Straßburger Glaubensbekenntnis - Stefan Böhm - E-Book

Straßburger Glaubensbekenntnis E-Book

Stefan Böhm

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Beschreibung

In der Nacht vor dem Äquinoktium, an dem Tag und Nacht genau gleich lang sind und jedes halbe Jahr um die Mittagszeit ein mysteriöses grünes Licht über die Jesusfigur an der Kanzel des Straßburger Münsters wandert, wird die kostbare Figur von einem unbekannten Täter zerstört. Kommissar Sturni muss die Sachbeschädigung bearbeiten, obwohl er eigentlich Wichtigeres zu tun hätte: Seine Hochzeit und die Geburt seines zweiten Kindes stehen unmittelbar bevor. In der darauffolgenden Nacht wird seine Mitbewohnerin ermordet und ein Zusammenhang zwischen dem Mord und dem Anschlag im Münster schnell offensichtlich. Die Recherchen führen ihn in das Milieu der katholischen Kirche. Eine tatverdächtige Novizin findet er nur noch tot auf. Sturni muss sich tief in die mittelalterliche Geschichte Straßburgs einarbeiten, um die Mordfälle aufzuklären. Mussten die beiden Frauen sterben, weil sie das Geheimnis um das ketzerische erste gedruckte Buch der Welt entdeckten und damit dunkle Mächte innerhalb der Kirche auf den Plan riefen?

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Straßburger Glaubensbekenntnis Kommissar Sturnis dritter Fall

Über dieses Buch

In der Nacht vor dem Äquinoktium, an dem Tag und Nacht genau gleich lang sind und jedes halbe Jahr um die Mittagszeit ein mysteriöses grünes Licht über die Jesusfigur an der Kanzel des Straßburger Münsters wandert, wird die kostbare Figur von einem unbekannten Täter zerstört. Kommissar Sturni muss die Sachbeschädigung bearbeiten, obwohl er eigentlich Wichtigeres zu tun hätte: Seine Hochzeit und die Geburt seines zweiten Kindes stehen unmittelbar bevor. In der darauffolgenden Nacht wird seine Mitbewohnerin ermordet und ein Zusammenhang zwischen dem Mord und dem Anschlag im Münster schnell offensichtlich. Die Recherchen führen ihn in das Milieu der katholischen Kirche. Eine tatverdächtige Novizin findet er nur noch tot auf. Sturni muss sich tief in die mittelalterliche Geschichte Straßburgs einarbeiten, um die Mordfälle aufzuklären. Mussten die beiden Frauen sterben, weil sie das Geheimnis um das ketzerische erste gedruckte Buch der Welt entdeckten und damit dunkle Mächte innerhalb der Kirche auf den Plan riefen?

Über den Autor

Stefan Böhm, Jahrgang 1976, studierte Rechtswissenschaften in Tübingen, Speyer und London. Zwei Jahre verbrachte er in Straß­burg und ließ sich dort zu seiner Romanfigur Antoine Sturni inspirieren. „Straßburger Glaubensbekenntnis“ ist der dritte Fall des sympathischen Ermittlers.

Stefan Böhm

Straßburger Glaubens bekenntnis

Kommissar Sturnis dritter Fall

Kriminalroman

Für meine Schwester

Originalausgabe

1. Auflage

© 2020 Stefan Böhm

Taschenbuch-ISBN: 978-3-969-66410-0

Autor: Stefan Böhm

Bergstraße 114

73733 Esslingen

Umschlagsgestaltung und Satz:Sarah Schemske (www.buecherschmiede.net)

Lektorat: Martin Villinger

Korrektorat: Bücherschmiede (www.buecherschmiede.net)

Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf

Druck und Bindung: Sowa Sp. z o.o. ul. Raszyńska 13 05-500 Piaseczno Polen

Alle Rechte vorbehalten.

Alle Figuren und deren Biografien sind erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Weshalb musste es gerade ihn treffen? Jahrhundertelang war alles gut gegangen, und nun war unter seiner Ägide das Siegel gebrochen worden. Was für ein Frevel, was für eine schändliche Tat! Und dabei hatten seine Vorgänger den Sohn Gottes höchstpersönlich ausgewählt, als Siegel. Nun musste er den Notstand ausrufen, in den Kampf ziehen, gegen die Feinde des Herrn, war zum letzten Bollwerk geworden gegen einen infamen Angriff auf seine Kirche.

Leise fluchend begab er sich in die Krypta, öffnete den geheimen Zugang, den außer ihm selbst niemand kannte. Es war jedes Mal ein besonderes Erlebnis, an den Ort hinabzusteigen, dessen Hüter er in einer jahrhundertealten Ahnengalerie war. Was für ein erhebendes Gefühl, was für eine Auszeichnung, vom Herrn für diese Aufgabe auserkoren worden zu sein. Nicht einmal der Erzbischof kannte die geheime Kammer unter der Krypta. Dort unten wurden die kostbaren Reliquien aufbewahrt. Er wusste, was jetzt zu tun war. Das Kreuz, das die Christenheit in die Region gebracht hatte, vor bald tausendfünfhundert Jahren, sollte nun dazu dienen, den Angriff auf seinen Glauben abzuwehren.

Er hustete. Die Luft hier unten war staubtrocken. In dem engen Kellergewölbe hätte man etwas anderes erwartet, feuchte und kalte Luft. Er wischte sich eine Spinnwebe aus dem Gesicht, fluchte und murmelte gleich im Anschluss reuig das Vaterunser. Spinnen hatten hier unten nichts zu suchen. Wie kam die hierher? Zu Fressen gab es hier nichts. Oder machte sich das Ungeziefer etwa an dem Schatz zu schaffen, den er unter der Krypta versteckte? Er würde den geheimen Zugang bei Gelegenheit noch dichter verschließen müssen.

Seit Jahren war er nicht mehr hier unten gewesen. Mit dem Strahl der Taschenlampe suchte er nach dem wertvollen Gegenstand. Sanft wog er ihn in seiner Hand. Die Waffe war schwerer, als sie auf den ersten Blick aussah, geschmiedet mit der Kraft eines damals noch inbrünstigen Glaubens.

Heutzutage war das Christentum weich geworden, auf dem Rückzug, weltweit. Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Friedfertigkeit, natürlich, das war ein Teil seines Glaubens. Ausgebreitet hatte sich die Religion aber mit dem zu einem Schwert umfunktionierten Kreuz, das geschmiedet worden war, die Heiden zu bekehren und zum wahren Glauben zu führen. Das Kreuz, das er in seiner Hand hielt, zeugte von dieser Zeit. Nun würde es erneut seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt und als Waffe gebraucht werden.

Was hatte dieses Kirchengebäude nicht alles erlebt. Bernhard von Clairvaux, der Begründer des Zisterzienserordens, hatte von dieser Stelle im Jahr 1146 dazu aufgerufen, zu Kreuz und Schwert wider die Ungläubigen zu greifen und in die Schlacht zu ziehen, ins Morgenland. Ja, damals war es noch stark und wehrhaft, das Christentum. Menschen mit wahrem Charisma führten es an. Seine Kirche hatte ihren Zenit überschritten, er wusste es. Während andere Religionen expandierten, mit dem Schwert – oder der Kalaschnikow – in der Hand bekehrten, war das Christentum milde geworden, gab sich dem Siechtum hin, dem Verfall preis.

Vor fast sechshundert Jahren, als seine Vorgänger schon einmal großen Schaden abgewendet hatten, war es noch voller Tatkraft gewesen, hatte im Westen die Neue Welt erobert und zum wahren Glauben bekehrt. Im Osten befand es sich in einem Überlebenskampf gegen die anstürmenden Osmanen. Byzanz ging verloren, 1453, und Sultan Mehmet II. machte aus der Hagia Sophia eine Moschee. Es sah nicht gut aus, zwischenzeitlich. Ihr neuer Sultan hatte sie – eigentlich eine Brücke zwischen den beiden Weltreligionen – nun wieder vom Museum zur Moschee umgewidmet, populistisch, tatkräftig, kompromisslos …

Und seine eigene Kirche, sein der Hagia Sophia in Anmut und Schönheit mindestens ebenbürtiges Gotteshaus? Geistig minderbemittelte französische Polizeibeamte in bunten Shorts und Badelatschen entweihten den heiligen Ort und gaben den Ton an, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Die strikte Trennung von Staat und Kirche war der größte Fehler, den Frankreich je begangen hatte. Es war einfach nur zum Kotzen …

Ja, damals, im 15. Jahrhundert, begann dank einer neuen Erfindung eine Zeitenwende, die seine Vorgänger in die richtige Richtung gelenkt hatten. Letztendlich war sie es, die das Blatt wendete. Die Technologieführerschaft in Forschung, Wissenschaft, Medizin und vielem mehr ging über vom Morgen- auf das Abendland, da mit der neuen Technik das Wissen im Okzident in Windeseile vervielfältig und geteilt werden konnte. Zweihundert Jahre später wurden die Osmanen endgültig gestoppt und zurückgedrängt, vor Wien.

Er dachte an seine Ministranten. Auch heutzutage gab es eine vergleichbare Zeitenwende. Doch nun wurden Informationen verlinkt, geliked und gepostet, nicht Seite für Seite gelesen.

Wo wäre seine Kirche in fünfhundert Jahren? Geschichte, vergessen, wie heute das alte Ägypten, die griechischen und die römischen Gottheiten? Das durfte er nicht zulassen!

Langsam und leicht gebückt kletterte er mit seiner wertvollen Waffe in der Hand wieder die engen Treppenstufen empor, stieß sich den Kopf, fluchte erneut, und begann sogleich mit einem gemurmelten Vaterunser Buße zu tun für seine kleine Verfehlung.

Er würde seine Treuen ins Gefecht führen. In ein Rückzugsgefecht, das den Verfall nur aufhalten, nicht verhindern konnte. Heutzutage gab es viel zu wenige von seiner Sorte, die bereit waren, für den Sieg zu kämpfen und Opfer zu bringen. Auch in diesem Kampf würde er ein Opfer bringen müssen, doch das war es ihm wert. Dafür hatte er sie auserkoren, schon vor langer Zeit. Sie war ihm hörig und er konnte nach Belieben über sie verfügen.

I.

Auf gepackten Koffern

„Oriane! Allein der Name ist Programm! War sie der Grund, weshalb du dich nach deiner Rückkehr aus Paris so eigenartig verhalten hast? Da lief doch was zwischen euch! Und jetzt hast du deine Geliebte auch noch bei uns einquartiert?!“

Margaux setzte sich schwerfällig auf ihr Bett. Sie fand kaum Platz, weil alles mit Umzugskisten und Koffern zugestellt war.

„Noch einmal …“

Sturni war genervt.

„Sie ist eine Freundin von Olivia. Ich habe sie in Paris ein einziges Mal getroffen und nur ein paar Worte mit ihr gewechselt. Olivia hat mich um einen Gefallen gebeten, den ich ihr nicht verweigern konnte.“

Margaux wirkte nicht überzeugt …

„Ich bin hochschwanger, wir ziehen gerade um, wollen nach der Geburt des Kindes heiraten … – und du holst uns zu allem Überfluss eine Pariser Femme fatale in unsere Zweiraumwohnung? Das ist ja wirklich ein toller Start in unser Familienglück!“

Sturni seufzte und blickte versonnen aus dem Fenster seiner kleinen Wohnung am Quai des Pêcheurs, in der er so viele Jahre glücklich gelebt hatte. Der Umzug ins neue Eigenheim, eine gediegene Vierzimmer-Altbauwohnung im bürgerlichen Viertel Orangerie, stand unmittelbar bevor. Der Ausblick aus seiner kleinen Bude, mit der er so viele Erinnerungen verband, würde ihm fehlen. Das Straßburger Münster war nur einen Katzensprung entfernt und man hatte einen wundervollen Blick auf das Wahrzeichen der Stadt. Weit ragte die Kirchturmspitze über die Häuserfassaden auf der gegenüberliegenden Seite der Ill hinaus.

Er hatte einen Fehler gemacht, wieder einmal. Er hätte Olivia den Wunsch abschlagen sollen, ihre Freundin Oriane Jacquesson für einige Tage bei sich zu beherbergen, bevor sie eine eigene Bleibe in Straßburg gefunden hatte. Aus „einigen Tagen“ waren inzwischen zwei Wochen geworden … Damit hatte er nicht gerechnet. Wo steckte sie eigentlich, seine neue Mitbewohnerin? Gestern Nacht war sie nicht nach Hause gekommen …

Sturni blickte auf sein Handy, auf dem eine Nachricht von Oriane angezeigt wurde. Außerdem noch drei Anrufe von Direktor Bouget. Sein Vorgesetzter war ein karrieregeiler Kotzbrocken, dumm war er jedoch nicht. Die Nummer mit dem „zu Hause vergessenen Handy“ am Wochenende zog nicht mehr. Sein Direktor erwartete Erreichbarkeit rund um die Uhr von seinen Führungskräften und Sturni stand in dieser Hinsicht unter besonderer Beobachtung. Beim nächsten Anruf würde er annehmen müssen, es schien wirklich wichtig zu sein.

„Sie hat mir gerade geschrieben, dass sie eine geeignete Wohnung gefunden hat. Das Problem hat sich also erledigt.“

Sturni hatte ein schlechtes Gewissen, versuchte Schönwetter bei seiner hochschwangeren künftigen Gattin zu machen.

„Das wurde auch höchste Zeit! Bring ihre Koffer gleich weg. Ich will Oriane Jacquesson, ihre pinkfarbenen Designerköfferchen, ihre unzähligen Schminktäschchen, ihre aufgespritzten Lippen, ihre operierten Titten, ihren süßen kleinen Knackarsch und ihr affektiertes Pariser Geschwätz hier nie mehr sehen und hören!“

Margaux trat gegen einen der besagten pinkfarbenen Designerkoffer. Ganz so immobil war sie also doch noch nicht …

Die Ansage war deutlich. Er musste Oriane schleunigst loswerden, wenn er seine noch nicht einmal geschlossene zweite Ehe nicht gefährden wollte. Sturni hoffte inständig, dass die neue Wohnung Orianes Zustimmung fand. Bei den letzten fünf Besichtigungen hatte sie es sich kurz vor Unterzeichnung des Mietvertrags wieder anders überlegt und damit ihren gutmütigen Wohnungsmakler an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht.

***

„Monsieur le directeur?“

Beim vierten Anruf seines Direktors hatte Sturni endlich abgenommen. Er konnte ihm nicht entkommen, Fluchtversuche waren aussichtslos. Beim letzten Mal, als Sturni sich am Wochenende tot stellte, hatte Bouget ihm angedroht, ihn von einer Streife abholen zu lassen. Die Blöße konnte er sich vor dem Kollegium nicht erlauben, umringt von Uniformierten zum Dienst geführt zu werden. Wochenlang würden seine Kollegen sich beim morgendlichen café das Maul über ihn zerreißen, wenn ihr supérieur ihn auf diese Art und Weise demütigen würde.

„Das wurde auch höchste Zeit!“

Bouget schenkte sich die Begrüßung und kam – wie immer – gleich zur Sache.

„Ich habe einen neuen Fall für Sie!“

Sturni schluckte. Musste das sein, ausgerechnet jetzt? Hatte er nicht schon genug am Hals?

„Schon wieder ein Mord? Das versaut uns die ganze Statistik. Und dabei wirbt das Tourismusbüro damit, dass Straßburg inzwischen eine der sichersten Städte Frankreichs ist.“

„Ein Mord? Aber nein, wie kommen Sie darauf?“

Hatte er gerade richtig gehört?

„Ich bin Leiter des Morddezernats, Monsieur le directeur. Wenn Sie mich an einem meiner seltenen freien Wochenenden um diese Uhrzeit anrufen, gehe ich davon aus, dass ein perfider Mord stattgefunden hat. Ansonsten würden Sie mir doch sicherlich die dringend erforderliche Ruhepause zugestehen.“

Sturni konnte nicht anders. Er hasste seinen Vorgesetzten.

„Küchler ist krank, Tignel auch. Im Straßburger Münster wurde letzte Nacht die Jesusfigur an der Kanzel beschädigt … Da brauche ich meinen besten Mann. Und das sind Sie!“

Auf den Trick fiel Sturni nicht mehr herein. Er wusste inzwischen, was Bouget unter „seinem besten Mann“ verstand, nachdem er ihn für drei Monate an die "größte Versagertruppe der französischen Polizei“ nach Paris entsandt hatte. Sein Direktor sollte inzwischen wissen, dass es sich rächte, wenn man ihn für dumm verkaufen wollte. Schließlich hatte sein letzter Fall die unmittelbare Schließung des elsässischen Atomkraftwerks und die Einleitung einer Energiewende in Frankreich zur Folge gehabt …

Sturni war stinksauer. Bouget rief ihn aus dem Wochenende, um eine banale Sachbeschädigung aufzunehmen? War er seit Neuestem das Mädchen für alles im Polizeipräsidium?

„Ich habe auch Isinger alarmiert, er hat Dienst. Sie sind ja nie ans Telefon gegangen. Er müsste schon am Tatort sein. Machen Sie sich an die Arbeit, Sturni! Sie haben es ja nicht weit. Heute ist übrigens das Äquinoktium, im Münster ist die Hölle los!“

Bouget hatte aufgelegt, noch ehe sich die Bedeutung seines letzten Satzes in Sturnis Gehirnwindungen verfing. Äquinoktium … Da war doch was … richtig, heute war ja Tag-und-Nacht-Gleiche. Die Tage im Frühjahr und Herbst, an denen Tag und Nacht jeweils genau gleich lang waren, hatten sich in den letzten Jahren im Münster zu einer kleinen Touristenattraktion gemausert. Grund hierfür war ein Lichtphänomen, über dessen Hintergründe sich Experten bis heute uneins waren. An diesen Tagen wanderte ein grüner Lichtstrahl durch das Münster. Punktgenau um die Mittagszeit beleuchtete der Strahl die Jesusfigur auf der Kanzel, ein mystischer Moment, der selbst Sturni, der mit Religion nicht viel anfangen konnte, tief beeindruckt hatte.

War das Phänomen bereits von den Erbauern der Kirche im Mittelalter vorgesehen worden? Wurde es nachträglich eingebaut, oder – so die aktuell herrschende Meinung – war es reiner Zufall? Sturni hatte am Rande die Diskussion zu der Thematik mitbekommen. Jetzt würde er sich wohl genauer damit befassen dürfen …

Er ließ die unerfreuliche Konversation mit Bouget noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren. War just diese Jesusfigur vergangene Nacht beschädigt worden und das große Spektakel fiel heute aus? Sturni blickte auf die Uhr. In fünfzehn Minuten sollte es so weit sein, der mysteriöse grüne Lichtstrahl über die kleine Figur an der Kanzel des Münsters wandern …

„Es tut mir wirklich leid, aber ich muss ins Münster. Befehl von Bouget, da kann ich nichts machen.“

Sturni war froh, dass er einen Grund gefunden hatte, sich von Margaux zu verabschieden und der leidigen Diskussion so ein Ende zu bereiten. Ausnahmsweise war er Bouget sogar dankbar dafür, dass er ihm einen Anlass geliefert hatte, der unerfreulichen Auseinandersetzung mit ihr aus dem Weg zu gehen.

Pflichtschuldig nahm er Orianes pinkfarbene Köfferchen, gab Margaux, die mit verschränkten Armen und hochrotem Kopf auf der Bettkante schmollte, einen verhaltenen Kuss auf die Wange und stiefelte eiligen Schrittes die knarzende Holztreppe hinunter gen Münster.

II.

1434: Ankunft in Straßburg

„Name?“

„Henne, Henne Gensfleisch.“

„Was ist Ihr Begehr?“

„Ich möchte mich in Straßburg niederlassen und eine Unternehmung begründen.“

***

Schon von ferne hatte Henne den Kirchturm des Straßburger Münsters gesehen, als er den Rhein hinaufkam, hoch zu Ross und mit dem Boot.

Was für ein erhabenes Gebäude zu Ehren Gottes. Seit Jahrhunderten wurde an diesem gewaltigen Bauwerk gearbeitet. In wenigen Jahren sollte es endlich so weit sein. Der derzeitige Baumeister musste nur noch die Kirchturmspitze vollenden. Dann würde das höchste Gebäude der Christenheit davon künden, dass Straßburg eine der größten, reichsten und mächtigsten freien Städte im Heiligen Römischen Reich, ja in der gesamten Christenheit war. Er musste ihn unbedingt kennenlernen, diesen Baumeister. Es musste sich um einen Mann seines Kalibers handeln, einen visionären Geist, einen Mann der Tat …

Auch Henne wollte Großes erschaffen. Kein Bauwerk, sondern eine neue Technik, die die Welt verändern und ihn reich machen würde. Bisher war es nur eine vage Idee, doch er war sich sicher, wenn er sie irgendwo verwirklichen konnte, dann hier in dieser Stadt.

Fünfundzwanzigtausend Einwohner! Nur Köln, Nürnberg und Augsburg waren in deutschen Landen größer. Straßburg war wie geschaffen für ihn, zog ihn magisch an, groß, wohlhabend, perfekt gelegen auf der Handelsroute zwischen Flandern und Norditalien … und sie war frei, so frei, wie eine Stadt im Jahr 1434 nach Christi Geburt nur sein konnte.

***

„Eure Papiere bitte!“

Henne Gensfleisch zeigte dem Wachmann am gewaltigen Stadttor seine Papiere und ein Empfehlungsschreiben, das ihn als Patrizier einer anderen freien Stadt auswies, und ihm wurde Einlass gewährt.

Er hatte seinen Diener, der ihn samt seiner Gattin auf seiner Reise begleitete, vorausgeschickt und ihn angewiesen, eine geeignete Bleibe für ihn zu suchen. Neben einem standesgemäßen Wohnhaus benötigte er eine Werkstatt, eine große Werkstatt für großartige Werke, die es zu erschaffen galt.

Die aufstrebende Metropole Straßburg war teuer. Henne war alles andere als arm, doch er wartete auf Leibrenten, deren Auszahlung ihm seine Heimatstadt verweigerte. Wenn er den dafür Verantwortlichen in die Finger bekäme, dann würde er ihn in den Kerker werfen lassen …

Vorerst musste eine Bleibe in einem Vorort von Straßburg genügen. Innerhalb des umfriedeten Bereichs des Klosters des heiligen Arbogast war sein Diener fündig geworden.

Eine weise Entscheidung, nahe genug an der Stadt, um am gesellschaftlichen Leben mit seinesgleichen teilnehmen zu können, sicher genug, in der Umfriedung der Klostermauern, günstig genug, um vorerst einigermaßen standesgemäß leben zu können, und mit genügend Platz, um seine hochfliegenden Pläne in die Tat umzusetzen.

III.

Der Herr und sein Diener

„Mein Herr, es ist etwas Schreckliches geschehen. Gestern Nacht wurde unser geheimes Versteck zerstört. Unser Schatz wurde entwendet.“

Er seufzte und bat seinen Diener in sein ganz privates Arbeitszimmer, zum ersten Mal.

„Es musste eines Tages so kommen, mein getreuer Diener. So steht es in der Prophezeiung.“

Die versteckten Kameras, die er im Münster hatte installieren lassen, übertrugen ihre Bilder auf verschiedene Bildschirme in seinem geheimen Arbeitszimmer. So hatte er immer alles unter Kontrolle. Er nahm sich die Aufnahmen vor, auf denen das Versteck rund um die Uhr videoüberwacht wurde, spulte zurück, bis er eine Gestalt darin auftauchen sah, die sich daran zu schaffen machte.

„Sie hat es nicht einmal für nötig gehalten, sich zu vermummen. Dachte sie etwa, dass wir ihr nicht auf die Schliche kommen würden? Sie wird bezahlen müssen für ihren Frevel!“

Er speicherte die entscheidende Bildsequenz auf einem externen Datenträger und übergab sie seinem Untergebenen. Auf einem Blatt Papier notierte er einen Namen und eine Telefonnummer.

„Ich habe einen Kontakt bei der Polizeidirektion, ein IT-Fachmann in leitender Position. Vereinbare ein Treffen mit ihm und übergib ihm den Datenträger. Er wird herausfinden, um wen es sich handelt. Bestelle ihm Grüße von mir. Er schuldet mir einen Gefallen. Ich habe ihn einmal aus einer misslichen Lage gerettet und nun fordere ich eine Gegenleistung. Außerdem habe ich ihn in der Hand, könnte ihn erpressen. Er wird tun, was wir von ihm verlangen.“

„Euer Wunsch sei mir Befehl, mein Herr.“

Unterwürfig verabschiedete sich der Diener von seinem Herrn und tat, wie ihm geheißen.

IV.

Das Äquinoktium

Sturni überquerte die Passerelle de l’Abreuvoir – das Eselsbrückel – über die Ill in Richtung Münster. Die Drahtgitter am Geländer der kleinen Fußgängerbrücke, seinem Lieblingsübergang auf die Grande Ill, waren übersät mit kleinen Vorhängeschlössern, die verliebte Paare dort angebracht hatten.

Zwei davon waren von ihm. Das erste hatte er mit Caroline, seiner ersten Frau, dort in glücklichen Tagen angebracht, das zweite mit Margaux. Beide romantischen Augenblicke kamen ihm gerade vor wie aus einer fernen Vergangenheit, und dabei war zumindest das mit Margaux am Geländer befestigte Schloss noch gar nicht so alt …

Wer sich diesen eigenartigen Brauch wohl hatte einfallen lassen, sinnierte er, als er beim Überqueren der kleinen Passerelle Ausschau hielt nach seinen beiden Schlössern, die jedes Mal in der Hoffnung dort angebracht worden waren, das Glück des flüchtigen Augenblicks ein Leben lang festhalten zu können. Beim ersten Mal hatte es nicht geklappt, doch Sturni war ein Optimist. Mit Margaux würde es bestimmt besser funktionieren, auch wenn es im Moment etwas schwierig mit ihr war. Schließlich war sie hochschwanger, da musste er eben ein wenig Rücksicht auf sie nehmen …

Schon vor dem Münster gab es kaum noch ein Durchkommen. Sturni musste seinen Polizeiausweis zücken, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Es hatte sich in Windeseile herumgesprochen, dass das grüne Jesus-Leuchten im Münster heute unter anderen Vorzeichen stattfinden würde.

Als er endlich, kurz vor zwölf Uhr – also genau zum richtigen Zeitpunkt – an der Kanzel ankam, beschien das inzwischen weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannte grüne Licht gerade ein schwarzes Loch, just an der Stelle, wo sich eigentlich die Jesusfigur befinden sollte. Der mystische Moment, auf den so viele Straßburger und Touristen gewartet hatten, fiel aus.

Bernard Isinger – wie immer in solchen Momenten aufgeregt und voller Tatendrang – wartete an der Kanzel auf ihn. Neben ihm standen zwei Herren, gekleidet in sakrale Gewänder. Inspektor Isinger hatte den Tatort absperren lassen und einige Uniformierte sorgten dafür, dass die schaulustige Menge einen gebührenden Abstand zur Kanzel hielt, die den dritten Nordpfeiler des Langhauses umgab.

Irgendjemand musste die berühmte Figur bei einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit einem schweren Gegenstand, zum Beispiel einem Hammer, abgeschlagen haben. Zum Glück hatten die sich daneben befindenden Figuren der Heiligen Jungfrau und des Heiligen Johannes nichts abbekommen, man hatte es wohl nur auf den Jesus abgesehen. Selbst die beiden Totenköpfe – was auch immer sie dort zu suchen hatten –, die unterhalb des gekreuzigten Jesus angebracht waren, schienen noch intakt zu sein.

Anstatt der Figur sah man nun einen Hohlraum, der in die Kanzel hineinreichte. Die zerbrochenen Teile lagen unterhalb der Kanzel auf dem Boden zerstreut. Die Kanzel selbst war geschützt durch ein Metallgitter. Davor hatte Isinger noch eine größere Fläche mit einem Plastikband vor neugierigen Touristen gesichert.

Der Täter hatte die Jesusfigur mutwillig und gezielt zerstört, ausgerechnet in der Nacht vor dem großen Ereignis. Oder vielleicht gerade deshalb, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die filigrane Figur war in fünf große und viele kleine Teile zerborsten, die verstreut auf dem von Isinger gesperrten Bereich vor der Kanzel herumlagen.

„Wie ist die Lage, Bernard? Hast du schon etwas herausgefunden?“

Sturni versuchte, seinem engagierten Inspektor seinen Unmut nicht allzu offensichtlich zu zeigen. Schließlich war er sein Vorgesetzter und schätzte seinen jungen Inspektor sehr.

„Commissaire, ich darf Ihnen den Pfarrer des Münsters vorstellen, Herrn Alphonse Sipp. Und das ist Louis Stentz, der Küster. Er hat die beschädigte Figur heute Morgen gefunden. Die abscheuliche Tat muss also heute Nacht begangen worden sein. Bei seinem spätabendlichen Rundgang gestern war die Figur laut Herrn Stentz noch makellos. Er konnte sich noch genau daran erinnern, da er dabei immer einige Minuten andächtig davor verweilt und ein kurzes Gebet spricht.“

Die beiden Herren nickten ihm zu, wirkten erschüttert ob des herben Verlusts. Sturni wunderte sich, dass ein so junger und sympathisch wirkender Mann es bereits zum Pfarrer des Straßburger Münsters, immerhin eines der gewaltigsten und berühmtesten Kirchenbauten des Abendlandes, gebracht hatte.

Isinger sollte mal schön die Kirche im Dorf – oder besser das Münster in der Stadt – lassen. Abscheulich waren die Mordfälle, mit denen sie es tagtäglich zu tun hatten. Hier hatte jemand ein behauenes Stück weißen Sandstein, Alabaster, oder was auch immer das für ein Material war, beschädigt. Ein böser Scherz, könnte man sagen, mehr nicht. Die Figur würde sich restaurieren lassen und schon beim nächsten grünen Jesus-Leuchten in einem halben Jahr wäre sie wieder wie neu.

Im Gegensatz zu Isinger, der tiefreligiös und erzkatholisch war, hatte Sturni mit Religion im Allgemeinen und dem Katholizismus im Besonderen nicht viel am Hut. Vor einigen Jahren hatte er seine Mitgliedschaft in der Kirche offiziell beendet. Er wusste schon gar nicht mehr, welcher der vielen Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche der finale Auslöser für diese Entscheidung gewesen war.

Seine Mutter Clothilde war außer sich, als sie davon erfuhr, doch war Sturni es leid, immer nach ihrer Pfeife tanzen zu müssen. Er wollte seinen eigenen Weg gehen, endgültig. Außerdem handelte es sich um eine im höchsten Maße private Entscheidung, die jeder mit sich selbst ausmachen musste. Clothilde hatte ihm da nicht reinzureden. Das Gleiche galt für die Wahl seiner Angetrauten, aber da fehlte seiner Mutter jegliches Feingefühl …

Auf Clothildes massiven Druck hin hatte er seinen Sohn Christian noch taufen lassen, kurz darauf für sich selbst aber die Konsequenzen gezogen. Bei seinem zweiten Kind wollte er auf eine Taufe verzichten, aber diese Frage war mit Margaux noch alles andere als ausgestanden. Mit einigen der zehn Gebote nahm sie es selbst nicht so genau. Niemals wäre sie aber auf die Idee gekommen, aus der Kirche auszutreten. Sie war eben eine typische Elsässerin.

Plötzlich wurde ihm bewusst, wie lächerlich er aussehen musste vor den beiden Geistlichen und den sie umringenden Kirchenbesuchern und Touristen, denen hoffentlich nicht klar war, dass er der höchstrangige Vertreter des französischen Staates vor Ort war. In der Hand hielt er immer noch Orianes pinkfarbene Etepetete-Köfferchen …

Er war in seinem Freizeitlook in die Kathedrale gestürmt, mit bunten Shorts und weitem Hemd mit geöffneten Knöpfen bis zum Brustansatz, sah aus wie ein deutscher Tourist im Hochsommer, der respektlos mit kurzen Shorts und Badelatschen ein Gotteshaus betrat. Es war ihm peinlich. Verlegen knöpfte er sein Hemd bis zum Kragen zu. Als ob das noch einen Unterschied machte …

Mit so einem Massenauflauf hatte er nicht gerechnet. Etwas verlegen schüttelte er den beiden Herren förmlich die Hand.

„Antoine Sturni, ich bin der für den Fall zuständige commissaire. Ich schlage vor, wir rufen erst einmal die Spurensicherung. Die sollen die Bruchstücke aufsammeln und untersuchen. Vielleicht bekommen wir so Anhaltspunkte auf Tatzeitpunkt, Tatwaffe und Täter.“

Sturni hatte keine Ahnung, wie man für gewöhnlich bei Sachbeschädigungen vorzugehen hatte, schon gar nicht, wenn es sich um einen wertvollen Sakralgegenstand handelte. Seit fast zwei Jahrzehnten befanden sich an seinen Tatorten gewaltsam zu Tode gekommene Mordopfer, und da gehörte es nun mal zu den ersten Schritten, die Spurensicherung zu rufen. Was bei einer zerstückelten Leiche richtig war, konnte bei einer zerborstenen Jesusfigur nicht falsch sein …

Isinger zückte sein Handy und suchte nach der Nummer des neuen Kollegen von der Spurensicherung, als sie von einem lauten Ruf aus dem Off unterbrochen wurden.

„Hier fasst niemand etwas an! Der Jesus gehört allein dem Herrn, vertreten durch die Diözese Straßburg, also mich, zumindest in weltlichen Angelegenheiten ...“

Aus dem Hintergrund hatte sich ein weiterer Herr in geistlichem Gewand genähert. Die beiden anderen wichen ehrfurchtsvoll zurück, als er sich zu der kleinen Gruppe aus Isinger, Sturni und den schon anwesenden Vertretern der Kirche gesellte. Er schien demnach in der Hierarchie über den beiden zu stehen. Sturni beeindruckte das nicht. Er drückte Isinger Orianes Schickimicki-Köfferchen in die Hand und begrüßte den unfreundlichen Herrn mit einem kräftigen Händedruck.

„Antoine Sturni, ich bin der diensthabende commissaire und für die Ermittlungen in dem Fall zuständig.“

Der ergraute Würdenträger musste die Sechzig überschritten haben. Er trug eine Soutane, ein schwarzes, maßgeschneidert wirkendes Gewand, das um den Hals zu einer um wenige Zentimeter breiten Krause verlängert war. Unter der Halskrause trug er einen blütenweißen Priesterkragen. Der Farbkontrast stach Sturni sofort ins Auge. Schwarz und Weiß, Gut und Böse, das Fundament dieser Religion, schoss es ihm durch den Kopf.

Der Mann strahlte eine große Ruhe und Würde aus, schien sich seines Status in der Kirche sehr bewusst zu sein. Für sein Alter wirkte er noch extrem drahtig und fit, kein Bauchansatz, kein Gramm Fett war an diesem asketisch wirkenden Mann.

„Mein Name ist Jean-Michel Bott. Ich bin der Generalvikar der Diözese Straßburg. Bei der zerstörten Figur handelt es sich nicht um irgendeinen Gegenstand, sondern um ein einzigartiges Kunstwerk. Unter vielen Kunsthistorikern gilt es als die schönste Skulptur der Spätgotik. Sie muss unbedingt professionell von unseren Experten restauriert werden. Das hat absolute Priorität! Ich habe daher einen Restaurator gerufen, der sich der Angelegenheit annehmen wird. Er müsste gleich hier sein. Im Übrigen befinden Sie sich hier in einem Gotteshaus und ich bitte Sie, sich demgemäß zu verhalten und vielleicht auch – zumindest bei Ihrem nächsten Besuch – angemessen zu kleiden“, sagte er, mit einem abschätzigen Blick auf Sturnis knallbunte Shorts. Die überhebliche Art des Generalvikars machte Sturni aggressiv.

„Gotteshäuser sind in Frankreich nach meiner Kenntnis Eigentum des französischen Staates, dessen Vertreter ich bin. Da hier offensichtlich eine Straftat an einem, wie Sie selbst sagen, wertvollen Kunstgegenstand begangen wurde, entscheide ich, wie vorgegangen wird. Niemand rührt hier etwas an, bevor nicht die Spurensicherung vor Ort ist. Sie müsste gleich da sein.“

Sturni kratzte sich verlegen am noch ungewaschenen Kopf. Wo war er da nur wieder reingeraten? Während Isinger mit dem neuen Kollegen, einem gewissen Julien Josmeyer, den Sturni noch nicht persönlich kennengelernt hatte, telefonierte, rieb er aufgeregt an einer kleinen Figur, die in die Treppenstufen zur Kanzel hinauf eingearbeitet war. Die Skulptur stellte einen wohl noch jungen Hund dar, der die Pfoten ausstreckte und schlief, während seine großen Schlappohren über seine Pfoten hingen. Schon die Künstler im ausgehenden Mittelalter schienen eine blühende Fantasie und viel Sinn für Humor gehabt zu haben. Was hatten Totenköpfe und ein Welpe mit Schlappohren auf einer Kanzel zu suchen?

„Isinger, wir untersuchen gerade die Beschädigung eines wertvollen Sakralgegenstandes, haben den Tatort weiträumig absperren lassen, warten auf die Spurensicherung und streiten uns mit dem Klerus darüber, wer im Straßburger Münster das Sagen hat – und du hast nichts Besseres zu tun, als eine kleine Hundefigur zu streicheln, die Teil des Corpus Delicti ist? Hat dir deine Frau heute Morgen etwas in den café gemischt? Gehts noch?“

„Tut mir leid, Chef. Wir haben uns kürzlich einen jungen Hund zugelegt und der arme leidet an Koliken, seitdem er bei uns ist. Die kleine Hundefigur bringt den Hunden und ihren Haltern Glück, wenn man darüber streichelt. Das ist doch in ganz Straßburg bekannt. Sie wurde seinerzeit vom Baumeister der Kanzel angebracht, als Anspielung auf die Hundenarretei von Johann Geiler, dem bedeutendsten deutschsprachigen Prediger des ausgehenden Mittelalters, für den die Kanzel damals errichtet wurde.“

Sturni warf einen eingehenden Blick auf den Welpen. Der Stein war schon ganz speckig, so intensiv war er von glücksuchenden „Gläubigen“ bearbeitet worden. Da hatte Sturni wohl mal wieder verpasst, was in ganz Straßburg allgemein bekannt war … Er fragte sich, ob das ein katholischer oder doch eher ein heidnischer Ritus war, sagte aber nichts dazu und empfahl seinem Inspektor stattdessen einen geeigneten Diätplan für seinen Hund.

***

„Wattwiller!“

Sturni war irritiert … Wer war das nun schon wieder?

„Ja, was will er?“

„Nein, Claude Wattwiller. Ich bin der Restaurator und würde gerne die zerstörte Figur fachmännisch bergen und in unseren Räumlichkeiten restaurieren.“

Etwa zeitgleich trafen der neue Leiter der Spurensicherung und der vom Generalvikar hinzugezogene Restaurator am Tatort ein.

Während der Wartezeit hatte Isinger ihn noch ins Gebet genommen, dass es nicht ratsam sei, sich mit dem Generalvikar anzulegen. Er sei nach dem Erzbischof die Nummer zwei in der Diözese Straßburg, quasi dessen Verwalter in weltlichen Angelegenheiten. Der Draht vom Erzbischof zum Präfekten sei kurz und direkt, weshalb nach einer diplomatischen Lösung gesucht werden müsse, bei der die Interessen der Kirche angemessen berücksichtigt würden. Ansonsten müssten sie mit mächtig Ärger rechnen.

Bouget … der Präfekt … zu oft war Sturni mit ihnen angeeckt. Er nahm sich fest vor, den Rat seines Inspektors zu beherzigen und nach einer einvernehmlichen Lösung zu suchen. Wegen einer belanglosen Sachbeschädigung wollte er es sich nicht endgültig mit ihnen verscherzen. Nichtsdestoweniger hatte er hier eine Straftat zu untersuchen. Dazu war er von Amts wegen verpflichtet. Klein beigeben würde er also nicht.

Sturni besann sich, dass er ja gerade dem hageren, großgewachsenen Restaurator gegenüberstand, der von ihm erwartete, die Teile des Jesus einsammeln und restaurieren zu dürfen. Wieso fiel es ihm derzeit nur so schwer, sich auf eine Sache zu konzentrieren? Ständig ertappte er sich dabei, dass er mit seinen Gedanken abschweifte.

Claude Watt-will-er? Wattwiller war ein Dorf im südlichen Elsass, an den Hängen der Vogesen, in dem ein gleichnamiges Mineralwasser hergestellt wurde. Außerdem gab es in Straßburg einen Place de Wattwiller im Stadtteil Neudorf, an der Grenze zu Deutschland …, aber das war doch kein Name!

„Ah, so ist das … Antoine Sturni, guten Tag. Ich kann Ihnen versichern, dass wir nichts unternehmen werden, was Ihre wertvolle Figur gefährdet. Außerdem ist sie ja schon kaputt … Ähm, Sie können sie natürlich restaurieren, sobald wir mit unseren Untersuchungen fertig sind.“

Nun war es Claude Wattwiller, der ihm nicht mehr zuhörte. Er war also nicht der Einzige, der derzeit etwas zerstreut war, ein Glück. Wie gebannt starrte Wattwiller auf das schwarze Loch, wo sich noch bis vor Kurzem die Jesusfigur befunden hatte.

Zum Glück gesellte sich nun auch noch Julien Josmeyer zu ihnen, zwischen Staat und Klerus herrschte also wieder Gleichstand. Josmeyer, Wattwiller … Das wurde ja immer besser! Konnte die junge Generation keine anständigen elsässischen Nachnamen mehr haben, wie Schmidiger, Straumann, oder eben Sturni …

Nachdem er den neuen Kollegen gebührend – bei seiner Arbeit war er in besonderem Maße auf die Spurensicherung angewiesen – begrüßt hatte, wandte er sich an Claude Wattwiller, der mit heruntergeklappter Kinnlade auf das schwarze Loch in der Kanzel starrte.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut? Ich habe Ihnen doch versichert, dass Sie Ihre Figur werden restaurieren können. Wir werden für alles eine Lösung finden. Keine Sorge!“

Beifall heischend schielte Sturni zum Generalvikar, dessen Miene sich bei der Aussage etwas aufhellte, doch noch immer starrte der Restaurator wie gebannt auf die Kanzel.

„Das ist eine kunsthistorische Sensation! Darüber muss ich unbedingt einen Aufsatz veröffentlichen.“

Sturni drohte den Faden zu verlieren, war unkonzentriert. Wovon redete der Mann mit dem eigenartigen Namen? Die ganze Angelegenheit interessierte ihn nicht im Geringsten. Außerdem ging ihm die unerfreuliche Konversation mit Margaux und die anstehende Wohnungsbesichtigung mit Oriane im Kopf herum. Es musste schnell eine Lösung für Oriane gefunden werden, noch vor seiner Hochzeit und der Geburt des Kindes.

„Watt-will-er? Äh, Monsieur Wattwiller, könnten Sie uns bitte ins Bild setzen, wovon Sie gerade reden? Ansonsten würde mein Kollege von der Spurensicherung jetzt die Teile der Figur einsammeln und untersuchen.“

„Pardon, natürlich. Wie Sie bestimmt wissen, ist dies keine gewöhnliche Kanzel.“

Das wusste Sturni natürlich nicht …

„Erbaut wurde sie von einem gewissen Hans Hammer, dem Baumeister des Münsters, zwischen 1484 und 1486, für den berühmten Prediger Johann Geiler von Kaysersberg, einem Vordenker der Reformation.“

Ja, ja, der Hund, Johann Geiler, kannte er alles schon … Vordenker der Reformation, okay, seinetwegen …

„Aha!“

Sturni hatte ja gute Vorsätze, sich bei Gelegenheit mal genauer mit der Stadtgeschichte zu befassen, aber das war ihm nun doch zu detailliert. Claude Wattwiller hatte keinen Sinn für des Kommissars Desinteresse und fuhr begeistert fort.

„Die Kanzel hat eine bewegte Geschichte hinter sich.“

Klar, sie war ja auch schon steinalt.

„Während der Französischen Revolution wurde sie arg in Mitleidenschaft gezogen und sogar abgebaut. Auch die berühmte Jesusfigur hatte etwas abbekommen und musste restauriert werden.“

Dann war das also nichts Neues. Das Replikat wurde eben wieder zusammengesetzt oder repliziert. Alles halb so wild. Seinetwegen durfte Wattwiller nun zum Punkt kommen.

„Über die Kanzel und die Jesusfigur wurde schon viel publiziert. In aller Bescheidenheit habe auch ich mir mit einigen Artikeln in angesehenen Fachzeitschriften einen Namen zu diesem einzigartigen Kunstwerk gemacht.“

Ja, ja, schon gut. Sturni schaute auf die Uhr und dann, etwas betreten, auf seine knallbunten Shorts. So viel Zeit hätte sein müssen, wenigstens eine Jeans hätte er sich anziehen sollen. Er fühlte sich zunehmend unwohl.

„Nicht bekannt ist allerdings, dass sich in ihr und dahinter ein rechteckiger Hohlraum befindet, ganz so, als habe man einen kleinen Tresor eingebaut. Wurde der Hohlraum schon im Spätmittelalter, beim Bau der Kanzel, eingebaut und versiegelt? Oder vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, nach der Französischen Revolution? Wurde in diesem Hohlraum etwas aufbewahrt, ein Schatz, eine wertvolle Reliquie gar? Nichts davon ist bekannt. Ich kenne das Münster und diese Kanzel wie meine Westentasche. Wenn es irgendwo in den mehr als fünfhundertjährigen Beschreibungen zu dieser Kanzel eine Information zu diesem Hohlraum gäbe, dann wüsste ich es. Offensichtlich gibt es jemanden, der mehr weiß als wir und uns dieses Geheimnis nun offenbart, dessen Inhalt aber vielleicht kurz zuvor entrissen hat.“

„Ja, gut, also …“

Sturni musste sich erst mal sammeln. Das mochte ja alles ganz furchtbar aufregend sein … für einen Kunsthistoriker. Ihn interessierte es nicht. Weshalb mussten Küchler und Tignel ausgerechnet an diesem Wochenende krank sein? Sobald sie wieder im Dienst waren, würde er ihnen den Vorgang auf den Tisch knallen und dann schnell vergessen.

„Josmeyer, Sie untersuchen jetzt den Tatort!“

Er warf einen Blick auf den Generalvikar, dessen Stirn sich bei der Ansage in Falten legte. Es schien ihm ganz und gar nicht zu passen, dass staatliche Vertreter die Kanzel genauer unter die Lupe nehmen wollten. Am liebsten hätte er sie aus „seiner“ Kirche verwiesen, die aber dummerweise dem französischen Staat gehörte …

„Natürlich im Beisein von Herrn Watt … will … er …, ich meine Wattwiller. Die Spuren werden so gesichert, dass der wertvollen Figur kein Schaden zugefügt wird. Ich meine natürlich kein zusätzlicher Schaden, sie ist ja bereits in zig Teile zerbrochen …“

Nun musste Sturni doch schmunzeln, über seinen, wie er fand, gelungenen Witz.

„Josmeyer, Sie untersuchen die Teile auf Fingerabdrücke, wieder unter fachkundiger Beteiligung von Herrn Wattwiller. Wenn Sie fertig sind, gehen die Teile an die Restauratoren des Münsters und können wieder zusammengesetzt werden.“

Sturni blickte fragend in die Runde. Zustimmendes Nicken allenthalben, ein guter Kompromiss zwischen Klerus und Staat schien gefunden zu sein. Nur der Generalvikar schien noch nicht überzeugt, doch hatte Kommissar Sturni hinreichend klargemacht, dass er hier das Sagen hatte, knallbunte Shorts hin oder her. Zumindest gab es von der ergrauten Eminenz keine weiteren Widerworte …

„Prima, dann hätten wir die ganze Angelegenheit ja geklärt. Sie entschuldigen mich, ich habe noch etwas zu erledigen. Den Rest übernimmt mein Inspektor, Bernard Isinger.“

Sturni nahm Isinger Orianes Köfferchen wieder ab und nickte zur Verabschiedung in die Runde. Er war froh, dass er die Sache gütlich gelöst und nun hoffentlich hinter sich hatte. Nächste Woche wären Küchler oder Tignel wieder im Büro und könnten sich mit dem alten Krempel rumschlagen. Er jedenfalls hatte Wichtigeres zu tun, Oriane Jacquesson musste umgehend und auf Nimmerwiedersehen aus seinem Leben verschwinden. Das hatte oberste Priorität!

V.

1434: Brief an Nikolaus

Wohledler Freund,

ich danke Euch für Euren Besuch, den ich schon bald in Basel erwidern möchte. Es erfüllt mich mit großer Freude, dass wir uns nun regelmäßig werden sehen können. Auf dem Rhein oder dem Rücken eines Pferdes ist Basel innerhalb kurzer Zeit von Straßburg aus zu erreichen.

Inzwischen habe ich meine Werkstatt eingerichtet und mit meinen Arbeiten begonnen. Schon seit geraumer Zeit beschäftigt mich eine große Idee, deren Umsetzung ich hier verwirklichen möchte. Noch ist sie vage, doch spüre ich, dass ich hier mein Glück finden und Großes erschaffen kann. Wo, wenn nicht hier, sollte mir dies gelingen? Noch nie habe ich in solcher Fülle talentierte Handwerker gesehen, Goldschmiede, Tischler und viele mehr, derer ich mich bei der Umsetzung meiner Erfindung zu bedienen gedenke.

Eure neuesten Schriften habe ich gelesen, die concordantia catholica eingeschlossen. Ich teile Eure Auffassung, dass eine Reform der Kirche dringend nottut. Doch bin ich uneins mit Euch über den richtigen Weg. Immer sucht Ihr nur den Konsens, seid auf Ausgleich bedacht, um die Einheit der Kirche wiederherzustellen und zu wahren.

Ich glaube nicht, dass die dringend notwendigen Reformen der Kirche auf diese Weise durchgesetzt werden können, aber darüber unterhalten wir uns bei unserer nächsten Zusammenkunft. Es drängt mich, mehr über Euer Wirken auf dem Konzil zu Basel zu erfahren. Empfindet es als Privileg, an der neben dem Konzil von Konstanz wahrscheinlich wichtigsten Synode in diesem Jahrhundert teilnehmen zu können. Derzeit ist es wichtiger denn je, die zentralen Fragen unseres Glaubens zu erörtern und wegweisende Entscheidungen zu treffen. Von diesen Entscheidungen wird abhängen, ob unsere Kirche noch eine geeinte Zukunft hat, oder aber ein endgültiger Bruch vonnöten ist.

Sollte es mir gelingen, mein großes Vorhaben in die Tat umzusetzen, dann werdet auch ihr davon profitieren, dann werden sich Eure Gedanken, Eure Schriften in Windeseile in der gesamten Christenheit verbreiten lassen. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

TreuergebenEuer Henne

VI.

Die Verabredung

Sie strich über die Hülle ihres portables mit dem Hello-Kitty-Aufdruck. Ganz schön kitschig, das war ihr bewusst. Inzwischen war ihr aber alles egal, sie hatte nichts mehr zu verlieren. Sie würde sich keinen gesellschaftlichen Konventionen mehr unterwerfen, nur noch machen, was sie wirklich wollte. Ihr altes Leben war Geschichte.

Die Nummer des Anrufers war unterdrückt. Das ließ nichts Gutes vermuten. Sie nahm ab, versuchte ruhig zu bleiben.

„Âllo?“

„Sie haben etwas, das mir gehört.“

„Wer spricht da?“

„Das tut nichts zur Sache. Ich möchte Ihnen einen Handel vorschlagen. Wir haben Beweise für Ihre schändliche Tat. Wir wissen, wo Sie sich aufhalten. Auf meine Anordnung hin wird in wenigen Momenten die Polizei bei Ihnen erscheinen und Sie festnehmen. Dann werden Sie die Ihnen noch verbleibende Zeit hinter Gefängnismauern verbringen. Keine schöne Perspektive, wenn man nur noch Monate zu leben hat.“

Woher wusste der Anrufer das alles? Wie war er ihr auf die Schliche gekommen, in so kurzer Zeit? Und woher wusste er um ihren Gesundheitszustand, der ihr keine Hoffnung mehr ließ? Das war doch unmöglich.

„Sie können den Rest Ihres Lebens aber auch in Freiheit verbringen. Es liegt ganz an Ihnen.“

Sie unterdrückte einen Schrei, kämpfte gegen eine Panikattacke an. Tränen rannen ihre Wangen hinab.

„Was muss ich dafür tun?“

Er hatte sie. Er bekam sie alle, immer … Daher war er vom Herrn für diese Aufgabe auserkoren worden, war ihm näher als das gemeine Volk, ihm gleich … zumindest ähnlich.

„Morgen, 4.30 Uhr, auf der Île Coléo. Bringen Sie mit, was mir gehört. Kommen Sie allein und machen Sie keine Dummheiten! Sie verstehen schon, was ich meine.“

Er hatte aufgelegt. Es gab keine Diskussion, keinen Verhandlungsspielraum. Der Anrufer hatte sie in der Hand.

„Merde, merde, merde!“

Verzweifelt hämmerte sie mit den Fäusten gegen die Wand. Sie hätte vorsichtiger sein müssen, hatte doch keine Narrenfreiheit gehabt, selbst in den letzten Tagen ihres Lebens. Als sie sich wieder im Griff hatte, kauerte sie sich in eine Ecke ihrer neuen Wohnung und dachte nach, versuchte, einen klaren Verstand zu bewahren. Das Gefängnis war keine Perspektive, nicht in ihrer Lebenssituation. Wie sehr sie doch hing an diesem bisschen Leben, das ihr noch verblieb. Sie wollte nicht jämmerlich in einer Gefängniszelle verrecken, von Mitinsassen misshandelt werden, war keine Kriminelle, trotz der strafbaren Handlung, die sie begangen hatte. Ihr blieb also keine Wahl, auch wenn es gefährlich war.

Dann nahm sie ihr Hello-Kitty-Handy und fotografierte ihr Diebesgut. Eine Sicherheitskopie der Bilder hinterlegte sie auf der Festplatte ihres Laptops. Sie würde ihn wieder verlieren, ihren Schatz. Das sollte sie aber nicht daran hindern, dem damit verbundenen Geheimnis auf die Schliche zu kommen, wäre es auch das Letzte, was sie in diesem Leben noch vollbringen würde.

VII.

Verführungskünste

Als Sturni aus dem Westportal des Münsters trat, sah er Oriane sofort. Sie beugte sich aus einem Fenster der direkt gegenüberliegenden Fachwerkhäuser und winkte ihm begeistert zu, als sie ihn aus dem Münster kommen sah. Das passte zu ihr. Eine Wohnung in bester Lage mit Blick auf das altehrwürdige Münster.

Unter ihr, auf dem Münsterplatz, hatte sich eine Menschentraube mit Herrschaften verschiedenen Alters versammelt, die zu ihr hochglotzten, Fotos mit ihren Handykameras schossen und Filmchen von ihrem weit über den Fenstersims gelehnten überbordenden Ausschnitt drehten, den sie werbewirksam in Szene zu setzen wusste. Dass ein Schönheitschirurg der Natur gehörig nachgeholfen hatte, störte die gaffenden Herren nicht – im Gegenteil …

Er konnte Margaux’ Unmut verstehen. Normalerweise hatte sie ja eine hohe Toleranzschwelle. Dass eine Freundin von Olivia, mit der sie sich bestens verstand, einige Tage bei ihnen übernachtete, war eigentlich kein Problem für sie, Schwangerschaft und anstehende Hochzeit hin oder her.

Was ihr zu schaffen machte war, dass es sich bei Oriane Jacquesson tatsächlich um eine Femme fatale, den Prototyp einer Pariser Sexbombe handelte. Jedoch täuschte ihr billiges Aussehen und Auftreten. Oriane war eine hochgebildete, ja sogar promovierte Kunsthistorikerin. Rein optisch hätte man sie allerdings eher des Nachts rund um die Place Pigalle in Paris verortet …

Während seines unfreiwilligen Aufenthalts in Paris hatte er sie tatsächlich nur einmal gesehen, im Bistro La Tonnellerie am Canal Saint-Martin, kurz bevor die Leiche von Edouard Wanzecki aus dem Kanal geborgen wurde. Sie saß damals direkt neben ihm, war ihm aber kaum aufgefallen. Ein hübsches Gesicht mit einer Intellektuellenbrille. Typ rive gauche, südlich der Seine wohnende Bourgeois und Bohémien, daran konnte er sich noch erinnern. Il y a du monde au balcon – der üppige Vorbau – war auf jeden Fall neu, sonst wäre er ihm bei ihrem ersten Treffen aufgefallen …

Oriane hatte sich gewaltig verändert seitdem, die Plus-size-Brust-OP, die aufgespritzten Lippen, die knalligen Outfits, das billige Gehabe, das bei ihr ziemlich aufgesetzt wirkte, da sie Bildung und Intellekt nicht wirklich dahinter zu verbergen vermochte …

Irgendetwas musste sie dazu bewogen haben, einen radikalen Imagewandel zu vollziehen, der so gar nicht zu ihrem eigentlich feinsinnigen Charakter passte. Sturni hatte sie bei ihrem Wiedersehen nicht mehr erkannt, als er sie am Straßburger Bahnhof abgeholt hatte. Ein klares Zeichen, dass er bereit war für ein weiteres Eheabenteuer …

***

Oriane fiel ihm überschwänglich um den Hals, als er im dritten Stock ankam, wo sich ihre – hoffentlich – neue Wohnung befand.

„Das ist genau das, wonach ich gesucht habe. Eine Wohnung direkt gegenüber vom Straßburger Münster. Der Blick auf das Westportal ist einfach atemberaubend. Er wird mich bei meinen Studien und meiner Arbeit inspirieren.“

Die Begrüßung fiel stürmischer aus, als Sturni erwartet hatte. Sehr gekonnt rieb sie ihr vom Münsterplatz aus vielfach bewundertes Dekolleté an seinem Oberkörper und hauchte ihm dabei mit ihren aufgespritzten Lippen einen Kuss auf die Wange. Ein süßlicher Parfümduft umhüllte ihn und benebelte seine Sinne. War das noch ein bise oder schon ein erotisches Angebot?

Sturni wusste nicht, wie ihm geschah. Nutzte Oriane den günstigen Moment, ohne Margaux? Wollte sie sich auf ihre Art und Weise bei ihm bedanken, für die Beherbergung während der letzten zwei Wochen? Die Gaffer vom Münsterplatz hätten ihn jedenfalls um diese Zuneigungsbekundung beneidet …

Sanft beendete er die einseitige Liebkosung und betrat ihre neue Wohnung. Er hatte mehr erwartet, zumindest von der Wohnung ... Sie war möbliert, nett eingerichtet, mehr aber auch nicht. Es musste die Aussicht sein, die Oriane diesmal überzeugte. Sie war tatsächlich atemberaubend, diese Aussicht. Sah man aus dem Fenster, so hatte man die gigantische Fassade des Westportals des Münsters direkt vor Augen, das mächtige Eingangstor, umfasst von unendlich vielen in roten Sandstein gehauenen Skulpturen, die riesige kreisrunde Fensterrose mit ihren wunderschönen farbigen Glasfenstern, und natürlich der scheinbar endlos in die Höhe ragende Turm des Münsters.

Nachdem er Orianes Köfferchen in der Mitte des Raums auf den Holzdielen abgestellt hatte, lehnte er sich, wie zuvor Oriane, aus dem Fenster und genoss die erhebende Aussicht. Die Gaffer hatten sich inzwischen in alle Winde zerstreut. An seinem aufgeknöpften Hemd mit Brusthaaransatz hatte niemand Interesse …

Als er sich wieder umdrehte, hatte Oriane es sich auf ihrem neuen Bett bequem gemacht. Sie hatte sich aufrecht gegen ein großes Kissen an die Zimmerwand gelehnt, die Beine gekonnt übereinandergelegt und ihre Bluse so zurechtgezupft, dass sie einen noch tieferen Einblick in ihr Dekolleté gab. Sturni zwang sich, ihr stoisch ins Gesicht zu blicken.

„Du wirst die Wohnung diesmal also nehmen?“

Nun wusste er, warum Margaux so stutenbissig gegenüber Oriane gewesen war. Sie war tatsächlich eine Femme fatale und hatte es auf ihn abgesehen. Oriane zog alle Register. Kommissar Sturni war nur zu blöd gewesen, es zu bemerken. Margaux nicht …

„Sie ist perfekt! Ich hatte dir ja schon damals in Paris erzählt, dass ich mich intensiv mit dem Straßburger Münster beschäftige. Wo sollte das besser gehen als mit einem direkten Blick auf die weltberühmte Westfassade? Schon Goethe kam bei ihr ins Schwärmen, als er in Straßburg lebte.“

Sturni erinnerte sich nur vage. Er hatte Mühe, bei der Sache zu bleiben. Oriane räkelte sich nun auf ihrem neuen Bett, hatte sich ganz offensichtlich vorgenommen, ihn heißzumachen. Das hatte inzwischen sogar der – einstmals – naive commissaire der Straßburger Mordkommission begriffen. Er ging nicht darauf ein und versuchte, ihre Unterredung auf einer sachlichen Ebene zu halten.

„Ich komme übrigens gerade aus dem Münster, hast du ja gesehen. War dienstlich dort. Jemand hat heute Nacht die Jesusfigur an der Kanzel abgeschlagen. Ausgerechnet vor dem grünen Jesus-Leuchten, dem großen Spektakel.“

Oriane war ernsthaft interessiert an seinen Neuigkeiten. Sein Plan schien aufzugehen. Zumindest gab sie ihre laszive Pose auf und setzte sich züchtig auf ihr neues Bett.

„Ist nicht wahr? Das habe ich ja gar nicht mitbekommen. Und was hast du damit zu tun? Ich dachte, du bist Mordermittler? Hat man dich degradiert, Abteilung Kunstraub? Wenn du mich brauchst, ich helfe gerne. Zufälligerweise habe ich mich während meiner Doktorarbeit intensiv mit den Kanzeln der Spätgotik befasst, und die berühmte Kanzel im Straßburger Münster war ein wesentlicher Teil davon. Ich könnte dir jetzt einen kleinen Fachvortrag dazu halten, obwohl ich eigentlich Lust auf etwas anderes hätte ...“

Sie legte ihren Zeigefinger auf ihre vom Botox angeschwollene Unterlippe und sah ihn verführerisch an. Sturni musste wieder an die Gaffer vom Münsterplatz denken …

„Danke für das Angebot. Ich hoffe, nicht darauf zurückkommen zu müssen. Die zuständigen Kollegen sind krank und ich musste nur vertretungsweise einspringen. Nächste Woche gebe ich den Fall ab. Aber ich werde ihnen gerne mitteilen, dass ich eine Expertin zu dem Thema an der Hand habe.“

Er versuchte, sie verbal auf Abstand zu halten. Das konnte er gerade wirklich nicht gebrauchen. Er hatte schon genug Scherereien am Hals. Zugegeben, sie sprach seine niederen Instinkte an. Darauf beschränkte sich sein Interesse an ihr dann aber auch. Damals, mit Saba in Paris, war es anders gewesen. In sie hatte er sich ernsthaft verliebt. Nach der kurzen Affäre hatte er sich fest vorgenommen, dass damit endgültig Schluss sein sollte. Er liebte Margaux, die Geburt ihres gemeinsamen Kindes stand unmittelbar bevor. Einen weiteren „Ausrutscher“ würde er sich nicht erlauben, so viel stand fest.

„Wie schade ... Trotzdem muss ich mir das bei Gelegenheit einmal anschauen. Meine aktuellen Recherchen beziehen sich allerdings auf andere Bereiche der Kirche. In uralten Pariser Quellen habe ich gelesen, dass sich unter der heutigen Krypta des Münsters einmal Reliquien des heiligen Arbogast von Straßburg befunden haben sollen. Arbogast gilt als der erste historisch gesicherte Bischof von Straßburg im 6. und 7. Jahrhundert. Er war der Hauptbegründer des Christentums im Elsass und wurde schon zu Lebzeiten hoch verehrt. Der Spur möchte ich nachgehen. Für weitere Recherchen und Untersuchungen benötige ich aber das Einverständnis der Straßburger Diözese. Bisher wird mir eine Untersuchung der Krypta mit modernen Gerätschaften, eventuell sogar eine Ausgrabung, verweigert. Wenn du zufälligerweise einen guten Draht zum Erzbischof oder zum Generalvikar der Diözese hast, darfst du gerne deine Beziehungen für mich spielen lassen. Ich würde mich auch erkenntlich zeigen, das wollte ich ohnehin …“

Er kam nicht mehr dazu, ihr zu antworten, dass er in der Tat den Küster und den Pfarrer des Münsters, ja sogar den Generalvikar der Diözese soeben höchstpersönlich kennengelernt und ihre Telefonnummern in seinem Diensthandy eingespeichert hatte.

Oriane hatte ihm lediglich eine kleine Atempause gelassen, mehr nicht. Bei ihren Ausführungen zum Münster kam sie auf ihn zu, umfasste seinen Hals und gab ihm mit ihrem künstlichen Schmollmund einen leidenschaftlichen Kuss, den er für den Hauch einer Sekunde erwiderte. Mit einem bise unter Freunden hatte das nun wirklich nichts mehr zu tun. Das war ein handfester „French Kiss“, der nach Orianes Vorstellung gleich in die zweite Bedeutung des Wortes baiser hätte übergehen dürfen …

Für einen Augenblick war er versucht, ihren Verführungskünsten nachzugeben und ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Dann übernahm sein Großhirn wieder die Herrschaft über sein vegetatives Nervensystem. Sanft nahm er ihre Hände von seinem Hals und löste sich von ihren Lippen.

Es herrschte eine betretene Stille. Was ging nur in dieser Frau vor? War es alles nur ein Spiel für sie? Versuchte sie, den kleinen Kommissar in Verlegenheit zu bringen?

„Alors …“

Sturni druckste herum, suchte nach den richtigen Worten, um sich aus der Affäre zu ziehen.

„Ich muss dann mal wieder … Ich wollte noch bei der Spurensicherung vorbeischauen, wegen dem Jesus und so ... Außerdem braucht Margaux mich, du weißt ja, die Schwangerschaft, der Umzug ...“

Sturni verließ fluchtartig die Wohnung und war dabei stolz darauf, standhaft geblieben zu sein. Wer so einen Härtetest überstand, der konnte getrost das zweite Familienglück in Angriff nehmen. Orianes Fangemeinde auf dem Münsterplatz würde ihn für verrückt erklären, wenn sie wüsste, welch unzweideutiges Angebot er gerade ausgeschlagen hatte. Das Engelchen in ihm klopfte ihm anerkennend auf die Schulter, während das Teufelchen ihm Vorhaltungen machte, er habe gerade die erotische Chance seines Lebens vertan … Sturni brauchte unbedingt frische Luft und es wurde höchste Zeit, dass er das Weite suchte.

„Wenn du mich einmal brauchst, weißt du ja, wo du mich findest. Ich bin immer für dich da, in jeder Hinsicht“, hauchte sie ihm noch hinterher.

Die Melancholie in ihrem Blick, in dem ein Hauch von Verzweiflung mitschwang, sah Sturni nicht mehr, als er fluchtartig die Treppen hinunterstiefelte. Hätte sie ihn um Hilfe bitten, sich ihm anvertrauen sollen? Nein, es ging einfach nicht, unmöglich …

VIII.

1435: Das Badehaus

Er hätte einen anderen Ort gewählt, für ein erstes Treffen. Dabei war er selbst alles andere als prüde. Johannes Hültz war ihm bei einer Festivität des Großbürgertums der Stadt kurz vorgestellt worden und hatte ihn daraufhin gleich zu seiner liebsten Freizeitbeschäftigung eingeladen.

Aber gut, Badehäuser waren teuer, und er war selbst kein Kostverächter. Die Wälder rund um Straßburg waren weitgehend abgeholzt, das Holz zum Erwärmen des Wassers musste vom Schwarzwald und den Vogesen angeschifft werden. Da konnte er sich eine Einladung in das nobelste „Badehaus“ der Stadt nicht entgehen lassen.

Er kenne den Bader gut, so Hültz. Dieser würde ihnen die schönsten Bademädchen für die Reinigung zur Verfügung stellen, die auch für sonstige Dienste gegen ein geringes Entgelt gerne zu haben seien. Henne war also gespannt.

***

„Nun erzählt, werter Freund, was verschlägt Euch nach Straßburg?“

Sie hatten es sich gerade im mit angenehm warmem Wasser beheizten Holzbottich gemütlich gemacht, als Johannes Hültz das Gespräch begann. Neben dem Bottich rieben leicht bekleidete Mädchen ihre Rücken mit wohlriechenden Ölen ein.

Im Hintergrund spielte eine weitere Maid sanfte Klänge auf der Harfe. In Straßburg ließ es sich gut leben und er würde hier seinen Spaß haben. So viel stand schon einmal fest.

„Ich habe mich hier niedergelassen, um die Kunst des Bearbeitens von Metallen zu vertiefen. Außerdem bin ich auf der Suche nach einem fähigen Tischler, der mir eine Presse erstellen kann.“

Hültz lehnte sich im Bottich zurück und ließ sich von seinem Bademädchen Nacken und Schultern massieren.

„Hört, hört! Ein Constofler, Patrizier gar in seiner Heimatstadt Mainz, mit handwerklichen Fähigkeiten! So jemand kann es in Straßburg weit bringen. Fähige Leute kann ich auf der Münsterbaustelle immer gebrauchen. Und bei der Suche nach geeigneten Handwerkern für Eure Unternehmung kann ich euch bestimmt behilflich sein. Die besten Handwerker im ganzen Land sind auf meiner Münsterbaustelle versammelt, um dem höchsten Gebäude der Christenheit in Bälde seine Krone aufzusetzen.“

Hültz stammte aus Köln, beide waren sie Kinder des Rheins. Beide trugen sie den gleichen Vornamen, beide hatten sie sich vorgenommen, etwas Einzigartiges, etwas für die Ewigkeit zu erschaffen, und beide hatten sie eine Schwäche für die leichten Mädchen der Badehäuser. Die perfekte Basis für eine große Männerfreundschaft …

Zu gerne hätte er seinem neuen Freund noch einige Fragen gestellt. Ob sein himmelstürmendes Projekt denn tatsächlich noch ein Bauwerk zu Ehren Gottes sei oder vielmehr eine Herausforderung an die Allmacht des Herrn? Ob sich der Mensch mit dessen Vollendung nicht auf eine Stufe mit dem Schöpfer stellen wolle? Ob er keine Angst habe, den Zorn Gottes auf sich zu ziehen, wenn er in wenigen Jahren den letzten Stein auf die Spitze des Kirchturms setzen werde, die bei schlechtem Wetter bis in die Wolken, also den Himmel hineinragen würde?

Ähnliche Gedanken quälten ihn bei seinem eigenen Unterfangen. Er plante kein Gebäude, das sprichwörtlich bis zum Himmel reichte, gewiss. Doch würde man mit seiner Erfindung das Wort Gottes – und das war vielleicht noch gewagter als die Kirchturmspitze des Johannes Hültz – mit einem neuen Verfahren hundertfach vervielfältigen und somit der breiten Masse, dem Volk – wenn es denn lesen und schreiben könnte – davon Kenntnis geben können. Nicht gepredigt von irgendeinem Priester, sondern direkt und ungefiltert, dank seiner Erfindung, die aus dem Luxusgut Buch ein Massenprodukt machen würde.

---ENDE DER LESEPROBE---