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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Sophienlust Extra Nr. Andrea von Lehn beugte sich über den Kinderwagen, in dem ihr kleiner Sohn fröhlich strampelte. »Na, Peterle, dir scheint es ja hier draußen im Garten sehr gut zu gefallen«, meinte sie und streichelte ihm zärtlich über die runden Bäckchen. Peterle krähte laut vor Vergnügen, lachte glucksend und griff nach Andreas Haaren. Die junge Frau lachte. »Ich weiß genau, was du willst. Ich soll dich auf den Arm nehmen und herumtragen. Oder mit dir spielen. Deine beiden Onkel haben dich total verwöhnt. Wenn sie hier sind, kümmern sie sich ständig um dich. Nick schleppt dich immerzu herum, und Henrik bringt dein ganzes Spielzeug herbei. Aber deine arme, bedauernswerte Mutti hat viel zu viel zu tun.« Andrea stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus, den Peterle mit einem glucksenden Lachen quittierte. »Deine arme Mutti muss sich um den Haushalt kümmern, ihrem Mann in der Praxis helfen – und jetzt wird sie dich gleich füttern«, schloss sie. Doch statt ins Haus zu gehen, um Peterles Mahlzeit zu holen, hob Andrea ihren geliebten Sohn aus dem Wagen und trug ihn auf dem Arm ein Stück in den Garten hinein. Es war ein wunderschöner Tag. Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel, aber es war nicht schwül. Im Garten dufteten die Blumen.
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Seitenzahl: 152
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Andrea von Lehn beugte sich über den Kinderwagen, in dem ihr kleiner Sohn fröhlich strampelte. »Na, Peterle, dir scheint es ja hier draußen im Garten sehr gut zu gefallen«, meinte sie und streichelte ihm zärtlich über die runden Bäckchen. Peterle krähte laut vor Vergnügen, lachte glucksend und griff nach Andreas Haaren.
Die junge Frau lachte. »Ich weiß genau, was du willst. Ich soll dich auf den Arm nehmen und herumtragen. Oder mit dir spielen. Deine beiden Onkel haben dich total verwöhnt. Wenn sie hier sind, kümmern sie sich ständig um dich.
Nick schleppt dich immerzu herum, und Henrik bringt dein ganzes Spielzeug herbei. Aber deine arme, bedauernswerte Mutti hat viel zu viel zu tun.« Andrea stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus, den Peterle mit einem glucksenden Lachen quittierte. »Deine arme Mutti muss sich um den Haushalt kümmern, ihrem Mann in der Praxis helfen – und jetzt wird sie dich gleich füttern«, schloss sie.
Doch statt ins Haus zu gehen, um Peterles Mahlzeit zu holen, hob Andrea ihren geliebten Sohn aus dem Wagen und trug ihn auf dem Arm ein Stück in den Garten hinein. Es war ein wunderschöner Tag. Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel, aber es war nicht schwül. Im Garten dufteten die Blumen.
Nun kam Waldi mit flatternden Ohren angerannt. Er sprang an Andrea empor.
Die junge Frau lachte. »Ich weiß schon«, sagte sie in Waldis Richtung, »du willst Peterle die Händchen lecken, damit er auch merkt, wie sehr du ihn magst. Aber ich mag das nicht, verstanden? So kleine Kinder sind nämlich noch sehr empfindlich!«
Andrea bemühte sich um eine strenge Miene, die jedoch auf Waldi keinen Eindruck machte. Er fuhr fort, an seinem Frauchen emporzuspringen, und Peterle wedelte mit beiden Händchen in Waldis Richtung.
»Mich nimmt einfach kein Mensch ernst«, seufzte Andrea schicksalsergeben. »Ich möchte bloß wissen, woran das liegt.«
Nun kamen auch Hexe, ihre beiden Kinder und Severin, die Dogge, angerannt. Peterle wurde ganz aufgeregt. Beide Händchen streckte er nach den Hunden aus und quietschte vergnügt.
Auch ohne Worte verstand die junge Frau ihren Sohn. Der Kleine wollte mit den Hunden spielen. Seine braunen Augen glänzten vor Begeisterung.
»Aber das geht jetzt nicht, Peterle«, sagte Andrea unglücklich, »Betti richtet schon dein Mittagessen.« Sie trug das Kind zu seinem Wagen zurück.
Doch kaum lag Peterle auf der weiß bezogenen Matratze, da fing er auch schon aus Leibeskräften zu schreien an. Er wollte zweifellos auf dem Arm seiner Mutti bleiben. Oder mit den Hunden spielen.
»Sei still, Peterle«, bat Andrea. »Ich bin ja gleich wieder zurück.«
Aber Peterles Protestgeschrei hallte weiterhin durch den ganzen Garten.
Hans-Joachim streckte den Kopf aus der Haustür. »Du bist nicht zufällig gerade dabei, unseren Sohn umzubringen, Andrea?«, erkundigte er sich schmunzelnd. »Es klingt nämlich ganz danach.«
Mit unglücklichem Gesicht entgegnete die junge Frau: »Ich hab ihn bloß in seinen Wagen gelegt, um sein Mittagessen zu holen. Aber das passt ihm nicht. Er will herumgetragen werden. Und mit den Hunden spielen.«
Grinsend riet Hans-Joachim ihr: »Ruf doch deine beiden Brüder an. Die kommen mit Freuden her und tun alles, was ihr verwöhnter Neffe will.«
»Und morgen schreiben Sie dann eine schlechte Arbeit in der Schule und behaupten hinterher, daran sei nur ich schuld gewesen, weil ich sie vom Lernen abgehalten hätte.«
»Du bist schon eine bedauernswerte viel geplagte Frau«, meinte Hans-Joachim. Er nahm seine Frau in die Arme und küsste sie zärtlich.
Hinter ihnen war es plötzlich still geworden.
Rasch machte sich Andrea aus den Armen ihres Mannes frei und fragte mit großen Augen: »Ob ihm etwas fehlt? Er ist auf einmal so still.« Sie rannte auf den Wagen zu.
Peterle lag auf seiner weißen Matratze und lutschte seelenruhig an seinem Däumchen. »Gott sei Dank«, murmelte Andrea, »er ist ganz in Ordnung. Diese plötzliche Stille war mir ganz unheimlich.«
»O Andrea!« seufzte ihr Mann und legte seinen Arm um ihre Schulter. »Du bist ein wahres Original. Wenn Peterle schreit, denkst du, er sei sterbenskrank. Ist er ruhig, glaubst du das Gleiche. Was soll der arme Kerl denn tun, damit du beruhigt bist?«
»Du verstehst mich nicht«, erwiderte Andrea mit tragischer Miene. »So etwas versteht eben nur eine Mutter!« Hoch aufgerichtet betrat sie das Haus.
Grinsend folgte ihr Hans-Joachim. Ein Leben ohne Andrea hätte er sich einfach nicht mehr vorstellen können. Manchmal war sie noch ein großer Kindskopf. Aber gerade das liebte er an ihr. Eine ernste, würdige Andrea wäre nicht mehr seine Andrea gewesen.
Als Andrea die Küche betrat, hatte Betti bereits Peterles Mittagsmahlzeit gerichtet. Geriebene Karotten und Kalbfleisch. Letzteres natürlich zu Püree verarbeitet.
»Ich glaube, ich werde den Kleinen draußen im Garten füttern. Das Wetter ist so schön«, sagte die junge Frau.
»Hier ist Peterles Lätzchen«, antwortete Betti und drückte Andrea das Leinenlätzchen in die Hand, auf dem eine Ente mit ihren Jungen zu sehen war. Die großen Mädchen von Sophienlust hatten das gestickt und Andrea das Lätzchen zur Geburt ihres ersten Kindes geschenkt.
Andrea nahm auch noch den Teller und Peterles Löffel in die Hand, dann ging sie wieder hinaus in den Garten.
Der Kinderwagen stand noch am gleichen Fleck wie vor fünf Minuten. Aber nun beugte sich jemand über den Wagen und starrte aufgeregt in Peterles Gesicht. Es war ein kleines Mädchen von etwa fünf Jahren. Es hatte lange braune Zöpfe und trug ein hellblaues Kleidchen.
»Du bist Stefan!« stammelte das kleine Mädchen völlig außer sich. »Endlich habe ich dich gefunden. Ach, da wird sich der Opa aber freuen.«
Die Kleine streckte beide Arme in den Wagen und machte Anstalten, Peterle herauszuheben.
Andrea stellte den Teller auf einen Gartenstuhl. Dann wandte sie sich an das fremde Kind. »Wer bist du denn?«, fragte sie freundlich und mit ruhiger Stimme.
»Ich heiße Heidemarie«, gab das Mädchen bereitwillig Auskunft und richtete sich auf. »Und das da drinnen – das ist der Stefan.« Die Kleine deutete auf Peterle.
Lächelnd entgegnete Andrea: »Ich glaube, da irrst du dich, Heidemarie. In dem Wagen liegt Peterle. Er ist mein kleiner Sohn.«
Hartnäckig schüttelte die Kleine den Kopf, sodass die Zöpfe flogen. »Aber nein!«, rief sie aufgeregt. »Genauso sieht der Stefan aus. Er hat auch so dünne Haare. Und braune Augen. Und so klein ist er auch. Bestimmt ist das Stefan!«
»Wer ist denn Stefan?«, fragte Andrea ruhig.
»Das ist mein Brüderchen«, antwortete die Kleine. Ihre Stimme klang plötzlich traurig.
»Weshalb sollte denn dein kleines Brüderchen hier in diesem fremden Garten sein?«, erkundigte sich Andrea geduldig.
Heidemarie zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, wie er hergekommen ist. Es ist ja auch ziemlich weit von München.«
»Du kommst aus München?«, unterbrach Andrea die Kleine überrascht.
»Ja. Zusammen mit meinem Opa. Wir wohnen jetzt in Wildmoos. In einem Gasthof.«
Andrea beugte sich vor und nahm Peterle aus dem Wagen.
Mit andächtigem Gesicht verfolgte Heidemarie jede ihrer Bewegungen. »Aber er sieht genauso aus wie Stefan«, beharrte sie. »Ich glaube, er ist doch mein Brüderchen.«
Andrea hatte in Sophienlust gelernt, wie man mit Kindern umgehen musste. Sie setzte sich auf einen der Gartenstühle, band Peterle sein Lätzchen um, stellte den Teller mit dem Kindermenü neben sich und schob den ersten vollen Löffel in Peterles Mund.
Das Baby schluckte eifrig und sperrte den Mund sofort wieder auf. Die Nahrungszufuhr ging ihm offensichtlich nicht schnell genug.
Andächtig schaute Heidemarie zu. »Stefan«, sagte sie zärtlich, streckte vorsichtig das Händchen aus und strich damit über Peterles Flaumhärchen.
Andrea verbot dies dem fremden Kind nicht. Sie sah, wie verklärt das Gesicht des Mädchens plötzlich war. Mit ruhiger Stimme fragte sie: »Weshalb glaubst du, dass dein Brüderchen hier bei mir ist und nicht zu Hause bei deinen Eltern?«
Zum ersten Mal richteten sich die großen Kinderaugen voll auf die junge Frau. »Weil der Stefan auf einmal weg war«, berichtete Heidemarie. »Er hat in seinem Kinderwagen gelegen, draußen im Garten. Aber als die Mutti nachgeschaut hat, da war er auf einmal weg.«
»Entführt?«, rief Andrea mit aufgerissenen Augen und ließ den Löffel vor Schreck in den Teller zurückfallen. Peterle schrie empört los, weil der nächste Löffel so lange auf sich warten ließ.
Hastig schob Andrea einen vollen Löffel in Peterles empört geöffnetes Mündchen. Doch den Blick hielt sie dabei auf das fremde Mädchen gerichtet. »Man hat dein Brüderchen entführt?«, wiederholte sie.
Heidemarie nickte traurig. »Ja, so haben sie es genannt. Entführt. Und Männer in Uniform waren da. Alle haben sie nach Stefan gesucht. Aber niemand hat ihn finden können. Mutti und Vati waren schrecklich aufgeregt. Ich auch. Ich hab immer geweint. Und nachts geträumt und geschrien. Deshalb ist der Opa mit mir fortgefahren.«
Voll herzlichen Erbarmens hing Andreas Blick an dem blassen Kindergesicht. »Dein Brüderchen war also noch so klein wie mein Peterle hier?«, fragte sie.
Das Mädchen nickte wieder heftig. »Genauso«, bestätigte es. »So klein wie das Baby da. Und die Härchen waren auch so blond. Sag, Tante, ist das wirklich dein Baby?«
»Ja, Heidemarie, es ist wirklich mein Baby. Es tut mir so leid, dass ich dich enttäuschen muss. Aber bestimmt finden die Männer von der Polizei dein Brüderchen wieder.«
»Ich glaub nicht«, widersprach Heidemarie. »Stefan ist schon so lange weg.«
»Wie lange?«, forschte Andrea interessiert.
Heidemarie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht …«, antwortete sie gedehnt. »Aber es waren bestimmt viele Tage. Und an jedem Tag sind Männer zu meinem Vati und zur Mutti gekommen. Mein Vati ist überhaupt nicht mehr ins Geschäft gefahren.«
»Hat sich denn niemand gemeldet und Lösegeld verlangt?«, fragte Andrea, die sich recht gut in die verzweifelte Lage der Familie versetzen konnte.
»Von Geld – ja, von Geld haben sie gesprochen. Die fremden Männer, meine ich«, sagte Heidemarie. »Und sie haben immer gewartet, dass jemand anruft. Aber es hat niemand angerufen. Mein Vati hat immer nur vor dem Telefon gesessen.«
Wie entsetzlich, dachte die warmherzige Andrea. Wir furchtbar müssen diese Tage für die Eltern gewesen sein!
Peterle hatte sein Menü aufgegessen. Andrea hielt ihren kleinen Sohn dem fremden Mädchen hin. »Willst du ihn streicheln?«, fragte sie freundlich. »Du darfst es gern tun. Er mag andere Kinder sehr. Nur im ersten Moment, wenn er ein fremdes Kind sieht, da erschrickt er manchmal.«
»Genau wie Stefan«, entgegnete Heidemarie. Dann streichelte sie wieder vorsichtig über Peterles Flaumhärchen.
In diesem Moment kamen zwei Hunde wie die wilde Jagd durch den Garten auf das Haus zugerannt. Waldi und ein fremder Schäferhund.
Waldi schaute immer wieder zu dem großen Hund empor. Doch der schien ihn keineswegs wegen seiner geringeren Größe zu verachten. Er rannte vielmehr ernsthaft mit ihm um die Wette. Nebeneinander und mit heraushängenden Zungen langten die beiden Hunde bei dem Kinderwagen an.
»Mein Hanko«, sagte Heidemarie zärtlich und streichelte über den schönen Kopf des Schäferhundes.
»Gehört der Schäferhund dir?«, erkundigte sich Andrea interessiert.
»Ja«, bestätigte Heidemarie. Ihr Gesicht war plötzlich wieder traurig. »Aber die anderen Leute in dem Gasthof, die wollen den Hanko nicht«, berichtete sie. »Ich habe gehört, wie ein Mann zu dem Wirt gesagt hat, so ein Hund dürfe nicht in einem Zimmer mit den Menschen sein, wenn sie essen. Ich war sehr traurig darüber. Mein Hanko ist doch ein so braver Hund. Er sitzt immer ganz ruhig unter dem Tisch, wenn mein Opa und ich essen. Der fremde Mann, der war bestimmt bloß eklig.«
Andrea überlegte nicht lange. Sie schlug der Kleinen vor: »Willst du Hanko bei uns hier im Tierheim lassen?« Sie deutete zu den Freigehegen hinüber. »Siehst du das Haus dort hinten? Und die Zäune davor? Das ist ein Tierheim. Dort wohnen ein paar Affen. Und Bären. Und viele kleine Tiere. Deinem Hanko würde es dort gewiss gut gefallen. Außerdem kann er dann immer mit Waldi um die Wette rennen.«
Heidemarie machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Ich glaub schon, dass es Hanko hier gefallen würde«, meinte sie.
»Außerdem könntest du ihn natürlich jeden Tag hier besuchen. Wildmoos liegt doch gar nicht weit entfernt.«
»Da muss ich aber erst meinen Opa fragen«, entgegnete Heidemarie. »Vielleicht will er nicht, dass Hanko hierbleibt? Er kennt doch das Tierheim noch nicht. Und Peterle auch nicht.« Wieder traf ein sehnsuchtsvoller Blick den kleinen Jungen, den Andrea nun in seinen Wagen zurücklegte.
Diesmal protestierte Peterle nicht. Er fühlte sich angenehm satt und schläfrig.
»Weißt du was, Heidemarie? Ich gehe mit dir zu deinem Opa!«, rief Andrea kurz entschlossen. Ihre Gedanken kreisten noch immer um das schreckliche Schicksal des unbekannten Babys, das aus dem Garten seiner Eltern gestohlen worden war. Sie wollte mehr darüber erfahren. Vielleicht konnte man den Leuten auf irgendeine Art helfen? Andrea wusste zwar selbst nicht, was sie unternehmen sollte, wenn selbst die Polizei machtlos war, aber irgendetwas wollte sie auf alle Fälle tun. Und wenn sie nur Hanko in ihre Pflege nahm.
»Ich sag nur meinem Mann noch Bescheid«, erklärte Andrea und rannte schon ins Haus.
»Ich warte hier«, rief Heidemarie ihr nach.
*
Vor dem Gasthof ›Zum Bären‹ in Wildmoos stand ein älterer Herr von etwa sechzig Jahren in einem dunkelbraunen Anzug. Sein volles Haar glänzte silbrig in der Sonne, seine grauen Augen blickten besorgt die Straße hinauf und hinab.
Als nun ein Wagen mit kreischenden Bremsen auf der anderen Straßenseite hielt und eine junge Frau heraussprang, der ein fünfjähriges Kind und ein Schäferhund folgten, atmete der alte Herr sichtbar auf. »Heidemarie! Endlich!«, rief er und kam zum Wagen. Besorgt wandte er sich sogleich an Andrea: »Haben die beiden vielleicht etwas angestellt, da Sie sie mit dem Wagen herbringen?«
Lachend streckte Andrea dem alten Herrn die Hand entgegen. »Ich bin Andrea von Lehn«, stellte sie sich vor. »Und Sie sind Heidemaries Großvater, nicht wahr?«
Bernhard Witt verbeugte sich. »Allerdings. Mein Name ist Witt. Bernhard Witt.«
Fröhlich entgegnete Andrea: »Angestellt haben die beiden nichts, Herr Witt. Ich kann Sie beruhigen.«
»Ich dachte nur«, murmelte der alte Mann. An den scharfen Falten um seinen Mund und den dunklen Tränensäcken unter seinen Augen war zu erkennen, dass er in der letzten Zeit nur wenig Schlaf gefunden haben musste.
»Ihre kleine Enkelin war allerdings dabei, mein Söhnchen zu entführen«, sprach Andrea nun ernst weiter. »Sie hielt mein Peterle für ihr Brüderchen und war ganz aufgeregt. Ich musste sie dann leider enttäuschen …« Andrea strich dem kleinen Mädchen zärtlich über die Haare. »Es hat mir sehr leidgetan«, schloss sie mit kaum vernehmlicher Stimme.
»Peterle sieht aber wirklich aus wie unser Stefan, Opa«, verteidigte sich das kleine Mädchen und schaute zu dem alten Mann empor. »Du musst es dir unbedingt mal ansehen. Zuerst wollte es weinen, aber dann hat es gelacht. Ich hab es gestreichelt. Genau wie den Stefan.« Plötzlich hatte die Kleine Tränen in den Augen. »Ach, Opa«, fuhr sie schluchzend fort, »warum finden sie denn den Stefan nicht? Er ist jetzt doch schon so lange fort …«
Andrea von Lehn und Bernhard Witt wechselten einen Blick. Hilflosigkeit und Mitleid standen darin. »Sie werden dein Brüderchen schon noch finden«, versuchte Andrea Heidemarie zu trösten. »Manchmal dauert es eben etwas länger.«
Heidemarie nickte. Aber sie schluchzte noch immer leise. Hanko winselte dazu. Offensichtlich ging ihm der Kummer seines kleinen Frauchens sehr zu Herzen.
»Ich bin eigentlich wegen des Hundes mitgekommen«, berichtete Andrea dem alten Herrn nun. »Heidemarie hat mir erzählt, dass die anderen Gäste des Gasthofs nicht sehr erbaut sind von Hankos Anwesenheit. Ich wollte Ihnen einen Vorschlag machen.«
Bernhard Witt, der die ganze Zeit über mit besorgten Blicken seine Enkelin gemustert hatte, schaute Andrea erleichtert an.
»Wissen Sie eine Lösung?«, fragte er. »Heidemarie wollte sich nicht von ihrem vierbeinigen Spielgefährten trennen. Deshalb haben wir Hanko mitgebracht.«
»Mein Mann und ich besitzen ein Tierheim«, erklärte Andrea.
»Außerdem hat Hanko bereits mit unserem Dackel Waldi Freundschaft geschlossen. Es würde uns nichts ausmachen, den Schäferhund für eine Weile aufzunehmen.«
»Ich möchte Ihnen wirklich keine Ungelegenheiten bereiten, Frau von Lehn.«
»Das tun Sie auch gar nicht«, antwortete Andrea. »Wir haben für das Tierheim einen Pfleger. Er ist sehr zuverlässig und wird sicher auch mit Hanko zurechtkommen.«
»Willst du dich denn von deinem Hanko überhaupt trennen?«, fragte Bernhard Witt seine Enkelin.
Heidemarie nickte. Zum ersten Mal huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Die Tante hat nämlich gesagt, dass ich meinen Hund jeden Tag besuchen darf. Und dann kann ich auch mit Peterle spielen.«
Der alte Herr schmunzelte. »Mir scheint, du hast diplomatische Fähigkeiten«, amüsierte er sich. »Du gibst Hanko für eine Weile her, damit du dafür mit dem Baby spielen kannst. Für deine fünf Jahre bist du schon erstaunlich … Aber, nun geh schon mal rauf und wasch dir die Hände, Heidemarie. Wir kommen sonst noch zu spät zum Mittagessen.«
Das kleine Mädchen gab Andrea die Hand und machte einen Knicks.
»Morgen bringe ich dir Hanko«, versicherte es. »Heute will ich ihn noch für mich haben.«
»Ich versteh dich schon«, entgegnete Andrea augenzwinkernd. Dann schaute sie der Kleinen nach, bis sie im Gasthaus verschwunden war.
»Die ganze Geschichte hat Heidemarie sehr mitgenommen«, sagte Bernhard Witt zu Andrea. »Sie denkt ständig an Stefan. Und sie redet fast nur von ihm. Deshalb bin ich auch mit dem Kind hierhergefahren. Genützt hat das allerdings wenig. Heidemarie schaut immer noch in jeden Kinderwagen, ob nicht ihr geliebtes Brüderchen darin liegt.«
»Ich habe es bemerkt. Das war ein weiterer Grund dafür, dass ich hergekommen bin, Herr Witt. Meine Stiefmutter leitet ein Kinderheim hier ganz in der Nähe. Dadurch habe ich schon viele traurige Kinderschicksale kennengelernt. Wir versuchen zu helfen, wo wir nur können.«
»Nur wird in diesem Fall vermutlich niemand mehr helfen können«, erwiderte der alte Mann mit tonloser Stimme.
»Was wollen Sie damit sagen?« Andreas Frage glich einem Aufschrei.
Die vom Alter schon ein wenig blassen Augen richteten sich auf Andreas Gesicht. »Ich fürchte, dass mein kleiner Enkel nicht mehr am Leben ist«, erklärte Bernhard Witt mit der gleichen tonlosen Stimme wie zuvor. »Sonst hätten sich die Erpresser doch bestimmt schon gemeldet. Oder die Polizei hätte eine Spur gefunden. Aber nichts, rein gar nichts haben wir seither über den Verbleib des Kindes erfahren.«
Obgleich Andrea die Befürchtungen des alten Herrn teilte, versuchte sie ihn zu trösten. »Die Entführer wissen natürlich, dass die Polizei hinter ihnen her ist«, äußerte sie und zwang sich, ihrer Stimme einen möglichst gelassenen Klang zu verleihen. »Sie werden eine Weile warten, bis nicht mehr die gesamte Kripo hinter ihnen her ist, und dann ihre Forderungen stellen.«
»Das habe ich mir auch schon hundertmal gesagt«, bestätigte Bernhard Witt. »Aber je mehr Zeit vergeht, desto weniger kann ich noch an einen guten Ausgang glauben.«