Stirb leise, mein Engel - Andreas Götz - E-Book
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Stirb leise, mein Engel E-Book

Andreas Götz

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Beschreibung

Drei tote Mädchen, ein dunkles Geheimnis und ein teuflisches Spiel: ein Thriller, der unter die Haut geht! München, das Ende eines heißen Sommers. Drei Mädchen sterben innerhalb weniger Wochen - wie es scheint, aus eigenem Entschluss. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn alle drei wollten mit ihrer großen Liebe in den Tod gehen. Und sie ahnten nicht, dass ausgerechnet er, der mit ihnen sterben wollte, sich als ihr schlimmster Feind entpuppen würde. Ein raffinierter Pageturner über eine rätselhafte Todesserie unter Teenagern - über Mord, Geheimnisse und tiefe Abgründe.

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»ICH HAB ANGST, Tristan.«

Bitte nicht! Du killst mich, Mädchen. Mach jetzt bloß keinen Rückzieher!

»Tristan?«

Ich muss was sagen. Ihr gut zureden. Aber ich kann nicht. Ich will auch nicht mehr. Wieso bin ich plötzlich so müde? So matt? Das Einzige, wozu ich imstande bin, ist, sie stumpf anzusehen. Aber eigentlich sehe ich sie gar nicht. Was ist nur mit mir los? Alles kommt mir auf einmal so sinnlos vor. Was mache ich hier eigentlich?

»Du musst nicht«, höre ich mich sagen, »dann geh ich eben allein …«

Und es ist mir tatsächlich egal. Alles.

Doch da legt sie ihre verschwitzte Hand auf meine, und wie ein Stromschlag durchfährt es mich: diese Hand! Diese ekelhafte Hand, die ihn angefasst hat! Und damit kommt die Kraft zurück. Die Energie. Nein, ich will es! Je schneller ich es zu Ende bringe, desto besser.

Ich überwinde mich, drücke ihre Hand und sage: »Lass uns gehen, mein Engel …«

Sie sieht mich an, aus feuchten Rehaugen.

Wenn sie wirklich kneift, erwürge ich sie mit diesen meinen Händen. Sogar das könnte ich jetzt, wenn ich müsste.

Ich ziehe meine Hand aus ihrer, steige aus dem Bett und gehe zum Schreibtisch. Unsere Abschiedsbriefe liegen wie aufgebahrt nebeneinander, und diagonal darüber eine schwarze Rose. Sarah ist so schrecklich kitschig. Gott sei Dank konnte ich ihr ausreden, dass wir einen gemeinsamen Brief schreiben. Ich überfliege die dürren Abschiedsworte an ihre Eltern, ihren kleinen Bruder, ihre Freunde. Am Schluss die Sätze: Niemand ist schuld an meinem Tod. Ich sterbe aus freiem Entschluss.

Ich beuge mich über den Stuhl, greife in die Innentasche meiner Jacke und hole das Tütchen mit dem Zyankali heraus. Hoffentlich wirkt es bei Sarah genauso schnell wie bei dem Köter. Es können keine zwei Minuten gewesen sein, bis der hinüber war.

Wow. Mein Puls jagt auf einmal wie wild. Ich spüre meinen Herzschlag bis unter die Kopfhaut.

Wird schon gut gehen.

Ich stelle mich vor die beiden Cola-Gläser, damit Sarah vom Bett aus nicht sehen kann, dass ich das Gift nur in eines mische. Sie vertraut mir bedingungslos. Wieso auch nicht? Ich liebe sie mehr als mein Leben. Ha, ha! Mit den beiden Gläsern gehe ich zum Bett und reiche Sarah das eine. Meines halte ich fest umschlossen in der Hand. Während sich in ihrer Cola aus Kaliumzyanid und Kohlensäure tödlich giftige Blausäure bildet, sieht Sarah mich ergeben an.

»Geht es auch wirklich schnell?«

Ich nicke.

»Tut es weh?«

Ich zucke mit den Achseln. »Denk nicht drüber nach.«

Statt endlich zu trinken, lässt sie ihr Glas sinken, stellt es auf ihrem Oberschenkel ab und starrt hinein. Etwas bedrückt sie noch, und ich weiß genau, was es ist. Nicht zu fassen. Sie ist so eine dreckige Schlampe! Sogar im Angesicht des Todes denkt sie noch an so was. Am liebsten würde ich ihr ins Gesicht schlagen.

»Komm, mein Engel«, sage ich mit honigsüßer Stimme, »lass es uns jetzt tun.«

»Küssen wir uns vorher gar nicht?«

Es muss wohl sein. Ich neige mich zu ihr, drücke meine Lippen auf ihren leicht geöffneten Mund. Sofort drängt sich ihre Zunge in meine Mundhöhle, glitschig und beweglich wie ein Aal. Ihre Hand packt mich an der Schulter, so fest, dass es wehtut. Nein, sie wird nicht trinken, wenn ich jetzt nichts unternehme. Am liebsten würde ich ihr das Zeug mit Gewalt einflößen, aber ich reiße mich zusammen, ein letztes Mal. Ich löse mich und nehme ihre Hand, die das Glas hält, hebe sie bis auf halbe Höhe zu ihrem Mund. Ich hauche ihr Dinge ins Ohr, die sie jetzt hören will.

»Mein Engel, gleich sind wir für immer vereint. Ist unsere Liebe diesen Schmerz nicht wert?«

Sie nickt und sieht mich mit diesem dummen Hundeblick an. Ein langer Moment vergeht. Noch einer. Sie will noch etwas sagen, aber ich verschließe ihren Mund mit zwei Fingern.

»Keine Worte«, flüstere ich. »Stirb leise, mein Engel.«

Endlich setzt sie das Glas an die Lippen.

»Wir sehen uns auf der anderen Seite«, sage ich und winke dabei sogar. Tränen rinnen aus ihren Augenwinkeln, während die Cola ihre Kehle hinabläuft. Soll ich gnädig sein und auch trinken, damit sie in ihren letzten Minuten Trost darin findet, dass wir wirklich gemeinsam gehen? Alles in mir widerspricht. Ich stelle mein Glas auf den Nachttisch, verschränke die Arme vor der Brust und warte, bis es endlich, endlich losgeht.

 

WIE LANGE BEWEGT sie sich schon nicht mehr? Atmet sie noch? Diese blicklosen Augen sind mir unheimlich. Sie ist tot. Ich glaube, sie ist tot. Mit zwei Fingern ziehe ich ihre Hand am Ärmel hoch und lasse sie los. Sie fällt, schwer wie ein Stein. Was unterscheidet sie jetzt eigentlich von einem Stein? Und wo ist das hin, was sie eben noch war? Irgendwas ist hier passiert, aber so richtig kapier ich nicht, was. Wird mir gleich schlecht?

Nein.

Ich muss aufhören, sie anzustarren. Vielleicht bringt das Unglück. Vielleicht bin ich jetzt verflucht. Unsinn! So was gibt es nicht. Ich muss mich konzentrieren. Fokussieren. Ich brauche jetzt alle meine Sinne und meinen ganzen Verstand. Das ist die Phase, in der Fehler gemacht werden. Dumme Fehler. Ich darf keine Fehler machen.

Ich reiße mich also los und bringe mein Glas in die Küche, spüle und trockne es und stelle es in diesen superhässlichen Hängeschrank. Dann kehre ich in Sarahs Zimmer zurück, gehe schnurstracks auf den Schreibtisch zu, ohne zum Bett zu sehen. Meine Hand zittert nur ein kleines bisschen, als ich meinen Abschiedsbrief unter der schwarzen Rose herausziehe und einstecke. Ich schlüpfe in Schuhe und Jacke und setze meine Baseballmütze und die Sonnenbrille auf.

Letzter Check: Liegt noch etwas von mir herum? Nein. Meine Fingerabdrücke auf Sarahs Glas und meine DNA überall sind egal. Nach einem Selbstmord schickt die Polizei keine Spurensicherung. Und selbst wenn: Ich bin nicht vorbestraft, nie mit der Polizei in Kontakt gekommen. Sie könnten mit meinen Abdrücken und meiner DNA nichts anfangen. Ein kalkulierbares Risiko also.

Es ist kurz nach zwei. Ich liege gut in der Zeit. Vor vier kommt niemand nach Hause, hat Sarah gesagt. Ehe ich das Zimmer verlasse, sehe ich mich ein letztes Mal um.

Nichts erinnert an mich.

 

ES REGNET. ICH behalte die Sonnenbrille trotzdem auf und will den Jackenkragen hochschlagen, lasse es dann aber bleiben. Ich bin durchgeschwitzt, und die kühlen Tropfen auf meinen Wangen tun gut. Die Straße sieht noch so aus wie zuvor und ist doch ganz anders. Als ich sie heruntergekommen bin, glaubte ich noch, Sarah sei die Einzige, die heute sterben würde. Aber jetzt, da ich sie wieder hinaufgehe, weiß ich: Das stimmt nicht. Auch ich bin gestorben. Das, was hier langläuft, ist ein Geist. Ein Phantom. Ziemlich strange, dieses Gefühl, aber auch cool.

Bin ich wirklich hier auf der Straße? Oder immer noch bei Sarah und sehe zu, wie sie krepiert? Keine Ahnung, alles ist irgendwie eins. Ich sehe, wie ihre krampfende Hand sich ins Kissen krallt, höre das hohle Keuchen, sehe den irren Blick und die Verzweiflung darin. War es nur die Angst vor dem nahenden Tod, oder war sie auch meinetwegen verzweifelt, weil ich sie derart verraten und betrogen habe? Ich hoffe, es war so. Und ich wünschte, das Ganze hätte länger gedauert. Nie war ich so sehr bei mir wie in diesen Minuten. Kein einziger Gedanke in meinem Kopf, nur pures Sein. Ich hab nicht einmal mehr daran gedacht, warum ich das alles mache. Es war in dem Moment einfach nicht wichtig.

Ein Stoß gegen meine Schulter reißt mich aus meinem Film. »Pass doch auf, Alter!«, bellt es mich an. »Bist du besoffen, oder warum eierst du so durch die Gegend?«

Ich bleibe stehen. Ein Typ im Kapuzenshirt stiert mich an, als hätte ich Aussatz im Gesicht. Kann man es mir etwa ansehen? Ohne was zu sagen, mache ich mich davon. Schaut er mir nach? Folgt er mir? Holt er die Polizei?

Ich wage es nicht, mich umzudrehen.

 

ICH BIN DOCH zu hastig aufgebrochen. Jetzt, da ich allmählich klarer werde, bereue ich meine Eile. Ich hatte noch Zeit. Zeit, mir den Anblick des Todes auf Sarahs Gesicht einzuprägen und das Glücksgefühl meiner gelungenen Rache zu genießen. Warum habe ich sie nicht genutzt? Schon verliere ich die ersten Details. Die Nuancen. Die Blässe ihrer Haut etwa. War sie mehr grau oder gelb oder wie Elfenbein? Die blicklosen Augen – haben sie wirklich wie verschleiert ausgesehen, oder bilde ich mir das nur ein?

Beim nächsten Mal muss ich mir alles genauer einprägen …

1

SASCHA LEHNTE AM Fenster, als ein Laster zwischen den beiden Halteverbotsschildern hielt, die seit ein paar Tagen den Bürgersteig schmückten. Umzüge Keferloher München Stuttgart Hamburg Berlin, stand außen auf dem Lkw zu lesen. Das waren wohl die neuen Nachbarn. Hoffentlich sind die besser als die alten, dachte Sascha. Sein Bedarf an lauter Heavy-Metal-Musik zu nachtschlafender Zeit war bis ans Lebensende gedeckt.

Er sah zu, wie drei kräftig gebaute Männer – offensichtlich die Möbelpacker – aus dem Führerhaus des Lasters stiegen, sich daneben aufstellten und beinahe gleichzeitig nach ihren Zigarettenschachteln griffen. Sie hatten sich ihre Glimmstängel gerade angezündet, als ein weinroter Golf heranbrauste, abrupt bremste und rückwärts vor dem Laster einparkte. Eine Frau stieg aus, ging auf die Männer zu und fing ein Gespräch mit ihnen an. Sascha schätzte sie ungefähr auf das Alter seiner Mutter. Auch den Kleidungsstil schienen sie zu teilen: Jeans, T-Shirt, Sneakers.

Die Männer nickten viel, sagten wenig, rauchten ihre Zigaretten. Da öffnete sich die Beifahrertür. Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bis zwei schlanke Beine in Cargohosen zum Vorschein kamen; und dann noch einmal ein paar Sekunden, bis auch der Rest folgte. Ein Mädchen. Oder eher eine junge Frau. Hübsch. Dunkelhäutig. Ungefähr in seinem Alter.

Sie stemmte die Arme in die Seiten und streckte den Rücken durch, so als hätte sie eine lange Fahrt hinter sich, obwohl das Auto ein Münchner Kennzeichen hatte. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, und ihr Blick ging nach oben, genau in seine Richtung.

Sascha machte einen Satz nach hinten, weg vom Fenster. Fast wäre er dabei auf seine Playstation getreten. Hatte sie ihn bemerkt? Hatte er so auffällig hinuntergestarrt? Quatsch, beruhigte er sich, bestimmt hatte sie gar nicht zu ihm hochgeschaut, sondern zu den Fenstern nebenan, den Fenstern ihrer neuen Wohnung.

 

SASCHA LEGTE DAS Comicheft weg. Er hatte keine Lust auf einen weiteren Wutausbruch des gewaltigen Hulk. Durch die offenen Balkontüren nebenan schwappten immer wieder kurze Wortwechsel zu ihm herüber. Welche Möbel wo stehen sollten, welche Umzugskiste in welches Zimmer, welches Regal an welche Wand gehörte. Den Namen des dunkelhäutigen Mädchens hatte er auch aufgeschnappt: Joy.

Schön, fand er. Ob das ihr richtiger Name war? Oder nur ein Spitzname? Die Amis hatten ja oft Namen, die was bedeuteten: Joy – Freude; Hope – Hoffnung; Grace … Das bedeutete auch irgend so was, er kam nur gerade nicht drauf, was. War sie also Amerikanerin? Die beiden redeten allerdings in perfektem Deutsch miteinander.

»Die Aussicht ist nicht so toll«, hörte er sie plötzlich so laut, als stünde sie neben ihm. Und das tat sie ja auch beinahe, nur eine dünne Sichtschutzwand trennte sie voneinander. Die Stimme dieser Joy klang nicht besonders mädchenhaft, ein bisschen dunkel und irgendwie sandig. Vielleicht ist sie ja die Tochter eines Bluessängers aus New Orleans, dachte er scherzhaft.

Nach ein paar Sekunden kam lautes, metallisches Klappern von drüben, anscheinend kramte sie in einer Werkzeugkiste.

»Wo ist denn der Kreuzschlitzschraubenzieher? Mama, hast du den?«

»Ich?«, hallte es aus der Wohnung zurück. »Na sicher, in der linken Hosentasche.«

»Scheiße. Haben wir den etwa liegen lassen?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, wie das Ding aussieht.«

»Na toll!«

Sascha schmunzelte, fasste nebenbei in seine Hosentasche und erschrak. Shit, dachte er. Er hatte sein Handy nicht eingesteckt. Falls seine Mutter angerufen oder eine SMS geschickt hatte, machte sie sich bestimmt Sorgen. Er verschwand nach drinnen, fand das Handy auf dem Garderobentisch und kontrollierte, ob entgangene Anrufe oder Nachrichten angezeigt wurden. Aber da war nichts.

Vielleicht hatte sie noch keine Zeit gehabt, sich zu melden. Und wenn ihr was passiert war? Das flaue Gefühl, das er nur zu gut kannte, breitete sich in seinem Bauch aus. Es würde nicht mehr weggehen, bis sie endlich anrief. Oder er sie. Er suchte ihre Handynummer im Adressbuch heraus und starrte sie auf dem Display an. Seine Mutter mochte es nicht, wenn er sie ohne Grund bei der Arbeit störte.

Ich frage sie einfach, was sie zu Abend essen will, dachte er, dagegen kann sie nichts einwenden, und – Da schrillte die Türglocke. Der Ton bohrte sich in ihn hinein, er glaubte jeden einzelnen Nervenstrang vibrieren zu spüren. Herzrasen. Enge in der Brust. Schweißausbruch. Wenn er öffnete … Zwei Männer, sie kommen auf ihn zu, mit betretenen Gesichtern. Deine Mutter … Es tut uns leid … Nein! Nicht an die Tür gehen, warnte etwas in ihm. Ja nicht an die Tür gehen!

»Mist, keiner zu Hause«, hörte er nach einer Weile eine dunkle, sandige Mädchenstimme draußen sagen.

Die neue Nachbarin!

Nur die neue Nachbarin.

Wieso ging diese verdammte Angst nicht weg?

 

ERST ALS ER endlich den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür hörte, löste sich die Anspannung. Wieder ein Tag, an dem sie wohlbehalten nach Hause kam. Wenn auch eine halbe Stunde später als angekündigt. Aber er würde ihr keine Vorwürfe machen. So cool und locker wie möglich trat er in die Küchentür.

»Hallo, Mama, da bist du ja endlich. Dann kann ich die Pizza in den Ofen schieben.«

»Unbedingt! Ich sterbe vor Hunger.«

Sascha ging zur Anrichte, schob das Blech mit der selbst gemachten Pizza ins Rohr und stellte die Zeitschaltuhr. »Fünfundzwanzig Minuten«, sagte er. Seine Mutter sank stöhnend auf einen Stuhl und streifte die Schuhe ab.

»Wie war dein Tag? Gibt’s wieder einen interessanten Fall?«

Sie hatte sich inzwischen ein Stück Weißbrot genommen, etwas davon abgerissen und in den Mund geschoben.

»Ein Mädchen hat sich umgebracht«, sagte sie kauend. »Mit Zyankali. Was irgendwie komisch ist. Wie kommt eine Sechzehnjährige an Zyankali?«

Sascha fand das nicht besonders ungewöhnlich. »Heutzutage kriegst du übers Internet doch alles.«

»Wahrscheinlich.«

»Und du musst jetzt rausfinden, wer ihr das Gift vertickt hat?«

»Wird schwer, aber wir versuchen es.«

Ihr Handy klingelte. Hoffentlich muss sie nicht gleich wieder weg, dachte Sascha sofort. Seine Mutter nestelte ihr Smartphone aus der Hosentasche und meldete sich. »Ilona Schmidt. – Ja. – Mach ich morgen gleich als Erstes. – Ihnen auch einen schönen Feierabend.« Sie schaltete das Handy aus und legte es weg.

Sascha hatte inzwischen die Flasche Chianti von der Anrichte geholt. Von seinem Vater hatte er gelernt, dass der Geschmack sich erst richtig entfaltete, wenn der Wein atmen konnte. Deshalb hatte er die Flasche schon vor einer halben Stunde entkorkt. Nun füllte er das Glas seiner Mutter bis zur Hälfte.

»Und wie sind die neuen Nachbarn so?«, fragte sie. »Schon was mitgekriegt von ihnen? Außer den Umzugskisten im Flur, meine ich.«

»Keine Ahnung. Ziemlich laut.«

Seine Mutter ließ sich mit einem Seufzer gegen die Stuhllehne sinken. Sascha wusste sofort, was jetzt kam. »Oh, Sascha-Liebling, wäre es eine arge Zumutung für dich, deiner alten Mutter den Nacken zu massieren, bis die Pizza fertig ist? Ich bin wieder so verspannt.«

»Kein Problem.«

Früher hatte sein Vater das immer gemacht.

Sascha trat hinter sie und begann, ihre Schultern und ihren Nacken zu massieren. Die Muskeln waren bretthart.

»Das ist echt toll«, sagte sie nach einer Weile. »Du rettest mir das Leben!«

Sascha lächelte.

Mehr und mehr erfüllte der Duft von geschmolzenem Käse, Oregano und Basilikum die Küche. Schließlich schnarrte die Uhr am Herd. Sascha ließ von den Schultern seiner Mutter ab und ging zum Ofen, um die dampfende Pizza aus dem Rohr zu holen. »Perfekt.« Beim Anblick von Tomaten, Zwiebeln, Oliven, Schinken und Peperoni lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er lud ein großes Stück auf jeden Teller, und sie stürzten sich gierig darauf.

»Hast du inzwischen über meinen Vorschlag nachgedacht?«, fragte seine Mutter nach einer Weile.

Sascha senkte den Blick und gab ein unbestimmtes Brummen von sich. Die ganze letzte Woche hatte sie kein Wort mehr darüber verloren, deshalb hatte er schon gehofft, sie hätte die Sache vergessen. Aber war ja klar: So was vergaß sie nie.

»Hast du?«

Nebenan erklang lautes Hämmern. Fünf, sechs, sieben Schläge, dann war es wieder ruhig.

»Was soll denn das bringen?«

»Ich weiß nicht, was du hast, Sascha. Es ist keine Schande, sich helfen zu lassen. Ich war gleich nach Papas Tod doch auch beim Psychologen. Denkst du deshalb schlecht von mir?«

Unwillig schüttelte er den Kopf. »Nein.«

»Vielleicht reichen ja schon ein paar Gespräche. Dr. Androsch ist ein anerkannter Spezialist für Jugendliche. Wenn bei Jugendstrafsachen ein Gutachten gebraucht wird, ist er fürs Gericht die erste Adresse.«

»Ich bin aber keine Jugendstrafsache.« Das kam schärfer raus, als er es gewollt hatte, aber seine Mutter ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.

»Hauptsächlich ist er Therapeut, nicht Gutachter. Wir fragen ihn nur um Rat, wenn Jugendliche im Spiel sind. Normalerweise kriegst du bei dem Mann gar keinen Termin, schon gar nicht so kurzfristig. Das hat er nur mir zuliebe gemacht. Er ist wirklich total nett. Du wirst ihn mögen.«

Während der Dr.-Androsch-Werbeblock an ihm vorüberplätscherte, zerstreute Sascha sich, indem er mit der Gabel eine Olive auf dem leer gegessenen Teller hin und her schubste.

»Na, was sagst du?«

Sascha blähte die Backen und stieß einen Schwall Luft aus. Er war doch kein Psycho. Und überhaupt, was sollte es bringen, alles wieder und wieder durchzukauen? Passiert war passiert, und irgendwie musste man eben damit klarkommen. Alles andere war total uncool. Sein Vater jedenfalls wäre bestimmt nicht zu so jemandem gegangen, egal, wegen was.

»Gib der Sache doch wenigstens eine …«

Es klingelte an der Tür. Sascha zuckte zusammen, und ehe er mitbekam, was passierte, war die Olive schon quer über den Tisch geschossen und unter dem Tellerrand seiner Mutter gelandet. »Scheiße.« Er setzte ein ungelenkes Grinsen auf. »Knapp vorbei ist auch daneben.«

Seine Mutter sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. Anscheinend fand sie das gar nicht witzig. Eher besorgniserregend. Dann stand sie auf und verließ die Küche.

Kaum war sie durch die Tür, sackte Sascha in sich zusammen. Was sie gleich wieder dachte. Er war wirklich bloß erschrocken. Panik kriegte er nur, wenn es klingelte und sie nicht da war und auch nicht angerufen hatte. War doch auch ganz normal, nach allem. Und auf Psychogelaber hatte er absolut keinen Bock. Auf die wichtigsten Fragen hatte dieser Dr. Androsch doch sowieso keine Antworten. Warum zum Beispiel überhaupt so was passieren musste. Warum ein Tag, der ganz normal anfing, im totalen Horror enden konnte.

So wie jener vor elf Monaten. Seine Mutter hatte freigehabt und nach dem Mittagessen noch endlos lange mit Sascha geredet, was damals nicht gerade oft vorkam. Und dann dieses schreckliche Klingeln. Zwei Polizeikollegen, unangemeldet. Seiner Mutter genügte wahrscheinlich schon der Anblick der beiden fahlen Gesichter, um zu wissen, was los war. Sie gingen ins Wohnzimmer, redeten gedämpft hinter verschlossener Tür. Sascha wusste sofort, dass etwas passiert war, und er erinnerte sich noch genau an das Gefühl, mit dem er aus der Küche in den Flur geschlichen war und daran, wie er dann dort stand und in diese zementierte Stille lauschte, aus der nichts zu ihm drang. Nach kurzer Zeit gingen die beiden Männer wieder, beide sahen ihn an wie jemanden, der einem nur leidtun konnte, einer klopfte ihm sogar im Vorbeigehen auf die Schulter. Und dann seine Mutter, die zu ihm kam, ihn fest umarmte, aus geröteten Augen ansah und sagte: »Wir müssen jetzt ganz stark sein.« Das waren der Tag, die Stunde und die Minute, als für ihn die Zeiger auf null gestellt wurden. Und dort standen sie noch immer.

Seine Mutter kehrte zurück. »Die neue Nachbarin«, teilte sie ihm mit. »Wollte wissen, wo hier in der Nähe eine Tankstelle ist. Sie wirkt nett.«

Sie setzte sich wieder, pulte die Olive unter ihrem Tellerrand hervor und steckte sie in den Mund.

»Ich habe für dich einen Termin bei Dr. Androsch gemacht«, sagte sie in diesem Kriminalhauptkommissarinnenton, den er absolut nicht leiden konnte. »Nächsten Donnerstag, fünfzehn Uhr. Wenn du willst, komme ich mit. Wenn du allein hingehen willst, auch gut. Aber hingehen wirst du.«

2

NACH ALLEM, WAS seine Mutter über Dr. Androsch erzählt hatte, hatte Sascha ihn sich ganz anders vorgestellt. Wie genau, wusste er gar nicht, aber auf jeden Fall nicht so: mittelgroß, schmächtig und nichtssagend wie ein leeres Blatt Papier. Nur seine Augen sind echt der Hammer, dachte Sascha. Meeresblau. Der Kontrast zu den schwarzen Haaren machte sie noch intensiver. Wie ein Magnet zogen sie den Blick an und ließen ihn nicht mehr los.

»Setz dich, Sascha. Willst du was trinken? Cola, Wasser, Kaffee?« Dr. Androschs Stimme war weder laut noch leise, weder hoch noch tief und passte perfekt zu seinem Aussehen.

Sascha schüttelte den Kopf. Er wollte nur eines: überhaupt nicht hier sein. Da er aber nun einmal hier sein musste, wollte er die Sache wenigstens möglichst reibungslos hinter sich bringen.

Er hatte erwartet, in eine Art Arztpraxis zu kommen. Das goldene Schild mit der Aufschrift Dr. Joachim Androsch – Psychotherapeut – Termine nur nach Vereinbarung, das unten neben der Haustür und oben am Eingang hing, sah ja auch sehr arztmäßig aus. Aber es gab hier nicht mal eine Sprechstundenhilfe oder so was. Nachdem er sich in den dritten Stock hochgeschleppt und geklingelt hatte, hatte Androsch selbst die Tür aufgemacht. Über knarzendes Parkett hatte er ihn dann in diesen Raum geführt, wo sie jetzt in einer erdbraunen Sitzgruppe saßen – Androsch im Sessel, Sascha auf der Couch –, unter Schwarz-Weiß-Fotos von Dünen, die liegenden Frauenkörpern ähnelten.

»Ist das Du überhaupt in Ordnung?«, fragte Androsch, während er sich Kaffee eingoss. »Oder soll ich lieber Sie sagen?«

»Mir egal.«

»Okay. Du kannst mich natürlich auch duzen, wenn du willst. Ich bin Joachim.«

Kein Bedarf, dachte Sascha und schaute verstohlen auf seine Uhr. Erst vier Minuten rum.

Androsch nahm einen Schluck Kaffee, dann lehnte er sich zurück, schlug die Beine übereinander und stützte den Ellbogen auf die Lehne des Sessels. Er trug ein langärmliges, weißes Hemd, an dem nur der oberste Knopf offen war, dazu eine schwarze Bundfaltenhose. Der breite Siegelring wirkte viel zu schwer für die schmale Hand. Ziemlich uncool, der ganze Typ, fand Sascha. Und das gab ihm irgendwie Sicherheit.

»Hab keine Angst«, sagte Androsch, »hier geschieht nichts, was du nicht willst. Du allein bestimmst, wo’s langgeht. Du bist der Fahrer, ich bloß der Beifahrer.«

Das wäre ja mal was ganz Neues, dachte Sascha.

»Natürlich erfährt niemand, was in diesen vier Wänden passiert, auch deine Mutter nicht. – Ein paar Dinge gibt es allerdings noch, um die ich dich bitten möchte. Du solltest immer pünktlich sein. Wenn du mal nicht kommen kannst, ruf vorher an und sag Bescheid. Es sollte auch nur ganz selten vorkommen. Versprichst du mir das?«

Sascha zuckte mit der Schulter. »Klar.«

»Die ersten fünf Sitzungen sind Probestunden. Wenn du das Gefühl hast, das hier funktioniert für dich nicht, sagst du es mir einfach und das war’s dann. So weit okay?«

Sascha nickte.

Als Androsch einen Block und einen Bleistift von einem Tischchen neben dem Sessel nahm und auf seinem Bein platzierte, wurde Sascha flau in der Magengegend. Jetzt ging es also los. Und er hatte keine Ahnung, was er diesem fremden Mann eigentlich erzählen sollte.

»Okay, Sascha, warum bist du hier?«

»Das wissen Sie doch bestimmt schon von meiner Mutter.«

»Ich will es aber von dir hören.«

»Meine-Mutter-meint,-ich-komme-nicht-damit-klar,-dass-mein-Vater-erschossen-wurde.« Den Blick auf seinen Oberschenkel geheftet, leierte Sascha den Satz runter, so wie er ihn sich zurechtgelegt hatte.

»Ist doch völlig normal, finde ich. Wie soll man mit so was auch klarkommen?«

Sascha sah erstaunt hoch. Hatte ihn seine Mutter nicht genau deshalb hergeschickt? War es nicht in den letzten elf Monaten ausschließlich darum gegangen, mit der Sache klarzukommen? Und nun tat ausgerechnet der Typ, der ihm dabei helfen sollte, so, als sei Klarkommen gar nicht das Thema! Das war so, als würde die Klausur, auf die man seit Ewigkeiten büffelte, einfach abgesagt.

»Was könnte das denn bedeuten«, fragte Androsch, »mit so einer Sache klarzukommen?«

Sascha zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Dass man nicht mehr dauernd dran denkt.«

»Denkst du denn dauernd daran?«

»Keine Ahnung. Irgendwie schon.«

»Und woran denkst du da so?«

»Keine –« Sascha unterbrach sich, weil er merkte, dass er dauernd mit keine Ahnung anfing und ihm das ziemlich dämlich vorkam. Obwohl es ja stimmte. Er hatte keine Ahnung, was für Gedanken das waren. Waren es überhaupt Gedanken? Nach einer ganzen Weile, die ihm selbst endlos erschien, sagte er: »Eigentlich ist es mehr ein Gefühl.«

»Kannst du dieses Gefühl beschreiben?«

»Es ist irgendwie so … Ich weiß nicht …«

»Spürst du es jetzt? In diesem Moment?«

Sascha horchte in sich hinein. Er spürte – gar nichts! Keine Trauer, keinen Schmerz. Nada. Und war das wirklich nur jetzt so? Oder nicht schon die ganze Zeit? Ihm wurde plötzlich heiß, so als wäre er gerade ohne Hausaufgaben erwischt worden. Am liebsten wäre er weggelaufen. Doch er blieb sitzen und sagte mit belegter Stimme: »Keine Ahnung …«

»Es ist immer schwer, Gefühle in Worte zu fassen.«

Vor allem, wenn man gar keine hat, dachte Sascha, und sofort rollte eine neue Hitzewelle an.

Nach einer Weile klammem Schweigen meinte Androsch: »Vielleicht fällt es dir ja leichter, etwas Schönes von deinem Vater zu erzählen. Etwas, woran du dich gerne erinnerst. Gibt es da was?«

Sascha atmete auf. Er wusste nicht, was passiert wäre, wenn Androsch in diese Gefühlerichtung weitergebohrt hätte. Ich an seiner Stelle hätte nicht lockergelassen, dachte er. Anscheinend ist er doch nicht so gut, wie Mama glaubt. Schon etwas entspannter, lehnte Sascha sich zurück. Einfach irgendwas zu erzählen, war total leicht. Und ihm fiel auch sofort was ein.

»Ist ziemlich lange her«, begann er, »ich war vier oder höchstens fünf, da hat mich mein Vater mal überrascht. Einfach so, ohne besonderen Anlass. Ich weiß noch genau, das Wetter war super und alles, und plötzlich klingelte es an der Tür und meine Mutter rief: ›Geh du, Sascha, ich glaub, es ist für dich.‹ Sie wusste natürlich Bescheid. Ich machte also auf, und da stand er vor mir, mein Vater, und er sagte: ›Mitkommen, junger Mann, Sie sind verhaftet! Geht das nicht ein bisschen schneller?‹ Und dann –«

Sascha sah plötzlich das helle Licht jenes Tages, und den Streifenwagen sah er auch und Papas lächelnden Kollegen am Steuer und Papa, der genauso lächelt und ihm die Tür aufhält und sagt: ›Einsteigen, aber ein bisschen plötzlich!‹ Und dann hebt sein Papa ihn auch schon auf den Sitz und sagt: ›Ohne Kindersitz, ausnahmsweise, die Polizei wird uns schon nicht erwischen‹, und dann schlägt die Tür zu … Und Sascha erinnerte sich noch, wie das Leder und der Stoff der Sitze rochen – nicht so toll, irgendwie nach kaltem Schweiß – und wie sich alles anfühlte, und das Funkgerät rauscht und knistert immer wieder, und dann steigt sein Vater ein, und sie fahren los und …

In diesem Augenblick, während er sich noch erinnerte, spürte er, dass etwas auf ihn zurollte. Er wusste erst nicht, was es war, und als er es erkannte, war es schon zu spät, um es noch aufzuhalten, also ließ er es einfach kommen. Mit voller Wucht ging es über ihn hinweg, dieses tosende Gefühl aus Trauer und Schmerz und Wut und Sehnsucht, wie eine gigantische Welle, ein Tsunami, es packte und schüttelte ihn durch und ließ ihn seine Umgebung völlig vergessen.

Und dabei hatte er noch so gut wie nichts von jenem Tag erzählt: nichts von dem Blaulicht, nichts von der Pistole, die er hatte berühren dürfen, nichts von dem riesigen Eisbecher auf der Heimfahrt. Er konnte es nicht, weil die Tränen einfach nicht aufhören wollten zu fließen und das Schluchzen einfach herauswollte und herausmusste und kein Ende finden wollte …

 

OKAY, JETZT IST es raus, dachte Sascha auf dem Weg nach unten. Ich bin ein Weichei. Wie hatte er nur derart die Fassung verlieren können? Das war noch nicht mal eine richtige Therapiestunde gewesen, bloß ein erstes Kennenlernen. Aber Androsch hatte ihn auch übel ausgetrickst mit seiner netten Art und der scheinbar harmlosen Frage. Es war sein Job, Leute zum Flennen zu bringen – Scheißjob, übrigens –, insofern musste man zugeben, dass er ziemlich gut war. Aber was brachte es? Sascha fühlte sich nicht erleichtert, sondern einfach nur leer. Oder besser: Er fühlte sich wie durchgekaut und ausgespuckt. Und das sollte er von jetzt an jede Woche mit sich machen lassen? Na, vielen Dank!

Als er mit einem heftigen Ruck die Haustür aufriss, fiel sein Blick auf den Rücken eines Mädchens, das vor dem Gebäude auf den Stufen saß. Sie drehte sich zu ihm um. Große, glänzende Augen sahen ihn an, so ähnlich wie die Mädchen in japanischen Mangas sie hatten. Und dazu ein kleiner Mund mit aufgeworfenen Lippen, der Sascha an eine Kirsche denken ließ. Sie sagte nichts, sondern drehte sich nach ein paar Sekunden wieder weg, um weiter an einem schon ziemlich zerfledderten Papiertaschentuch zu rupfen. Sascha stieg an ihr vorbei zum Bürgersteig hinab. An der Straßenecke wandte er sich noch mal um. Sie war weg.

Ich sag Mama einfach, dass ich mit dem Typen nicht kann, dachte er später im Bus. Aber dann suchte sie ihm wahrscheinlich sofort einen anderen Therapeuten. Nein, so leicht kam er aus der Nummer nicht raus. Es gab eigentlich nur einen Ausweg: Er musste sie davon überzeugen, dass er keine Therapie brauchte. Dass er über die Sache so gut wie hinweg war. Bloß, wie sollte er das anstellen?

 

SASCHA STIEG EINE Haltestelle zu früh aus. Er wollte das letzte Stück gehen. Noch ein bisschen Luft schnappen, bevor er ankam. Als das Unbehagen wieder hochdrängte, dachte er: Was ist schon dabei? Es sind nur zwei Quadratmeter Erde.

Und warum hast du dann geschlagene elf Monate gebraucht, bist du endlich mal hier auftauchst?

Vielleicht wäre es anders – besser – gewesen, wenn seine Mutter ihm erlaubt hätte, seinen Vater ein letztes Mal zu sehen. So, wie Sascha es verlangt hatte. Er hätte das schon verkraftet. Schließlich war er auch vor elf Monaten kein kleiner Junge mehr gewesen. Aber sie hatte nur gesagt: »Behalte deinen Vater so in Erinnerung, wie er war, als er noch gelebt hat.« Das hatte ihm erst recht Angst gemacht. Wieso durfte er ihn nicht sehen? Was war mit ihm passiert?

Seine Finger glitten über die Backsteinmauer. In dem Maße, wie er seine Schritte verlangsamte, beschleunigte sich sein Herzschlag. Schon tauchte das Tor auf. Dann stand er vor dem schmiedeeisernen Gatter, das einen Spaltbreit offen stand. Dahinter: Gräber. Eines am anderen.

Jetzt bloß nicht kneifen, dachte er.

Er musste wissen, ob er cool war oder ein Opfer. Normal oder ein Psycho. Dieser Seelenklempner sollte einsehen, dass sein Gequatsche überflüssig war und dass es rein gar nichts bedeutete, dass er vorhin so geflennt hatte. Und seine Mutter sollte endlich begreifen, dass sie nicht immer recht hatte und dass er ganz genau wusste, was er brauchte und was nicht.

Das Gatter quietschte in den Angeln, als er es aufschob. Kies, der unter seinen Fußsohlen knirschte. Ein steinerner Engel sah ihn an, der Zeigefinger auf den Lippen mahnte zur Stille. Sascha erinnerte sich genau an ihn. Den breiten Weg hinab, dann die dritte Abzweigung auf der rechten Seite. Auch daran erinnerte er sich. Die Trauerhalle unter der hohen Kuppel. Der hellbraune Sarg, die Blumen und Kerzen. Er erinnerte sich.

An alles erinnerte er sich, als wäre es gestern gewesen. Seine Mutter, die dasteht, im schwarzen Kostüm. Mein Beileid. Mein Beileid. Der arme Junge. Polizisten in Uniform, die den Sarg aufheben und tragen, den ganzen Weg. Die Polizeikapelle spielt einen leiernden Trauermarsch. Er selbst an Mamas Arm. Nicht ganz klar, wer wen stützt. Die rechteckige Grube. Der Erdhaufen unter einer grünen Plane. Von der Erde bist du genommen, zur Erde kehrst du zurück. Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Er erinnerte sich.

Wie sollte er das auch je vergessen!

Irgendwo hinter all den Grabsteinen musste sein Vater liegen. Sascha umrundete einen besonders wuchtigen und blieb schlagartig stehen, denn er fand sich unvermittelt vor einem von welken Kränzen und Blumengestecken bedeckten Erdhügel wieder. Ein noch junges Grab. Am Kopfende erhob sich ein schlichtes Holzkreuz, an dem ein schwarzer Schleier und das Foto eines Mädchens befestigt waren. Der Anblick traf Sascha wie ein Faustschlag. Sein Herz raste auf Hochtouren. Der Schweiß brach ihm aus. Er wollte weitergehen. Konnte nicht. Nachdem er ein paarmal auf der Stelle getreten hatte, drehte er sich um. Nach ersten zaghaften und noch unschlüssigen Schritten fing er an zu laufen und rannte schließlich den Weg, den er gekommen war, zurück. Wieder auf der Straße, blieb er stehen und atmete tief durch.

Scheiße, dachte er. Ich bin doch ein Opfer, ein Psycho. Klar, Mann, sagte es in ihm, was hast du denn geglaubt? Du kriegst schon einen Herzschlag, wenn es nur an der Tür läutet.

Im Bus musste er wieder an das Mädchen auf dem Foto denken. Das Mädchen in dem Grab. Sie hatte so jung ausgesehen, höchstens so alt wie er. Während ihm das bewusst wurde, kroch eine Gänsehaut über seine Unterarme. Was mochte der Grund sein für ihren frühen Tod? Obwohl er nichts über sie wusste, konnte er nicht aufhören, an sie zu denken.

 

ALS SASCHA ZU Hause ankam, stand Joy auf dem Bürgersteig und bastelte an einem Fahrrad herum. Mist, dachte er, ausgerechnet jetzt. Obwohl sie und ihre Mutter schon über eine Woche hier wohnten, hatte er noch so gut wie kein Wort mit ihr gewechselt. Dabei hätte er sie gerne kennengelernt. Sie sah nett aus. Leider hatte sich bisher keine Gelegenheit ergeben. Heute allerdings, nach allem, was er hinter sich hatte, war er nicht zu Small Talk aufgelegt. Und dass sie ihm womöglich ansah, dass er geflennt hatte, wollte er schon gar nicht riskieren.

Er war ungefähr auf fünf Meter heran, als Joy aufblickte. »Hi«, grüßte sie.

»Hi.«

Sofort wandte sie sich wieder ihrem Rad zu. Er wollte schon an ihr vorbeigehen, als sie ihn, ohne aufzuschauen, bat: »Kannst du mal kurz halten?«

»Äh …«, machte er.

»Dauert höchstens ’ne Minute.«

Zögernd nahm er den Lenker und sah zu, wie sie an der Bremse herumschraubte. Ihre Handgriffe wirkten ziemlich professionell, obwohl er das eigentlich nicht beurteilen konnte, denn in praktischen Dingen war er eine totale Niete. Dann betrachtete er ihre unordentlich hochgesteckten Haare, ihr ovales Gesicht mit den großen, dunklen Augen, die schlanke Figur. Von Nahem war sie noch hübscher als aus der Ferne. Und für ein paar Momente ließ ihn ihre Nähe sogar vergessen, was das bisher für ein Scheißtag gewesen war.

»Du heißt Sascha, oder?«, sagte sie irgendwann.

»Mhm«, machte er.

»Schöner Name. Ich bin übrigens Joy.« Während sie redete, schraubte sie weiter an ihrem Fahrrad herum. »Bist du immer so schweigsam?«

Er räusperte sich, überlegte, worüber er mit ihr reden könnte, doch sein Kopf war wie vernagelt. »Cooles Rad«, sagte er schließlich, obwohl er von Fahrrädern null Ahnung hatte.

»Eigentlich nicht. Gibt viel bessere.«

»Klar. Gibt es immer.«

Sie richtete sich auf, steckte das Werkzeug in die Seitentasche ihrer Cargohose und übernahm den Lenker. Ihre Hände lagen so dicht neben seinen, dass sie sich fast berührten.

»Du kannst jetzt loslassen, Sascha. Ich muss ’ne Probefahrt machen.«

Widerwillig löste er seine Hände vom Lenker. Sein Leben kam ihm neben ihrer Unbeschwertheit plötzlich so abgestanden vor. Nur zu gerne hätte er die bleierne Schwere, die ihm in den Knochen saß, abgeschüttelt, wenigstens für ein paar Stunden oder auch nur Minuten.

Joy stieg auf ihr Rad und fuhr los. »Wir sehen uns«, rief sie, und es klang in seinen Ohren wie ein Versprechen.

3

SO EIN MIST, dachte Sascha. Da brauchte man mal einen vollen Mülleimer, und was war? Gähnende Leere. Er riss den Brotkasten auf. Ein paar trockene Scheiben, immerhin. Die Äpfel in der Obstschale sahen auch schon ein bisschen verschrumpelt aus. Weg damit. Waren die beiden Bananen nicht überreif? Rein in den Abfall. Schon hörte er nebenan die Tür erst aufgehen und dann mit einem lauten Knall zuschlagen. Er schnappte sich den Eimer und verließ die Wohnung. Unter ihm, irgendwo auf der Treppe, klatschten Flip-Flops. Und in der Luft hing noch der Duft von Pfirsichshampoo.

Ich lade sie einfach ein, dachte er, während das Herz ihm bis in den Hals pochte, ganz beiläufig, so als würde es mir gerade eben erst einfallen.

Als er in den Hof kam, kämpfte Joy gerade mit dem Deckel des Müllcontainers, der wie immer klemmte. Sie trug knallenge Leggins und ein locker sitzendes Träger-Shirt, und sie sah verdammt gut darin aus. Er nahm sich einen Moment, um sie zu betrachten.

»Warte«, rief er dann, »ich helf dir.«

Joy wandte den Kopf. »So ein Glück«, sagte sie.

Glück – von wegen! Durch die offenen Balkontüren hatte Sascha gehört, wie Joys Mutter ihr befahl, den Müll runterzubringen. Seit Tagen lauerte er auf so eine Gelegenheit. Tage und Nächte, in denen er viel zu viel an Joy gedacht hatte. Jener eigentlich belanglose Moment, in dem er ihr Rad gehalten hatte, kam ihm immer mehr vor wie der vergoldete Anfang von irgendwas. Er wusste nur noch nicht, von was.

»Wegen dem bisschen Müll rennst du extra runter?«, fragte sie, als sie den kümmerlichen Inhalt seines Eimers sah.

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