie mir über die Schulter. Sie ist blau, mit weißen Punkten übersät und ganz weich.

Ich kuschle mich darin ein und beobachte die Regentropfen dabei, wie sie sich den Weg über das Fenster bahnen, wie drei Regentropfen zu zwei werden und wie zwei Regentropfen zu einem werden.

Der Himmel wird hell und sogleich folgt auch ein lauter Knall, der mich zusammenzucken lässt. Ich kauere mich in die Couch und ummantle meine Knöchel mit meinen Armen.

Vermutlich wird der Strom bald wieder ausfallen, wenn der Blitz in einen der Masten einschlägt. Dann herrscht in diesem kleinen Dörfchen Finsternis, die im Schatten der hellen Stadt liegt.

»Mami?«

Ruckartig drehe ich mich nach hinten zur Tür, in der mein Sohn steht. Er hält seine Decke und seinen Fisch fest in der Hand und sieht zum Fenster rüber, durch das ich vorhin geschaut habe.

Abermals ein lauter Knall, der dieses Mal nicht durch den Donner verursacht wurde. Erschrocken starre ich zum Fenster. Doch da war nichts.

#I

Was hast du mir nur angetan? Ich wollte doch nur glücklich sein. Warum konntest du das nicht sehen? Ich hatte noch so viel vor und das hast du mir zerstört.

Es fiel mir so unendlich schwer, dich gehen zu lassen. Weißt du? Ich wollte nicht gehen. Warum hast du das getan? Ich wollte bei dir sein.

Das Wetter spiegelt das wider, was ich fühle. Der Donner steht für den Zorn, den du in mir ausgelöst hast, und der Regen steht für die Trauer, weil du mich allein gelassen hast. Allein in diesem dunklen Loch und allein mit der ganzen Situation.

Warum war ich dir nicht gut genug? Warum wolltest du mich nicht? Wolltest du mich nie? Ich bin enttäuscht von dir. Sowas hätte ich mir von dir nie erwartet. Du warst der letzte Mensch, dem ich so etwas zugetraut hätte. Weißt du das?

Ich hoffe, du bist glücklich da, wo du jetzt stehst.

Allein und ohne mich, so wie du es wolltest.

ZWEI

DIENSTAG VORMITTAG

Das Wetter hat sich wieder beruhigt. Mittlerweile hat es aufgehört zu regnen und der Wind hat aufgehört zu wüten. Das Wetter hier auf dem Berg ist meist launenhaft, deshalb wundert es mich nicht, wie schnell es umgeschlagen hat.

Ich erhebe mich von der Couch und gehe zum Fenster, das ich auch öffne. Das Fensterbrett ist feucht vom Regen, da die Fenster nicht mehr so gut dichten, wie sie es wahrscheinlich einst getan haben.

Das Tuch, das ich unter dem Fenster platziert habe, ist nass und eignet sich nicht mehr zum Auftrocknen. Auf dem Weg in die Wäschekammer fällt mir ein, dass ich noch die Wäsche aufhängen muss. Ich habe gestern Abend die Waschmaschine eingeschaltet und habe sie wohl vergessen.

Seit der Unfall passiert ist, vergesse ich sehr viel. Mein Gedächtnis kommt nicht mehr hinterher und ich bin mit so ziemlich allem überfordert. Wenn etwas nicht so läuft, wie es geplant war, mache ich mich verrückt.

Verständlich, dass mein damaliger Chef mich entlassen hat. Wer will denn eine Angestellte, die sich nicht mal merken kann, wo die Arbeitsstelle ist.

Beim Herausziehen der Wäsche fliegt mir ein Zettel entgegen. Darauf sind nur mehr schwach Ziffern zu erkennen, die ich vermutlich einmal aufgeschrieben habe, um sie nicht zu vergessen. Eine Drei bildet den Anfang der Zahlenfolge und am Ende steht eine Sieben. Der Rest ist nicht mehr zu identifizieren.

···

Nachdem ich die Wäsche aufgehängt habe, gehe ich in die Küche, um das Essen vorzubereiten. Meine Tante kommt heute Mittag vorbei, um auf Ben aufzupassen. Ich muss heute Nachmittag arbeiten und kann ihn nicht mitnehmen.

Sie ist ganz einfach gestrickt. Alle nennen sie Tante Emma. Mit ihren 55 Jahren ist sie noch so fit wie ein Turnschuh. Sie hat ein besseres Gedächtnis als ich. Sie ist liebevoll. Liebevoll zu mir, seit ich den Unfall hatte, und sorgt sich ungemein um das Wohlergehen meines Sohnes. Es ist fast so, als wäre er ihr eigenes Kind. Sie ist nicht verheiratet und hat auch keine Kinder. Den Grund weiß ich nicht, denn unter den ganzen Menschen, die ich kenne, ist sie die Eine mit dem größten Herzen. Die Einzige, die neben Samuel wirklich da war, als ich vom Koma aufgewacht bin.

»Was willst du heute essen, mein Schatz?«, schreie ich aus der Küche.

Ben hat sich vorhin nochmals auf die Couch gelegt und etwas geschlafen. Er müsste mittlerweile wieder wach sein, hoffe ich zumindest. Es ist schon fast elf Uhr und um eins muss ich los.

Da ich keinen Laut aus dem Wohnzimmer höre, wage ich einen hastigen Blick auf die Couch. Sie ist leer.

»Ben, mein Schatz, wo bist du?«, schreie ich durch das ganze Haus und das Treppenhaus entlang nach oben.

Auch von dort kommt keine Antwort. Er wird wahrscheinlich wieder Verstecken spielen, wie er es meistens macht. Verstecken mit sich selbst. Oder er spielt draußen im Hof mit Steinen, die er wie Murmeln über den Hof jagt. Er sammelt immer viele Steine und ab und zu sind wirklich schöne dabei, die ich vorher noch nie hier gesehen habe.

Ich wage einen kurzen Blick nach draußen auf den Hof, der wie das restliche Haus wie verlassen aussieht. Von den Bäumen tropfen noch ab und zu Wassertropfen auf den kieselbedeckten Vorhof und die Vögel auf den Ästen putzen ihr Gefieder.

»Heute mache ich Reis mit Gemüse«, flüstere ich mir zu. »Im Garten müsste ich noch genug Karotten und Zucchini dafür haben.«

Ich ziehe mir meine Gartenschuhe an, an denen noch Schlamm vom vorherigen Mal klebt, und stampfe sie vor der Haustür ab. Der Schlamm ist mittlerweile getrocknet und bröselt so leicht von den Stiefletten ab.

Die Luft riecht frisch und es hat drastisch abgekühlt. Selbst mit dem Pullover, den ich mir vorhin angezogen habe, läuft es mir eiskalt den Rücken nach unten. Ich zucke kurz zusammen, halte kurz inne und mache den ersten Schritt nach draußen.

Die Kieselsteine auf dem Vorhof sind feucht vom Regen und auffallend dunkel. Die Blumen, die sich unter den Bäumen ausbreiten, sind geschlossen und die Stimmung ist gedrückt. Ein leichter Nebelhauch durchzieht die Baumkronen. Der Rabe, der darauf sitzt, starrt zu mir runter.

Ein kurzer Schrei ertönt durch meinen Mund. Ich halte meine Hand davor. Schreckhaft und zitternd blicke ich zum Vogel, der auf den Kieselsteinen liegt. Die Federn wurden ihm einzeln herausgerissen und kreisförmig um ihn platziert. Holzstücke, in die etwas eingeritzt wurde, zieren den Kreis.

Ich wage einen Schritt nach vorne und auf den Höllenkreis zu. Eine Kombination aus Zahlen, Formen und Buchstaben zieren das schwarze, feuchte Holz. Aus meiner Jackentasche ziehe ich das Kreuz, das mir Ben vorhin gegeben hat. Die Zeichen darauf sind in den Holzstücken nicht wiederzufinden. Es sind andere.

»Ben?«, schreie ich durch den Vorhof. »Wo bist du? Komm raus, mein Schatz!«, fordere ich ihn auf.

Stille.

Die Kirchturmglocke durchbricht diese und ich blicke auf meine Armbanduhr. Schon 11:00 Uhr. Kopfschüttelnd gehe ich in Richtung Garten, der sich etwa zwei Gehminuten vom Haus befindet. Ich weiß nicht, wo sich Ben aufhält, aber er wird schon irgendwann auftauchen.

Der Boden ist übersät mit Regenwürmern und Schnecken. Ich weiche ab und zu einen Schritt aus, aber es gelingt mir nicht, über alle Hindernisse drüberzusteigen. Ein Schauer vor Ekel zieht sich über meine Wirbelsäule nach unten und ich verziehe mein Gesicht.

»Eklig«, schnaube ich.

Von Weitem kann ich schon unser Gartenhäuschen erkennen, in dem wir all die Geräte für den Garten lagern. Die Tür steht sperrangelweit offen und ein leichter Windhauch lässt sie knarren.

»Ben?« Abermals versuche ich es und hoffe auf Antwort.

Er versteckt sich immer sehr gerne und ab und zu erschreckt er mich damit sogar. Wo treibt er sich immer wieder herum? Was, wenn ihm was zustößt? Dann bin ich für die Leute nicht nur die Gestörte, die eine an der Klatsche hat, sondern auch eine schlechte Mutter.

Einmal ist Ben für vier Stunden verschwunden gewesen. Wo er war, wissen wir bis heute noch nicht und die Polizei hat sich geweigert, ihn zu suchen. Den Grund weiß ich auch nicht.

Vorsichtig stecke ich meinen Kopf durch die bereits offen stehende Tür und erhasche einen kurzen Blick ins rechte Eck. Nichts. Auch auf der linken Seite ist weit und breit nichts zu erkennen, nur Schaufel, Spaten und sonstiges Zeug, das wir nie gebraucht haben.

»Mami? Was machst du da?«

Ruckartig drehe ich mich vor Schreck um. Ben steht plötzlich hinter mir und seine Hände sind voller Schlamm.

»Wo bist du gewesen du, mein Schatz?«, frage ich ihn besorgt.

»Ich habe mit Maja gespielt«, antwortet er ganz unschuldig und starrt auf seine Hände.

»Wie siehst du denn aus?«

Nicht nur seine Hände sind schlammbedeckt, sondern auch seine lange, dunkle Trainerhose und sein weißes T-Shirt, das ich ihm vorhin frisch angezogen habe. Auch im Gesicht hat er zwei, drei kleine Flecke.

Er sieht mich mit großen Augen an, als würde es ihm richtig leidtun. Ich kann ihm bei diesem Anblick nicht lange böse sein. Immerhin ist er mein kleiner Engel.

»Hilfst du mir mit dem Gemüse?«, frage ich ihn.

Er nickt.

Ich nehme seine Hände und halte sie unter den Wasserhahn, der am Häuschen angeschlossen ist. Seine Fingernägel sind auch schwarz. Er hat wohl ein Loch damit gegraben und etwas eingebuddelt.

Auch der Garten ist mit Regenwürmern und Nackt-schnecken übersät. Ben sammelt die Regenwürmer immer ein und opfert sie den Hennen. Es dauert nicht lange, bis er den kleinen Eimer, der schon seit Ewigkeiten neben dem klapprigen Gartentor steht, halb voll hat. Und da verschwindet er auch schon wieder mit dem Eimerchen.

»Geh nicht zu weit weg, es gibt bald etwas zu essen!«, schreie ich ihm noch hinterher, ohne zu wissen, ob er es gehört hat.

Ich ziehe noch die Karotten aus der Erde und dann mache ich mich auch wieder auf den Weg zum Haus.

Der Rabe und die Federn sind verschwunden, als wären sie nie da gewesen. Der Kreis, der in den Kieselweg gezeichnet wurde, ist auch nicht mehr da, wo er vorhin war.

Tante Emma sieht heute irgendwie anders aus als sonst. Sie hat ihr dunkelrotes Jäckchen, das sie sich immer wieder um den Hals gebunden hat gegen ein ockergelbes ausgetauscht. Auch das Kleid, das sie sonst immer trägt, ist durch ein neues ersetzt worden und die Haare, die sie meist offen trägt, sind zu einem Zopf zusammengebunden.

»Hallo, meine Lieben!«, schreit sie schon von Weitem, als sie mich durch das Fenster entdeckt hat.

Die Haustür steht offen. Meistens versperre ich die Tür nicht, wenn ich zu Hause bin. Ben ist viel draußen und so kann er kommen und gehen, wann und wie oft er will.

Stampfende Schritte sind vor der Tür zu hören. Sie wird sich wahrscheinlich den Dreck von den Schuhen klopfen, so wie sie es auch macht, wenn es nicht geregnet hat.

»Darf ich reinkommen?«, höre ich eine Stimme ums Eck vorsichtig, fast schon schüchtern sagen.