4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €
Der erste Fall von Kommissar Sturni im Elsass. Ein spannender Straßburg-Krimi und ein gelungenes Debüt von Stefan Böhm. Antoine Sturni, Leiter der Straßburger Mordkommission, verbringt gerade ein freies Wochenende mit seinem siebenjährigen Sohn Christian, als er ins Europäische Parlament gerufen wird: Während einer Gedenkfeier verstarb plötzlich der Kabinettschef des Präsidenten der Europäischen Kommission. Eine Obduktion der Leiche ergibt, dass das Opfer vergiftet wurde. Die Ermittlungen führen Kommissar Sturni bis in die höchsten Ebenen der europäischen Politik. Da bereits seine Ehe an seinem nervenaufreibenden Beruf gescheitert ist, versucht der elsässische Lokalpatriot den Mord aufzuklären, ohne dabei seinen Sohn und seine neue Geliebte Margaux zu vernachlässigen. Ein nahezu unmögliches Unterfangen. Denn bei seinen Recherchen gerät Sturni in einen Sumpf aus Intrigen und schmutzigen Geschäften. Es geht um Macht, Geld, Eifersucht und um die Zukunft Europas. »Straßburger Geheimnisse - Kommissar Sturnis erster Fall« von Stefan Böhm ist ein eBook von Topkrimi – exciting eBooks. Das Zuhause für spannende, aufregende, nervenzerreißende Krimis und Thriller. Mehr eBooks findest du auf Facebook. Werde Teil unserer Community und entdecke jede Woche neue Fälle, Crime und Nervenkitzel zum Top-Preis!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 276
Veröffentlichungsjahr: 2018
Stefan Böhm
Kriminalroman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Antoine Sturni, Leiter der Straßburger Mordkommission, verbringt gerade ein freies Wochenende mit seinem siebenjährigen Sohn Christian, als er ins Europäische Parlament gerufen wird: Während einer Gedenkfeier verstarb plötzlich der Kabinettschef des Präsidenten der Europäischen Kommission. Eine Obduktion der Leiche ergibt, dass das Opfer vergiftet wurde. Die Ermittlungen führen Kommissar Sturni bis in die höchsten Ebenen der europäischen Politik.
Da bereits seine Ehe an seinem nervenaufreibenden Beruf gescheitert ist, versucht der elsässische Lokalpatriot, den Mord aufzuklären, ohne dabei seinen Sohn und seine neue Geliebte Margaux zu vernachlässigen. Ein nahezu unmögliches Unterfangen. Denn bei seinen Recherchen gerät Sturni in einen Sumpf aus Intrigen und schmutzigen Geschäften. Es geht um Macht, Geld, Eifersucht und um die Zukunft Europas.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
Samstag, 1. Juli 2017
Sonntag, 2. Juli 2017
Montag, 3. Juli 2017
Dienstag, 4. Juli 2017
Mittwoch, 5. Juli 2017
Donnerstag, 6. Juli 2017
Freitag, 7. Juli 2017
Samstag, 8. Juli 2017
Montag, 10. Juli 2017
Dienstag, 11. Juli 2017
Mittwoch, 12. Juli 2017
Donnerstag, 13. Juli 2017
Freitag, 14. Juli 2017
Für Luisa
Fahren wir dann auch mit der Achterbahn, dem Blue Fire Megacoaster? Du hast mir versprochen, sobald ich sieben Jahre alt bin, fahren wir zusammen damit!«
Antoine Sturni lehnte sich zurück auf seinem klapprigen Biergartenstuhl, schloss die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Er liebte diesen Ort, das Restaurant La Corde à Linge, die Wäscheleine, in La Petite France, Straßburg. Und er liebte seinen Sohn Christian, der letzte Woche sieben Jahre alt geworden war.
»Klar fahren wir mit dem Blue Fire, das hatte ich dir schließlich versprochen.«
Antoine hatte ganz verdrängt, dass er seinem Sohn eine gemeinsame Fahrt mit einer der schnellsten Achterbahnen im Europa-Park Rust in Aussicht gestellt hatte, sobald er seinen siebenten Geburtstag gefeiert hatte – das Mindestalter für eine Fahrt mit diesem Höllengerät. Wochenlang hatte Christian ihm damit in den Ohren gelegen, bis er endlich zugestimmt hatte. Sosehr er seinen Sohn liebte, so sehr hasste er es, eingezwängt neben kreischenden Touristen in einem Wagen zu sitzen und Loopings zu drehen. Aber es half nichts, versprochen war versprochen. Aus der Nummer kam er nicht mehr raus. Er öffnete die Augen, blinzelte in die Sonne, strahlte und fuhr seinem Sohn übers Haar.
Das letzte Jahr war nicht leicht für Christian und ihn gewesen. Es war jetzt etwas mehr als zwölf Monate her, dass seine Frau Caroline ihre Siebensachen gepackt hatte und zu ihrem neuen Freund gezogen war. Die Trennung war ein Schock für ihn, noch härter jedoch hatte es ihren Sohn getroffen. Sie hatten immer versucht, ihre Probleme vor Christian zu verbergen und ihm eine heile Welt vorzuspielen. Eine heile Welt, in der er seinen Vater allerdings kaum zu Gesicht bekam und in der Caroline sich um alle familiären Angelegenheiten kümmern musste. Lange hatte sie ihren Frust in sich hineingefressen, doch irgendwann war es passiert. Caroline hatte sich in einen Kollegen an der Haute école des arts du Rhin, der Kunst- und Musikhochschule des Elsass, verliebt, wo sie unterrichtete.
Hätte sie doch nur rechtzeitig mit ihm gesprochen, dann wäre vielleicht noch etwas zu retten gewesen, aber nun war es zu spät. Antoine war immer noch nicht über die Trennung hinweg. Im letzten Jahr hatte er gelitten wie ein Hund, wegen des Verlusts von Caroline, mehr aber noch wegen Christian, der nun jeweils eine Woche bei seiner Mutter und eine bei ihm verbrachte und dessen heile Familienwelt bereits im zarten Alter von sechs Jahren zerbrochen war.
Es war für ihn der bisher schlimmste Moment in seinem Leben, als Caroline und er ihrem Sohn mitteilen mussten, dass sie künftig keine Familie mehr sein würden und dass Christian in wöchentlichem Wechsel bei seiner Mutter und seinem Vater leben würde. Immerhin hatte Caroline ihm zugestanden, dass sie sich gemeinsam um Christian kümmern würden. Sie wusste, wie sehr er an Christian hing, und wollte ihm nicht auch noch den Sohn wegnehmen, nachdem er schon die Frau verloren hatte. Bedingung dafür war allerdings, dass Antoine seiner Betreuungspflicht gegenüber Christian auch tatsächlich nachkam – und das glich bei seinem Beruf der Quadratur des Kreises.
Antoine machte sich immer noch schwere Vorwürfe. Es war nicht so, dass Caroline nicht versucht hätte, mit ihm zu sprechen. Erst nachdem sie ausgezogen war, wurde ihm das bewusst. Er war nur immer so absorbiert von seiner Arbeit als Kriminalhauptkommissar im Morddezernat der Straßburger Polizei, dass er Carolines Versuche, ihre Beziehung zu retten, einfach nicht beachtet, ja nicht einmal wahrgenommen hatte. Nun war es zu spät, er hatte sie endgültig verloren. In nur drei Wochen war der Scheidungstermin, und dann würden sie nicht mehr Monsieur et Madame Sturni sein. Alles, was von ihrer gemeinsamen Zeit bleiben würde, war Christian. Er hatte Caroline und auch Christian vernachlässigt und nun auf schmerzhafte Weise die Quittung dafür bekommen.
Doch all die Sorgen und Probleme der letzten Zeit waren in diesem Moment wie weggeblasen. Die Sonne schien, er saß in seinem Lieblingsrestaurant in seiner Lieblingsstadt und hatte die Person an seiner Seite, die ihm am wichtigsten im Leben war: seinen Sohn. Morgen würden sie Christians Geburtstagsgeschenk einlösen und gemeinsam einen Tag im Europa-Park in Rust verbringen, nur sie beide. Konnte das Leben schöner sein?
»Nimmst du auch die Spätzle mit dem Sauerkraut?«
»Aber Papa, du weißt doch, dass man mich mit Sauerkraut jagen kann!«
Christians Mama kam aus Saint-Jean-de-Luz, einer Kleinstadt am Golf von Biskaya kurz vor der spanischen Grenze, und das elsässische Sauerkraut kam daher nie auf den Speiseplan der Familie Sturni, sehr zu Antoines Bedauern, der in Ribeauvillé in der Nähe von Colmar aufgewachsen war. Vielleicht war auch das ein Grund für das Scheitern ihrer Ehe, denn zwischen dem Elsass und dem Südwesten Frankreichs lagen Welten. Die anfangs fast schon exotische Anziehungskraft zwischen ihnen ließ im Ehealltag rasch nach und wich zunehmend Frust, bei dem selbst das fehlende Sauerkraut auf dem Speiseplan zu Streit führte.
»Natürlich nehme ich einen Hamburger Maison mit extra viel Speck, so wie immer!«
Sie hatten bereits ihre Rituale in Antoines Lieblingsrestaurant, und dank der deftigen Burger hatte sich sein Sohn noch nie über das La Corde à Linge beschwert.
»Und als Nachtisch möchte ich gern den Apfelkuchen mit Streuseln. Ach ja, und noch eine Orangina, bitte!«
Immerhin hatte sein Sohn gegen den leckeren elsässischen Apfelkuchen mit Streuseln nichts einzuwenden.
Seine Kollegen im Kommissariat machten sich immer darüber lustig, dass er gerade diese Touristenfalle zu seinem Lieblingsrestaurant auserkoren hatte. Man konnte in Straßburg wahrlich besser und auch günstiger essen. Außerdem war man im La Corde à Linge, zumindest wenn man im Freien saß, ständig von Touristenströmen umringt. Schließlich lag der Außenbereich des Restaurants mitten in einem der Postkartenmotive Straßburgs, genannt La Petite France, was so viel bedeutet wie »Frankreich im Kleinen«. Antoine ließ die Lästereien seiner Kollegen stoisch über sich ergehen. Er liebte diesen Platz, und die Rentnergruppen aus Deutschland, die sich dicht an ihrem Tisch vorbeischoben und neugierig auf ihre Teller schauten, nahm er gerne in Kauf.
Außer den deutschen Rentnern und einigen asiatischen Touristen wirkte die Petite France heute wie ausgestorben. Es war Samstag, der 1. Juli 2017, und im Europäischen Parlament fand gerade die Gedenkfeier für den kürzlich verstorbenen »Kanzler der deutschen Einheit« statt. Halb Straßburg schien sich um das Parlament versammelt zu haben, auch wenn nur einige Hundert hochrangige Politiker aus aller Welt Zutritt ins Parlament erhielten. Alle Einsatzkräfte der préfecture de police Straßburgs waren aufgeboten, nur das Morddezernat blieb verschont. Was hätten sie dort auch tun sollen? Schließlich war der umstrittene Politiker eines natürlichen Todes im gesegneten Alter von siebenundachtzig Jahren gestorben. Die Petite France gehörte ihnen fast allein, und Antoine genoss die seltene Ruhe an diesem sonst so bevölkerten Ort.
Er war etwas befremdet von dieser Trauerzeremonie, die eines deutschen Kaisers würdig gewesen wäre. Eine Gedenkfeier im Europäischen Parlament, eine Fahrt mit dem Sarg auf dem Rhein, anschließend eine Totenmesse im mittelalterlichen Dom zu Speyer und schließlich die Beisetzung auf dem Friedhof des Domkapitels. So viel Pomp bei einer Beerdigung hätte er den Deutschen gar nicht zugetraut. Und dabei hieß es immer, die Franzosen neigten zu Pathos, während die Deutschen eher kühl, rational und nüchtern seien. Straßburg vereinte das Beste aus beiden Kulturen, fand Antoine; immerhin gehörte die Stadt doch im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte mal zu Frankreich und mal zu Deutschland.
Das ehemalige Gerberviertel Straßburgs, die Petite France, hatte sich inzwischen zum wichtigsten Touristenmagneten gemausert, und die historische Innenstadt Straßburgs, die Grande-Île, wurde bereits im Jahr 1988 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Das war nicht immer so. Im 16. und 17. Jahrhundert, aus denen die Fachwerkhäuser des Stadtteils stammten, war das Viertel ein düsterer und heruntergekommener Ort. Die Häute und Felle der Gerber verbreiteten einen entsetzlichen Gestank, der Unrat blieb einfach in den Gassen liegen, und auch die Bordelle der Stadt waren damals hier angesiedelt. Der Name des Stadtteils war auf ein altes Militärkrankenhaus zurückzuführen, das Hospital »Blatterhüs«, in dem im 16. Jahrhundert an Syphilis erkrankte französische Soldaten behandelt wurden. Die Syphilis wurde von der zu jener Zeit noch deutschsprachigen Bevölkerung auch als Franzosenkrankheit bezeichnet, daher stammt der heutige Name La Petite France. Die Einwohner Straßburgs sprachen damals in erster Linie Oberrheinalemannisch, einen deutschen Dialekt und Vorläufer des heutigen Elsässisch. Inzwischen befand sich im ehemaligen Hospital »Blatterhüs«, direkt gegenüber dem Restaurant La Corde à Linge, das Restaurant Maison des Tanneurs, das für seine Sauerkrautspezialitäten bekannt war. Christian und er blieben aber wegen der guten Burger dem Corde à Linge treu.
»Gehen wir nachher noch in den kleinen Zoo des Parc de l’Orangerie? Dort haben sie neue Makaken-Äffchen bekommen, die könnten wir uns anschauen. Ich habe auch einen Basketball im Auto, und wir könnten auf dem Sportgelände noch ein paar Körbe werfen?«
»Papa, der Zoo dort ist winzig, das ist doch was für Babys. Basketball spielen wäre natürlich super. Aber davor essen wir noch ein Eis, ja? Beim Eisstand Chez Franchi am Eingang des Parks.«
Christian hatte seinen ganzen Burger verdrückt und machte sich gerade über seinen Apfelkuchen mit Streuseln her. Für ein Eis war anscheinend immer noch Platz. Antoine freute sich, dass seinem Sohn der Appetit trotz des für ihn so verwirrenden letzten Jahres nicht vergangen war.
Sein Diensthandy klingelte, als sie gerade die Rechnung bestellt hatten. Das bedeutete nichts Gutes. Ausgerechnet an seinem freien Wochenende, an dem er sich voll und ganz Christian widmen wollte. Nachdem seine Ehe zerbrochen war, hatte er sich fest vorgenommen, nicht auch noch die enge Bindung zu seinem Sohn zu verlieren. Jede freie Minute wollte er für ihn da sein. Leider waren die freien Minuten ziemlich dünn gesät, und ein dienstlicher Anruf am Wochenende war das Letzte, was er gerade gebrauchen konnte.
»Oui, allô?«
»Sturni, wo stecken Sie?«
Es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Alain Bouget, Straßburger Polizeidirektor und sein direkter Vorgesetzter, war selbst am Apparat. Hatte er an diesem Tag, an dem die gesamte Straßburger Polizei gemeinsam mit Polizeieinheiten aus ganz Frankreich und verschiedenen Spezialeinsatzkräften die Sicherheit der politischen Elite aus der ganzen Welt gewährleisten sollte, nichts Besseres zu tun?
»Ich feiere mit meinem Sohn seinen siebten Geburtstag nach.«
Antoine bediente sich einer kleinen Notlüge in der Hoffnung, seinen Vorgesetzten rasch wieder loszuwerden.
»Das hat sich vorerst erledigt!«
Bougets Stimme klang sachlich und kühl, kein Wort des Bedauerns oder der Entschuldigung seitens seines Vorgesetzten.
»Kommen Sie sofort ins Europäische Parlament!«
Auch das noch. Sturni liebte zwar Straßburg, das Europaviertel rund um das Europäische Parlament mied er jedoch für gewöhnlich. Besonders dann, wenn die Horde der Parlamentarier und sonstigen Eurokraten einmal im Monat in Straßburg einfiel, um dort ihre Plenarsitzungen abzuhalten. Seine beschauliche Stadt machte an diesen Tagen den Eindruck, als sei sie von Außerirdischen okkupiert worden, die alle Restaurants und Hotels für sich vereinnahmten. Heute war zwar kein Plenartag, doch die Gedenkfeier für den Alt-Bundeskanzler sorgte noch für viel mehr Wirbel als die monatliche Invasion des Eurotrosses aus Brüssel.
»Herr Direktor, ich glaube wirklich nicht, dass die Mordkommission einen wesentlichen Beitrag zur Sicherheit der Gedenkfeier leisten kann, wo doch sämtliche Spezialeinsatzkräfte aus Paris vor Ort sind.«
Antoine unternahm einen letzten Versuch, den Tag mit seinem Sohn zu retten, auch wenn er bereits wusste, dass es aussichtslos sein würde.
»Quatschen Sie keinen Unsinn, Sturni! Bei der Trauerfeier im Parlament hat es einen Toten gegeben. Wahrscheinlich ein Herzinfarkt, also kein Grund zur Aufregung, aber es handelt sich immerhin um ein hohes Tier bei der Europäischen Kommission.«
»Können sich nicht meine Inspektoren um den Herzinfarkt kümmern, Herr Direktor? Straumann und Isinger sind absolut zuverlässig. Es würde ziemlich lange dauern, bis ich am Europäischen Parlament eintreffe.«
Normalerweise hätte er sich diese Blöße nicht gegenüber seinem Vorgesetzten gegeben, aber er wollte nichts unversucht lassen, das gemeinsame Wochenende mit seinem Sohn zu retten.
»Sturni, der französische Präsident, die Bundeskanzlerin, ein ehemaliger US-Präsident und weiß Gott wer noch alles sind vor Ort. Glauben Sie tatsächlich, ich entsende einen einfachen Inspektor, um den plötzlichen Tod des Kabinettschefs des Präsidenten der Europäischen Kommission abzuklären?«
So kannte Sturni seinen Vorgesetzten.
»Bewegen Sie Ihren Arsch ins Europäische Parlament, und zwar sofort! Die Ehre Frankreichs steht auf dem Spiel! Sie gehen zum Haupteingang, weisen sich mit Ihrem Dienstausweis aus und fragen nach dem Arzt vor Ort, Jean-Louis Bierry. Der Sicherheitsdienst des Parlaments wird Sie dann zu dem Toten bringen. Ich erwarte einen ausführlichen Bericht am Montagmorgen. Und jetzt habe ich wirklich Wichtigeres zu tun. Ah Monsieur le Ministre …«
Sein Direktor hatte aufgelegt. Bouget kroch vermutlich gerade dem französischen Innenminister in den Hintern und hatte ihn und den verstorbenen Kabinettschef der Europäischen Kommission bereits wieder vergessen. So eine Gelegenheit bekam er schließlich nicht so schnell wieder, sich den Herren aus Paris für höhere Aufgaben zu empfehlen. Antoine hoffte inständig, dass Bougets Wunsch bald in Erfüllung ging, seinetwegen könnten sie ihn schon morgen zum Polizeidirektor von Paris ernennen. Hauptsache, er hatte nichts mehr mit ihm zu tun. Sturni steckte sein portable in seine Jackentasche und blickte in Christians trauriges Gesicht.
»Das war es dann wohl mal wieder mit unserem gemeinsamen Wochenende.«
Christian war den Tränen nahe. Sturni verspürte ein Stechen in der Herzgegend. Er hatte Christian fest versprochen, dass dieses Wochenende nur ihnen beiden gehört und dass nichts und niemand sie dabei stören würde. Wieder einmal konnte er sein Versprechen nicht halten. In solchen Momenten hasste er seinen Beruf. Er beugte sich zu Christian vor und fasste ihn liebevoll an den Armen.
»Hör zu, mein Großer. Ich muss dienstlich ins Europäische Parlament. Ich rufe jetzt Mama an, und dann bleibst du heute bei ihr. Entweder noch heute Abend, spätestens morgen früh hole ich dich ab, und dann gehen wir morgen zusammen in den Europa-Park. Du kannst dich auf mich verlassen.«
Wenn er diesmal nicht Wort hielt, würde sein Sohn ihm das niemals verzeihen. Christian schaute ihn ungläubig an. Tränen rannen über seine Wangen, doch er weinte nicht laut. Er war ein tapferer kleiner Junge. Der Anblick brach Antoine das Herz. Ihm war selbst zum Heulen zumute, doch er hatte keine Wahl. Er war Leiter der Straßburger Mordkommission, und die Ansage seines Direktors war klar und deutlich gewesen. Wenn er kein Disziplinarverfahren riskieren wollte, musste er sich umgehend zum Europäischen Parlament begeben.
»Allô, Caroline, hier ist Antoine! Es tut mir leid, dass ich dich störe, aber es gibt einen Notfall. Kannst du Christian heute übernehmen? Ich hole ihn heute Abend, spätestens morgen früh wieder ab.«
Er hörte ein Seufzen am anderen Ende des Mobiltelefons. Das war genau der Grund, weshalb sie ihn verlassen hatte.
»Antoine, ich habe mich darauf eingelassen, das Sorgerecht für Christian mit dir zu teilen, aber nur unter der Bedingung, dass du dich auch um ihn kümmerst. Wenn das so weitergeht, dann müssen wir eine andere Lösung finden, und du nimmst ihn nur noch jedes zweite Wochenende.«
Das war nicht der richtige Moment, um dieses Thema zu besprechen.
»Es gab einen Todesfall im Europäischen Parlament, während der Gedenkfeier für den verstorbenen Bundeskanzler, ein hohes Tier von der Europäischen Kommission.«
»Es gibt immer irgendetwas, was wichtiger ist als dein Sohn, von mir ganz zu schweigen. Aber zumindest das spielt inzwischen keine Rolle mehr.«
»Du weißt, dass das nicht stimmt!«
Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine Grundsatzdiskussion über die Betreuung und Erziehung ihres gemeinsamen Sohnes.
»Bring ihn vorbei, wir sind zu Hause. Ich fände es aber schön, wenn du ihn spätestens morgen früh wieder abholen würdest. Seit Wochen freut er sich auf euren gemeinsamen Tag im Europa-Park. Du solltest ihm das nicht vermasseln.«
»Danke, ich verspreche es.«
Schon wieder ein Versprechen, von dem er inständig hoffte, dass er es würde einhalten können.
Er hatte seinen alten Renault Scénic am anderen Ufer der Ill geparkt, am Quai Finkwiller. Auf dem Weg zum Europäischen Parlament machte er den kleinen Umweg in die Rue des Roses in Neudorf und setzte Christian bei seiner Mutter ab. Antoine wartete, bis Christian hinter der Eingangstür verschwunden war, ging aber nicht mit hinein. Er bekam immer noch Bauchschmerzen, wenn er Caroline mit ihrer neuen Liebe sah. Die beiden schienen glücklich zu sein, und er war es nicht.
Bereits weit vor dem Europäischen Parlament gab es kein Durchkommen mehr für Sturni. Auch sein Dienstausweis, der ihm sonst Tür und Tor öffnete, half ihm nicht weiter. Die Sicherheitsvorkehrungen bei dieser Gedenkfeier waren so streng, dass sich selbst der Leiter der Mordkommission der Straßburger Polizei zu Fuß zum Europäischen Parlament bequemen musste. Entnervt stellte Sturni sein alterndes Gefährt am Quai Mullenheim ab, nachdem er aus dem Auto noch eine Schimpftirade auf den Polizisten abgelassen hatte, der ihm trotz Polizeiausweis die Durchfahrt verweigert hatte. Diese Pariser Polizistentrupps hatten keinerlei Respekt vor einem Hauptkommissar aus der Provinz, Mordkommission hin oder her. Fluchend ging er das letzte Stück zu Fuß, ohne ein Auge für den traumhaft schönen Fußweg zu haben, der an der Ill entlang vorbei am deutsch-französischen Fernsehsender ARTE bis zum Europäischen Parlament führte.
Er musste drei weitere Polizeikontrollen überstehen, um zum Haupteingang des Parlaments zu gelangen. Dort schilderte er sein Anliegen und bat die Sicherheitskräfte darum, mit Jean-Louis Bierry, dem Arzt vor Ort, Kontakt aufzunehmen und ihm Einlass zu gewähren. Sturni kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt, denn die Gedenkfeier war gerade eben zu Ende gegangen, und gemäß den strengen Protokollvorgaben verließ ein Staatsgast nach dem anderen, umgeben von einem Tross von Sicherheitskräften, das Gebäude und stieg in seine Staatskarosse ein.
Fasziniert erhaschte er einen Blick auf die deutsche Bundeskanzlerin und den französischen Präsidenten. Ein Hauch von Macht umwehte die beiden, den man förmlich spüren konnte. Die Kanzlerin war ein ehemaliges Ziehkind des Verstorbenen, das er groß herausgebracht hatte. Schon lange war sie aus seinem Schatten getreten und hatte sich mittlerweile ihren eigenen Platz in der deutschen und europäischen Geschichte gesichert. Nur ihr ehemaliger Spiritus Rector hatte einen mit dieser Frau vergleichbaren Machtinstinkt.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er von einem Mitarbeiter des Europäischen Parlaments angesprochen wurde.
»Kommissar Antoine Sturni?«
»In Person!«
Er zückte sogleich seinen Dienstausweis, der von seinem Gegenüber intensiv studiert wurde.
»Bitte folgen Sie mir, Sie werden bereits erwartet.«
Es war das erste Mal, dass er die heiligen Hallen des Europäischen Parlaments betreten durfte. Trotz seiner Abneigung gegen die Eurokraten musste er zugeben, dass es sich beim Straßburger EU-Palast um ein fantastisches Bauwerk handelte. Das Parlamentsgebäude wirkte auf ihn wie ein Raumschiff, das direkt neben dem Fluss Ill gelandet war. Damit passte es ganz gut zu den in seinen Augen außerirdischen Parlamentariern und EU-Beamten, die monatlich aus Brüssel, der eigentlichen europäischen Hauptstadt, in Straßburg einfielen. Das Gebäude bestand im Wesentlichen aus zwei Teilen: Im Zentrum erhob sich ein etwa sechzig Meter hoher Glasturm, der von einem weiteren, in Richtung des Turms abfallenden Gebäude in Form eines Bumerangs umschlossen wurde. Aus dem Turm ragten hohe Stahlplatten, die dem Gebäude den Eindruck verliehen, als sei es immer noch im Bau. Das imposante Parlament war auf zwei Seiten von Wasser umgeben, der Ill und dem Rhein-Marne-Kanal, die sich an dieser Stelle kreuzten. Über die Ill führte eine gläserne Verbindung zur anderen Seite des Flusses, wo sich ein weiteres Gebäude mit Büros für die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter befand.
»Der Verstorbene liegt in einem Sanitätsraum, ein Arzt und ein Sanitäter sind bereits vor Ort«, informierte ihn der eifrige und vom ganzen Trubel etwas erschöpft wirkende Mitarbeiter des Parlaments. Sie gingen durch unzählige Flure und Räume, mussten dabei gegen einen Strom von Trauergästen, Reportern und Sicherheitskräften ankämpfen, die gerade dabei waren, das Parlamentsgebäude zu verlassen.
Hoffentlich handelt es sich nicht um Mord, schoss es Sturni durch den Kopf. Bei der riesigen Zahl an Personen, die sich gerade im Parlament aufhielten, dürfte es nicht leicht werden, den Mörder ausfindig zu machen. Endlich erreichten sie den kleinen Sanitätsraum, den ihm sein Begleitschutz angekündigt hatte.
»Ah, der Herr Kommissar, Jean-Louis Bierry mein Name. Ich habe Sie bereits erwartet. Gut, dass Sie da sind.«
Das sehe ich ganz anders, dachte sich Sturni, lächelte aber freundlich zurück und begrüßte den Arzt.
»Ich bin der diensthabende Arzt. Bei solchen Großveranstaltungen müssen immer ein Arzt und mehrere Sanitäter vor Ort sein. Leider konnte ich für den Verstorbenen nichts mehr tun. Als ich zu ihm kam, war er bereits tot.«
Neben Bierry stand eine elegant gekleidete Frau Mitte fünfzig; die Ehefrau des Verstorbenen, vermutete Sturni. Bierry sah seinen fragenden Blick.
»Bitte entschuldigen Sie, wie unhöflich von mir. Das ist Frau Dr. Clara Hasselfeld, die Gattin des soeben Verstorbenen.«
»Mein aufrichtiges Beileid, Frau Dr. Hasselfeld.«
Sturni reichte ihr die Hand und blickte ihr dabei fest in die Augen. Frau Hasselfeld erwiderte ruhig seinen Blick. Ihr Händedruck war kräftig und ließ nicht darauf schließen, dass sie gerade einen schweren Schicksalsschlag erlitten hatte. Sie wirkte gefasst, war lediglich etwas bleich um die Nase. Antoine erkannte in ihr eine intelligente, sehr kontrollierte und willensstarke Frau, die sich auch von einem so traurigen Ereignis nicht aus der Fassung bringen ließ. Er prägte sich seine ersten Eindrücke von Frau Dr. Hasselfeld genau ein. Sollte ihr Ehemann wider Erwarten eines unnatürlichen Todes gestorben sein, so konnte sie ihm bestimmt bei der Aufklärung des Falls behilflich sein. Schließlich war sie an seiner Seite gewesen, als er starb.
»Frau Dr. Hasselfeld, ich weiß, dass dies ein schwerer und unerwarteter Schicksalsschlag für Sie ist. Ich muss Sie dennoch bitten, Herrn Bierry und mich einige Minuten mit Ihrem verstorbenen Gatten allein zu lassen. Bitte warten Sie einen Augenblick vor der Tür, ich bin dann gleich wieder bei Ihnen.«
»Selbstverständlich, Herr Kommissar.«
Sturni hatte bereits viel Erfahrung mit vergleichbaren Fällen. Es war immer ein schwerer Moment, die Angehörigen über den Tod eines geliebten Menschen zu informieren oder, wie in diesem Fall, unmittelbar nach dem Tod Kontakt zu ihnen zu haben. Er konnte sich aber nicht daran erinnern, je einer so kontrollierten und gefassten Ehefrau gegenübergestanden zu haben, kurz nachdem ihr Mann verstorben war. Ein Mitarbeiter des Sanitätsdienstes geleitete Frau Dr. Hasselfeld aus dem Raum. Sie stützte sich leicht auf ihn – ein Zeichen, dass es sie vielleicht doch sehr viel Kraft kostete, ihre kontrollierte Fassade aufrechtzuerhalten.
»Was können Sie mir bereits mitteilen?«
Kaum war die Tür hinter Frau Dr. Hasselfeld geschlossen, wandte er sich an den Arzt. Er wollte das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen, sein Versprechen einhalten und möglichst bald wieder seinen Sohn abholen.
»Bei dem Toten handelt es sich um Dr. Werner Hasselfeld, achtundfünfzig Jahre alt, Kabinettschef des Präsidenten der Europäischen Kommission, also EU-Beamter. Deutscher Staatsbürger. Mehr konnte ich von seiner Frau bisher noch nicht in Erfahrung bringen.«
Sturni betrachtete den eleganten, gut gekleideten Herrn auf der Krankenliege. Die Hemdknöpfe waren aufgerissen, der Oberkörper lag frei. Dr. Hasselfeld wirkte drahtig und war braun gebrannt. Der Mann war mitten aus dem Leben gerissen worden, so viel stand fest. Typisch für einen Herzinfarkt bei Karrieremenschen. Eher ungewöhnlich allerdings bei Beamten, zumindest in Frankreich.
»Bisher kann ich über die Todesursache noch nicht viel sagen. Ich konnte nur seinen Tod feststellen. Meine Reanimationsbemühungen waren zwecklos. Der erste Eindruck spricht für einen Herzinfarkt. Dr. Hasselfeld hat sich gemäß den Angaben seiner Frau plötzlich an die Brust gefasst und ist kurz darauf bewusstlos zusammengebrochen. Bereits kurz zuvor hat seine Frau ein auffälliges Verhalten wahrgenommen. Er habe benommen gewirkt, geschwitzt, und als sie ihn während der Zeremonie einmal angesprochen habe, hat er wohl kaum reagiert. Sie habe das auf seine emotionale Betroffenheit zurückgeführt. Obwohl er schon viele Jahre keinen persönlichen Kontakt mehr zum verstorbenen Bundeskanzler gehabt habe, sei dieser aber für ihn eine ganz prägende Gestalt gewesen.«
»Gibt es Anzeichen dafür, dass er keines natürlichen Todes verstorben sein könnte?«, fragte Sturni der Form halber.
»Nach meiner ersten Einschätzung nein. Ich wollte den Toten aber noch oberflächlich untersuchen, allerdings nicht im Beisein seiner Frau. Daher habe ich gewartet, bis Sie da sind.«
Noch während Bierry sprach, knöpfte er dem Toten den Rest des Hemdes auf und entkleidete ihn. Entsprechend verfuhr er mit seinen Schuhen, seiner Hose und seiner Unterwäsche.
»Na, dann wollen wir mal.«
Man erkannte, dass Bierry etwas von seinem Handwerk verstand. Er war ein erfahrener Arzt, kurz vor dem Ruhestand.
»Oh, là, là! Herr Dr. Hasselfeld war wohl vor seinem Ableben noch in eine kleine Auseinandersetzung verwickelt.«
Mit routinierten Handgriffen suchte Bierry den Körper des Verstorbenen ab und streifte dabei leicht über dessen Extremitäten. Selbst Antoine erkannte mehrere Hämatome und Kratzer an Armen und Oberkörper des Toten.
»Keine Frage, der gute Dr. Hasselfeld wurde noch kurz vor seinem Tod geschlagen oder hat sich geprügelt.«
Sturni sah die Felle für ein gemeinsames Wochenende mit seinem Sohn davonschwimmen.
»Könnten die Hämatome ursächlich für seinen Tod sein?«
»Das ist sehr unwahrscheinlich. So stark sind die Verletzungen nicht. Da müsste er schon ein sehr schwaches Herz gehabt haben. Es empfiehlt sich aber auf jeden Fall, Einblick in die medizinischen Befunde seiner Ärzte zu nehmen. Auf den ersten Blick wirkt er kerngesund, aber das muss nichts heißen. Außerdem hat er auffällig viele Kratzer, das spricht dafür, dass er eher von einer Frau und nicht von einem Profiboxer angegangen wurde.«
»Auf jeden Fall sollten wir eine Obduktion anordnen, damit wir einen unnatürlichen Tod mit Sicherheit ausschließen können.«
Bierry drehte den Toten um und begann, seine Rückseite zu untersuchen. Er streifte ihm dabei sanft über Arme, Beine, Rücken und Nacken. Plötzlich hielt er in seinen Bewegungen inne.
»Da ist etwas, das aus dem Rahmen fällt. Sehen Sie den Kratzer auf seinem Nacken? Es könnte auch ein Stich sein.«
»Ja, aber was ist da anders im Vergleich zu den übrigen kleinen Verletzungen?«
Sturni blickte auf den Nacken des Toten und konnte nichts Besonderes erkennen.
»Die Haut um die kleine Wunde ist leicht angeschwollen. Das sieht mir mehr nach einem Stich als einem Kratzer aus, als ob irgendetwas an dieser Stelle injiziert wurde. Natürlich könnte er von einem Insekt gestochen worden sein, es wäre aber auch möglich, dass er mit einer kleinen Nadel gestochen wurde.«
Das war es dann wohl mit dem Wochenende. Er musste eine Obduktion anordnen, und sie würden zumindest routinemäßige Ermittlungen einleiten müssen.
»Wir können also nicht vollständig ausschließen, dass er eines unnatürlichen Todes gestorben ist?«
»Nein, das können wir nicht. Auch, wenn ich immer noch auf einen Herzinfarkt tippen würde, müssen wir uns darüber Gewissheit verschaffen.«
»Gut, dann soll es so sein. Vielen Dank für Ihre Mühe, docteur Bierry. Wir lassen den Toten in die Gerichtsmedizin bringen, und nächsten Montag wissen wir mehr.«
Sturni öffnete die Tür des Sanitätsraums, um Frau Dr. Hasselfeld darüber zu informieren, dass sie mit der Beauftragung eines Bestattungsunternehmens noch etwas warten musste. Antoine hasste diese Momente.
»Frau Dr. Hasselfeld, nach einer ersten Untersuchung des Arztes können wir leider nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass Ihr Mann eines natürlichen Todes gestorben ist. Wir müssen daher eine Obduktion des Leichnams anordnen.«
Frau Dr. Hasselfeld ließ sich keine Regung anmerken. Ihr Blick wirkte wie versteinert.
»Heißt das etwa, mein Mann wurde ermordet?«
»Keineswegs. Wir können diese Möglichkeit nur nicht hundertprozentig ausschließen. Der Arzt geht aber dennoch von einem Herzinfarkt aus.«
»Wann kann ich meinen Mann nach Brüssel überführen lassen? Ich möchte, dass er dort beerdigt wird.«
»Dafür habe ich natürlich Verständnis. Ich kann Ihnen zum aktuellen Zeitpunkt nicht genau sagen, wann die Obduktion abgeschlossen sein wird. Ich denke aber, dass das Bestattungsunternehmen Ihren Mann noch am Montag oder Dienstag abholen und nach Brüssel überführen kann.«
»Wenn das so ist, kann ich im Moment nichts mehr für meinen verstorbenen Mann und für Sie tun. Ich habe heute Abend noch einen wichtigen Termin in Brüssel, den ich unbedingt wahrnehmen muss. Guten Tag.«
Sturni war schockiert. Ihr Mann war vor einer Stunde vollkommen unerwartet verstorben, und sie dachte an einen Termin, den sie in Brüssel wahrzunehmen hatte. Was war das für eine eiskalte Frau?
»Eine Frage habe ich noch, Frau Dr. Hasselfeld.«
»Ja, bitte?«
»Hatten Ihr Mann und Sie vor Kurzem eine körperliche Auseinandersetzung?«
»Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen?«
»Ihr Mann weist einige kleinere Hämatome und Kratzer am Körper auf, die auf eine Auseinandersetzung kurz vor seinem Tod schließen lassen.«
Auf einmal geriet Frau Dr. Hasselfeld doch etwas aus der Fassung.
»Wie bitte? Nein, nein, natürlich nicht. Mein Mann und ich sind schon seit mehr als zwanzig Jahren verheiratet, und wir hatten in dieser Zeit keine einzige körperliche Auseinandersetzung. Das wäre auch weit unter unserem Niveau!«
»Selbstverständlich.«
»Ist er etwa daran verstorben? Haben Sie deshalb eine Obduktion angeordnet?«
»Ich kann Ihnen hierzu im Moment leider überhaupt keine Auskunft geben. Anfang nächster Woche wissen wir bestimmt mehr.«
»Wenn das so ist, dann kann ich nun ja gehen.«
Sie gab Sturni förmlich die Hand und reihte sich unter die letzten Trauergäste ein, die in Richtung Ausgang strebten. Sturni schaute ihr konsterniert nach. So etwas hatte er bisher noch nicht erlebt. Sollte es sich tatsächlich um Mord handeln, dann würde er dieser Frau genauer auf den Zahn fühlen müssen. Kurz überlegte er, ob er im Moment weitere Schritte in die Wege leiten musste. Ohne die Obduktionsergebnisse konnte er erst einmal überhaupt nichts machen und durfte, so die erste Einschätzung des Arztes, von einem Herzinfarkt ausgehen. Alles Weitere würde er dann am Montag nach der Obduktion erfahren. Der Polizeipräsident würde sich so lange gedulden müssen. Er jubilierte innerlich und griff zu seinem portable.
»Caroline, ich bin mit der Untersuchung fertig. Ich hole Christian in einer halben Stunde bei dir ab, gehe morgen mit ihm in den Europa-Park und bringe ihn dir dann am Sonntagabend zurück.«
Ungläubige Stille am anderen Ende der Leitung. Er legte auf, wechselte noch einige Worte mit dem Arzt, der alles Weitere veranlassen würde, und ging dann ebenfalls in Richtung Ausgang. Ein toter EU-Beamter würde ihm nicht das Geburtstagsgeschenk für seinen Sohn vermasseln, so viel stand fest!
Bist du bereit?«
Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Antoine stand mit Christian vor dem Blue Fire Megacoaster, und ihm wurde schon beim ersten Blick auf die Achterbahn übel. Sturni war nicht in Topform. Nachdem Caroline ihn verlassen hatte, ließ er sich eine Zeit lang gehen und zerfloss vor Selbstmitleid. Seinen Kummer hatte er in großen Mengen Uberacher Juliette ertränkt, einem mit Ingwer und Rosenblättern gewürzten Bier aus der Region. Ironischerweise braute die Brauerei sein Lieblingsbier immer am Valentinstag und bewarb es als Elixier für Verliebte. Nur vor Christian hatte er sich immer zusammengerissen und den starken Mann gegeben. Er hatte es schon schwer genug und sollte nicht auch noch mit dem Liebeskummer seines Vaters belastet werden. Antoine hatte durch zu viel Alkohol und den Mangel an Sport etwas Fett angesetzt, und man sah seine poignées d’amour, sein Hüftgold, deutlich unter seinem T-Shirt hervorlugen. Achterbahnen waren noch nie sein Ding, aber bei seiner aktuell schlechten körperlichen Verfassung fürchtete er ernsthaft um die Stabilität seines Kreislaufs.
»Sag mal, wollen wir nicht eine Pause machen und in einem der Themenpavillons etwas essen gehen? Wie wäre es mit Spanisch? Ich hätte Lust auf Paella und Tortillas.«
»Später, Papa! Du willst dich doch nur vor der Achterbahn drücken. Los, stellen wir uns an, und danach können wir immer noch nach Spanien.«
Es war nichts zu machen. Antoine hatte seinen Sohn hingehalten, solange es ging. Sie waren den Alpenexpress »Enzian« gefahren, Arthur und die Minimoys, die Schweizer Bobbahn, die Tiroler Wasserbahn, hatten das neue Voletarium besucht, und nun standen sie vor diesem Höllengerät.
»Okay, bringen wir es hinter uns, aber danach gehen wir nach Spanien und schlagen uns dort den Bauch voll, sofern ich nach dieser Fahrt überhaupt noch etwas runterbekomme.«
Antoine zwängte sich in den engen Sitz, und ihm wurde schmerzhaft bewusst, dass er nicht mehr dem Normalmaß entsprach. Für einen Einundvierzigjährigen war er ganz schön aus dem Leim gegangen. Daran musste er unbedingt etwas ändern. Ab morgen würde er sich ein Sportprogramm und eine strenge Diät verordnen. Wäre doch gelacht, wenn er die Pfunde nicht wieder loskriegen würde. Das Leben ging schließlich weiter und war schön, auch ohne Caroline. Ein Blick in Christians begeisterte Augen machte ihm klar, weshalb er sich die anstehende Tortur antat.
»Okay, mein Großer. Es kann losgehen!«
