Stimmen des Unendlichen - Armin Gottmann - E-Book

Stimmen des Unendlichen E-Book

Armin Gottmann

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Beschreibung

Ein tiefer Einblick in das Wesen des Yoga Sich als Teil des Lebens im unendlichen All zu begreifen und in Verbundenheit mit allem Sein ein liebevolles Gemüt zu entfalten - dies ist die zentrale Botschaft indischer Spiritualität und Ziel des Weges, den man mit Yoga beschreitet. Die Erfahrung der Tiefe im eigenen Herzen, in der sich das Universum seiner selbst bewusst wird, geht weit über jene Versuche der Selbstoptimierung hinaus, die heute nur allzu oft als Yoga bezeichnet werden.

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Seitenzahl: 434

Veröffentlichungsjahr: 2021

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INHALT

Einführung

Teil I: Das Leben des Bhikshu Maitrenanda

PERSONEN (Teil I)

KINDHEIT UND JUGEND

LEBENSWENDE

Der Bericht Karnuâbhâvanas und Abhâyas Entschluss

LEHRJAHRE

Dharmarakshita

Bekenntnis zum Bauddha-Dharma und das Noviziat

Der Brief an den Großkönig

Die Aufnahme in den Orden des Buddhas

Die Jahre des spirituellen Lernens und Reifens

Mitglieder des Sangha der nordöstlichen Außenprovinz

PILGERREISEN

SATYA DEVA

DIE ZEIT DER WANDERSCHAFT

Der Vergewaltiger

Das Fischerdorf und der König Carvakin

Sundarî, die schöne Bäuerin

DIE HÖHLENKLÖSTER BEI LONAVLA

DIE JAHRE ALS LEHRER (GURU)

Die Rede in Karla

Die Rede in Bhaja

Die Rede in Bedsa

Die Jahre des Wirkens in den Sahyadri-Bergen

Teil II: Das Leben des Sâdhu Anantânanda

Personen

KINDHEIT

DIE LEHRZEIT BEI MÎMÂMSÂJNÂNIN

ENDE DER LEHRZEIT UND EINTRITT IN DEN ORDEN DER SHAIVA-SÂDHUS

DIE REISE ZUM HIMALAYA

Der wütende Kaufmann

Der unglückliche Sâdhu

Das zerstrittene Dorf

Ankunft im Himalaja

KANCHENJUNGA: DIE SCHÜLERSCHAFT

Das erste Jahr als Einsiedler

Das zweite Jahr als Einsiedler

Das dritte Jahr als Einsiedler

Das vierte Jahr als Einsiedler

DIE JAHRE DES REIFENS ZUM DIENST AN DER WELT

Das erste Jahr der Vorbereitung: Gemeinschaft mit Menschen

Das zweite Jahr der Vorbereitung: Kurze Reisen und der verarmte Bauer

Das dritte Jahr: Begegnung mit dem Bauddha-Sangha

Das vierte Jahr der Vorbereitung: Pilgerreisen

Das fünfte Jahr der Vorbereitung: Die Intrigen der Welt.Leben am Königshof in der Hauptstadt Pataliputra.

Der Hofbrahmane

Lipika, der Oberbuchhalter

ABSCHIED VON SATYA DEVA

DIE UMWANDLUNG JAMBUDVIPAS

Purushottama-Puri

Rede an die Kaufleute der Ostküste

Tiruvanamalai

Rameshvaram

Lanka und der Meditationsmeister Jhanamitra

An der Südspitze Indiens

Muziris und die Thomaschristen

DIE HEIMKEHR

Der Abschied von der Mutter

Die Begegnung mit Maitrenanda

Teil III: Gespräche unter dem Banyan-Baum

Weitere Personen Teil III

Das Tagesprogramm

Das Leben des Sena und dessen Fragen

Gemeinsamkeiten indischer Religionen (Dharmas)

Über einige Unterschiede in indischen Religionen (Dharmas)

Gott, die Götter, der Urgrund und das Nicht-Sagbare

Über die Gestaltung des Lebens

Die Rede des Brahmanen Sâla

Die kurze Rede des Shudra Sena

EPILOG

ANMERKUNGEN

GLOSSAR

DANK

ÜBER DEN AUTOR

EKAM SAT VIPRÂ BAHUDÂ VADANTI ­

Auf vielfältige Art bezeichnen die Weisen die Eine Wirklichkeit

EINFÜHRUNG

Dem in westlicher Kultur eingebundenen Menschen erschließt sich die Welt des religiösen und weltanschaulichen indo-asiatischen Denkens oft nur mühsam. Zugleich aber ist auf dem Hintergrund eines sich zwischen Geschäftigkeit und Konsum bewegenden Lebens das Interesse an Spiritualität und der Frage nach dem Sinn unseres Daseins erwacht und sucht nach Anregungen und Antworten auch jenseits unseres Kulturkreises. Namentlich Yoga und Buddhismus sind in das Zentrum des Interesses gerückt.

Die Gefahr besteht nun, dass einzelne Praktiken aus dem Bereich des Yoga und des Buddhismus aus ihren Zusammenhängen gerissen werden und im Sinne eines Machbarkeits- und Zweckdenkens für begrenzte Ziele geübt werden. So haben zum Beispiel einige westliche Psychotherapeuten den Wert einer »bewertungsfreien Achtsamkeit« aus dem Buddhismus für psychotherapeutische Zwecke entdeckt und manche Yogaschulen bieten körperbezogenen Yoga an, verbunden mit ein wenig Meditation, als Möglichkeit zur Steigerung körperlicher Fitness und Entspannung für stressgeplagte Menschen. Selbst einige westliche buddhistische Gruppen preisen für potentielle Interessenten den Buddhismus als einen »Weg zum Glück« an.

Durch eine solche Einengung gehen jedoch die eigentlichen tiefergehenden Fragen nach dem Sinn unseres Daseins und die Beziehung des Einzelnen zum Kosmos, zum Universellen, zum Leben überhaupt oder dem, was wir Gott nennen könnten, oftmals verloren.

Mit diesen tieferliegenden Fragen beschäftigt sich das philosophische und religiöse Denken und Empfinden Indiens und Asiens. Dabei sind sich die Philosophen, Yogis und Heilige dieser Kulturkreise stets bewusst geblieben, dass über »letztere Dinge« keine Aussagen gemacht werden können, da sie weit über die Möglichkeiten der Sprache, über Raum und Zeit, über Ursache und Wirkung hinausgingen. Ihre optimistische Aussage aber ist, dass Worte auf etwas hinweisen können, so wie der Finger, der auf den Mond deutet. Und so wie der Mond sich dem in die richtige Richtung Schauenden zeigt, so gäbe es auch unmittelbar erfahrbare Antworten auf die Frage unseres Daseins. Pfade zu solcher Erfahrung seien die verschiedenen Yogawege. Yoga kann somit verstanden werden als die Gesamtheit aller indischen Methoden, die spirituelle Erfahrungen ermöglichen wollen. Und so war und ist Yoga der einen oder anderen Form Bestandteil aller indischen Religionen, sei es nun der Hinduismus, der Buddhismus, der Jainismus, der Sikhismus oder die indische Variante des Sufismus.

Indo-asiatische Konzepte bezüglich der »letzten Dinge« weichen im Detail oft stark voneinander ab, doch es besteht Toleranz, da man um die begrenzte Wirklichkeit der eigenen Aussage weiß. Über Jahrhunderte wurde zwischen den einzelnen Religionen lebhaft diskutiert, Konzepte des jeweils anderen zum Teil übernommen und entsprechend eigener Anschauungen adaptiert, ohne dem Hochmut zu verfallen, im Besitz einer allein selig machenden Wahrheit zu sein. Wie viel könnte unsere heutige Welt mit ihren fundamentalistischen Strömungen von dieser alten indo-asiatischen Tradition lernen!

Das vorliegende Buch möchte dieser Tradition folgen. Anhand von imaginären Lebensläufen und Gesprächen zwischen einem buddhistischen und einem hinduistischen Mönch – etwa in der Zeit des ausgehenden vierten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung – will ich versuchen, grundlegende Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Buddhismus und Hinduismus aufzuzeigen. Ich habe das 4. Jahrhundert gewählt, weil um diese Zeit die Grundgedanken sowohl der hinduistischen Traditionen als auch die der buddhistischen Hauptrichtungen ausformuliert wurden, jedoch noch nicht die verwirrende Vielzahl von Details späterer Zeiten die Sicht auf das Wesentlichste verbaute.1

Den beiden Mönchen wäre es wahrscheinlich ziemlich egal gewesen, zu welcher Zeit sie lebten, und wie man die Zeit genannt hätte, 3 Jahrhunderte nach Jesus, 8 Jahrhunderte nach Buddha oder 1000 Jahre nach dem berühmten Rishi Yajnavalkya und seiner tiefgründigen Frau Maitreyî. Denn nach indischer Auffassung wiederholen sich Dinge im steten Wechsel und ewigen Gesetzen, Welten und Wesen entstehen und vergehen, Zeiten des Aufstiegs folgen Zeiten des Niedergangs und umgekehrt. Welche Bedeutung hat da Geschichtliches im Angesicht der Ewigkeit?

Das heißt aber nicht, dass das alte Indien nicht mit Maß und Zahl umzugehen wusste. Unsere gesamte westliche Wissenschaft und Technik, auf die wir so stolz sind, fußt auf dem genialen indischen metrischen Zahlensystem, nach dem der Wert der vorausgehenden Zahl durch eine nachfolgende »0« – also einem »Nichts« – verzehnfacht wird! Dies erscheint uns banaler Alltag, ist aber bereits hintergründig indische Philosophie – alle Dinge und alles Geschehen haben durchaus einen gewissen eigenen Wert. Einen viel größeren und tieferen Wert erhalten sie aber, wenn sie in Verbindung mit dem »Nichts«, dem »Nicht-Sagbaren« gesehen werden können. Dann wird sogar der scheinbar banalste Alltag zu einem Tor, durch das das Unendliche in das Begrenzte einfließen kann.

Den hinduistischen Mönch (Sâdhu) nenne ich »Anantânanda« (wörtlich »Wonne der Unendlichkeit«), den buddhistischen Mönch (Bhikshu) »Maitrenanda« (wörtlich »Wonne der universellen Liebe«). Sie begegnen sich im heutigen indischen Bundesstaat Maharashtra – dort, wo auch damals ein lebhafter Austausch zwischen hinduistischen und buddhistischen Traditionen stattfand.

Doch warum waren sie eigentlich Mönche – Sâdhu und Bhikshu – auf dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte geworden? Und wie könnten sich spirituelle Wege in diesen beiden Weltreligionen gestalten? Sind in ihnen wahrhaft spirituelle Wege nur Nonnen und Mönchen vorbehalten?

Wenn jemand im alten Indien Mönch oder Nonne wurde, ließ er alle Bindungen an die Familie und Gesellschaft zurück und war dann ein »Neugeborener« eines Ordens, bemühte sich um Erkenntnis und Erfahrung einer transzendenten Wahrheit, ging keinem weltlichen Beruf nach. Insofern spielte das weltliche Vorleben keine Rolle mehr. Er oder sie stand außerhalb – oder über – der Gesellschaft. Dennoch gaben aber gerade die Erfahrungen des Weltlebens oft den Anstoß für den Entschluss, das Wanderleben eines »Hauslosen«, von Almosen abhängigen Menschen auf sich zu nehmen. So war es auch – Jahrhunderte vor der Zeit unserer Erzählung – dem Buddha ergangen. Er wuchs zunächst im Luxus eines Königshofs auf, wurde aber gerade dadurch umso tiefer erschüttert bei der Begegnung mit Alter, Krankheit, Tod und Vergänglichkeit, sodass er sich auf den Weg der »Hauslosigkeit« machte, um das Todlose zu suchen.

Daher werde ich in unserer Geschichte auch das »weltliche Vorleben« sowie das spätere mönchische Leben unserer beiden Protagonisten beleuchten. Hierdurch werden Sie, verehrter Leser: in, die Motive für die Wahl des jeweiligen spirituellen Weges verstehen. Zugleich werden Sie auch einen Eindruck vom Wesen des Hinduismus und des Buddhismus sowie der ihnen zugrunde liegenden indischen Kultur erhalten.

Zur weiteren Vertiefung werden dann im dritten Teil des Buches in den »Gesprächen unter dem Banyan-Baum« wesentliche Ideen des Hinduismus und des Buddhismus angesprochen.1

(Vorbemerkung: Die Begriffe »Hinduismus« und »Buddhismus« gab es zur Zeit dieses Romans noch nicht. Deshalb werden im Text der Erzählung die indischen Begriffe »Sanâthana Dharma« – »ewige Religion« – für den Hinduismus und »Bauddha Dharma« »buddhistische Religion« für den Buddhismus verwand.)

Teil I: Das Leben des Bhikshu Maitrenanda

PERSONEN (TEIL I)

Abhâya (wörtlich »der Furchtlose«), ein Soldat; später erhält er den Namen Maitrenanda (»Der, dessen Wonne unendliche Liebe ist«), ein buddhistischer Mönch (Bhikshu).

Krodhadhâra (»Der am Zorn festhält«), ein Räuber, später wird er Karnuâbhâvana (»Der Mitleid Entwickelnde«), ein Bhikshu.

Ushâ (»Die Morgenröte«), die Ehefrau Abhâyas.

Dharmarakshita (»Schützer der Buddhalehre«), Bhikshu und Lehrer Maitrenandas.

Bhâvanî (»Die Hervorbringende«), buddhistische Nonne und Meditationsmeisterin.

Jivaka (»Der Lebensspendende«), ein Arzt.

Vâsu (»Reichtum«), ein Bhikshu, der ehemals ein reicher Bauer war.

Purâna (»Der Alte«), alter buddhistischer Mönch.

Satya Deva (»Der Gott der Wahrhaftigkeit«), hinduistischer Mönch (Sâdhu).

Chitraprâbha (»Der Strahlende«), Mönch (Muni) der jainistischen Tradition.

Punya (»Der Verdienstvolle«), ein älterer Bhikshu

Carvakin (»Anhänger der Carvakas«), König und Anhänger der philosophischen Schule der »Materialisten«.

Sundarî (»Die Schöne«), Bäuerin und alleinerziehende Mutter.

KINDHEIT UND JUGEND

Der spätere Bhikshu Maitrenanda wuchs im Norden Indiens in einer vor den Bergen des Himalajas gelegenen Garnisonsstadt auf. Es mag unweit jenes Gebietes gewesen sein, in der der Buddha seinerzeit geboren worden war. Die Gegend gehörte zu den Nordprovinzen des Gupta-Großreichs. Nördlich davon gab es noch Außenprovinzen, die die ersten Bergketten des Himalajas samt der dazugehörigen Täler umfassten. Der Vater des Jungen war Offizier der Infanterie, gehörte der Kriegerkaste an und war an mehreren Schlachten beteiligt gewesen. Zwei Schwestern hatte seine Mutter schon zur Welt gebracht und so war die Freude groß, als nun auch noch ein Junge geboren wurde. Liebevoll wurde er von der Mutter und den beiden Schwestern umsorgt.

Strenger jedoch war der Vater, von dem eine gewisse Härte ausging. Er nannte den Jungen Abhâya, »der Furchtlose«. Denn furchtlos, mutig und tapfer sollte er werden und eines Tages eine gute militärische Karriere machen, die über die seines Vaters hinauszugehen hatte.

Auch wenn damals das Kastenwesen noch nicht so festgefügt war wie in späteren Zeiten, so war es doch selbstverständlich, dass die Söhne von Angehörigen der Brahmanenkaste oft Priester wurden, während die anderen, entsprechend ihrer Kaste, jeweils Berufe als Soldaten, Kaufleute, Bauern oder Diener ergriffen. Daher war es keine Frage, dass Abhâya eine militärische Ausbildung durchlaufen musste.

Der kleine Junge wirkte oft verträumter als andere seines Alters, intensiv in die Betrachtung der Natur versunken. Lange saß er dann an einer Stelle, schaute in die Ferne, nahm alles in sich intensiv auf, mit einem »absorbierenden Geist«.

Dies gefiel dem Vater nicht und er befahl, dass Abhâya etwas früher als andere Kinder mit der militärischen Ausbildung beginnen sollte. Pflichtgemäß erfüllte der Junge die ihm gestellten Aufgaben, war auch im Wettkampf durchaus erfolgreich und geschickt und fiel durch Intelligenz sowie rasche Auffassungsgabe auf, während er allmählich seine Verträumtheit verlor. Doch wirkliche Freude hatte er daran nicht. Aber etwas anderes begeisterte ihn – sein Vater ermöglichte ihm das Erlernen verschiedener Schriftarten.1

Das Erlernen von Lesen und Schreiben war damals in Kriegerkreisen keineswegs alltäglich. Doch der Vater war weitsichtig genug, seinem Sohn auch hierin eine umfassende Ausbildung zu geben. Auf seinen Dienstreisen war der Vater mehrfach vor steinernen Säulen des berühmten Kaisers Ashoka gestanden, auf denen dieser 500 Jahre zuvor seine Edikte an sein Volk verkündete. Dieser Kaiser hatte ein Großreich errichtet, das fast ganz das heutige Indien umfasste und es weitgehend mit friedlichen Mitteln beherrscht.

Abhâyas Vater verstand durchaus die Bedeutung der in Stein gemeißelten königlichen Edikte, um ein Reich einheitlich zu regieren. Nur wenige konnten noch die alte Karoshti-Schrift lesen. Doch es hieß, der Kaiser habe auf seinen Säulen zu Friedfertigkeit und Toleranz aber auch zu Mitgefühl, sogar für Tiere, aufgerufen. Mit einer solchen Botschaft wusste Abhâyas Vater als Soldat wenig anzufangen und meinte, durch diese Friedenspolitik sei wohl das Großreich seinerzeit schließlich zerbrochen. Er bedachte allerdings nicht, dass auch die mit weniger friedlichen Mitteln entstandenen Staatsgebilde nach Ashoka keinen dauerhaften Bestand hatten.

In der Zeit unserer Geschichte hatte man damit begonnen, schriftliche Aufzeichnungen auf Palmblättern vorzunehmen, wodurch Transport und Verbreitung von Texten leicht möglich wurde. Abhâyas Vater hatte die strategische und wirtschaftliche Bedeutung dieser Erfindung für ein Staatswesen begriffen. Es konnten damit Berichte aus allen Provinzen dem Königshof unkompliziert zugeführt werden und von dort Befehle und Gesetze ebenso leicht zum Versand kommen. Und daher sollte Abhâya Lesen und Schreiben lernen.

Die Ausbildung Abhâyas machte gute Fortschritte und war im 19. Lebensjahr beendet. Der Vater war stolz auf ihn. Und auch seine Mutter musste nach außen hin Stolz bekunden, während sie innerlich dachte: ›Wir Frauen der Kriegerkaste haben ein schweres Los. Stets sind wir in Gefahr, sowohl unsere Männer wie auch unsere Söhne auf dem Schlachtfeld zu verlieren‹. Der Tod ihres Gatten sollte ihr erspart bleiben, aber ihren Sohn würde sie verlieren, wenn glücklicherweise auch auf andere Art, als sie befürchtet hatte.

Als erste Bewährungsprobe nach seiner Ausbildung, die über die weitere Karriere mit entscheiden würde, erhielt Abhâya den Auftrag, für Ruhe und Ordnung in der Umgebung seiner Heimatstadt zu sorgen. Ein kleiner Trupp von Soldaten wurde ihm hierzu zur Verfügung gestellt. Der Auftrag stellte eine Art Polizeidienst dar und wurde von ihm in hervorragender Weise bewältigt. Mit Anwendung von wenig Gewalt und der Kooperation der Einwohner gelang es ihm, Diebe zu fassen, Gewalttaten aufzuklären und sogar zu verhindern, Frauen und Kinder zu schützen und die Bevölkerung zur Einhaltung der Gesetze des Großkönigs anzuhalten.

Die nächste Aufgabe, die ihm nach einem Jahr von den Offizieren zugeteilt wurde, sollte sich als weitaus schwieriger erweisen. Er erhielt den Auftrag, einen berüchtigten Verbrecher namens Krodhadhâra (»der am Zorn festhält«) und seine Räuberbande zu vernichten. Dieser Räuber trieb seit Jahren sein Unwesen in den Außenprovinzen. Dort raubte er Handelskarawanen aus, die auf dem Weg von und nach China waren.

Die Kaufleute ließ er in der Regel frei, mit den Begleitsoldaten hatte er aber kein Pardon. Wer von ihnen nicht im Kampf gefallen war, wurde zu Tode gefoltert, die geschändeten Leichen auf die Gebirgsstraßen geworfen. Ferner hieß es, dass Krodhadhâra einen großen Teil der jeweiligen Beute an bedürftige Familien und insbesondere Witwen verteilte. Letzteres war allerdings nur gerüchteweise bekannt; niemand würde gegenüber den Soldaten oder den Beamten des Königs zugeben, etwas aus Krodhadhâras Hand bekommen zu haben oder sogar mit ihm zu kooperieren! Mehrmals hatte man versucht, des Verbrechers habhaft zu werden, er entkam jedoch immer wieder mit seiner Mörderbande, den Soldaten jeweils herbe Verluste zufügend.

Abhâya fühlte sich durch den Auftrag geehrt, Abhâyas Vater aber wusste es besser, denn er kannte seine Offizierskollegen. Diese hatten Söhne, die weniger begabt und vielleicht auch nicht so mutig waren, wie sein eigener Sohn. Die Aufgabe Krodhadhâra zu vernichten, glich einem Himmelfahrtskommando. Die Offizierskollegen hofften offenbar, dass der gerissene Krodhadhâra den relativ unerfahrenen Abhâya besiegen und töten würde, sodass ihre eigenen Söhne eine bessere Chance bekämen. Ihnen ging es weniger um die Wiederherstellung von Recht und Ordnung, als vielmehr um ihre eigenen Interessen.

Immerhin gelang es Abhâyas Vater, ihm eine Anzahl von erfahrenen Soldaten mit auf den Weg zu geben. Und die besorgte Mutter, die durch eine reichliche Mitgift vermögend war, stattete ihn mit einer großen Geldsumme aus. Dann verfließ der Trupp die Garnisonsstadt und schien, wie vom Erdboden verschwunden.

Nach einiger Zeit gelangte eine Handelskarawane in das Gebiet, in dem Krodhadhâra vermutet wurde. Es hieß, die Karawane sei aus Pataliputra kommend auf dem Weg nach China. Nur zwei ältere Soldaten waren als Begleitschutz dabei. In der Nacht lagerte die Karawane auf einer Lichtung im Dschungel, ein schwaches Lagerfeuer brannte und um es herum lagen die offensichtlich betrunkenen oder schlafenden Kaufleute und Soldaten.

Und Krodhadhâra fiel zum ersten Mal seit Jahren auf eine List herein! Als sich die Räuber dem Lagerfeuer näherten, mussten sie zu ihrer Bestürzung feststellen, dass dort nur Puppen lagen. Schnell war die Mördergruppe umzingelt und in einen heftigen Kampf mit den Soldaten verstrickt. Fast alle Räuber wurden getötet, nur einer konnte entkommen. Aber auch Abhâyas Trupp hatte schwere Verluste hinnehmen müssen, Abhâya selbst war erheblich verletzt worden. Ob aber Krodhadhâra unter den Getöteten war, konnte nicht festgestellt werden, niemand kannte sein Gesicht. Und die Dorfbewohner waren merkwürdig verstockt und gaben keine zweckdienliche Auskunft.

Immerhin, ein bedeutender Sieg war errungen und Abhâya und seine Männer wurden gebührend gefeiert. Nun war es Zeit, dass Abhâya heiraten sollte, eine glänzende Karriere schien ihm bevorzustehen. In dieser Situation war es Abhâyas Vater möglich, seinen Vorgesetzten – den Obergeneral – zu bitten, einer Heirat seines Sohnes mit dessen Tochter zuzustimmen.2

Der Obergeneral war von der Bitte von Abhâyas Vater nicht entzückt. War er doch bereits in Vorgespräche mit dem Obergeneral der Kavallerie (der immerhin einige Kriegselefanten unter seiner Regie hatte) eingetreten. Dieser hatte auch einen Sohn im heiratsfähigen Alter. Dieser Sohn war zwar nicht besonders begabt, aber eine Heirat seiner geliebten Tochter Ushâ mit dem Sohn des Obergenerals der Kavallerie hätte auch für ihn selbst einen Zuwachs an sozialem Prestige gebracht. Sollte er da seine Tochter dem Sohn eines Emporkömmlings anvertrauen?

Es kam jedoch anders. Die selbstbewusste und schöne Ushâ hörte durch ihrer Mutter von diesen Sondierungen. Sie stellte sich ihrem Vater gegenüber und sagte: »Vater, ich möchte den Sohn des Obergenerals der Kavallerie nicht. Er ist ein dicker Nichtsnutz und eitel wie ein Pfau wegen der Stellung seines Vaters. Hingegen würde mir Abhâya durchaus gefallen. Er ist klug, stark und auch hübsch, hat Frauen und Kinder beschützt und ich kenne ihn aus der Zeit, als wir Kinder waren und noch miteinander spielen durften.«

Nachdem nun auch die Frau des Obergenerals der gleichen Meinung wie ihre Tochter war, stimmte er zu, wohl wissend, dass er nun den Obergeneral der Kavallerie zum Gegner haben würde. Aber mit seiner Frau wollte er weiter in Frieden leben; indische Ehefrauen haben eine machtvolle Stellung innerhalb ihrer Familien. Auch lag dem Obergeneral das Wohlergehen seiner einzigen Tochter durchaus am Herzen.

Und auch Abhâya war von dem Vorschlag begeistert, vor allem nachdem er Ushâ mehrmals getroffen hatte. Sie hatte sich sehr verändert seit der Kindheit, war bildhübsch geworden und hatte sogar gegen den Widerstand ihres Vaters etwas lesen gelernt.

Und so wurden die Hochzeitsverhandlungen geführt und der Astrologe – ein alter weiser Brahmane – konsultiert. Er stellte eine außerordentliche Harmonie der Horoskope fest, fügte aber mit leiser Stimme hinzu, dass der Ehe von außen gewisse Gefahren drohen konnten.

Aber niemand wollte diese Warnung hören. Und so wurde die Hochzeit mit hunderten von Gästen über Tage gefeiert. Hochzeitsfeste hatten und haben in Indien neben dem eigentlichen Anlass eine wichtige soziale Funktion. Sie festigen die Bande zwischen der stets zahlreichen und weitläufigen Verwandtschaft und dienen zudem der Anknüpfung von Geschäftsbeziehungen. So war es auch hier. Abhâyas Familie erzielte einen deutlichen sozialen Prestigegewinn.

Das junge Paar war glücklich und die Partner liebten sich von Anfang an, was ja in arrangierten Ehen nicht immer der Fall ist. Und das Glück wurde noch vollkommener, als bereits nach einem Jahr ein Sohn geboren wurde, dem die Herzen aller zuflogen.

Allerdings gab es auch Schatten auf diesem Glück, verursacht durch wochenlange Trennungen. Abhâya wurde nämlich häufig mit Soldaten in die östlichen Außenprovinzen geschickt, um dort den Steuereintreibern zur Seite zu stehen, wenn renitente Bauern sich weigerten, ihre Abgaben abzuliefern. Dies war auch das Los anderer Jungoffiziere. Doch Abhâya versah seinen Dienst auf andere Weise als seine Kollegen. Die anderen – auf ihre Karriere bedacht – gingen mit äußerster Härte vor, schreckten auch nicht vor Waffengewalt und sogar Mord zurück, um die Abgaben zu erpressen. Abhâya aber hatte ein mitfühlendes Herz für die notleidende Bevölkerung, die oft nicht genug zu essen hatte und erließ ihnen einen Teil der Steuerschulden in zähen Verhandlungen, wenn immer es ihm angemessen erschien.

Diese Eigenmächtigkeit erregte den Unmut des Obersteuereintreibers in der Stadt. Zwar erfolgten die Staatseinnahmen aus Abhâyas Gebiet in ähnlicher Höhe wie die anderer Steuertrupps, weil er keine »Sondersteuer« für die Beamten zuließ. Doch die Steuerbeamten hatten sich beschwert, weil sie nicht – wie gewohnt – einen Teil der Einnahmen für sich zur Seite schaffen konnten. Und so hätte Abhâyas Laufbahn ein Ende nehmen können, wenn nicht der Chef des Geheimdienstes auf ihn aufmerksam geworden wäre. Schon lange war dieser über die Unruhen in den Außenprovinzen besorgt und hatte ein gewisses Verständnis für Abhâyas Vorgehen. Der Geheimdienstchef der Nordostprovinzen war ein mächtiger Mann; er unterstand direkt dem Minister für innere Angelegenheiten am Hof des Großkönigs.

Abhâya erwarb sich bei diesen Dienstreisen Respekt und Achtung in den von ihm aufgesuchten Dörfern und in »seinem« Gebiet gab es keine Aufstände mehr. Er hatte erkannt, dass es neben der ihm auferlegten Pflicht als Soldat noch eine andere Pflicht gibt – die, der Stimme des Mitleids und des Gewissens zu folgen.

Aber auch gute und gerechte Menschen ereilen oft Auswirkungen früherer Taten, selbst wenn diese in Erfüllung der ihnen befohlenen Pflichten begangen wurden. Während einer neuerlichen Dienstreise in die Außenprovinzen wurden zum Entsetzen aller Ushâ und sein kleiner Sohn ermordet. Keiner hatte den Mörder gesehen. Doch es gab einen untrüglichen Hinweis – den Opfern war zweimal die Kehle durchgeschnitten worden, nur Krodhadhâra und kein anderer Verbrecher hatte dies immer getan!

Abhâya versank über viele Monate in Depression, Schmerz, Trauer und Wut. Er hatte keinerlei Antrieb, konnte sich zu nichts mehr aufraffen. Sein Vater drängte auf eine neuerliche Hochzeit, hatte wenig Verständnis für seinen trauernden Sohn, der diesen Vorschlag entrüstet ablehnte. Keine Frau wolle er mehr nach Ushâ berühren. Der Vater warf ihm daraufhin Schwäche vor, unwürdig eines Soldaten. Und auch die anderen Offiziere zogen sich von ihm zurück, einschließlich der Jungoffiziere. Diese witterten nun bessere Chancen, nachdem Abhâya außer Gefecht gesetzt zu sein schien. Seine militärische Karriere schien zu Ende zu sein. Dabei hatte sie so vielversprechend begonnen.

Der Geheimdienstchef – ein guter Psychologe – erkannte das Potenzial dieser Situation für den Geheimdienst. Er suchte den Trauernden auf und sagte: »Du brauchst wieder eine Aufgabe. Du bist vertraut mit der Situation in den östlichen Außenprovinzen. Gehe dorthin und erkunde die Stimmung unter der Bevölkerung. Du wirst dort nicht erkannt werden. Meine Leute verkleiden dich als einen Pilger, der im Gebirge die heiligen Quellen unserer Flüsse aufsuchen will. Bist du mit der Mission erfolgreich, werde ich für deinen Aufstieg im Geheimdienst sorgen. Als Soldat wird man dir aufgrund deiner jetzigen vermeintlichen Schwäche keinen Aufstieg mehr ermöglichen. Ich werde daher deine Entlassung aus dem Armeedienst und die Übernahme in mein Ressort veranlassen.«

Es war beiden Männern klar, dass der eigentliche Auftrag darin bestand, Krodhadhâra zu finden und zu töten, auch wenn dies nicht offen ausgesprochen wurde. Krodhadhâra aufzuspüren wäre vornehmlich Sache des Militärs gewesen. Dem Geheimdienstchef war es eigentlich egal, ob ein Mann wie Krodhadhâra weiterlebte, aber er konnte es nicht zulassen, dass dieser offensichtlich intelligente Mann mit organisatorischen Fähigkeiten vielleicht zum Anführer einer Rebellion werden würde. Der Geheimdienstchef machte sich Abhâyas Wut zunutze, riss ihn damit aus der Antriebslosigkeit und erhoffte sich dadurch einen Erfolg für den Geheimdienst.

Und so befand sich nach einiger Zeit ein junger Kaufmannssohn auf einer Pilgerreise zu den heiligen Quellen in den Außenprovinzen. Er sei aus Kâshî (Benares) und wolle den Göttern für gelungene Geschäfte danken, ließ er verlauten. In seiner offenen, auf die Menschen zugehenden Art gewann er rasch das Vertrauen der Menschen in den Dörfern und Herbergen.

Viel sah und erfuhr der junge »Kaufmannssohn« über die Not der Dorfbewohner – die Felder waren klein, mühsam dem schwierigen Gelände abgerungen und oft in Terrassen mit Steinwällen angelegt. Zwar waren die Felder ertragreich in guten Jahren, doch waren sie viel kleiner als die in der Ebene. Es erschien Abhâya daher immer ungerechter, diese Menschen mit den gleichen Steuern zu belegen, wie die Bewohner der Tiefebene. Zudem musste er hören, dass die korrupten Beamten Zusatzsteuern für die eigene Tasche erhoben hätten. Beschwerden bei den begleitenden Soldaten hätten nicht geholfen, da diese von den Steuereinehmern »Provisionen« bekämen. Proteste seien mit unbarmherziger Härte unterdrückt worden, vor Jahren sei sogar ein ganzes Dorf niedergebrannt worden. Es habe nur wenige gerechte Beamte gegeben. Auch ein Soldat sei hervorzuheben, ein gewisser Abhâya. Aber dieser sei schon lange nicht mehr in den Dörfern gewesen, sei wohl abgesetzt worden.

Aber immer wenn er versuchte, das Thema in Richtung eines Räubers namens Krodhadhâra zu lenken, der wohl hier mal gelebt habe, wurden die Gesprächspartner einsilbig: »Krodhadhâra? – Vielleicht war er nicht so böse, wie man gemeint hat. Ob er wohl noch lebt?«

LEBENSWENDE

Eines Abends gelangte Abhâya zu einer einsamen Pilgerherberge, in der sich niemand aufzuhalten schien und als es Nacht wurde, legte er sich hin, ohne Schlaf zu finden. Wut und Hass erfüllten ihn, quälten ihn. Wo war der verruchte Krodhadhâra, der Mörder seiner Frau und seines Sohnes? Wann würde er Rache nehmen können? Der Vollmond war wolkenverhangen, aber dennoch wurde der Raum etwas durch das Licht erhellt, das durch die offene Tür fiel. Ein großer, hagerer Mann trat ein und setzte sich Abhâya auf der anderen Seite des Raumes wortlos gegenüber. E trug das Gewand eines Bhikshu, eines Mönchs der Bauddha-Tradition.

In der Gegenwart von Bhikshus und Sâdhus fühlte sich Abhâya meistens besser, sein Hass und seine Wut schwächten sich oft ab. Erst vor einigen Tagen war er einem Sâdhu begegnet, der ihn ruhig angeblickt hatte und Abhâya hatte das Gefühl, dieser blicke mitten in sein Herz, in seinen Kummer, seine Verzweiflung. Der Sâdhu hatte ihn mit wortloser Geste bedeutet sich zu setzen, und zum ersten Mal seit Monaten schwand seine Unruhe, konnte er die Schönheit der Berge sehen, konnte befreiter atmen. Dann hatte der Sâdhu seine Brust berührt und gesagt: »Unendliches hier«, deutete dann mit langsam ausholender Geste auf die Berge und sprach weiter: »Unendliches dort … Nimmst du Unendliches von Unendlichem, bleibt das Unendliche dennoch unendlich.« Und Abhâya hatte für einen Moment begriffen – unendliche Weite ist im eigenen Herzen zu finden und es steht in Beziehung zur unendlichen Weite dessen, was er mit seinen Augen sah und was noch darüber hinausgehen mochte. »Frieden … Frieden … Frieden.« (Shânti, Shânti, Shântih) hatte der Sâdhu nach einer Weile zum Abschied intoniert und der Frieden der Unendlichkeit, der Weite des Gemüts klang noch einige Zeit in ihm nach, bis ihn wieder Hass, Wut, Unruhe und Verzweiflung packten und ihn unerbittlich in ihrem Griff hielten.

Auch jetzt, im fahlen Licht der einsamen Herberge, erfasste ihn Unruhe, wenn er zu dem gegenüber wie in Meditation versunkenen Bhikshu blickte. Und dann geschah es, die Wolken zogen sich zurück und das Vollmondlicht fiel auf die gegenüber sitzende Gestalt. Die Gesichtszüge waren klar erkennbar und nach einem Augenblick war es Abhâya klar, da saß der Mann, der seinerzeit bei seinem Kampf gegen die Räuberbande entkommen war. Ja, es war Krodhadhâra und dieser schaute ihn an!

Heftigste Gefühle des Zorns, aber auch der Angst ergriffen ihn nun. ›Was für eine infame, schändliche List dieses Verbrechers, sich in das heilige Gewand des Ordens des Buddhas zu hüllen‹, dachte er. ›Sicher hat er sein Messer im Gewand, während meins dort hinten im Reisegepäck verstaut ist.‹ Angst vor dem Tod ergriff ihn, wo er doch monatelang sich nichts Besseres vorstellen konnte als den Tod. Aber er musste sich seiner Frau und seines Kindes willen und auch wegen der Kriegerehre in den aussichtslosen Kampf stürzen. Oder sollte er versuchen zu fliehen, um ein anderes Mal mit besseren Waffen gerüstet den Kampf aufzunehmen?

Bevor er aber zu einem Entschluss kommen konnte, sprach der andere mit ruhiger Stimme: »Ja, ich bin – nein, ich war – Krodhadhâra. Doch mit dem Ablegen des Räubergewandes, mit dem Aufnehmen des Ordensgewandes, habe ich auch das Töten und den Hass abgelegt und Mitleid gegenüber allen Wesen angelegt. Mein Lehrer, der ehrwürdige Dharmarakshita (»der Bewahrer der Buddha-Lehre«) gab mir den Namen Karnuâbhâvana (»der Mitleid entwickelt«).

Ungläubig hörte der aufgewühlte Abhâya diese Worte. Und doch – er nahm wahr, dass der Mann der dort saß, ein anderer war, als jener, mit dem er gekämpft hatte. Die Wildheit der Gesichtszüge war verschwunden, sie erschienen ihm sanft, das Gesicht war um Jahre verjüngt. Und seine Augen blickten ihn nun so an, wie er dies vor einigen Tagen bei dem Sâdhu erlebt hatte. Frieden schien in diesen Augen zu liegen, wie er zugeben musste.

»Zu dir, Abhâya, ist heute eine Stunde der Entscheidung gekommen«, fuhr der andere fort. »Solche Stunden bemerken wir häufig nicht, weil wir meistens einfach so weiter handeln und denken, wie wir es gewohnt sind, ohne andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Vor dir liegen nun zwei Wege, zwei Arten von Kampf. Zum einen, du kannst mich töten, ich werde mich nicht zur Wehr setzen. Ein ruhmreicher Empfang in der Garnisonsstadt wird dir gewiss sein, du wirst den Anfang einer glänzenden Soldatenkarriere erleben. Dein Vater wird auf dich stolz sein. Ich habe jetzt weniger Angst vor dem Tod, als noch in der Zeit als Räuberhauptmann. Denn ich habe bereits jetzt meinem kommenden Leben einen tieferen Sinn gegeben. Ich will wiedergeboren werden zum Heil aller Wesen, die mir dann begegnen werden. Solltest du mich heute nicht töten, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis mich irgendjemand erschlägt, aus Wut über das, was ich ihm oder einem seiner Freunde angetan habe. Es wird so sein wie bei meinem großen Vorbild, dem Räuber Angulimâla, der durch den Buddha selbst zum Orden kam, ein heiliger Arahat wurde, von vielen verehrt, und dennoch den körperlichen Tod durch eine aufgebrachte Dorfbevölkerung gefunden hat. Der zweite Weg wäre aber viel schwerer. Es wäre der Kampf mit dir selbst, mit deiner Wut, deiner Verzweiflung, deiner Einsamkeit, deiner Unsicherheit, deiner Angst, deinem Gefühl der Sinnlosigkeit. Welchen Weg du nun einschlagen wirst, liegt in deinem Belieben. Es wäre aber vielleicht nützlich, mir eine Weile zuzuhören. Ich würde dir über meinen Lebensweg und die darin getroffenen Entscheidungen berichten.«

DER BERICHT KARNUÂBHÂVANAS UND ABHÂYAS ENTSCHLUSS

Neugierig geworden, aber immer noch hinund hergerissen zwischen Hass und Angst stimmte Abhâya zu. Karnuâbhâvana aber sagte: »Angst ist ein schlechter Zuhörer. Du bedarfst noch der äußeren Waffen eines Kriegers, um dich etwas sicherer zu fühlen. Hole bitte dein Messer aus deinem Reisegepäck, es wird dir ein besseres Zuhören ermöglichen.«

Vorsichtig und aus Angst, doch noch von einem listenreichen Krodhadhâra gepackt zu werden, holte Abhâya sein Messer, legte es neben sich und Karnuâbhâvana begann:

»Ich wurde in einem kleinen Dorf geboren unweit von hier. Unsere Felder waren bescheiden, doch hatten wir ein ausreichendes Auskommen und ich war glücklich mit meiner Frau und meiner kleinen Tochter. Meine Eltern waren früh verstorben und meine Schwestern hatten Männer in anderen Dörfern geheiratet. Schon mit 20 Jahren gehörte ich dem Dorfrat an, meine Meinung war gefragt und bei Streitigkeiten innerhalb des Dorfes konnten wir diese einvernehmlich lösen, ohne die Gerichtsbarkeit des Reichs anrufen zu müssen.

Vor nunmehr 6 Jahren hatten wir zwei Missernten hintereinander, nachdem der Monsunregen wiederholt schwach ausgefallen war. Wir hatten kaum etwas zu Essen, denn wir mussten das wenige restliche Getreide für die kommende Aussaat aufheben. Und dann kamen die Steuereintreiber, die uns auch noch das wenige verbliebene Getreide wegnehmen wollten. Wir waren verzweifelt und unter meiner Führung vertrieben wir die Steuereintreiber, die wir mit Schlägen aus dem Dorf jagten.

Grausam war die Rache der Steuereintreiber. Sie kamen mit Soldaten, die unser Dorf niederbrannten, die meisten Männer töteten, Kinder und Frauen verschleppten. Ich selbst entkam mit nur wenigen Getreuen und musste aus der Ferne hilflos mit ansehen, wie meine Frau und meine Tochter erschlagen wurden, als Strafe dafür, dass ich Anführer des Aufstandes gewesen war und man meiner nicht habhaft werden konnte. Hass und Verzweiflung ergriffen mich. Unerbittliche Rache schworen wir Überlebenden. Auf ewig wollten wir gegen die Soldaten des Reichs kämpfen, ihnen heimzahlen, was sie unserem Dorf und unseren Familien angetan hatten.

Es gelang uns, Waffen zu erbeuten und wir eigneten uns die Kampftechnik der Soldaten an. Dank der genauen Kenntnis des Geländes in unserer Heimat waren wir bald den Soldaten überlegen und es gelang uns immer wieder, etliche von ihnen zu töten, ohne dass wir schwerwiegende Verluste erlitten. Eine besondere Genugtuung erfuhr ich, als es uns eines Tages gelang, den Anführer jenes Trupps gefangen zu nehmen, der unser Dorf vernichtet hatte. Ihn folterte ich über sieben Tage, bis er zu meinem Bedauern verstarb; gern hätte ich ihn noch länger gequält. Mein Hass wuchs jedoch, je mehr Soldaten ich töten konnte. Ich nannte mich Krodhadhâra.

Um uns zu finanzieren, griffen wir Handelskarawanen an, die durch unser Gebiet zogen. Die Kaufleute ließen wir am Leben, sie hatten uns ja nichts getan. Nicht, dass ich damals Mitleid mit den Kaufleuten empfunden hätte, jedoch sollten sie ruhig wissen, dass keine Gefahr für ihr Leben bestand, wenngleich manchmal für ihre Waren, sodass sie nicht ganz unser Gebiet meiden würden. Die Begleitsoldaten aber waren mir willkommene Opfer. Wir wählten immer Karawanen mit geringem Begleitschutz aus, sodass wir im Kampf überlegen waren. Einen großen Teil der Beute ließ ich unter die Bedürftigen in der Bevölkerung verteilen, insbesondere an Witwen mit Kindern. Auf diese Weise war uns der Rückhalt in den Dörfern gewiss und uns wurden alle erforderlichen Informationen zugetragen.

Dies ging so lange, bis du mit deiner List meine Männer töten konntest; wir waren von der Bevölkerung über diese »Karawane« falsch informiert worden. Zum zweiten Male hatte ich nun meine Heimat verloren, die aus den wenigen Männern unseres Dorfes bestand, die dem damaligen Massaker entkommen waren. Meine Hassgefühle hatten nun ein konkretes Ziel, dir wollte ich unerträglichen Schmerz zufügen.

Doch ich war nun auf mich allein gestellt. Die Bevölkerung half mir nicht, dich zu ergreifen. Alle sagten, du seist der einzige Soldat gewesen, der immer Mitleid mit ihrer Not gehabt hätte, sodass sie mir nicht in meinem Rachefeldzug helfen wollten. Außerdem konnte ich keine Beute mehr verteilen, um sie auf diese Weise kooperativ zu machen.

Und so fasste ich den Plan, deine Familie während deiner Abwesenheit in der Stadt zu töten. Es gelang mir in der Nacht, in euer Haus einzudringen. Zuerst tötete ich rasch dein Kind und schlich mich dann zu Ushâ. Doch während ich im Begriff war, auch ihre Kehle durchzuschneiden, ergriff mich Ekel und Abscheu vor mir selbst. Nie hatte ich je Hand an ein Kind oder an eine Frau gelegt. Während ich das Messer ansetzte, sagte ich zu Ushâ in tiefster innerer Zerrissenheit: »Verzeihe mir. Ich bin Krodhadhâra. Ich muß es tun.«

Und während das Messer in sie eindrang – ich öffnete zuerst ihre Schlagader, damit sie ohnmächtig werden würde, bevor ich die Kehle durchschnitt, wollte sie in einer mir bisher unbekannten Regung nicht unnötig leiden lassen, flüsterte sie: »Ich verstehe … ich verzeihe dir.« Sie schien ohne Furcht im Augenblick des Todes zu sein, ihre Augen waren voller Frieden. Wie war das möglich? So viele Männer hatte ich sterben sehen, sie alle hatten Wut und Angst und manchmal Schmerz in ihren Gesichtern. Und hier starb deine Frau in ganz anderer Weise«.

Dies war zu viel für Abhâya. Voller Zorn griff er zu seinem Messer und wollte aufspringen. Der andere blieb ruhig sitzen. Es hätte nicht verwundert, wenn er auf den anderen nun mit seinem Messer eingestürmt wäre. Aber die Situation entwickelte sich zu einem jener Augenblicke der Entscheidung, die jeder von uns durchstehen muss – wenngleich in hoffentlich weniger dramatischer Form – und von denen Bhikshu Karnuâbhâvana zuvor gesprochen hatte.

In der Aufwallung seiner Gefühle fragte sich Abhâya, wie es kommen konnte, dass seine Frau keine Angst im Todesaugenblick gehabt hatte. Er selbst hatte immer Ängste vor Kämpfen gehabt. Namentlich vor und während des Kampfes mit Krodhadhâras Mörderbande hatte ihn heftigste Furcht überfallen. Und auch heute Abend hatte ihn Angst geplagt. Er war nicht »der Furchtlose«, wie dies sein Vater ihm schon durch die Namensgebung anbefohlen hatte. Stets hatte er es aber verstanden, seine Angst äußerlich nicht sichtbar werden zu lassen.

Wie Ushâ begriff er nun, dass er an der Stelle von Krodhadhâra ebenfalls Frau und Kind seines Widersachers getötet hätte, ja es als seine Räuber- und Mörderpflicht angesehen hätte. Waren wir nicht alle unseren tatsächlichen und vermeintlichen Pflichtgefühlen ausgesetzt, wenn wir im Leben standen? War es nicht auch seltsam, dass selbst ein hartgesottener Mörder ein gewisses Mitleid beim Töten zu haben schien? Und so rang er mühsam seine Trauerund Rachegefühle etwas nieder, wollte hören, was das Gegenüber weiter zu sagen hatte.

Erst nach längerer Pause begann Bhikshu Karnuâbhâvana zu sprechen: »Nach diesen aus meiner heutigen Sicht entsetzlichen Morden floh ich unerkannt aus der Stadt. Meiner alten Gewohnheit folgend schnitt ich beide Kehlen noch einmal durch, damit mich zu den Verbrechen bekennend.

Innerlich zerrissen und verstört irrte ich in der Einsamkeit der Berge und Dschungel meiner Heimatprovinz umher, den Kontakt mit Menschen meidend. Wie sinnlos war mein Leben verflossen, wie viele Menschen hatte ich aus meinem Hass und aus meiner Verzweiflung heraus seit der Zerstörung meines Dorfes getötet! Das einzige vielleicht Positive war, dass ich mittellose Witwen und Kinder unterstützt hatte – aber das war ja auch nicht nur gut und edel, stammte diese Unterstützung doch aus Diebesgut.

Eines Tages gelangte ich gegen Nachmittag auf eine Lichtung, auf der ein Mann im Gewand eines Bhikshu saß. Ich dachte mir ›da sitzt wieder einer von jenen Schmarotzern, die sich Bhikshus und Sâdhus nennen und der armen Bevölkerung das Essen abluchsen. Sie behaupten, es sei verdienstvoll, heiligen Männern und Frauen Essen zu spenden, man würde dadurch besseres Karma erwirken, eine günstige Wiedergeburt und vielleicht sogar einen Aufstieg in Himmelswelten erreichen.‹

Und doch, dieser schien anders zu sein. Er war hager, hatte keinen wohlgenährten Bauch und war so weit abseits jeder menschlichen Siedlung, dass er sicher seit mehreren Tagen auf keinem Bettelgang gewesen war. Ich wurde von dieser Gestalt angezogen, näherte mich. Dabei hatte ich den Kontakt zu Bhikshus und Sâdhus seit Jahren vermieden, sie schienen nicht in meiner Welt zu leben. Er war offenbar in Meditation versunken, als ich jedoch näher kam, rezitierte er mit sanfter, aber nachdrücklicher Stimme:

»Doch kommt ja Feindschaft nicht

Durch neue Feindschaft je zur Ruh’

Durch Nicht – Feindschaft kommt sie zur Ruh’

Dies ist ein ewiges Gesetz« 3

Wie um dem Ganzen noch mehr Nachdruck zu verleihen, widerholte er den Vers dreimal während meines Näherkommens und jedes Mal traf es mich wie ein Keulenschlag. Das war ja das Problem und die Tragik meines Lebens der letzten Jahre, indem ich nur für meinen Hass gelebt hatte, verstärkte er sich immer mehr, während ich doch keine dauerhafte Genugtuung, keine Ruhe, keinen Frieden finden konnte. »Wer hat so etwas Schönes, Wahres und doch eigentlich so Offensichtliches gesagt«, stammelte ich.

»Buddha, der Erhabene«, antwortete der Bhikshu, »vor etwa 800 Jahren. Und es ist immer noch ein ewiges Gesetz«, fügte er mit liebevollem und hintergründigen Humor hinzu.

Weinend warf ich mich dem Bhikshu zu Füßen. Tränen flossen aus mir heraus – seit Jahren hatte ich nicht mehr weinen können. Stockend berichtete ich ihm meine Lebensgeschichte, schilderte ihm meine Not. Stunde um Stunde verging. Der Bhikshu Dharmarakshita (»der Bewahrer der Buddhalehre« – so hieß er) saß ruhig vor mir und ich spürte seine intensive und liebevolle Anteilnahme an dem, was in mir vorging. Dann lehrte er mich, den Strom der anschwellenden und wieder abklingenden Gefühle anteilnehmend und liebevoll wahrzunehmen, mich dabei aber nicht in die Gefühle hineinziehen zu lassen und nicht von ihnen überschwemmt zu werden. Selbst Gefühle wie Wut, Hass, Ärger, Verzweiflung hatte ich auf diese Weise zu erleben.

Es war seine besondere Methode, dass dieses Erleben von Liebe und Verständnis geprägt sein sollte. Angst und Wut seien ebenso meine ›Kinder‹ – wie Freude, Großmut, Mitleid und Liebe. Sie alle gehörten zu mir, seien Teil meines Wesens. Nicht bloß ›bewertungsfrei und neutral‹ (wie ich es von einigen Bhikshus später hörte) sollte ich meine Gefühle betrachten, sondern mit Hingabe und vor allem Verständnis. Denn durch eine von Verständnis und Liebe getragene Achtsamkeit könnten sich die Gefühle allmählich umwandeln und ihr Überschwang zur Ruhe kommen. Gegen ›negative‹ Gefühle anzukämpfen sei nur bedingt sinnvoll, denn ein solcher Kampf sei getragen von einer Wut gegen eines Teils von einem selbst. Das aber wäre so, als wenn man Hass durch neuen Hass auslöschen wolle.

In gleicher Weise sollte ich liebevoll, achtsam und mit zunehmendem Verstehen den Strom der aufkommenden Gedanken und auch ihr Abebben wahrnehmen, ohne ihnen nachzuhängen.

Auch meinem Körper – so wie er noch immer schluchzend vor dem Bhikshu saß – musste ich Aufmerksamkeit schenken und besonders den Atem wahrnehmen, ohne ihn zu beeinflussen, ohne einzugreifen in den Atemprozess, der sich von allein entfaltete – mal zitternd und bebend durch meine Gefühle, dann wieder ruhiger und langsamer.

Die Aufgabe bestand nach seiner Anweisung darin, jeweils Körper, Gedanken oder Gefühle in den Mittelpunkt der von Liebe getragenen verständnisvollen Achtsamkeit zu stellen, je nachdem eines von den dreien sich in den Vordergrund der Aufmerksamkeit stellte. Hilfreich sei es, immer wieder zur Atemachtsamkeit zurückzukehren und diese, wenn möglich, als zentrales Meditationsobjekt zu nehmen. In fortgeschrittener Meditation, hatte er hinzugefügt, sei es möglich, gleichzeitig all dies im Bewusstsein zu haben und auch noch übergeordnete Ideen wahrzunehmen.

All dies vermittelte er mir bis zur Dämmerung. Es fiel mir schwer, gelang mir nur unvollkommen und es sollte noch Monate dauern, bis ich in dieser Meditation der liebevollen Achtsamkeit wirkliche Fortschritte erzielte. Immerhin aber kam ich zu einer gewissen Ruhe, wie ich sie seit der Zerstörung meines Dorfes nicht mehr erlebt hatte. Ich wusste, dies konnte mein Weg sein, mich aus der Welt des Hassens und des Irrens herauszuführen. Tief bewegt bat ich Dharmarakshita: »Ehrwürdiger, bitte nehme mich in den Orden des erhabenen Buddhas auf, mein altes Leben will ich aufgeben, nicht bindet mich etwas an diese bisherige Welt.«

Doch Dharmarakshita erwiderte: »Zwar bin ich erstaunt, wie rasch du ein wenig in die Anfänge der Meditation vordringen konntest, trotz allen Unheils, das in diesem Leben angerichtet hast. Vielleicht ist dies den Spuren des Mitleids zu verdanken, die du gegenüber Ushâ und den Witwen mit ihren Kindern gezeigt hast. Auch deine jetzige Reue ist hier von Bedeutung. Doch zu einem ausreichenden anfänglichen Verständnis der Buddhalehre konntest du noch nicht vordringen. Es wäre Unrecht, dich jetzt in den Orden des Erhabenen aufzunehmen.«

Ich war erstaunt. Hatte ich doch gehört, dass Sâdhus und Bhikshus immer gern neue Mitglieder in ihre jeweiligen Orden aufnähmen, um sich dann mit der Zahl ihrer Anhänger zu brüsten. Hier aber war einer, dem es nicht darauf ankam, mich als Ordensmitglied zu gewinnen, sondern der Anteil nahm an meiner Situation, an meinem Leiden.

»Lehre mich mehr«, bat ich.

Inzwischen war es Nacht geworden und der Vollmond ging auf »Nun, wir wollen sehen, was du in einer Nacht lernen kannst, erwiderte Dharmarakshita. »Es ist eine günstige Nacht um in die Lehre des Erhabenen einzudringen. Vollmollmondnächte haben eine besondere Bedeutung. Auch der Buddha hat in einer Vollmondnacht seine Erleuchtung gefunden. Es gibt sogar einige unter uns Bhikshus, die meinen, der Buddha selbst würde in solchen Nächten das Nicht-Sagbare denjenigen offenbaren, deren Herzen offen seien, seine Botschaft zu empfangen. Natürlich nicht in Worten, denn der Buddha ging vor etwa 800 Jahren mit seinem physischen Tod ins Nirvâna ein, einem Bereich jenseits von Tod und Leben, jenseits von Sein und Nichtsein. Daher bin ich nicht sicher, ob er in Vollmondnächten auf subtile Art bei uns ist. Immerhin, auch ich spüre, dass in Vollmondnächten manches anders ist als sonst. Und wer weiß, was aus dem Bereich des ›Ungeborenen, Ungewordenen, Ungeschaffenen, Ungestalteten‹ – wie es der Buddha in feierlichen Stunden nannte – in unsere Welt des Leidens und der Begrenzung hineinwirken kann.«

Eine Pause entstand und Abhâya stellte zu seinem Erstaunen fest, dass sein Hass auf sein Gegenüber nachließ, auch wenn er die Ermordung seiner Familie durch ihn nicht vergessen konnte, es wohl auch nie vergessen würde. »Auch heute ist wieder eine Vollmondnacht«, dachte Abhâya. Gebannt hatte er den Worten Karnuâbhâvanas gelauscht, sie gingen ihn unmittelbar etwas an, denn auch sein Leben stand seit vielen Monaten im Zeichen von Depression und Hass.

Nun setzte der ehemalige Räuber und Rächer seinen Bericht fort: »Im ersten Drittel der Nacht leitete Dharmarakshita mich an, all jener Menschen zu gedenken, die mir Leid angetan hatten und denen ich meinerseits Tod und Verderben gebracht hatte. Ich sollte ihnen allen Glück wünschen, dass sie frei werden von Leid und eines Tages die große Befreiung der Erleuchtung erfahren würden. Solche Gefühle konnte ich durchaus einer Reihe von Menschen gegenüber empfinden und ich bereute zutiefst, was ich ihnen angetan hatte. Doch war das nicht so in allen Fällen.

Als ich mir meinen schlimmsten Feind, den Mörder meiner Familie und Zerstörer meines Dorfes, in Erinnerung rief, war mir das nicht möglich. Ich malte mir stattdessen aus, wie er in Höllenwelten schmorte. Ja, ich verstieg mich sogar zu dem Gedanken, dass ich nur der Gehilfe des Karma-Gesetzes gewesen war, als ich ihn folterte und tötete, damit er seine ›karmische Strafe‹ erhielte. Mein Mitleid hielt sich in Grenzen als ich meinen ›Segenswünsch‹ an ihn so formulierte: ›Mögen die rot glühenden Eisenkugeln, die nun für Äonen in der Hölle fortwährend in seinen Mund gestopft werden, nach langer Zeit ein wenig kühler sein!‹ Ich erschrak über die Abgründe meines Herzens. Ich war wohl nicht fähig, einmal ein Heiliger zu werden.

Betroffen berichtete ich meinem Guru (Lehrer) diese Reaktionen. Er aber lachte verständnisvoll: »Dies sind deine alten karmischen Prägungen, die Samskâras. Sie drängen dich immer wieder in die gleiche Richtung des Hassens. Mach weiter!« Wieder versuchte ich, meinem Feind gegenüber ein liebevolles Gemüt zu entwickeln. Schließlich war es mir möglich, ihm zu wünschen, eines Tages auch das Nirvâna zu erreichen. Aber natürlich würde dies ›bedauerlicherweise‹ viele Äonen länger dauern als bei anderen Menschen. Wieder lachte mein Lehrer: »Siehst du, wie subtil Samskâras sein können? Verurteile dich nicht deswegen, nehme sie war, begreife sie als Teil deines jetzigen Wesens. Nehme sie an, sie werden sich langsam abschwächen, wenn du ihnen Aufmerksamkeit schenkst, ohne ihnen nachzuhängen und dir nicht vormachst, dass sie nicht mehr vorhanden seien. Jetzt, da du das Wesen der Samskâras erfahren hast, kann ich dich ein wenig mehr mit dem Karma-Gesetz bekannt machen.«

Er ließ mich aufrecht sitzen, den Körper liebevoll wahrnehmend, den Strom der Gedanken und Gefühle erlebend, ohne mich an Gedanken und Gefühle zu binden, in wacher Klarheit des Bewusstseins verbleibend. Dann legte er mir sanft die Hand auf meinen Scheitel und wies mich an, mich meines jetzigen Lebens rückwärts zu erinnern, bis zu den ersten Eindrücken dieses Lebens. Meine Eltern hatten mir im Erwachsenenleben berichtet, dass mein Vater während meiner frühen Kindheit einmal schwer von Soldaten misshandelt worden war. Nun sah ich in meiner Meditation, wie sich meine Eltern liebevoll über mich beugten, aber mein Vater trug eine klaffende Wunde in seinem Gesicht, Blut tropfte heraus.

»Geh weiter zurück, in dein vorheriges Leben«, wies mich Dharmarakshita an, während er den Druck auf meinen Scheitel verstärkte. Es war unangenehm. Angst überkam mich, dann Schwärze, aus der Schwärze stieg eine Kampfszene: Ein Bergdorf, ganz anders als unsere Bergdörfer. Die Häuser brannten. Im Hintergrund schreiende Frauen und Kinder. Eine der Frauen ähnelte im Aussehen Ushâ. Vor mir lag ein sterbender, aus vielen Wunden blutender Mann, den ich als meinen Vater in jenem Leben wahrnahm. Ein Angreifer, der offensichtlich meinen Vater zu Tode getroffen hatte, kam auf mich zu. Mit dem Mut der Verzweiflung, voller Hass und in Sorge um Frauen und Kinder stürzte ich mich auf ihn. Es gelang mir, ihn nach langem Kampf zu töten. Aber ich hatte so schwere Wunden erlitten, dass auch ich im Sterben lag. Eine Frau – eben jene wie Ushâ aussehende – beugte sich über mich: »Wir Frauen danken dir. Du hast uns gerettet. Dein Tod ist nicht sinnlos. Du wirst in unserer ewigen Erinnerung bleiben.« Dann wieder Schwärze.

Mühsam atmend kam ich in die Gegenwart zurück. Dharmarakshita beruhigte mich und sagte: « Du hast nun das Wirken der karmischen Triebkräfte, erlebt. Wir hätten in weitere Leben zurückgehen können. Doch das jetzt Erfahrene reicht für den Anfang. Ja, eigentlich wäre es genug, sich mit der jetzigen Lebensgeschichte zu beschäftigen, um zu sehen, wie aus alten Reaktionen immer ähnliche neue Situationen entstehen, wie ein Zwang zur Wiederholung. Dies geschieht so lange, wie wir uns der Reaktionsweisen nicht bewusst werden, ihnen blind folgen und meinen, das sei richtig so. Erstwenn wir uns der alten Reaktionsweisen, der Auswirkungen der Samskâras, bewusst werden, entsteht Freiheit, weiter so zu handeln, oder allmählich sich zu verändern. Vor wenigen Stunden kam ein Mörder und Verbrecher zu mir, der schon in seinen vorherigen Leben Gewalt erfahren und ausgeübt hat. Diese Tendenzen prägten auch sein jetziges Leben. Ebenso auch seine Neigung, Frauen und Kinder zu schützen. Letztere hat ihn schließlich auf den Weg der Reue gebracht, nachdem er entgegen seinen Neigungen eine Frau und ein Kind getötet hatte.

Man muss sich Karma nicht unbedingt als ein Gesetz von Lohn für gute und Strafe für schlechte Taten vorstellen. Vielmehr entsteht durch eine Reihe von ähnlichen Taten und Gedanken eine Gewohnheitsenergie, die zu einer Fortsetzung in gleicher Richtung drängt. Aber nicht alles ist genau vorherbestimmt. In deinem Beispiel hätte es gut sein können, dass euer Dorf nicht zerstört worden wäre, wenn nicht manches zusammengekommen wäre – eine hungrige Dorfbevölkerung, ein ehrgeiziger Jungoffizier, hasserfüllte Steuereintreiber. Aber obwohl du im Dorf durchaus angesehen warst, gab es in dir Tendenzen zu Gewalt. Diese hätten bei anderen unglücklichen Umständen dazu führen können, dass du im Streit deinen Nachbarn erschlagen hättest und als ein vom Staat verfolgter Mörder geendet hättest.

Du siehst, ein bloß individuelles Karma kann es nicht geben. Karma ist viel komplexer, das Weltganze ist in unendlichen Beziehungen verflochten. Alles was du tust, alles was du denkst, hat Einfluss auf das Weltganze. Selbst da, wo du es nicht vermutest.

Ich will dir ein Beispiel geben, nicht etwa um dich zu trösten, sondern um dir das Verwoben-sein aller Dinge und allen Geschehens deutlich zu machen. Als du seinerzeit Ushâ ermordetest, hat sie dir verziehen, aus tiefer Einsicht heraus und aus ihrer Fähigkeit zur Liebe. Zuvor war sie eine zwar kluge und schöne Frau gewesen, aber hauptsächlich auf die kleine Welt ihrer Familie bezogen. Die dramatische Situation im Angesicht des Todes hat ihr einen entscheidenden Impuls gegeben, über sich selbst hinauszuwachsen. Der Todesaugenblick ist wahrscheinlich besonders entscheidend für die Art der Widergeburt und gibt dem künftigen Leben noch einmal eine vielleicht entscheidende Tendenz. Das war auch bei Ushâ so. Sie wurde zusammen mit ihrem Sohn in einem der niederen Himmel wiedergeboren. Und weißt du, was sie dort macht? Sie gibt ihre Erkenntnis weiter, dass Hass durch Liebe überwunden werden kann und so zum Ende kommt. Stelle dir nun einmal vor, dass sie mit dieser Botschaft hundert Himmelsbewohner erreicht. Wenn diese ihre Wiedergeburt in der Menschenwelt erlangen, verbreiten sie wiederum die Botschaft der Liebe, selbst wenn ihnen die Herkunft dieser heilsamen Samskâras nicht bewusst ist. Wie viel Segen wird so vielleicht aus deiner ruchlosen Tat entstehen! Aber diese Auswirkungen deiner Tat werden dir selbst nicht direkt zum Segen gereichen. Denn du hast nicht absichtlich etwas Gutes bewirken wollen. Nur die absichtsvolle Tat hat karmische Auswirkungen«.

Ich war erschüttert. Was wusste dieser weise Bhikshu? In tiefem Vertrauen bat ich ihn, dass er mir mehr von der Lehre des Erhabenen vermitteln möge. Und so machte er mich im dritten Teil der Nacht mit den Grundlagen des Bauddha-Dharmas vertraut. Ich kann dir die Tiefe und Schönheit seiner Worte nicht vermitteln, bin ich doch erst ein Anfänger auf dem Weg. Aber ich kann versuchen, dir ein wenig davon zu berichten.