Stunde der Flut - Garry Disher - E-Book
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Stunde der Flut E-Book

Garry Disher

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  • Herausgeber: Unionsverlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Menlo Beach, ein paar bescheidene Hütten zwischen holprigen Schotterpisten und struppigen Eukalyptusbäumen, Asbest in den Wänden, Meersalz in der Luft. Charlie Deravin ist vom Dienst bei der Kriminalpolizei suspendiert, tätlicher Angriff auf einen Vorgesetzten. Bei seinen einsamen Strandspaziergängen drehen sich Charlies Gedanken stets um den gleichen alten Fall: den seiner Mutter. Verschwunden, vor zwanzig Jahren. Der Hauptverdächtige: sein Vater. Damals freigesprochen, halten sich die Gerüchte hartnäckig, doch Charlie will nicht an die Schuld seines alternden Vaters glauben. Die nagende Ungewissheit treibt Charlie wieder zurück in die kalten Ermittlungen – und in die Abgründe seiner eigenen Familie.

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Seitenzahl: 445

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Über dieses Buch

Vom Dienst bei der Kriminalpolizei im trostlosen Menlo Beach suspendiert, drehen sich Charlie Deravins Gedanken stets um denselben alten Fall: den seiner Mutter. Spurlos verschwunden, vor zwanzig Jahren. Der Hauptverdächtige: sein eigener Vater. Die nagende Ungewissheit treibt Charlie in die alten Ermittlungen – und in die Abgründe seiner Familie.

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Garry Disher (*1949) wuchs im ländlichen Südaustralien auf. Seine Bücher wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter zweimal der wichtigste australische Krimipreis, der Ned Kelly Award, viermal der Deutsche Krimipreis sowie eine Nominierung für den Booker Prize.

Zur Webseite von Garry Disher.

Peter Torberg (*1958) studierte in Münster und in Milwaukee. Seit 1990 arbeitet er hauptberuflich als freier Übersetzer, u. a. der Werke von Paul Auster, Michael Ondaatje, Ishmael Reed, Mark Twain, Irvine Welsh und Oscar Wilde.

Zur Webseite von Peter Torberg.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Garry Disher

Stunde der Flut

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Peter Torberg

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 2021 bei The Text Publishing Company, Melbourne

Lektorat Anne-Catherine Eigner

Originaltitel: The Way it is Now

© by Garry Disher 2021

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Sergey Zaikov (Alamy Stock Foto)

Umschlaggestaltung: Phillip Hailperin

ISBN 978-3-293-31153-4

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 21.09.2022, 20:36h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

STUNDE DER FLUT

Januar 20001 – An einem Montag im Januar, das neue Jahrtausend …2 – Charlie ging die Tidepool Street entlang, wich Schlaglöchern …3 – Es handelte sich um eine glänzend schwarze Ducati …4 – Liam fuhr Charlie zu dessen Auto, Charlie folgte …5 – Acht Tage darauf, in der letzten Januarwoche und …Dezember 2019 bis Februar 20206 – Dienstag, Heiligabend; Delfine sprangen im gläsernen Meer7 – Charlie war an der letzten Biegung abgestiegen und …8 – Diese Gier der beiden, diese Selbstzufriedenheit. Sie hielten …9 – Für Charlie waren die Jahre sehr ereignisreich gewesen …10 – Weihnachtsmorgen11 – Am späten Vormittag traf Charlie in Warrandyte ein …12 – Zwischen Weihnachten und Neujahr ging Charlie schwimmen …13 – Ich hatte eine Schwäche für Ihre Mutter« …14 – Der folgende Tag. Sein Wohnzimmer, kurz nach dem …15 – Die Tage vergingen. Anna fuhr in die Stadt …16 – Es war später Vormittag geworden. Charlie fuhr die …17 – Hatte Kevin Maberley gelogen, als er sagte …18 – Als Charlie nach Hause kam, trat er gegen …19 – Die Polizeikolonne20 – Ein Facharzt war gerade mitten in einem Satz …21 – Zivilbeamte. Ein Mann und eine Frau am ausgelutschten …22 – Charlie wartete auf Emma. Sie kehrte nicht zurück …23 – In dieser Nacht tauchte niemand mehr bei ihm …24 – Das Haus um Charlie herum döste, doch er …25 – Am nächsten Tag wollte Charlie Anna endlich im …26 – Zwei Tage später stand die Polizei in aller …27 – Am späten Vormittag ließen sie Charlie wieder allein …28 – Die Urlauber kehrten zur Arbeit zurück, die Schulen …29 – Das Wochenende verbrachte Charlie damit, alles neu zu …30 – Am Montagmorgen ging Charlie surfen, dann fuhr er …31 – Charlie kehrte am Dienstag von Point Leo zurück …32 – In der Grabesstille jener frühen Februartage machte Charlie …33 – Charlie hatte keine Nerven und keine Spuren mehr …34 – Nachdem Valente nach Hause gefahren war, holte Charlie …35 – Sein erster flüchtiger Gedanke: Ein paar Schlägertypen bearbeiteten …36 – Wenn er schon in die Stadt fuhr …37 – Charlie warf den Motor an und erstarrte dann …38 – Sie diskutierten hin und her, Charlie bestand darauf …39 – Er saß einfach da in seinem Auto« …40 – Es geht ihm gut«, sagte Fay in der …41 – Charlie fuhr um fünf Uhr früh los und …42 – Der Vormittag war fortgeschritten, Rhys lag im Bett …43 – Das dynamische Duo«, eröffnete Charlie die Konversation44 – Montag, im Foyer der Balinoe Hall. Charlie trug …45 – Für Charlie war es weniger ein Aufwachen als …46 – Sie folgten dem Krankenwagen, und Charlie wurde klar …47 – Als die Podcast-Zwillinge Charlie auf sich zustürmen sahen …48 – Mein Mitgefühl ist nicht grenzenlos«, sagte Susan Mead49 – Ohne diese Neuigkeit wäre Charlie vielleicht wieder ins …50 – Eine Stunde verging auf dem Freeway51 – Charlie war ganz erleichtert. Er legte Valentes Müll …52 – Die Straßenbeleuchtung war angesprungen, doch als Charlie sich …

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Januar 2000

1

An einem Montag im Januar, das neue Jahrtausend war gerade mal drei Wochen alt, fuhr Charlie Deravin in sein Elternhaus, um seine Surfbretter zu holen. Es sollte nur ein schneller Abstecher werden, doch als er an der Kreuzung Bass Street und Tidepool Street das Zu-verkaufen-Schild im verdorrten Rasen stecken sah, hielt er an, stand mit laufendem Motor mitten auf der Straße und verspürte einen merkwürdigen Stich in der Brust. Es war also so weit, keine abstrakte Vorstellung mehr. Das Schild war handgemalt, so als ob sein alter Herr darauf hoffte, dass niemand es ernst nehmen würde, aber es war für alle zu sehen. 

Für Charlie geriet alles ins Wanken. Verlor an Konturen oder nahm andere an. Ihm waren die verrosteten Regenrinnen nie aufgefallen, ebenso wenig die verfaulten Fensterrahmen und die Rosettenflechten auf dem Dach. Das war kein Haus mehr, kein Heim, kaum eine Strandhütte. Auf der Veranda fehlten die Topfgeranien seiner Mutter. Und auch sein Vater, der reglos in einem Liegestuhl saß und ihn beobachtete, hatte sich verändert.

Charlie stellte seinen Subaru in die Einfahrt, stieg aus und reckte sich. Aus der Richtung, in der die Tidepool Street in einer Sackgasse endete und der Pfad begann, der durch die Teebäume zum Strand führte, konnte er das Meer hören und riechen. Möwen machten sich nachdrücklich bemerkbar. Komplexe Gefühle ebenso.

Charlie drückte sich seitlich am Holden seines Vaters vorbei, wobei sich sein T-Shirt in den wuchernden Büschen an der Einfahrt verfing, und trat ins Offene.

»Dad.«

»Sohn.«

»Ich dachte, du bist auf der Arbeit«, sagte Charlie.

Detective Sergeant Rhys Deravin, überschattet vom Verandadach, der bevorstehenden Scheidung und der tief sitzenden Enttäuschung, wieder mal eine Lüge schlucken zu müssen, diesmal die seines Sohns, sah ihn an.

Okay, dachte Charlie. Er überquerte den Rasen, wurde kurz von einem Flecken Sonne geblendet und setzte sich seinem Vater gegenüber in einen Liegestuhl. Auf der verbeulten Armeekiste zwischen ihnen, Aufbewahrungsort der Strandschuhe, Schwimmflossen und Badelatschen der Familie, stand dampfend ein Becher Tee.

»Gute Fahrt gehabt?«

Charlie hörte die anderen Fragen heraus: Du hast dir einen Montagmorgen ausgesucht, weil du gehofft hast, dass ich auf der Arbeit bin? Schaust du auch bei deiner Mutter herein? Ist Liam bei dir? Und so fort.

»Ganz okay.«

Sein Vater, der durch ein die Bass Street entlangklapperndes Auto abgelenkt wurde, griff geistesabwesend nach seinem Tee. Er trank einen Schluck, stellte den Becher wieder auf die Kiste und schlug die Beine übereinander – dünn, braun, sehnig, die Beine eines Strandläufers; Radlerbeine in zerlumpten Shorts. In Rhys Deravin staute sich stets geballte Energie, bis sie sich entlud. Körperliche und mentale Energie. Er genoss ein Renommee als Verbrecherjäger, nicht so sehr als Ehemann und Vater. Er war Ende vierzig und sah immer noch gut aus.

Rhys stand auf und schüttete den Tee auf den Rasen. »Na, dann überlass ich dich mal deiner Arbeit.«

»Dad …«

»Hast du keinen Anhänger mitgebracht?«

»Es geht nur um die Bretter. Da reicht der Dachgepäckträger.«

Ein wenig hilflos merkte sein Vater noch an: »Und dein Bett und der Schrank?«

Charlie verspannte sich. »Heilsarmee, dachte ich.«

Die Stimmung kippte. Sein Vater ließ die Muskeln spielen, fasste sich wieder und sagte: »Du kümmerst dich darum, nicht ich.«

Er donnerte durch die Fliegentür und tauchte sofort wieder auf. »Stell mal dein Auto weg.«

»Mach ich.«

Bis Charlie den Wagen zurückgesetzt und dort abgestellt hatte, wo er den wenigen Verkehr in Menlo Beach nicht behinderte, hatte sein Vater, der nun eine Hose, frisch geputzte Schuhe, ein kurzärmliges Hemd und eine Krawatte trug, seine Aktentasche gepackt und ihm zum Abschied hinter dem Lenkrad zugenickt. Charlie nickte zurück. Er spürte, wie die Anspannung ein wenig nachließ.

Charlie fragte sich, ob man das Leben – einer oder mehrerer Personen – auf ein Haus reduzieren konnte.

Seine Surfbretter lagerten auf einem Gestell im Gartenschuppen, doch er öffnete die Haustür und betrat das Innere; er musste das Gefühl abschütteln, seine Kindheit zu verlieren. Er ging sofort ins Wohnzimmer, ein großer Raum mit einer Küche am Ende, von dort in einen abgewinkelten Flur mit weiteren Zimmern dahinter: sein Schlafzimmer, das von Liam, das seiner Eltern; Badezimmer und Waschküche an der Hintertür. Alles winzig.

Charlie war erschüttert, das Wohnzimmer so entleert zu sehen, nur zwei nicht zusammenpassende Lehnsessel zu beiden Seiten des Couchtischs, den seine Mutter offenbar nicht hatte haben wollen. Auf den Regalen an der Hinterwand standen ein paar wenige Bücher: Enzyklopädien, Krimis von Tom Clancy, Segelhandbücher, Biografien von Kricketspielern und Surfern. Die hatte Charlies Mutter ebenfalls nicht haben wollen. Ein Kartentisch, wo früher der Esstisch gestanden hatte, ein Stuhl mit gerader Rückenlehne vor einer Schüssel fast aufgegessener Cornflakes und ein leeres Glas mit einem Rest Orangensaft.

Charlie spülte Schüssel und Glas an der Küchenspüle aus, so als wolle er sich an eine solide Gegenwart klammern. So ist das jetzt nun mal, dachte er. Überall in ihrem Leben zeigten sich Lücken, und alle Versuche, sie zu stopfen, waren nur provisorisch. Kein Wunder, dass sein Vater in letzter Zeit nur selten herkam und seine Zeit lieber mit Arbeit und seinem Flittchen aus Prahran ausfüllte. Flittchen war Liams Ausdruck: Ihm war es um die Alliteration gegangen. Charlie mochte Fay eigentlich. Sie hatte nicht versucht, ihn zu beeindrucken – sie sah ihn einfach als den Sohn ihres Freundes an.

Was hielt sie von 5 Tidepool Street? War sie jemals hier gewesen? Charlie ging ins Elternschlafzimmer und suchte nach Hinweisen, dass sie irgendwann hier übernachtet hatte. Er fand nichts. Vielleicht war sie nie hier gewesen. Vielleicht wollte sie mit Rhys Deravin nicht auf einer Matratze voller Erinnerungen schlafen. 

Charlie steckte den Kopf in Liams Zimmer: Bis auf vier Klebstoffflecken an einer Wand war es leer. Schließlich ging er in sein eigenes Zimmer – das kleinste, für den jüngeren Sohn. Er würde die Heilsarmee anrufen, die Bett, Matratze, Schrank und Nachttisch holen sollten, aber seine Tennistrophäen und sein Abschlussfoto von 1999, auf dem der Police Commissioner ihm auf dem Gelände der Polizeiakademie die Hand schüttelte, hatte er ganz vergessen. Er nahm sie vom Regal, verstaute sie im Auto, kehrte zurück, um im Schrank und in den Schubladen nachzuschauen, und rechnete schon mit einem alten Konzertticket oder einer Fünf-Cent-Münze.

Nichts.

Bevor er abschließen und die Surfbretter holen konnte, klingelte das Haustelefon. Jess, dachte er, Dad, ein Arbeitskollege, Liam oder Mum. Der Apparat, ein blassgrünes Überbleibsel aus den Siebzigern, stand auf dem Küchentresen neben einer Schale voller Rechnungen, Kassenbons, Umschlägen, Schlüsseln und einer Tube Sunblocker.

»Rhys Deravins Apparat, Charlie hier.«

»Ich bins.«

»Hi, Süße.«

»Traurig?«

»Ein wenig.« Dann schwieg er: Sie hatte mehr verdient. »Ein bisschen unwirklich.«

»Erinnerungen?«

»Erinnerungen und Lücken«, antwortete Charlie und verstummte.

Seine Frau wartete einen Augenblick. Sie lachte und sagte leichthin: »Typisch Charlie; der reinste Wasserfall.«

Nach zwei Jahren Ehe war das zwischen ihnen manchmal so. Öfter. Die Zurechtweisungen eher zärtlich denn grob. Bislang.

»Der Ort wirkt ein wenig verloren«, sagte Charlie.

»Ach, mein Lieber, ich wäre gern dabei gewesen. Emma sagt Hallo. Sag Daddy Hallo.«

Charlie sah seine Tochter in den Armen seiner Frau vor sich und hörte sie leise blubbern und murmeln; er sagte: »Hallo, Baby«, und sie verstummte. Vielleicht hatte sie seine Stimme erkannt und fragte sich, was er in dem Telefon machte. Die Vorstellung amüsierte ihn.

Dann sagte Jess etwas von einer stinkenden Windel, sie legten auf, und Charlie, an dem Vergangenheit und Gegenwart des Lebens zerrten, wollte an die frische Luft.

Auf dem Weg hinaus fiel sein Blick auf einen geöffneten Umschlag, auf dem in der ungeduldigen Handschrift seines Vaters »Asbestüberprüfung« stand.

Der Bericht bestand aus fünf Seiten voller Überschriften und engen Schriftzeilen, und er bestätigte, dass die Faserzementwandplatten des Hauses 5 Tidepool Street Asbest enthielten. Aber das hatten sie schon gewusst. Menlo Beach war ein in den dreißiger Jahren angelegter Strandort auf der Peninsula mit bescheidenen Hütten, die in einem Gitter schmaler, schlaglochübersäter Schotterpisten nebeneinanderstanden. Die Hälfte der Häuser hier bestanden aus Fiberzement. Preiswerter Wohnungsbau damals, als Dad und seine Kumpel in den späten Siebzigern Ferienhäuser und Wochenenddomizile kauften, die sich später in Familienheime verwandelten. Sechs Polizisten in zehn kleinen Straßen. Rauflustige, ungehobelte Männer, die die Kinder begeisterten und sie zum Lachen brachten; für die ein, zwei Frauen, die aus demselben harten Holz geschnitzt waren, galt das nicht. Alkoholdurchtränkte Barbecues und Strandkricket, Rauferei auf dem Rasen. Segeln, surfen, mit dem Fahrrad Arthurs Seat hinauf und hinunter. Mitreißende Kerle, die einen Feigling schimpften und fertigmachten. Burschen mit großen Herzen und einer düsteren Entschlossenheit, wenn man sie auf dem falschen Fuß erwischte. Eine Bruderschaft, die sich in der Zwischenzeit fast vollständig aufgelöst hatte. Die Frauen waren als Erste verschwunden, als die Kinder noch klein waren. Charlies Mutter war die letzte gewesen, sie hatte gewartet, bis die Söhne groß waren – oder bis ihr Mann sich ein Flittchen zugelegt hatte.

Charlie steckte den Bericht in den Umschlag zurück. Das dürfte wohl die Idee seiner Mutter gewesen sein: Das Richtige tun, potenzielle Käufer vorwarnen. Einen möglichen Rechtsstreit vermeiden, falls ein Heimwerker Löcher in den Zement bohrte und den Asbeststaub einatmete. Die Betuchten zogen nun in Häuser im Flachland, derweil die angrenzenden Straßen am Hügel bereits voller Vorstadtburgen standen, die sich um einen Ausblick auf das Meer stritten. Jemand aus dieser Klientel würde sich diese Hütte, das Kindheitszuhause von Charlie, schnappen, abreißen, irgendeinen feuchten Traum aus Glas und Holz errichten.

Verstört und verdrießlich schloss Charlie, irgendeine protzige Katastrophe vor seinem geistigen Auge, das Haus ab und holte die Surfbretter aus dem Gartenschuppen. Er schnallte sie auf den Dachgepäckträger und spürte, wie die gütige Sonne ebenso Wunder wirkte wie die salzige Luft und das Geräusch der Wellen am Strand. Er hatte vorgehabt, mit dem Auto zum Haus seiner Mutter in Swanage zu fahren, das waren nur fünf Minuten. Aber der Tag war nicht heiß und nicht windig: Warum nicht zu Fuß die vertraute Geografie vergangener Sommer durchwandern? Das dürfte keine Stunde dauern.

2

Charlie ging die Tidepool Street entlang, wich Schlaglöchern aus, und seine Laufschuhe knirschten an diesem windstillen späten Vormittag auf dem Schotter. Sechs Häuser kauerten sich hinter Eukalyptusbäumen und Gestrüpp. Er überquerte den kreuzenden Klippenpfad, duckte sich unter Teebäumen und stieg schließlich die aus Bahnschwellen gesetzten Stufen hinunter. Am unteren Ende gab es einen niedrigen Drahtzaun; auf einem der Holzpfosten stand eine abgewetzte pinkfarbene Kindersandale.

Charlie trat auf den Strand und blieb kurz stehen. Es war Flut, das Wasser ruhig, kaum Wellen, und Kinder spritzten oder liefen mit Eimern herum, so als würde nicht bald der erste Schultag drohen.

»Charlie?« Mark Valente kam aus dem seichten Wasser, Tropfen perlten an seinen Brusthaaren ab, sein riesiger Bauch glänzte, und seine Badehose klebte an Leiste und massigen Oberschenkeln. Er kam herangewatet wie ein Mann, der gegen eine Flut ankämpft, und schüttelte sich das Wasser aus den Ohren.

Mark Valente, Rhys Deravins ehemaliger Kollege: Abteilung Schwerverbrechen. Nun war er Senior Sergeant und Chef der Criminal Investigation Unit, der Kriminalpolizei in Rosebud. Er stieg über die Anspülungen der Flutkante und kam wie ein unaufhaltsamer Bär auf Charlie zu, warf einen riesigen Schatten und streckte die bratpfannengroße Hand aus.

Charlie schüttelte die feuchte Hand, die kurz wie eine Fessel zupackte und ihn spielerisch herausforderte, und Charlie kam sich wieder vor wie ein Junge mit Kricketschläger in der Hand, während Valente von der Seitenlinie aus brüllte: »Behalte den verfluchten Ball im Auge, Charlieboy!«

»Na, einen freien Tag?«

Valente schüttelte den Kopf, und das Wasser spritzte um ihn herum. »Nein, nein. Sechzehn Uhr bis Mitternacht. Warst du bei deinem Dad?«

Charlie nickte. »Hab ihn noch erwischt, bevor er zur Arbeit gefahren ist.«

»Er arbeitet an dem Überfall auf den Geldtransporter«, sagte Valente.

»Aha.« Die Meldung war im Radio gekommen, ein Wachmann war bei einem Überfall auf einen gepanzerten Geldtransporter angeschossen worden, aber Charlie hatte nicht gewusst, dass sein Dad daran arbeitete. Er hatte nie gewusst, in welchen Fällen sein Vater ermittelte; der alte Herr hatte seine Arbeit auf andere Weise mit nach Hause gebracht.

Valente zwinkerte. »Da wird sein ein Heulen und Zähneklappern.« Marks Nummer als Untergangsprophet, die sie als Kinder alle so rätselhaft, aber amüsant gefunden hatten. Soweit Charlie wusste, war der Mann noch nie in einer Kirche gewesen.

Valente besah ihn von oben bis unten. »Hast du Badesachen dabei?«

»Nein. Ich dachte, ich geh mal zu Mum rüber.«

Mark Valente wollte schon etwas dazu sagen, überlegte es sich aber anders. »Sag ihr Hallo von mir.«

»Mach ich.«

Dann gaben sie sich noch mal die Hand, und Charlie sah zu, wie Valente Richtung Stufen stürmte und dabei Luft, Moleküle und spielende Kinder teilte. Nasser Pelz, kleiner Hintern, scharfsinniger Verstand.

Charlie richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das unschuldige Meer und ließ sich von ihm besänftigen – die sanft anrollende Flut, die Luft voller Leben und Versprechungen –, dann ging er auf eine Felsnase zu, an dem die Klippenkante begann und sich Gras und kleine Bäume an den Abhang klammerten. Schilder warnten vor Steinschlag. Eine Frau auf einem zwischen Felsbrocken und Banksien ausgebreiteten Liegetuch winkte und rief seinen Namen, aber er hatte keine Ahnung, wer sie war. Er winkte zurück und folgte dem Sand, der sich um einen schmalen Streifen Wasser legte, welches von Riffen umklammert wurde und in dem man geschützt schwimmen konnte. Er kam trotz eines Balletts von Seitwärtsschritten durch den Seetang voran und wich dabei den sich hinterhältig nähernden Wellen der Flut aus.

Ach, was solls: Er zog Schuhe und Socken aus und watete fröhlich an der Linie entlang, wo sich das Meer an der Küste brach, und sein Herumgespritze bildete einen Kontrapunkt zum Flüstern des Wassers. Komischerweise fühlte er sich geborgen und weit offen zugleich: Linker Hand war die hohe Klippe mit den Bäumen, rechts ein endloser Horizont. Er kam an einem Paar Sandalen und einem von einem Körper in den Sand gedrückten Handtuch vorbei; im Wasser war niemand zu sehen. Seegras. Tote Qualle. Winzige schlichte, verschlossene Muscheln. Treibholz. Der Boden einer Bierflasche, den der Sand stumpf geschmirgelt hatte. Er steckte ihn ein, entdeckte gleich darauf ein Gewirr aus Angelschnur, Blei und Haken und wickelte es in ein Taschentuch. Am Strandweg in Tulum Court, direkt vor ihm, gab es einen Mülleimer. So etwas tat man, wenn man hier aufwuchs, wenn man hier daheim war.

Um die nächste Biegung herum wich die Klippe mit ihren sündteuren Festungen aus getöntem Glas und verwittertem Holz einem weiteren Wirrwarr aus Ferienhäuschen auf dem Flachland jenseits des Strands und der Vordüne, einem breiten Streifen aus Gras und Sukkulenten einen Meter über dem Sand. An dieser Stelle trieb eine kleine Gruppe Stangen in den Boden, die mit einem Nylonseil verbunden waren. An einer der Stangen hing ein Schild mit der Aufschrift: Brutplatz der Kappenregenpfeifer. Bitte nicht betreten.

Mrs Ehrlich winkte. Charlie nickte und ging weiter. Auf halber Strecke um die kleine Bucht herum mündete ein Flüsschen, dann kam der Weg nach Tulum Court und dem Campingplatz. Charlie verließ den Strand mit dem weichen, schwergängigen Sand und warf seine Treibgutfunde in den Mülleimer.

Dann zurück an den Strand, rund um eine weitere Landspitze hin zu einem weiteren sichelförmigen Familienstrand. Vorbei am Jachtclub Balinoe Beach und dem Gerippe des alten Piers hin zu dem langen, meist wenig bevölkerten Strandabschnitt, wo in der Früh die Rennpferde ausgeritten wurden. Charlie brauchte länger, als er erwartet hatte.

Kurze Zeit später traf er den dritten der alten Polizisten von Menlo Beach an diesem Tag. Noel Saltash, dünn und windhundartig, wo Rhys Deravin eine sehnige Katze und Mark Valente ein Bär war, joggte schnaufend und mit schwirrenden Laufschuhen an Charlie vorbei, und bei jedem Schwung der Arme warf sein ärmelloses Shirt über der Wirbelsäule Falten. Er blickte zu Charlie herüber, grinste schief, sagte: »Charlie«, und war verschwunden. Hundert Meter weiter bog er links ab in die Dünen, wo ein Pfad zum Rückweg entlang Balinoe Creek führte.

Als Charlie endlich die Außenbezirke von Swanage erreichte, drückte er sich am Jugendlager vorbei zur langen Küstenstraße der lang gezogenen Ortschaft und wünschte sich, das Haus seiner Mutter würde nicht am anderen Ende liegen. Ein paar Autos überholten ihn; Kinder auf Skateboards; Freundinnen mit Handtüchern, Körben und breiten Strohhüten auf dem Weg zum Strand. Charlie kam am Geschäft und an der Grundschule vorbei, schließlich nahm er eine Senke und folgte der Straße, die auf der anderen Seite wieder anstieg, bog am Ende des Orts am Wasserturm nach links ab und kam in die Longstaff Street, die letzte Straße vor dem Farmland. Das Haus seiner Mutter, ein verblichenes Schindelhaus, lag auf halber Strecke. Auf der Straße stand ein weißer Mazda: Liam war zu Besuch. Charlie kam näher, er hatte Durst und musste aufs Klo, und es versetzte ihm einen Stich, als er die Geranien seiner Mutter nun auf dieser Veranda sah.

Dann ergriff ihn Sorge und Unruhe, als er das Motorrad erblickte, das in ihrem Carport stand.

3

Es handelte sich um eine glänzend schwarze Ducati, die sich auf den Seitenständer gelehnt breit machte, während seines Mutters matter alter Corolla in der Hitze auf der Straße stand. Charlie war verärgert: Das Haus der Mutter, ihr Name auf dem Mietvertrag. Ließ sie zu, dass ihr Untermieter so viel Platz einnahm?

Charlie drückte das schiefe Tor über das verdorrte, ungepflegte Gras hinweg zu. Er fragte sich, warum seine Mutter sich nicht den Rasenmäher aus der Tidepool Street auslieh. Die Antwort fiel ihm sofort ein: Weil das bedeuten würde, mit Dad in Kontakt zu treten.

Er klopfte an die von der Seeluft verzogene Fliegentür. Sie klapperte. Keine Antwort, also trat er in den dunklen Flur in die von der Hitze der letzten Tage schlaffe Luft, in der es nach Cannabis und Aftershave roch. Seine Verärgerung wuchs. Shane Lamberts Motorrad im Carport, sein Gestank im Haus.

Die Küche war ein Durcheinander aus Spanplatten und Brandflecken; Charlie konnte regelrecht die Not darin spüren. Die Hütte in Menlo Beach war nicht gerade ein herrschaftlicher Wohnsitz, aber immer noch besser als das hier. Je schneller sie es verkauften und seine Mutter genug Geld hatte, um sich etwas Hübscheres zu mieten, umso besser.

»Jemand zu Hause?«

Die schäbigen Wände verschluckten seine Stimme und warfen nichts zurück. Er trat an die Spüle, trank ein Glas Wasser und schaute durch das dreckige Fenster hinaus zu seiner Mutter und seinem Bruder, die Schulter an Schulter an einem der Gartentische aus der Tidepool Street saßen. Charlie sah einen Augenblick lang zu und bemerkte das gesenkte Haupt seiner Mutter und Liams gerecktes Kinn, wie er ihr etwas erklärte und dabei ihre Hände hielt.

Charlie warnte sie mit einem Zuschlagen der Hintertür vor und ging über das verdorrte Gras zu dem Tisch. Seine Mutter nahm ihre Hände aus Liams, so als habe sie keinesfalls Geheimnisse mit ihm besprochen. Sie strahlte. »Charlie!«

Er duckte sich hinter Liam, der aufstand, und gab ihr einen Kuss. »Mum.«

Dann standen sich die beiden Brüder, die sich ihre Zuneigung nicht zeigen konnten, gegenüber. Ein qualvoller Augenblick verging. Schließlich gaben sie sich kurz die Hand, ließen los, und Liam nahm nervös wieder Platz. »Warst du zu Hause?«

Charlie wich seinem Blick aus. »Ja.«

»Hast du Dad gesehen?«

»Er war da.«

Ganze Unterhaltungen verliefen so zwischen ihnen, Fragmente voller gemeinsamer Vergangenheit und wachsender Spannungen. Ihre Mutter kannte das schon. Sie ließ ihre Finger auf Liams Unterarm ruhen, bis er sich wieder beruhigt hatte.

Munter sagte Charlie: »Ich bin zu Fuß hergelaufen, wie ein Volltrottel. Hat ewig gedauert.«

»Trotzdem«, sagte seine Mutter, »ein schöner Tag dafür. Hast du jemanden getroffen?«

Noch so eine Stolperfalle für ihn. »Mark. Noel«, sagte er beiläufig, spürte aber Liams wieder einsetzende Anspannung.

»Na, toll«, sagte Liam.

Die Brüder teilten die körperliche Eleganz ihres Vaters, aber während Charlie sich als Kind in Spiele gestürzt hatte – er hatte sich ganz dem Gewinnen und Verlieren verschrieben –, war das Liam, dem besseren Athleten von den beiden, völlig egal. Er ließ sich ablenken und verschwand einfach oder tauchte gar nicht erst auf. Er war zutiefst verwirrt, wenn Mark Valente, ihr Vater oder wer immer sonst das Strandkricket oder Fußballspiel gerade organisierte, ihn deswegen ausschimpfte. Gemeine alte Schwulenhasser nannte er sie heute.

Charlie seufzte schwer. Alle drei starrten auf den Tisch, den Rasen oder die Rückwand des Hauses. Charlie brach das Schweigen und schnitt ein neutrales Thema an. »Und, freut ihr euch schon auf die Schule?«

Sein Bruder unterrichtete an einer Privatschule, seine Mutter war im Staatsdienst, und beide stöhnten unisono. Die Sommerferien waren viel zu schnell vergangen. Schon bald ging es wieder nur um ungebärdige Kinder, Stundenpläne, Schuldirektorinnen und schlimme Eltern.

Wieder machte sich Schweigen breit, doch Liam wollte auf etwas hinaus und rutschte auf seinem Stuhl herum. Schließlich platzte er heraus: »Charlie, Mum hat Schwierigkeiten mit ihrem Untermieter.«

Sie berührte ihn schnell am Handgelenk. »Ach Liam, das ist doch nicht wichtig. Nichts Besonderes.«

Liam drehte sich zu ihr um. »Das hörte sich aber ganz anders an. Es hörte sich an, als ob der Kerl ein Widerling ist.«

Charlie war Lambert noch nie begegnet, aber als er seiner Mutter ins Gesicht schaute, erkannte er, dass Liam recht hatte. »Mum?«

»Du musst dir keine Sorgen machen.«

»Okay, aber warum steht sein Motorrad im Carport, und du musst auf der Straße parken?«

Sie versuchte abzuwinken. »Das ist nichts. Das Haus ist nur gemietet – ist ja nicht so, als wenn es mir gehört. Ich habe ja nicht mehr Rechte als er.«

»Doch, hast du schon«, entgegnete Liam. »Der Mietvertrag lautet auf deinen Namen. Er hat nur ein Zimmer von dir gemietet.«

»Ich will keinen Ärger.«

Charlie drehte sich zu ihr hin. »Warum? Glaubst du, er könnte ausfallend werden?«

»Ich meine nur …« Sie fiel in Schweigen und suchte nach den passenden Worten.

»Wo ist er jetzt?«, fragte Charlie.

»Er arbeitet beim Holzhandel in Hastings.«

»Aber seine Maschine steht doch hier.«

»Ein Arbeitskollege holt ihn ab.«

Liam unterbrach sie und warf Charlie einen Blick zu: Können wir zum Thema zurückkommen? »Mum, er ist ein Widerling, und du steckst den Kopf in den Sand.«

»Das ist nicht fair, Liam«, entgegnete sie bissig, und Charlie erkannte ihren Kampfgeist, ihren Schmerz und ihre Scham. In diesem Augenblick machte sie eine Veränderung durch: Sie war nicht länger seine Mutter, sondern Rose Deravin, eine schlanke, müde Frau, die nichts mit ihm zu tun hatte und die Sport am Westernport Secondary College unterrichtete. Braune Cargohose, weißes T-Shirt, rote Fußnägel. Feines blasses Haar in einem nachlässigen Knoten. Eine kräftige, prüfende Nase. Kompetent, attraktiv; sie bemerkte seinen Blick und erwiderte ihn trotzig. Das verunsicherte ihn.

Mit einem warnenden Blick zu Liam sagte er sanft: »Erzähl uns, was dich an ihm stört, Mum.«

»Er ist nur, ich weiß nicht, ein wenig komisch.«

»Hat er, ähm …« Charlie spürte, wie er rot wurde. »Hat er versucht, dich sexuell zu belästigen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht.«

»Mum!«, ging Liam dazwischen. »Was meinst du mit ›eigentlich nicht‹?«

»Meistens schaut er den ganzen Abend nur Schrottfernsehen, aber eines Nachts gab es einen Dokumentarfilm über den weiblichen Orgasmus«, sagte sie und rutschte herum, »und er meinte, ob ich mir das nicht vielleicht mit ihm anschauen wolle. Ich sagte, ich sei zu beschäftigt. Als ich rausging, stellte er lauter.«

»Mum!«

Charlie versetzte seinem Bruder unter dem Tisch einen Tritt. »Was noch?«

Wieder rutschte sie herum, so als ginge sie eine Liste durch, dann purzelte es aus ihr heraus: »Er nimmt keine Rücksicht. Lässt den Klodeckel oben – na ja, das habt ihr Jungs auch immer getan –, aber er ist nicht sonderlich achtsam, wenn du verstehst, was ich meine. Er lässt seine Teller in der Spüle stehen, so als ob ich sie abzuspülen hätte. Eines Tages habe ich ihn dabei ertappt, wie er auf dem Küchentisch irgendwelche Motorteile gereinigt hat. Wir sind übereingekommen, dass sich jeder seine Lebensmittel selbst kauft, aber er hat nie welche – er nimmt sich Eier von mir und Brot und was sonst noch, ohne zu fragen. Ich schließe nachts immer meine Tür, aber manchmal höre ich ihn im Flur, so als würde er dort nur stehen, und einmal habe ich ihn in meinem Zimmer erwischt, wie er sich meinen Nähkasten anschaute. Er meinte, er würde eine Schere suchen, aber, na ja, du weißt schon … Und er schuldet mir eine Monatsmiete. Ich habe ihn danach gefragt, doch er meinte nur: ›Sie sind doch Lehrerin‹, so als müsste ich ihn unterstützen, wenn er mal knapp bei Kasse ist.«

»Mum«, sagte Charlie.

»Aber was soll ich denn machen? Es war eh schon schwer genug, jemanden zu finden, der das Zimmer nimmt. Jetzt muss ich wieder von vorn anfangen, das könnte doch Wochen dauern.« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht leisten.«

Amseln hüpften unter dem knorrigen alten Birnbaum herum und pickten am Fallobst. Jetzt zankten sie sich und tobten auf dem ganzen Hof herum, während die Sonne mild am Himmel hing.

»Würde es helfen, wenn wir mit ihm reden?«

»Und was sollen wir sagen?«, wollte Liam wissen. »Wir schmeißen den Kerl raus, das würde helfen.«

»Ich weiß nicht«, meinte ihre Mutter elend.

Doch, das weißt du, dachte Charlie. »Ich glaube, du hast Angst.«

Sie schaute ihn nicht an.

»So zu leben, ist doch nicht gesund, Mum. Wir helfen dir, ihn loszuwerden«, sagte Charlie. Er schaute Liam an: »Und wir helfen dir mit der Miete aus, bis du was Passenderes findest.«

Liam nickte.

Ihre Mutter rieb mit der Daumenspitze über den Handballen der anderen Hand. »Das kann ich doch nicht von euch verlangen.«

»Das hast du ja auch nicht getan. Wir bieten es freiwillig an. Wann kommt er von der Arbeit?«

Die Armbanduhr baumelte ihr locker am Handgelenk. Mit einer Drehbewegung brachte sie sie in Leseposition, schaute drauf und sagte: »Am Nachmittag.«

Es schmerzte Charlie zu sehen, wie Hoffnung in ihr aufkeimte, als sie die beiden Söhne anschaute. »Könnt ihr beide hier sein, wenn ich es ihm sage? Für den Fall, dass es schwierig wird?«

»Wir können noch was ganz anderes«, erwiderte Liam. »Du fährst über Nachmittag zu Oma oder Karen Wagoner. Charlie und ich packen seine Sachen, und wenn er nach Hause kommt, sagen wir ihm, dass er sich eine andere Bleibe suchen muss. Du wirst nichts mehr mit ihm zu tun haben.«

Sie quälte sich damit. »Und was, wenn er zurückkommt, wenn ihr nicht mehr da seid?«

Liam warf Charlie einen Blick zu. »Du hast doch immer eine Uniform im Auto, oder?«

4

Liam fuhr Charlie zu dessen Auto, Charlie folgte ihm zurück in die Longstaff Street, wo sie Shane Lamberts Zimmer ausräumten und seine Habe in Kartons und einen Billigkoffer packten. Charlie hatte mit einem stinkenden Loch gerechnet, doch Lambert war ein Mann, der sein Leben bis auf den Knochen abgefieselt hatte: wenig Habe, zwanghafte Sauberkeit. Ordentliche Kleidung, wenige Hygieneartikel. Keine privaten Unterlagen, bis auf einen Arbeitsvertrag des Holzhändlers aus dem November 1999, eine professionell aussehende Canon in einem abgewetzten Kamerakoffer. Charlie verstand den Mann nicht. Ex-Knacki? Ungebunden, mit einem angemieteten Postfach? Eine kreative Ader: Mochte er es, Sonnenuntergänge, Treibholz, Gesichter auf der Straße zu fotografieren?

Sie schoben das Motorrad aus dem Carport neben die Kartons auf den Gehweg, dann zog Charlie seine Uniform an, und sie setzten sich hin und warteten. Sie wechselten kaum ein Wort; das taten sie nie, was Jess manchmal verblüffte. »Was ist denn nur mit euch beiden los? Ihr seid doch keine Fremden, ihr habt doch eine gemeinsame Basis.«

Fragte sich nur, welche. Jedenfalls nicht genug davon.

Die Zeit verging. Sie tranken Tee, aßen Käsesandwiches und beobachteten die Straße, die Segeltuchbespannung der Gartenstühle knarzte unter ihrem Gewicht, das Verandablech dehnte sich in der durch die Wolken blitzenden Sonne aus. So nah am Farmland, das den Ort an die Küste drückte, gab es nur wenig Verkehr. Die Longstaff Street war eine kurze Straße. Es gab noch eine Handvoll weiterer müder Schindelhäuser, dazu ein, zwei neue eingezwängte Häuser, die sich übermäßig bemühten, wie Stadthäuser zu wirken, und ein fast leeres Grundstück am Ende der Straße, nur eine Betonplatte und ein paar Rohre, die darauf warteten, dass die Rechnungen bezahlt wurden. Eine totgeborene Straße.

Das war alles, bis ein von der Sonne ausgeblichener weißer Kombi vor dem Haus anhielt. Der Mann auf dem Beifahrersitz besah sich die Kisten und das Motorrad, dann schaute er zu den Brüdern auf der Veranda hinüber, und Charlie stellte sich vor, wie er zu dem Fahrer sagte: »Warte mal kurz, vielleicht brauche ich mit dem Krempel deine Hilfe.«

Der Wagen schlich ein Stück weiter und hielt ein paar Meter entfernt am Straßenrand. Charlie merkte sich das Kennzeichen.

Die Brüder traten von der Veranda auf den Gehweg und warteten, während der Motor rumpelte, ausging und zwei Männer ausstiegen. Der Fahrer, ein dicklicher, verunsichert wirkender Mann, schloss leise die Tür, so als wolle er die Luft nicht aufwirbeln. Der Beifahrer warf die Tür lässig zu. Er nickte und meinte in aller Ruhe: »Hat sie also meinetwegen die Bullen gerufen.«

»Ich bin ihr Sohn«, sagte Charlie.

»Na toll.«

Charlie suchte angestrengt nach Arglist, sah aber nur eine müde Gestalt, die von einer feinen Schicht Sägemehl eingestaubt war. Shorts, ein Arbeitshemd, schmutzige Arbeitsschuhe mit Stahlkappen. Kurze Haare; von der Arbeit schwielige, sonnengebräunte Hände, ein Ohrring.

Mit ausdruckslosem Blick öffnete Lambert die Heckklappe, bat seinen Kollegen: »Hilf mir mal«, und drehte sich zum nächststehenden Karton um. Der Fahrer, schlaff, verwirrt und ungeformt, im Gegensatz zu Lambert, der hart und effizient wirkte, stolperte über die eigenen Füße, als er mit ausgestreckter Hand auf den Gehweg trat. »Kevin-Maberly-freut-mich-Sie-kennenzulernen«, plapperte er, dann starrte er hilflos die Kartons an. Schließlich beugte er sich vor und hob einen davon hoch.

Liam wurde von geradezu surrender Anspannung erfasst, so als würden ihn Lamberts höfliche, ausgeglichene Manieren beunruhigen. Er hüstelte. »Hören Sie, Shane, ich darf Sie doch Shane nennen? Ich hoffe, Sie verstehen, aber unsere Mutter findet es besser, wenn Sie sich eine andere Bleibe suchen. Das hat nicht funktioniert.«

Lambert blieb stehen. Er schien die Wirbelsäule in den Himmel zu strecken, dann nieste er explosionsartig. »Sägemehl.« Er beugte sich wieder vor, hob Kisten, stapelte sie ein, alles in einer sparsamen Choreografie, bei der sein Kollege ins Stolpern geriet.

»Sie verzichtet dafür auf die ausstehende Miete«, fuhr Liam fort. »Und nur, dass Sie es wissen, wir haben Ihnen zwei Nächte im Motel in Hastings gebucht und bezahlt.«

»Dass ich es weiß«, wiederholte Lambert mit düsterem Blick. Er packte den letzten Karton und verstaute ihn. Dann murmelte er mit seinem Kollegen, der Charlie ängstlich ansah und sich hinters Lenkrad setzte. Der Wagen wollte erst nicht anspringen, dann tat er es doch, fuhr los und vollführte unter Auspuffqualm in der engen Straße eine Wendung wie ein träges Schiff. Lambert schaute ihm kopfschüttelnd hinterher. Er setzte seinen Helm auf, stieg auf die Ducati und fuhr in seiner beherrschten Art davon. Als er Sekunden später zur Hauptstraße kam, änderte sich der Motorenklang, und ein Heulen wehte zu ihnen herüber.

Liam sackte in sich zusammen. »Meine Güte, bin ich froh, dass das vorüber ist.«

Auch Charlie ging ein wenig die Luft aus. Aber er kam sich irgendwie schmutzig vor. Die Art, wie er da in Uniform posiert hatte – ziemlich herrisch. Davon hatte er einen schlechten Geschmack im Mund.

5

Acht Tage darauf, in der letzten Januarwoche und der ersten Woche des Schuljahrs, war Charlie wieder zurück in Swanage; er war zusammen mit zwanzig weiteren angehenden Constables oder frisch eingestellten Kollegen aus dem Südosten der Gegend mit dem Bus zum Jugendlager gekarrt worden. Ein Kind wurde vermisst.

Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Kaum war er aus dem Bus gestiegen, wurde er angewiesen, sich einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Freiwilligen aus Parkaufsehern und Angestellten des Jugendlagers anzuschließen, die alle unter einem der riesigen Eukalyptusbäume herumstanden. Ein paar Minuten später wies Frances Bekker, leitende Senior Constable aus Rosebud, sie ein. Sie wirkte angespannt, so als würden sie Zeit verschwenden und alles falsch machen. Die Sonnenbrille hatte sie in die Stirn hochgeschoben; ihre roten Haare waren in der feuchten Luft ganz kraus geworden. Sie hielt eine Flasche Wasser in der Hand und schüttelte sie mit Nachdruck.

»Als Nächstes werden wir drei Suchtrupps bilden: einen für den Ort, einen für den Strand in beide Richtungen und einen für den Bachlauf und den Wald zwischen hier und Balinoe Beach.«

Sie wartete ab, so als würde sie damit rechnen, dass irgendein Blödmann mit ihr Haarspalterei betreiben wolle. »Wir suchen nach Billy Saul, neun Jahre. Olivfarbene Haut, dunkle Haare, klein für sein Alter. Er ist hier mit einer Gruppe von Grundschulkindern aus Berwick. Sie sind gestern eingetroffen und wollten zwei Nächte bleiben. Heute Morgen wurde er bei den Spielen am Strand gesehen, und er meldete sich beim Aufrufen zur Mittagszeit, tauchte aber zu den Nachmittagsaktivitäten nicht auf.«

Senior Constable Bekker sah auf die Uhr. »Das war vor zwei Stunden. Es hat eine Weile gedauert, das Lager und den nahen Strandabschnitt zu kontrollieren, erst dann wurde der Notruf informiert.«

Eine hinter ihr stehende junge Frau schien ein wenig in sich zusammenzusacken.

»Das hier ist Miss Jaffe, Billys Lehrerin«, fuhr Bekker fort. »Offenbar wird Billy von den anderen gehänselt, es ist also gut möglich, dass er weggelaufen ist.«

Bekkers Ton schien anzudeuten, dass Billy wohl nicht weggelaufen, von einem Pädophilen entführt oder ins Meer hinausgespült worden wäre, wenn Jaffe ihren Job richtig gemacht hätte. Dann änderte sie den Ton und teilte jeden Einzelnen einem Suchtrupp zu, indem sie auf die Person zeigte und nur sagte: »Strand«, »Ortschaft« und »Bach«. Als sie zu Charlie kam, sagte sie: »Sie kommen mit mir.«

Warum er? Kannte sie ihn? Er kannte sie nicht. Er trat beiseite und wartete, während die Truppleiter bestimmt und konkrete Anweisungen erteilt wurden. Die Sonne sprenkelte den Boden zu seinen Füßen. Er war klamm vor Schweiß. Er hatte kein Wasser dabei, keinen Hut und hörte eine alte Stimme aus der Kindheit: Du nutzt nicht den Verstand, der dir bei der Geburt mitgegeben worden ist.

Dann baute sich Bekker vor ihm auf. »Sie sind Rhys Deravins Sohn.«

»Korrekt.« Gott allein wusste, was sie gehört hatte.

»Wie aus dem Gesicht geschnitten.« Sie schwieg. »Mark Valente hat sich lobend über Sie geäußert.«

Charlie konzentrierte sich angestrengt. Valente war Detective, aber Rosebud war kein riesiges Polizeirevier: Da mischten sich Uniformierte und Detectives, es gab Gelegenheiten zum Schwatz am Wasserspender und Gerüchte in der Teeküche. Das erklärte allerdings nicht, warum Charlie zum Gesprächsthema geworden war. Hatte Lambert eine Beschwerde eingereicht: Der Sohn seiner Vermieterin hätte auf dienstlich getan, um ihn rauszuschmeißen? Charlie stieg von einem Bein auf das andere und meinte zu Bekker, er sei erst auf Probe eingestellt.

»Haben Sie Wasser dabei? Eine Kopfbedeckung?«

Charlie druckste peinlich berührt. »Wir hatten nur ein paar Minuten Vorwarnung.«

Jaffe hatte derweil niedergeschlagen dagestanden. »Im Kühlschrank im Speiseraum gibt es Wasser«, bot sie an.

Der leere, hallende Speiseraum war kühl, die Tische leer. Jaffe, die sich anscheinend wieder auf sicherem Terrain befand, eilte zum Kühlschrank hinter der Ausgabetheke und kam mit zwei Flaschen Wasser zurück. »In der Fundkiste findet sich vielleicht eine passende Kopfbedeckung.«

»Gehen Sie voran«, sagte Bekker.

Jaffe führte sie zu einem Flurschrank, wo Charlie sich den größten Frotteehut heraussuchte, den er finden konnte. Er fühlte sich wieder wie ein hoffnungsloser Fall in der Schule. Zieh deine Socken hoch. Er war ganz erleichtert, als Bekker meinte: »Also gut, Miss Jaffe, erzählen Sie mir mehr über Billy Saul. Billy oder William?«

»Alle nennen ihn Billy. Nennen Sie mich bitte Melissa.«

Sie ist älter als ich, dachte Charlie, aber nicht sehr, und sie sieht so aus, als würde sie gleich komplett zusammenbrechen.

»Und die anderen Kinder piesacken ihn? Haben Sie das gesehen?«

Jaffe, eine Frau voller Sommersprossen und Leberflecken, wirkte ganz kläglich. Sie schaute an ihnen vorbei und antwortete mit konfuser, überhasteter Stimme: »Er kommt aus einer gemischten … sein Vater ist Thailänder.«

»Und deshalb wurde er gehänselt?«

»Ich versuche das zu unterbinden, aber ich kann ja nicht jede Minute des Tages bei ihm sein. Er ist nicht sehr groß, und er ist ein wenig … ein wenig … er tritt nicht für sich ein.«

Dann schien sie sich selbst zuzuhören, erschrak und sagte: »Aber das ist natürlich kein Grund … möchten Sie sehen, wo er schläft?«

Sie eilte zur Tür und führte sie über ein Stück pudriger Erde zu einer verwitterten Hütte, wobei ihre Schuhe Staub, Blätter und Zweige aufwirbelten. »Er ist in der Nummer zwei.«

Bekker hielt sie an der Tür zurück. »Ist er heute Morgen gehänselt worden?«

»Am Strand hat es ein ziemliches Geschubse gegeben.«

»Und?«

Jaffe gab auf. Sie zog die Schultern hoch. »Ich habe versucht, dem ein Ende zu machen, aber man kann nicht alles machen, und manchmal geschieht das so heimlich …«

Bekker brummte. »Mal sehen, was fehlt und was noch da ist, vielleicht verrät uns das, was er vorhatte.«

Der Raum war klein und stickig. Ein paar Kojen an einer Wand, eine Kommode, zwei Holzstühle, über denen Strandtücher hingen, zwei große Rucksäcke, aus denen Wäsche quoll. Auf Billy Sauls Rucksack stand mit schwarzem Permanentmarker Billy auf der obersten Klappe. Bekker kniete sich hin, nahm den Inhalt heraus und sortierte ihn: Unterwäsche, Socken, eine Jeans, zwei Shorts, zwei T-Shirts, eine Windjacke, ein Paar Turnschuhe und ein Kulturbeutel mit Zahnbürste, Zahnpasta, Sunblocker und einem Stück Seife in einem Ziploc-Beutel.

»Entspricht das der Liste der Sachen, die die Kinder einpacken sollten?«, fragte Bekker.

Sie hat Kinder, dachte Charlie.

»Ja.«

»Wo ist die Badehose?«

»Die hat er wahrscheinlich an: die Jungs machen das so. Boardshorts.«

Charlie folgte Bekkers Blick. Auf jeder Matratze lagen ein Laken, ein Schlafsack und ein Kissen. »Welche Schuhe hatte er am Strand an?«

»Das weiß ich nicht genau. Badelatschen oder Sandalen, vielleicht.«

Bekker warf erneut einen Blick auf die herumliegenden Sachen. »Die Kinder tragen ihre Sachen per Hand zum Strand?«

Jaffe dachte darüber nach. »Sie haben kleine Tagesrucksäcke.«

»Hier ist keiner.«

»Und auch keine Kopfbedeckung und kein Wasser«, fügte Charlie hinzu.

Jaffe zuckte zusammen. »Sie haben recht.«

Die erste Suche war ziemlich panisch verlaufen, nahm Charlie an. Ohne jeden Polizeiverstand. Er befingerte die Strandtücher. Das mit Billys Namen drauf fühlte sich teuer an: dicke Baumwolle, Delphine in einem klaren Meer, ein Goldrand oben und unten.

Bekker sah ihn komisch an. »Also gut«, sagte sie. »Danke für Ihre Hilfe, Melissa. Sie können zu Ihren Kindern gehen. Constable Deravin und ich werden uns noch mal im Lager umschauen.«

»Das ist doch schon durchsucht worden.«

»Das weiß ich, aber wenn wir uns nicht vergewissern, dann muss ich den Kopf dafür hinhalten.«

Sie traten hinaus in die heiße Luft, die nach Eukalyptus und Meer roch, dann kam ein Streifenwagen angeschossen, und die Staubwolke vertrieb den Geruch. Der Fahrer ließ das Seitenfenster herunter. »Springen Sie rein, Fran, wir haben etwas gefunden.«

Charlie setzte sich auf die Rückbank und sah zu Melissa Jaffe zurück, die steif vor Jammer im streifigen Licht unter einem Eukalyptus stand. Sie folgten der Straße die Küste entlang zum anderen Ende der Ortschaft hinaus. Aus Reflex schaute er nach links, so als könne er seine Mutter oder ihr Haus sehen. Er hatte jeden Tag angerufen. »Alles in Ordnung, mein Lieber … Er ist nicht wieder aufgetaucht … Kein Muckser … Alles in Ordnung, Charlie.«

Der Fahrer brachte sie zu einem überfüllten Parkplatz oberhalb des Strandes. Sie stiegen aus und gingen die Stufen hinunter zum Sand und weiter zu einer Handvoll Männer und Frauen hinüber, die um einen auf einem Strandtuch platzierten blauen Tagesrucksack, einen Sonnenhut und eine Wasserflasche standen. Noch zwei Meter, und die Flut hätte sich alles geholt.

Bekker kniete im Sand und öffnete die vordere Tasche des Rucksacks. Ein Portemonnaie – fünf Dollar und ein Schülerausweis auf den Namen Billy Saul. Dann im Hauptfach eine Unterhose, Shorts und ein T-Shirt. Gegenstände, die für Charlie durchaus Sinn ergaben. Das Strandtuch nicht. Abgewetzt, fadenscheinig, zu klein.

Danach hatte Charlie nicht mehr viel mit Bekker zu tun. Nachdem die Suche sich nun auf die Küstenlinie und das Meer konzentrierte, wurde er mit zwei weiteren Polizeianwärtern losgeschickt, um Augenzeugen zu finden. Sie sprachen mit einer Frau, die mit gekreuzten Beinen unter einer Decke saß und ein Kind stillte, dann einem Mann, der ohne große Hoffnung nach Plattköpfen angelte, und zwei Teenagerinnen, die sich um nichts anderes kümmerten, als sich auf ihren Strandtüchern zu sonnen. Keiner von ihnen war seit mehr als einer Stunde am Strand. Keiner hatte Billy gesehen. Und die Mädchen waren erstaunt, wie voll und geschäftig der Strand geworden war, während sie flach auf den Bäuchen gelegen hatten.

Danach stieg das Trio die Stufen hinauf zur Straße oberhalb des Strandes, klopfte bei den Häusern an und notierte sich Autokennzeichen. Bei den meisten Häusern öffnete niemand; auch sonst gab es nirgendwo einen nützlichen Hinweis. Niemand hatte einen Jungen gesehen, der mit einem Rucksack die Straße entlanggelaufen war. »Was hat er angestellt?«, wollten sie wissen. Oder: »Ist mit ihm alles in Ordnung?«

Sie gingen weiter, klopften, gingen weiter. Charlie hörte ein Suchflugzeug und einen Hubschrauber. Er stellte sich vor, wie kleine Boote hinausfuhren und Freiwillige Ausschau hielten nach Seetang, Seegras, Treibgut.

Und die ganze Zeit über spürte er, wie das kleine Haus seiner Mutter in der Longstaff Street, oberhalb der Häuser mit Meeresblick und der langen Straße, die den Ort an die Küste band, ihn lockte. Sie hatte keine Aussicht aufs Meer, nur auf die anderen Häuser, auf ein paar struppige Bäume und den Wasserturm. Und sie würde bei der Arbeit sein. Charlie schaute auf die Uhr: Du meine Güte, fast achtzehn Uhr. Sie würde schon zu Hause sein.

Sie schlossen sich wieder der Suche an. Die Abenddämmerung breitete sich aus. Gegen einundzwanzig Uhr fuhr Bekker die Aktivitäten herunter. »Wir machen beim ersten Licht weiter.«

Charlie stieg wieder in den Bus und war gegen Viertel vor zehn auf dem Parkplatz des Polizeireviers in Frankston; er war ganz wirr vor Müdigkeit, Sonne und Wassermangel und nicht bereit für die Männer in Anzügen, die ihn aufhielten, bevor er sich hinter das Lenkrad seines Subaru setzen konnte.

»Constable Deravin?«

Charlie kannte sie von den Fluren und der Kantine – Elliott und DaCosta, Detectives der CIU. »Ja?«

Elliott war etwa fünfzig, DaCosta dreißig, zutiefst müde Männer, die an diesem heißen Tag in ihren Klamotten gesteckt hatten, und der Tag war noch nicht vorüber.

»Wir müssen mit Ihnen sprechen«, sagte Elliott. »Drinnen, wenn es Ihnen recht ist.«

Elliott war schlank, hatte aber ein Doppelkinn und eingesackte Schultern, ein Mann, der in seinem Leben den Punkt erreicht hatte, an dem man die Krawatte löste und den obersten Knopf öffnete. Charlie überfiel Panik. »Geht es um meine Frau?«

»Am besten reden wir drinnen darüber«, sagte DaCosta sanft. Er war stämmig und würde in ein paar Jahren dick sein – ein Eindruck, der durch den kahl rasierten Schädel noch verstärkt wurde, über den er nun wie zur Rückversicherung strich.

»Meine Tochter?«

»Den beiden geht es gut, soweit wir wissen«, sagte DaCosta und warf Elliott einen Blick zu, der besagte: Wir sollten lieber noch mal nachschauen.

Charlie folgte ihnen in ein heißes, luftloses Besprechungszimmer mit einem langen Tisch, der den größten Teil des Raums einnahm. Er ließ sich am Tischende auf einen Stuhl plumpsen, von wo aus er die beiden Männer mit dem geringsten Aufwand beobachten konnte. »Was ist los? Hab ich was angestellt?«

Shane Lambert hat Anzeige erstattet, dachte er.

»Wo waren Sie heute?«, fragte Elliott.

Er sagte es ihnen.

»Den ganzen Tag?«

Charlie schüttelte den Kopf. »Am Vormittag war ich zu Fuß auf Streife mit Senior Constable Gosling, die Geschäfte in Karingal.«

»Wo waren Sie zur Mittagszeit?«

»In der Teestube. Ich habe dort mit den anderen gesessen, als der Befehl kam.«

»Haben Sie Ihre Mutter gesehen?«

Charlie war verwirrt. »Hier?«

»In Swanage.«

»Heute Nachmittag? Nein, ich war bei den Suchtrupps. Ich habe mich nicht heimlich verdrückt, falls Sie das meinen. Was ist los?«

»Und Sie haben ihren Wagen nicht irgendwo gesehen?«

Charlie überkam eine schreckliche Kälte. »Nein. Warum?«

»Der Schule zufolge ist sie in der Mittagspause nach Hause gefahren, um ein Lehrvideo zu holen.«

»Ich war zu Mittag hier. Wir sind erst am frühen Nachmittag nach Swanage gekommen«, sagte Charlie. Er hielt inne, und die harte Wahrheit senkte sich auf ihn herab. »Sie ist nicht zur Arbeit zurückgekehrt, wollen Sie mir das mitteilen?«

Elliott nickte und sah Charlie an. Nicht gefühllos, eher beharrlich. Er tat nur seinen Job.

Ich bin Polizist, ich habe etwas Besseres verdient, wollte Charlie schon sagen.

DaCosta verschränkte die Arme. »Was ist mit Ihrem Vater? Haben Sie den gesehen?«

»Nein.«

»Ihre Eltern leben in Scheidung, soweit ich weiß?«

»Und?«, entgegnete Charlie.

»Soweit wir wissen, muss das Haus verkauft werden?«

Charlie stand auf und sagte: »Schluss damit. Sie haben etwas gefunden. Sie würden mir nicht die Hölle heißmachen, wenn es nur darum ginge, dass sie nicht zur Arbeit zurückgekommen ist. Ist sie tot?« In der Zwischenzeit war er an der Tür. »Ich fahre jetzt nach Hause, rede mit meiner Frau, meinem Vater und meinem Bruder.«

Er hatte die Hand schon am Türknauf, als DaCosta sagte: »Der Wagen Ihrer Mutter ist heute Nachmittag leer aufgefunden worden.«

Charlie verspannte sich. »Wo? Nur der Wagen?«

»Drüben bei Tooradin. Kennt sie dort draußen jemanden?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Er ist gegen einen Zaunpfosten gefahren und dort stehen gelassen worden«, sagte Elliott. Er beobachtete Charlie weiter und fügte an: »Blut am Schlüssel, der noch im Schloss steckte, Fahrertür offen, die Sachen aus ihrer Handtasche auf der ganzen Straße verstreut. Lippenstift, leerer Geldbeutel, Taschentücher …«

Mit ausdruckslosem Blick stellte DaCosta eine Polizistenfrage: »Was können Sie uns darüber sagen?«

Dezember 2019 bis Februar 2020

6

Dienstag, Heiligabend; Delfine sprangen im gläsernen Meer.

Sie bildeten eine gerade Linie zwischen Charlie Deravin, der am Fuß der Stufen stand, und den Buckeln der Nobbies am Ende von Phillip Island. Er schaute zu; sonst rührte sich nichts im Dämmerlicht der aufgehenden Sonne. Für ihn die beste Zeit des Tages. Rosige und graue Farbtöne, windstill und klar, alles wie skizziert, der tiefe Frieden, den er im Leben gerade so sehr brauchte. Alles für ihn allein; der Rest der Welt schlief hinter den mit Weihnachtsgirlanden behängten Türen und mit Lichterketten und Lametta verzierten Verandabalken und bekam nichts davon mit.