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Silvester steht vor der Tür, und die norwegische Telemark liegt unter einer dicken Schneedecke. Der Privatdetektiv Wolf Larsen hat sich gut in seiner neuen Heimat Bø eingelebt und feiert zusammen mit seiner Mitbewohnerin Nora eine große Party zum Jahreswechsel. Auch ein neuer Auftrag steht an: Nora bittet Wolf, ihre Freundin Anita zu beschützen - denn die wird von einem Unbekannten bedroht.
Gemeinsam mit seiner Partnerin, der Journalistin Sanna, versucht Wolf herauszufinden, wer dahintersteckt. Doch als sich die Ereignisse während der Silvesterparty überschlagen, wird Wolf klar: Der Stalker befindet sich im Haus - und schreckt auch nicht vor Mord zurück ...
Der atmosphärische und spannende zweite Band der Norwegen-Krimi-Reihe von Bernhard Stäber um das ungleiche Ermittlerduo Wolf und Sanna.
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Seitenzahl: 361
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhalt
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Hinter dem Vorhang
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Inhaltsbeginn
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Silvester steht vor der Tür, und die norwegische Telemark liegt unter einer dicken Schneedecke. Der Privatdetektiv Wolf Larsen hat sich gut in seiner neuen Heimat Bø eingelebt und feiert zusammen mit seiner Mitbewohnerin Nora eine große Party zum Jahreswechsel. Auch ein neuer Auftrag steht an: Nora bittet Wolf, ihre Freundin Anita zu beschützen – denn die wird von einem Unbekannten bedroht.
Gemeinsam mit seiner Partnerin, der Journalistin Sanna, versucht Wolf herauszufinden, wer dahintersteckt. Doch als sich die Ereignisse während der Silvesterparty überschlagen, wird Wolf klar: Der Stalker befindet sich im Haus – und schreckt auch nicht vor Mord zurück ...
Der atmosphärische und spannende zweite Band der Norwegen-Krimi-Reihe von Bernhard Stäber um das ungleiche Ermittlerduo Wolf und Sanna.
„Neue Freunde können oft mehr Spaß miteinander haben als alte Freunde.“ (F. Scott Fitzgerald)
für Fabienne
Bø, 30. 12. 2023
Seit dem Vormittag zog ein Tiefdruckgebiet über die Telemark und Sørlandet, das Südland, und brachte tiefhängende Schneewolken mit sich. Die ersten Flocken waren bereits gefallen, als Rolf „Wolf“ Larsen in Bø den KIWI-Supermarkt betreten hatte – breite, nasse Flecken, die sich ihm auf Kopf und Schultern gelegt hatten. Jetzt, als er mit seinen Einkäufen für das Silvesterwochenende in die einbrechende Dunkelheit hinaustrat, war der Asphalt bereits weiß, und es schneite noch weiter. Im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung schimmerten die Atemwolken vor seinem Mund goldgelb.
Wolf startete seinen uralten schwarzen Mercedes, dessen Motor kurz asthmatisch röchelte, bis er schließlich doch ansprang. Er schaltete den CD-Spieler des Autoradios ein. Sofort erfüllte Nick Caves Stimme das Innere seines Schlachtschiffs im Seniorenalter.
But when I crawl into your arms
Everything, it comes tumbling down
sang der Mann mit dem Haar wie Rabenfedern, der all das herausschrie, was Wolf oft durch den Kopf ging. Er war nicht religiös, kein Stück. Das war er seit seiner Teenagerzeit nicht mehr, genauer gesagt: seit seiner Konfirmation, die letzte Bekräftigung einer Vermutung, die er schon länger gehegt hatte: Es gab keinen Gott, der alles regelte, die Guten belohnte und den Bösen so richtig einschenkte. Gerade um Letzteres mussten sich die Menschen schon selbst kümmern. Da war er sich sicher.
Aber nichtsdestotrotz hatte ihn die religiöse Inbrunst in manchen von Caves Songs nie gestört. Er mochte dessen Musik, hatte sie immer gemocht, seitdem sein Kumpel Jonas von der Polizeischule ihn an einem betrunkenen Samstagabend mit den Murder Ballads angesteckt hatte. Cave wusste etwas über echten Kummer.
Komischerweise hatte Wolf während des letzten Jahres kaum Songs von ihm gehört. In den ersten Tagen nach Annes Tod hatte er ein-, zweimal eine seiner ruhigeren CDs eingelegt, in der Hoffnung, seine eigene schlaflose Aufgewühltheit etwas herunterzufahren. Es hatte einfach nicht geklappt. Erst jetzt, mit beinahe einem Jahr Abstand, war es ihm wieder möglich, sich Nick Caves wilden Schmerz anzuhören, der am Ende in einem Frieden mit Gott aufzugehen schien, im Akzeptieren des Unvermeidbaren. Vielleicht war das der Grund gewesen, warum Wolf Caves Musik nicht hatte hören können: Er haderte auch weiterhin damit, dass Anne fort war und fast alle Menschen, die sie gekannt hatten, damit begonnen hatten, weiterzumachen. Er war noch lange nicht so weit, irgendetwas zu akzeptieren. Auch wenn sein erstes Jahr als Witwer in ein paar Wochen zu Ende sein würde.
Er hatte mit seinem bisherigen Leben, in dem er ein verheirateter Kripos-Kommissar gewesen war, gebrochen, sich als Privatermittler selbstständig gemacht und war in die Telemark gezogen.
Nun lebte er im früheren Elternhaus seiner Frau, das er zur Hälfte geerbt hatte, und teilte sich das alte Gebäude in der unmittelbaren Nähe der Kleinstadt Bø mit Annes älterer Schwester Nora. Wenn er es sich genau überlegte, dann war Nora die einzige Person, die ebenso wie er noch damit zu hadern schien, dass Anne innerhalb weniger Monate nach der Diagnose eines inoperablen Gehirntumors verstorben war. Nora war nicht zum Begräbnis ihrer Schwester gekommen. Genauso wie er war sie von Annes Tod völlig aus der Bahn geworfen worden. Er konnte nur ahnen, was in ihr vorgehen musste – erst im Teenageralter Vater und Mutter zu verlieren und Jahre später auch noch die eigene Schwester.
Im Gegensatz zu Wolf wohnte Nora nicht ständig auf dem Land. Sie lebte die meiste Zeit des Jahres über in Oslo oder reiste als Programmleiterin fürs norwegische Fernsehen von Kristiansand bis zum Nordkap und filmte die Outdoorserie Auf Tour mit Nora. Wenn sie an manchen Wochenenden und während der Feiertage vorbeikam, bewohnte sie die untere Etage, wo sich auch die Küche befand.
Sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie von dem Mann ihrer Schwester, der ein Bulle, ein Vertreter der Staatsgewalt war, nicht viel hielt. Und sie verhielt sich ihm gegenüber weiterhin reserviert, obwohl sie nicht mehr völlig abweisend zu ihm war, seitdem sie in seinem ersten Fall als Privatermittler eine entscheidende Rolle gespielt hatte, gleich nachdem er von Oslo aufs Land gezogen war. Sie war es gewesen, die die Polizei aus Skien mit ihrer Ortskenntnis zu der Hütte in den umliegenden Bergen geführt hatte. Und als Wolf den Entführer dazu gebracht hatte, seine Geisel freizulassen, hatte sie ihm geholfen, den Täter dingfest zu machen. Gemeinsam hatten sie Schlimmeres verhindert. Verdammt, dachte Wolf, während er sich den Moods-Zigarillo anzündete, den er schon auf dem Weg zu seiner Einkaufsfahrt nach Bø hatte rauchen wollen, sie hatte noch nicht mal ein Wort darüber verloren.
Er steuerte den Mercedes, dessen Heizung sich wie immer Zeit ließ, den Wagen zu wärmen, aus Bø heraus und über eine Landstraße nördlich des Flusses Bøelva Richtung Verpe. Auf dem Asphalt lagen bereits mehrere Zentimeter Schnee und erschwerten das Vorwärtskommen.
In dem wirbelnden Weiß vor seiner Windschutzscheibe blitzte mit einem Mal ein gelbes Blinklicht auf. Aus der Dunkelheit jenseits der Reichweite seiner Scheinwerfer schälten sich die Umrisse eines Räumfahrzeugs von Statens Vegvesen heraus, das auf der Gegenfahrbahn langsam an ihm vorbeizog. Nun war auch endlich die Straße wieder besser befahrbar. Nur das letzte Stück entlang eines Schotterwegs machte wieder Schwierigkeiten. Der Weg war dicht verschneit, und zweimal drohte der Wagen nach links ins ebenfalls dicht verschneite Feld auszubrechen. Dann tauchte endlich das weiße Holzhaus im Telemarkstil vor ihm auf. Der dahinterliegende bewaldete Höhenzug war in Schneetreiben und Dunkelheit verschwunden.
Wolf parkte den Mercedes in der neben dem Gebäude stehenden Doppelgarage. Der andere Wagen darin war ein verbeulter Ford Pick-up in Silbergrau, der Nora gehörte – jedenfalls fuhr sie mit ihm herum, wenn sie in der Gegend war. In der übrigen Zeit benutzte Trine Veum ihn für Einkäufe. Sie musste erst vor Kurzem damit gefahren sein, denn auf der Motorhaube und der Ablagefläche des Pick-ups schmolz frisch gefallener Schnee.
Trine lebte das ganze Jahr über wie eine Einsiedlerin in einer Hütte am Waldrand hinter dem Haus. Nora ließ sie dort wohnen und bezahlte sie dafür, dass sie ab und zu im Haus nach dem Rechten sah und notwendige Reparaturen organisierte. Jetzt, da Wolf dort eingezogen war und das Gebäude nicht mehr monatelang leer stand, bestand eigentlich kein Grund mehr dafür, sie weiter zu beschäftigen. Trotzdem hatten weder Nora noch er dieses Thema bisher angesprochen. Trine wirkte nicht, als ob sie noch viele andere Gelegenheitsjobs besäße.
Wolf ließ das linke Garagentor zurumpeln. Er betrat gerade mit seinen Einkaufstüten die Veranda, als ein hohes Geräusch ihn innehalten ließ. Er wandte sich um und lauschte in die Dunkelheit jenseits der Lichtkreise, die von den Lampen über der Haustür und an den beiden Ecken der Garage geworfen wurden.
Da war es wieder! Es hatte sich wie eine weibliche Stimme angehört. War das seine Nachbarin, die Einsiedlerin aus der Hütte?
Wolf stellte seine Einkäufe auf die Veranda und ging um die rechte Ecke der Garage herum bis zu der Stelle hinter dem Gebäude, an der die Reichweite der Lampe endete. Er wollte schon die Taschenlampenfunktion seines Handys einschalten, als ihm der tanzende Lichtpunkt im Dunkeln auffiel, der sich ihm schnell näherte.
„Trine? Bist du das?“, rief er.
„Wolf?“, kam es zurück. Jetzt war er sich sicher. Es war eindeutig seine Nachbarin. Erst tauchte ihr Kopf, umgeben von leuchtend orangefarbenem, kurz geschnittenem Haar aus der Dunkelheit auf, dann der Rest ihres stämmigen, kleinen Körpers. Sie schwankte leicht, als sei sie trotz der schweren Gummistiefel an ihren Füßen unsicher auf den Beinen. In der einen Hand hielt sie eine Hundeleine, in der anderen eine Stabtaschenlampe.
„Hallo!“, grüßte sie ihn außer Atem und kam sofort zur Sache. „Hast du Bodil gesehen?“
Bodil hieß die Hündin, um die sie sich seit dem Spätsommer kümmerte. Das Tier war an einem Parkplatz zwischen Bø und Seljord ausgesetzt worden. Niemand wusste, wem sie gehörte, oder kannte ihren richtigen Namen, also hatte Trine sie bei sich aufgenommen und sie Bodil genannt. Die Tierärztin in Bø hatte ihr Alter auf etwas über ein Jahr geschätzt.
„Sag bloß, sie ist schon wieder ausgebüxt“, erwiderte Wolf.
Missmutig starrte Trine, die einen guten Kopf kleiner als er war, zu ihm hoch. „Hätte schwören können, dass die Tür zu war. Langsam glaub ich, sie kriegt es hin, die Klinke runterzudrücken.“
Wolf hatte keine Ahnung, wozu eine Mischlingshündin wie Bodil, die das schmutzig graue Fell und die gedrungene Statur eines norwegischen Elchhunds geerbt hatte, intellektuell in der Lage war. Er wusste nur, dass diese Tiere traditionell zur Jagd eingesetzt wurden.
„Bestimmt hat sie irgendein Tier gehört oder gerochen“, sagte er.
„Na klar hat sie das“, brummte Trine. „Wir leben schließlich am verdammten Waldrand. Sie hört andauernd irgendwas.“ Ihr Blick glitt suchend an Wolf vorbei in die Dunkelheit. Im kalten Licht der Garagenlampe wirkte ihr rundes, teigiges Gesicht noch blasser als sonst. Sie war etwa in Wolfs Alter, wirkte aber älter, als hätte sie doppelt so viele Dinge wie er erlebt, die alle ihre Spuren hinterlassen hatten. Sie seufzte. „Und ausgerechnet jetzt schneit es auch noch.“
Die Besorgnis in ihrer Stimme war deutlich zu hören, eine Gefühlsregung, die Wolf an ihr bisher nicht gekannt hatte. Vielleicht war sie der Grund dafür, dass er innerlich mit den Achseln zuckte und sich darauf einstellte, noch etwas länger draußen zu bleiben, anstatt in die Wärme seines Zuhauses zurückzukehren.
„Soll ich dir suchen helfen?“, fragte er. „Bodil kennt mich ja, und vier Augen sehen mehr als zwei – hoffe ich jedenfalls, bei diesem Dreckswetter.“
Trine nickte, ohne zu zögern. Für Wolf war es ein weiteres Zeichen, dass sie sich wirklich Sorgen machte, denn normalerweise tat Trine sich schwer damit, Hilfe von anderen anzunehmen. Besonders von zugereisten Oslo-Leuten, die für sie vermutlich nur knapp über Sommertouristen rangierten.
Er schaltete die Taschenlampen-App seines Mobiltelefons ein. „Wie lange ist sie schon fort?“
„Keine Ahnung“, sagte Trine. „Ich war einkaufen und hatte sie zu Hause gelassen. Als ich vorhin zurückgekommen bin, stand die Tür offen, und sie war weg. Ich kann keine Spuren von ihr finden. Der verdammte Wind verweht den Schnee so schnell, da lässt sich nichts erkennen.“ Sie deutete an ihm vorbei zum Haus. „Entweder ist sie am Waldrand entlanggelaufen oder runter zum Haus. Ich wollte erst mal ums Haus schauen, bevor ich im Dunkeln durch den Wald laufe.“
„Okay“, sagte Wolf. „Sehen wir uns um.“
Sie gingen um das Hauptgebäude. Wolf rief mehrmals Bodils Namen, aber ohne Erfolg. Falls die Hündin ihn hörte, gab sie jedenfalls keinen Laut von sich. Trine kniete sich in den frisch gefallenen Schnee und leuchtete mit ihrer Stabtaschenlampe unter die Veranda, aber auch dort war keine Spur von Bodil zu sehen.
Wolf trat ein paar Schritte in den verschneiten Garten, hob sein Handy mit dem eingeschalteten Taschenlampenlicht an und rief erneut in die Dunkelheit, aber keine vierbeinige Gestalt kam als Reaktion darauf auf ihn zugeschossen. Nur der immer dichter fallende Schnee wirbelte vor seinem Gesicht.
Trine trat neben ihn. „Hier ist sie nicht“, sagte sie mit dumpfer Stimme. „Ich geh wieder hoch zur Hütte. Vielleicht ist sie schon wieder aufgetaucht.“
„Ich komme mit“, sagte Wolf. Er mochte den Gedanken nicht, ins Haus zurückzugehen, während Bodil bei diesem Wetter im Dunkeln unterwegs war und Trine nach ihr suchte.
Seine Nachbarin gab ein Geräusch von sich, das er als zustimmendes Grunzen interpretierte, und setzte sich in Bewegung, während Wolf neben ihr her schritt.
Er lebte erst seit gut zwei Monaten hier und kannte den Weg hinter dem Haus, der am Garten vorbei und zum Waldrand führte, vor allem vom Sehen. Jetzt, im Finstern, nur erleuchtet vom zuckenden Licht eines Handys und einer Stabtaschenlampe, war der Pfad eine seltsam verschwommen wirkende, fremdartige Mondlandschaft, die Wolf nicht wiedererkannte. Nach einigen Minuten, die ihm viel länger vorkamen als beim letzten Mal, als er zum Waldrand hinaufgegangen war, erreichten sie Trines Behausung.
In den wenigen Wochen, die Wolf inzwischen in der Telemark lebte, hatte er mehr Ferienhütten zu sehen bekommen als in all den Jahren zuvor. Er war eine Großstadtpflanze, war immer eine gewesen. Bei den paar Gelegenheiten, zu denen es ihn aufs Land verschlagen hatte, wenn er über Weihnachten oder während des Osterwochenendes von Freunden eingeladen worden war, hatte er in Luxushütten übernachtet. Die Gebäude waren teilweise groß wie Bungalows gewesen, mit Wi-Fi-Anschluss und Satellitenschüsseln. Und sie hatten in Feriengebieten wie dem Haukeligebirge gestanden, wo sie regelrechte kleine Ortschaften mitten auf Berghängen gebildet hatten, zusammen mit Pubs für Après-Ski-Partys.
Trines Zuhause dagegen war Old School. Das windschiefe Gebäude aus dunklem, gebeiztem Holz, das nur aus einem einzigen Raum bestand, sah wie eine Jagdhütte aus einem früheren Jahrhundert aus. Was Wolf betraf, hätte sie das auch sein können. Eine Satellitenschüssel suchte man hier vergebens. Trine hatte erwähnt, dass sie einen Wasseranschluss besaß, aber keine Innentoilette. Dafür gab es ein paar Meter entfernt ein Häuschen mit einem ziemlich modern aussehenden Plumpsklo. Sein Holz wies weder Flechten noch Alterserscheinungen auf, bestimmt war es erst vor ein paar Jahren neben der Hütte aufgestellt worden.
„Bodil!“, rief Trine laut. Sie gab sich kaum Mühe, ihre wachsende Unruhe zu verbergen. Ruckartig sah sie sich in alle Richtungen um.
Wolf rief ebenfalls Bodils Namen. Aber die große Hündin tauchte nicht auf.
Trine, die einmal um die Hütte gelaufen war und auch hinter die Kabine mit dem Außenklo geschaut hatte, tauchte wieder neben Wolf auf. Ihr Gesicht war im Dunkeln nur schlecht zu erkennen, doch er konnte die Nervosität in ihrer Stimme deutlich hören, als sie ihn ansprach.
„Bestimmt ist sie in den Wald gerannt. Wenn sie irgendein Tier gehört oder gerochen hat, ist das wahrscheinlicher, als dass sie in Richtung Straße gelaufen ist. Du hast sie nicht gesehen, als du das letzte Stück hierhergefahren bist?“
Wolf schüttelte den Kopf. „Nein, das hätte ich dir doch schon längst gesagt. Wo müssen wir lang?“
Trine richtete den Schein ihrer Stabtaschenlampe auf eine Stelle zwischen zwei Kiefernstämmen gleich links hinter ihrer Hütte. „Da“, sagte sie knapp und ging los, ohne auf ihn zu warten. Er folgte ihr, obwohl er den Wildpfad, den sie offensichtlich gut sah, erst ausmachen konnte, als er sich bereits auf ihm befand.
Sie liefen eine ganze Weile durch den Wald, in dem das Schneetreiben aufgrund der Baumkronen nicht so dicht war wie vor dem Haus und am Waldrand, und riefen nach Bodil, doch ohne Erfolg. Das einzige Geräusch in der winterlichen Stille war das ihrer Schritte.
Nach einiger Zeit kreuzte der Pfad einen Waldweg, der breit genug für einen Traktor war. Die beiden folgten ihm in der Richtung, die allmählich hügelabwärts und zu den Feldern und der Straße nach Bø führte.
Langsam begann Wolf, der nur seine schwarze Lederjacke über einem dicken Wollpullover trug, zu frieren. Es herrschten zwei oder drei Minusgrade, was für die Telemark im Winter nicht besonders kalt war, doch es war eine feuchte Kälte, die ihm unangenehm in die Knochen kroch.
Schließlich hielt er unvermittelt an. „Das bringt so nichts“, sagte er. „Wir laufen schon die ganze Zeit planlos herum, es schneit, und Bodil könnte sonst wo sein.“
„Ich kann sie doch nicht einfach in so einem Wetter draußen rumlaufen lassen!“, brach es jäh aus Trine heraus. Ihre Stimme klang heiser, als kämpfte sie mit den Tränen.
„Bodil kennt sich doch inzwischen ganz gut in der Gegend aus“, sagte Wolf. „Sie wird wieder hierher zurückfinden, wenn es ihr langweilig wird, da bin ich mir ganz sicher.“ Er konnte Trines Angst um ihre Hündin gut nachvollziehen, aber der Ex-Cop in ihm drängte darauf, die Kontrolle über die Situation zu übernehmen. „Hör zu“, sagte er ruhig, „ich schlage vor, wir gehen zurück. Vielleicht sitzt sie ja schon längst vor deiner Hütte und wartet auf dich. Wir rufen ein paar Nachbarn an und bitten sie, dir Bescheid zu geben, wenn sie bei ihnen auftaucht, okay?“
Sie zögerte so lange mit einer Antwort, dass er schon glaubte, sie würde sich jeden Moment umdrehen und einfach weiter in den Wald davonstapfen. Dann aber schienen die Umrisse ihrer Schultern zusammenzusacken. „Okay“, sagte sie mit besiegt klingender Stimme. Ein letztes Mal ließ sie den Lichtkegel der Taschenlampe um sich kreisen, dann machte sie sich zusammen mit ihm auf den Rückweg.
Kurze Zeit später hatte Wolf seine Einkäufe ins Haus geschafft und die Temperatur der Wärmepumpe etwas höhergestellt. Das reichte ihm, um das Haus aufzuwärmen. Für den kurzen Rest des Abends wollte er nicht extra ein Feuer anzünden.
Er wärmte eine Salamipizza im Ofen auf und beschloss, es sich mit ihr im Wohnzimmer auf dem Sofa vor dem Fernseher gemütlich zu machen. Im ersten Stock, den er seit seinem Umzug bezogen hatte, besaß er zwar ebenfalls ein Sofa und einen Fernseher. Doch der war kein riesiger Wandbehang wie der von Nora. Außerdem wollte er heute Abend noch die Gelegenheit ausnutzen, das gesamte Haus für sich alleine zu haben. Nora hatte angekündigt, am morgigen Silvesterabend eine große Party feiern zu wollen. Sie würde frühzeitig aus Oslo anreisen und alles vorbereiten.
Wolf hatte nichts gegen eine Silvesterparty, selbst wenn er davon ausging, keinen ihrer teilweise prominenten Gäste zu kennen – jedenfalls nicht persönlich. Nach mehreren Wochen auf dem Land, in denen er die meiste Zeit über für sich alleine gewesen war, erschien ihm Noras geplante Feier als willkommene Abwechslung.
Er streckte auf ihrem Sofa die Beine aus und schaltete den Fernseher ein. Auf TV2 lief gerade einer der üblichen Verdächtigen während der Weihnachtstage: „Tatsächlich ... Liebe“. Wolf, der alles andere als in Stimmung für einen Weihnachtslieder singenden britischen Premierminister war, drückte den Film weg und zappte sich durch mehrere Sender, bis er bei den Spätnachrichten hängen blieb.
Während er in ein Viertel der heißen Pizza biss, überlegte er, wen er selbst zu Noras Feier einladen konnte. Seine Mitbewohnerin hatte gemeint, dass sie nichts dagegen hätte, wenn an Silvester ebenfalls Freunde von ihm kämen. Aber er hatte völlig vergessen, rechtzeitig in seinem alten Freundeskreis nachzufragen, wer Lust hätte, mit ihm das neue Jahr in der Telemark einzuläuten. Jetzt war er bestimmt zu spät dran, sicher hatten alle morgen schon etwas vor.
Vielleicht würde ja Sanna Bjørnstad kommen, wenn er sie fragte. Von all seinen Bekannten hatte die zierliche junge Frau, die ausgerechnet einen Bären im Nachnamen führte, den kürzesten Weg. Sie wohnte in Bø und arbeitete als Journalistin für eine Lokalzeitung, den Telemarksboten.
Sanna und er hatten sich vor einigen Wochen kennengelernt, als er gerade erst in diese Gegend gezogen war. Sie hatte ihn bei seinem ersten Fall als Privatermittler unterstützt. Darum hatte er ihr angeboten, auch in Zukunft als freie Mitarbeiterin für ihn tätig zu sein, wenn er jemanden mit Orts- und Recherchekenntnissen brauchte. Außerdem war ein guter Kontakt zur Lokalpresse für ihn, der gerade erst begonnen hatte, sich selbstständig zu machen, eine wichtige Ressource.
Im Fernsehen lief nun Werbung. Wolf griff nach der Fernbedienung und stellte die Reklame für ausgerechnet die gleiche Sorte Pizza, die auf einem Teller neben ihm lag, stumm, während er sich an den letzten Oktobertag erinnerte, an dem er der Journalistin den Vorschlag gemacht hatte.
Er war sich nicht sicher gewesen, ob sie zusagen würde. Sanna war ... eigen. Sie war die introvertierteste Person, der er je begegnet war. Direkte persönliche Kontakte zu anderen Menschen fielen ihr so schwer, dass sie diese vermied, wann immer es ihr möglich war. Ihren Teilzeitjob beim Boten führte sie bevorzugt im Homeoffice aus. Aber es war kein Problem für sie, zum Telefon zu greifen und über eine Stunde lang ein intensives Interview für einen Artikel zu führen. Dann saßen ihre Gesprächspartner ihr nicht gegenüber.
Ihre menschenscheue Art war bei Weitem nicht das Einzige, was eigen an ihr war. Sanna war nicht nur Sanna, sondern sie war auch ein kleines Mädchen namens Ylva. Sie war ein junger Mann namens Isak in etwa dem gleichen Alter wie sie selbst. Isak war ein gläubiger Muslim. Und sie war eine namenlose Frau, die alte Dame. Sanna besaß eine sogenannte dissoziative Identitätsstörung. Zu verschiedenen Gelegenheiten, sehr oft, wenn Sanna gestresst war, übernahmen diese Persönlichkeitsanteile ihre Kernpersönlichkeit. Für gewöhnlich erinnerte sie sich nicht daran, was sie als Ylva, Isak oder die alte Dame gesagt oder getan hatte, aber manchmal hatte sie hinterher vage Erinnerungsfetzen, Ahnungen von Träumen, die schon beim Aufwachen wieder in die beständige Dunkelheit des Unbewussten glitten.
Wolf hatte selbst erlebt, wie es war, wenn eine andere Persönlichkeit aus Sanna gesprochen hatte. Wenn sich sogar ihre Gesichtszüge zu verändern schienen und er hätte schwören können, in die Augen eines völlig anderen Menschen zu blicken. Ihm war bewusst, dass sie es hasste, wenn diese jähen Umschwünge in ihrem Verhalten die Menschen, mit denen sie zu tun hatte, verstörten. Noch mehr fürchtete sie sich davor, als Verrückte abgestempelt zu werden und ihren Job zu verlieren. Also hielt sie diesen Zustand peinlichst vor anderen verborgen. Niemand beim Telemarksboten wusste davon.
Wolf hatte sich, nachdem Sanna zum ersten Mal vor seinen Augen von einem ihrer Persönlichkeitsanteile übernommen worden war, ein wenig im Internet über dissoziative Persönlichkeitsstörungen schlaugemacht. Früher waren Menschen, die sie aufwiesen, multiple Persönlichkeiten genannt worden. Sie waren nicht psychotisch, nicht schizophren. Sie waren ... eigen.
Die Echtheit dieser Störung war durch neurologische Studien bestätigt worden. Die Theorie für ihren Ursprung ging in die Richtung massiver Traumata während der Kindheit. Offenbar kapselte sich die Kernpersönlichkeit mehr und mehr von schwer traumatischen Situationen ab. Um sie herum tauchten andere Persönlichkeitsanteile auf, deren Hauptzweck häufig darin bestand, das eigentliche Ich vor allem zu beschützen, was es als bedrohlich empfinden mochte.
Er selbst störte sich nicht an Sannas Eigenheiten, so verstörend, ja regelrecht unheimlich sie auch sein konnten, wenn man sie direkt erlebte. Sie war eine gute Journalistin, das war alles, was für ihn zählte. Sie konnte Informationen nicht nur sammeln, sondern auch in einen Kontext setzen.
Sanna hatte erst gezögert, als Wolf ihr den Vorschlag unterbreitet hatte, für sie zu arbeiten, dann aber zugesagt. Er war sich sicher, dass er mit ihr eine gute Wahl getroffen hatte.
Ja, warum nicht? Er beschloss, sie morgen Vormittag anzurufen und zu Noras Silvesterfeier einzuladen. Bestimmt war sie doch ohnehin nur alleine zu Hause. Mehr als Nein konnte sie schließlich nicht sagen. Und vielleicht raffte sie sich ja tatsächlich dazu auf, ihre Wohnung für ein paar Stunden zu verlassen.
Er hatte seine Pizza gegessen und ging mit dem leeren Teller in die Küche, als sein Mobiltelefon in der Hosentasche zu summen begann.
„Sorry, wenn ich dich störe, aber es ist wichtig.“
Wolf konnte Nora anhören, wie ernst es ihr war.
„Okay“, sagte er. Er stellte den Teller in den Geschirrspüler und lehnte sich an die Arbeitsplatte. „Worum geht’s?“
„Um die Party morgen. Ich hab da was für dich. Ein Jobangebot.“
Überrascht zog Wolf eine Augenbraue hoch. „Du willst, dass ich bei deiner Feier jemanden aus deinem Freundeskreis unter die Lupe nehme?“
„Nicht unter die Lupe nehmen“, sagte Nora. „Du sollst auf eine alte Freundin von mir aufpassen. Sie hat wiederholt Drohbriefe bekommen, erst per E-Mail, dann mit der Post. Zuletzt hat ihr jemand beim Fahren mit ihrem Wagen einen Pflasterstein durch die Windschutzscheibe geschmissen.“
„Fuck“, entfuhr es Wolf. „Da hat sich jemand bis zum direkten körperlichen Angriff vorgearbeitet. Wird schon jemand verdächtigt?“
„Nein“, sagte Nora. Sie klang ungeduldig. „Genau deswegen hat sie Angst, überhaupt noch aus dem Haus zu gehen. Seit ein paar Tagen ist zwar nichts mehr passiert. Sie hat keine Drohbriefe mehr erhalten und auch keinen Angriff wie den letzten erlebt. Aber das heißt gar nichts. Vor dem Steinwurf war auch wochenlang alles ruhig.“ Wolf hörte sie tief Luft holen. „Ich habe ganz schön lange gebraucht, um sie zu überreden, doch zu meiner Feier zu kommen. Aber ohne sie wäre mein alter Freundeskreis nicht vollständig. Und die anderen kommen alle endlich auch wieder einmal.“
„Sie ist mutig“, sagte er. „Wer ist sie?“
„Ja, sie ist mutig – nach allem, was sie durchgemacht hat“, gab Nora zurück. Er meinte ihren harten Blick auf seinem Gesicht spüren zu können. „Sie heißt Anita Langeland. Wir kennen uns noch aus dem Studium. Sie hat ein paar Seminare über theaterpädagogische Methoden abgehalten, ich war eine der Teilnehmerinnen. Anita ist eine großartige Lehrerin. Inzwischen hat sie eine Künstleragentur und gibt Schauspielunterricht.“
„Und jemand ist verdammt schlecht auf sie zu sprechen“, ergänzte Wolf. „Sie kann sich also nicht vorstellen, wen sie sich zum Feind gemacht hat?“
„Anita behauptet, dass sie keine Ahnung hat. Natürlich macht man sich nicht besonders beliebt, wenn man die Leistung von anderen Leuten beurteilt. Sie sagt, es kommt schon mal vor, dass jemand dann reagiert, als hätte sie persönlich mit ihrem Urteil eine Karriere beschädigt. Aber das sind doch alles keine Gründe, um sie mit Drohungen oder gar physischer Gewalt zu terrorisieren!“
„Du würdest dich wundern, wie wenig oft ausreicht, damit Menschen alle Hemmschwellen verlieren“, erwiderte Wolf. „Körperliche Gewalt ist schnell das Mittel der Wahl, wenn jemand davon überzeugt ist, dass ihm alle anderen Optionen genommen wurden.“
„Du als Ex-Cop musst es ja wissen“, gab Nora knapp zurück. „Also, wie sieht’s aus? Kannst du dir vorstellen, den Fall zu übernehmen?“
„Ich kann während deiner Feier die Augen offen halten, ob mir etwas Ungewöhnliches auffällt“, sagte Wolf, „das ist aber auch alles. Ich werde mich nicht heldenhaft einer abgefeuerten Pistole in den Weg werfen, falls deine Freundin sich etwas in der Art vorstellt. Ich bin Privatermittler, kein Leibwächter.“
„Männliches Heldentum wird bestimmt nicht nötig sein“, sagte Nora abschätzig. „Der Symbolwert reicht schon. Ein Paar wacher Augen, vor allem, damit Anita beruhigt mit uns um Mitternacht anstoßen kann.“
Wolf war kurz versucht, ihr zu sagen, dass er leider doch keine Kapazitäten hätte. Nora hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie wenig sie von seiner Arbeit als Kriminalkommissar gehalten hatte. Jetzt schien sie dasselbe über seinen neuen Job zu denken. Aber wählerisch zu sein, konnte er sich nicht leisten. Er brauchte das Geld.
„Meine Augen kann ich offen halten“, sagte er, „aber dann muss Anita Langeland mir den Auftrag erteilen – es sei denn, du willst das machen und mich dann auch für meine Arbeit bezahlen.“
„Sie wird sich mit dir in Verbindung setzen“, erwiderte Nora. „Ich habe Anita schon länger nicht mehr zu Gesicht bekommen, aber sie ist mir wirklich wichtig. Danke, dass du den Job übernimmst. Du hast bestimmt trotz deiner Arbeit eine gute Zeit auf der Feier und nicht viel zu tun.“
Wieder begann Wolf sich zu ärgern, diesmal über die Selbstverständlichkeit, mit der Nora annahm, dass alles glatt und perfekt organisiert über die Bühne gehen würde, seine Arbeit als Ermittler, von der sie keine Ahnung hatte, eingeschlossen.
„Unser Grundstück ist ja überschaubar“, hörte er sie fortfahren. „Hier auf dem Land kann man sich nicht einfach so anschleichen, ohne sofort aufzufallen. So dumm ist der Typ bestimmt nicht, dass er Anita von Oslo hierher nach Bø folgt, wo er nicht in der Masse verschwinden kann.“
„Es sei denn, diese Person kommt auf deine Einladung hierher“, gab Wolf trocken zurück.
„Du meinst – ach komm, das ist jetzt wirklich weit hergeholt. Meine Gäste kennen sich, aber von denen schmeißt niemand Pflastersteine auf fahrende Autos. Die sind harmlos.“
Er antwortete nicht.
„Ah, schon klar“, sagte sie. „Jeder meiner Gäste ist verdächtig, wie in einem dieser alten Miss-Marple-Filme. Tod auf dem Nil und so.“
„Tod auf dem Nil ist kein Miss-Marple-Krimi. Das ist einer mit Hercules Poirot.“
„Na, du musst es wissen. Du bist schließlich der Filmkenner, hat Anne immer erzählt.“
Es war einer der wenigen Momente, in denen Nora ihm gegenüber den Namen ihrer toten Schwester aussprach. Anne war immer noch ein Tabuthema, das sie beide für gewöhnlich umschifften.
„Du kennst natürlich alle deine Gäste seit Jahren und traust ihnen so etwas nicht zu“, sagte Wolf. „Und wahrscheinlich ist dieser Typ jemand, den deine Freundin Anita nie persönlich getroffen hat. Aber als Ermittler habe ich immer wieder festgestellt, dass man sich nicht darauf verlassen kann, wie unwahrscheinlich etwas ist. Darum kümmert sich das Leben einen Dreck. Genau deswegen schreibt es ständig Geschichten, die jedem Autor zu hanebüchen wären, um sie nachzuerzählen.“
„Mag sein“, erwiderte Nora. „Trotzdem vermute ich das Dreckschwein, das Anita terrorisiert, immer noch außerhalb meiner Gästerunde und nicht innerhalb. Aber solange du die Augen in alle Richtungen offen hältst, bin ich zufrieden und meine Freundin hoffentlich beruhigt.“ Sie holte tief Luft. „Dann gebe ich ihr mal Bescheid, dass für ihre Sicherheit gesorgt ist und sie sich bei dir melden soll.“
Skien, 31. 12. 2023
Sanna Bjørnstad trug nicht nur im Namen einen Bären. An Tagen wie diesem steckte ihr auch einer tief in ihren Knochen. Beim Anblick des dichten Schneetreibens jenseits der Fensterscheibe hätte sie sich am liebsten wie das Tier in ihrem Vornamen für die nächsten Monate in ihr Bett zurückgezogen, um Winterschlaf zu halten.
Das war nicht ihre Jahreszeit. Ganz im Gegenteil, sie spürte bereits, wie das über dem Ulefossvegen wirbelnde Weiß ihre jährliche Winterdepression anfachte. Normalerweise ging ihre Laune erst zu Beginn des neuen Jahres so richtig in den Keller, wenn die Lichter der Weihnachtsdekorationen in den Straßen und um die Häuser langsam wieder verschwanden und der Schnee wochenlang stumpf wie Gips unter einem grauen Januarhimmel über dem Land lag. Aber dieses Jahr fühlte sie sich schon kurz vor Silvester bereit, die Vorhänge zuzuziehen und den verdammten Frühling abzuwarten.
Sie zuckte zusammen und fuhr auf dem Absatz herum, als hinter ihr unvermittelt die Stimme des Krankenpflegers ertönte.
„Sie können Ihre Schwester jetzt sehen.“
Der weiß gekleidete junge Mann, der etwa in ihrem Alter war, trat einen Schritt zurück. „Oh, tut mir leid, ich wollte sie nicht erschrecken“, fügte er schnell hinzu. Sein osteuropäischer Akzent war nun deutlicher zu hören.
„Ist schon in Ordnung“, wehrte Sanna ab. Es war ihr peinlich, dass der Krankenpfleger ihr ansehen konnte, wie nervös sie war. Das trug dazu bei, dass sie noch nervöser wurde, und dann war es möglich, dass einer ihrer anderen Persönlichkeitsanteile das Steuer übernahm und sie selbst auf den Rücksitz ihres Körpers verbannt wurde. Sie wollte das um jeden Preis vermeiden, gerade hier an diesem Ort, der psychiatrischen Abteilung im Gebäude 19 des Telemark-Krankenhauses in Skien. Niemand von denen, die hier arbeiteten, wusste, was ab und zu mit ihr geschah. Und so sollte es auch bleiben.
„Wie geht es Elin?“, fragte sie den Pfleger. Jetzt, da ihr Herz nach dem jähen Adrenalinschub wieder langsamer schlug, erinnerte sie sich an seinen Namen. Jakub. Jakub aus Krakau. Er hatte ihr beim letzten Mal erzählt, wo er herkam, sie hatte Small Talk betreiben wollen und ihn gefragt.
„Sie weigert sich, ein Beruhigungsmittel zu nehmen, aber sie ist nicht mehr so aufgewühlt wie noch vor Kurzem“, erwiderte Jakub. „Darum lassen wir es erst mal dabei und bestehen nicht darauf, dass sie die Medizin nimmt.“
„Danke, dass Sie mich gleich angerufen haben.“
„Gerne. Ihre Schwester wollte ja selbst, dass wir Sie kontaktieren. Sie sind Ihre nächste Verwandte, nicht wahr?“
Sanna war sich sicher, dass Elins Vorgeschichte auf der Station bekannt war. Sie war schließlich nicht das erste Mal hier. Dennoch nickte sie. „Ja. Unsere Eltern leben beide nicht mehr.“
Jakub deutete mit der Hand den Gang entlang. „Elin ist in ihrem Zimmer. Wenn Sie mich brauchen, ich bin da hinten im Gruppenraum.“
Sie nickte knapp und setzte sich in Bewegung. Ihr war, als könnte sie den Blick des Pflegers in ihrem Nacken spüren, drehte sich aber nicht nach ihm um. Sie erinnerte sich noch von ihren letzten Besuchen an die Zimmernummer. Als sie vor der Tür stand, klopfte sie zweimal kurz. Niemand antwortete, also trat sie schließlich ein.
Das für eine Person gedachte Patientenzimmer war recht geräumig. Elin saß im Schneidersitz mit angezogenen Chucks auf dem Bett, über das eine dunkelrote Wolldecke gebreitet war, und war über ihr Mobiltelefon gebeugt. Sie trug ihren grauen Lieblingssweater, in dem sie beinahe zu verschwinden schien, weil er eigentlich zu groß für sie war.
„Hei, Elin“, sagte Sanna. Sie zog einen Lehnstuhl, der vor einem kleinen Schreibtisch in der Ecke stand, ans Bett und setzte sich darauf. Wortlos blickte sie ihre Schwester an, deren Kopf weiterhin gesenkt war. Mit gerunzelter Stirn scrollte sie über das Display des Mobiltelefons in ihrer Hand, ohne ihre Besucherin zu beachten.
Sanna wartete geduldig. Sie kannte das Spiel.
Kurz schaute sie sich im Raum um. Ihr Blick glitt über den mit Kratzern versehenen Schrank gegenüber dem Bett, an dem Elin ihr Lieblingsposter mit dem verschwommenen Foto eines Ufos und dem Zitat „I WANT TO BELIEVE“ aus Akte X aufgehängt hatte. Sie sah zum Fenster und den beinahe leeren Schreibtisch darunter. Die Maus lag noch auf dem Mousepad, aber das Notebook war fort.
Sie blickte wieder Elin an, die schließlich das Handy vor sich auf die Bettdecke warf und den Kopf hob.
„Sorry, das Scheiß-Handy ist so lahm, ich glaub, ich hab zu viele Apps drauf. Hei, Sanna.“ Die Andeutung eines verlegenen Lächelns huschte über ihr Gesicht, ehe die Anspannung wieder in ihre Züge zurückkehrte.
Als sie noch Kinder gewesen waren, hatten die beiden sich so ähnlich gesehen, dass Fremde sie manchmal für Zwillinge gehalten hatten. Jetzt, als Erwachsene, konnte man Elin ansehen, dass sie zwei Jahre älter als ihre Schwester war. Beide waren klein und schlank, aber Elins Gesicht wirkte noch etwas schmaler als Sannas. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten wie schwach verschmierter Kajal. Sie trug ihr tiefbraunes Haar weiterhin kurz geschnitten und auf der linken Seite ausrasiert wie im Oktober, als sie nach längerer Zeit wieder in Sannas Leben aufgetaucht war.
„Wie geht’s dir?“, wollte Sanna wissen.
Elin zuckte mit den Achseln und verzog das Gesicht. „Jakub hätte dich nicht anrufen brauchen“, brummte sie. „Ich bin kein verdammtes Kleinkind, und du kannst nicht einfach angerauscht kommen und alle meine Probleme lösen. Hast doch genug eigene.“
„Jakub hat mich angerufen, weil du es ihm selbst aufgetragen hast“, sagte Sanna ruhig. „Das war schon vor den Feiertagen, aber vielleicht erinnerst du dich noch daran.“
Elin ging nicht darauf ein. „Die sollten dir Bescheid geben, wenn es mir richtig mies geht!“, fuhr sie auf. „Ernstfall und so. Das war doch kein Ernstfall.“
„Er hat mir am Telefon erzählt, du seist ziemlich aufgebracht gewesen. Und dass du dein Notebook gegen die Wand geschmissen hättest. Für mich hat sich das ganz nach einem Ernstfall angehört. – Wo ist es eigentlich? Dein Notebook. Funktioniert es noch?“
Ihre Schwester schüttelte den Kopf. Sie wies mit dem Finger auf den Boden neben dem Schreibtisch. Erst jetzt bemerkte Sanna den schwarzen Laptop, der fast zugeklappt unter dem Heizkörper lag.
„Der Bildschirm flimmert. Darum muss ich jetzt meinen Blog mit dem verfickten Handy schreiben.“
„Was ist passiert?“, fragte Sanna stirnrunzelnd. „Warum bist du so ausgerastet?“
Ihre Schwester machte eine wegwerfende Handbewegung. „Spielt doch keine Rolle.“
Sanna stand auf. Sie trat vor den Heizkörper, bückte sich und hob Elins Notebook vom Boden auf. Als sie den Deckel anhob, leuchtete der Bildschirm auf, aber die Anzeige flirrte unruhig und von links nach rechts, sodass das zuletzt geöffnete Programm nicht zu erkennen war.
Sie drehte sich zu ihrer Schwester um. „Du wirst so wütend, dass du dein Notebook kaputt drischst, aber spielt doch keine Rolle!?“
„Herrgott, hast du noch nie einen Wutanfall gehabt?“, gab Elin mit schneidender Stimme zurück. „Ach nein, natürlich nicht. Du kochst nicht über, du machst dich unsichtbar. Auch ’ne Methode.“
Elin gehörte zu der Handvoll Menschen, die wussten, dass Sanna manchmal im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar wurde, und das in ihrem eigenen Körper und Verstand. Sie hatte es mehr als einmal erlebt, wenn die anderen an die Oberfläche von Sannas Bewusstsein kamen. Als Jugendliche hatte Elin keinen Hehl daraus gemacht, wie sehr das Verhalten ihrer Schwester sie verstörte.
Sanna mochte es daher nicht, wenn Elin auf ihre Identitätsstörung anspielte, selbst wenn sie unter sich waren. Am liebsten war Sanna, wenn das Thema einfach nicht angeschnitten wurde. Auch diesmal ging sie nicht darauf ein. Sie legte das Notebook zurück auf den Schreibtisch und setzte sich wieder. „Wie hast du die Zeit zwischen den Feiertagen verbracht?“, fragte sie mit bemüht neutraler Stimme, der es nicht gelang, ihre eigene Angespanntheit ganz zu kaschieren.
Wieder zuckte Elin scheinbar gleichgültig mit den Achseln, aber ihre Augen funkelten zornig. „Wie schon. Hast doch gesehen, wie schön kitschig sie die Bude dekoriert haben. Alles voller Lichterketten, Sterne und Julwichtel. Wenn du auf den Gang gehst, kommst du dir vor wie in einer fucking Weihnachtsserie auf Netflix!“
Sanna kannte ihre Schwester lange genug, um sich jede Andeutung eines Lächelns zu sparen. Einer anderen Person hätte so eine Reaktion vielleicht geholfen, ihren Ärger etwas zu dämpfen. Aber was Elin betraf, hätte momentan jeder Versuch, gute Laune zu schaffen, dem Auskippen von Benzin über einem schwelenden Lagerfeuer geglichen. Wenn sie wütend war, dann wollte sie wütend sein, und das, solange sie verdammt noch mal Lust darauf hatte.
„Ist doch schön, dass sie sich hier auf der Station so viel Mühe geben, es den Leuten gemütlich zu machen“, erwiderte Sanna hilflos. Sie wusste, dass sie auf verlorenem Posten stand. Elin war dabei, sich in Rage zu reden. Von wegen, kein Ernstfall. Sie war längst nicht dabei, sich wieder zu beruhigen. Sie hatte sich nur so lange halbwegs im Griff gehabt, bis ihre Schwester aufgetaucht war. Jetzt würde es erst so richtig losgehen, mit Sanna als unfreiwilliger Augenzeugin, wie schon so oft. Gott, wie sie dieses unvermeidliche Ritual hasste!
„Schön nennst du das?“, stieß Elin hervor. „Schön ist was anderes. Sogar hier drin erinnern sie dich schon ab Ende November mit ihrem scheiß Lametta ständig daran, dass die fetteste Kommerzveranstaltung des Jahres vor der Tür steht: Stress dich schon vor den Feiertagen wie blöde und kauf einen Haufen Mist zum Verschenken, den niemand braucht, keiner haben will und der gleich nach Weihnachten weiterverschenkt wird. Hauptsache, du hast ein paar Punkte auf der To-do-Liste abgehakt.“
„Elin“, begann Sanna, aber ihre Schwester war jetzt in Fahrt geraten. Mit immer lauterer Stimme fuhr sie fort: „Lass dich auf jedem Radiosender mit Weihnachtsmusik berieseln, bis du glaubst, dass dein Hirn dir als zuckriger Brei aus den Ohren quillt. Mach mit bei diesem von der Gesellschaft verordneten Wohlfühltheater, bei dem alle so tun, als hätten sie plötzlich für ein paar Tage besonders gute Laune und ihr Herz für ihre Mitmenschen entdeckt.“
„Elin, jetzt hör doch mal -“
„Die Weißkittel hier bilden sich sonst was auf ihre Psycho-Skills ein, dabei haben sie keine Ahnung, wie es Leuten geht, die eh schon schlecht drauf sind und mit all dem Weihnachtstheater gleich doppelt reingedrückt bekommen, dass sie nicht dazugehören, weil sie’s nicht schaffen, den Gute-Laune-Parcours nachzuhüpfen.“
Jetzt war sie aufgesprungen. Einen Moment stand sie schwankend auf der Bettdecke, im nächsten war sie zu Boden gesprungen und wandte sich der Tür zu. „Wenn du’s mir nicht glaubst, dann fragen wir doch mal die anderen Eingeborenen auf der Station, was die von Weihnachten halten.“
Ein Teil von Sanna wollte einfach nur nicken und sagen: Okay, du willst dich unbedingt auskotzen, wie jedes Jahr um diese Zeit, wenn es dir mies geht. Lass es ruhig raus, aber ohne mich. Ich bin nicht dein Publikum.
Doch sie konnte ihr nicht den Rücken zukehren. Nicht, wenn sie damit rechnen musste, dass Elin die anderen Patientinnen aufregte und Ärger mit den Pflegern bekam. „Jetzt renn nicht weg, Elin, bitte“, bat sie mit leiser, eindringlicher Stimme.
Ihre Schwester reagierte nicht. Sie riss die Tür auf und lief auf den Gang.
Sanna erhob sich vom Stuhl und eilte ihr hinterher aus dem Patientenzimmer. Ihr Blick fiel auf eine stämmige kleine Frau mit kurz geschnittenem grauem Haar und einen ebenfalls grauhaarigen älteren Mann, die gerade gemeinsam den Gang in Richtung Gruppenraum gingen. Überrascht wandte die Frau sich Elin zu, als diese auf sie zugestürmt kam.
„Hey, Emilie!“, stieß Elin so laut hervor, dass ihre Stimme durch den Gang hallte. „Erzähl doch mal meiner Schwester, wie es für dich war, als niemand aus deiner Riesenfamilie an Weihnachten zu Besuch gekommen ist. Da kommt man sich doch richtig wertgeschätzt vor, oder?“
Jetzt hatte sich auch der ältere Mann neben der Frau, die Elin als Emilie angeredet hatte, ihr zugewandt. Sein hageres Gesicht verfinsterte sich.
„Was ... was willst du denn?“, fragte die Frau namens Emilie unsicher.
„Machst du schon wieder Stress, Elin?“, meldete sich der grauhaarige Mann zu Wort. Weil er wie Jakub ein weißes T-Shirt trug, hatte Sanna ihn im ersten Moment für einen Pfleger gehalten. Aber jetzt sah sie die tiefen Furchen in seinem Gesicht und das feindselige Flackern in seinen Augen, als er Elin musterte. Der Mann wirkte mehr wie ein Patient als ein Pfleger.
„Elin, was soll das!“, rief Sanna. „Du kannst nicht einfach -“
Elin ignorierte sie ebenso wie den Mann. Stattdessen trat sie noch einen Schritt auf Emilie zu, die vor ihr zurückwich und sich an die Flurwand drückte. „Los, komm schon! Erzähl meiner Schwester mal, wie du so geheult hast, dass sie zwei Pfleger gebraucht haben, um dich wieder zu beruhigen, weil du alle in der Bastelgruppe völlig irre gemacht hast!“
Emilies Gesicht begann zu zerknittern, während ihr die Tränen in die Augen schossen. „Ich hab doch schon gesagt, dass mir das leidtut!“, stieß sie mit gesenktem Kopf hervor.
Sanna bemerkte, dass Elin Emilies Gefühlsausbruch sichtlich verstörte. Vielleicht tat es ihr in irgendeinem Winkel ihres Verstandes leid, dass sie ihre Mitpatientin so heftig angefahren hatte. „Herrgott, darum geht’s doch gerade gar nicht!“, donnerte sie. „Ich meine -“
„Machst du schon wieder einen auf Einer flog übers Kuckucksnest?“, schnitt der ältere Mann ihr mit scharfer Stimme das Wort ab.
„Komm, lass uns wieder auf dein Zimmer gehen“, drängte Sanna und ergriff Elin am Arm, aber diese schüttelte die Hand ihrer Schwester ab, ohne sie zu beachten.
„Misch du dich nicht ein!“, fuhr Elin den Mann an. „Mit dir hat keiner geredet.“
