Süden - Friedrich Ani - E-Book

Süden E-Book

Friedrich Ani

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Beschreibung

Tabor Süden wollte eigentlich niemanden mehr suchen. Vor Jahren hatte er München mit der Absicht verlassen, die Stadt nie mehr zu betreten. Vollkommen unerwartet erhält er einen Anruf von seinem Vater, der seit fünfunddreißig Jahren verschwunden ist. Er sei in München, lässt er Süden wissen. Doch bevor dieser weitere Fragen stellen kann, wird das Gespräch unterbrochen. Süden kehrt zurück, in »die verhunzte Stadt«, und läuft tagelang durch die Straßen auf der Suche nach einem hinkenden Mann in alter Kleidung. Erneut bleibt der Vater unauffindbar. Süden heuert als Detektiv an und wird sofort mit dem schwierigsten Fall der erfolgreichen Detektei beauftragt: Raimund »Mundl« Zacherl, ein Wirt aus Sendling, ist vor zwei Jahren spurlos verschwunden. Seine Ehefrau will endlich Klarheit darüber, warum er von heute auf morgen sein bisheriges Leben aufgab und sich zuvor, scheinbar ohne Grund, vollkommen verändert hatte. Aus dem leutseligen Wirt war ein verschlossener Grübler geworden. Die Detektei hält den erneuten Auftrag der Ehefrau für eine aussichtslose Sache. Für Süden jedoch ist der Fall Zacherl genau das Richtige: Dank seiner eigenwilligen Methoden entdeckt er Hinweise, die andere nicht wahrnehmen würden. Und so führt ihn die Spur schließlich an die Nordsee, auf die Insel Sylt, wo Zacherl offenbar ein neues Leben beginnen wollte. Süden von Friedrich Ani: Spannung pur im eBook!

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Seitenzahl: 452

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Friedrich Ani

Süden

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

MottoErster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. KapitelZweiter Teil30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. KapitelDritter Teil50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. KapitelDank

Forgetful heart

Like a walking shadow in my brain

All night long

I lay awake and listen to the sound of pain

The door has closed forevermore

If indeed there ever was a door

 

Bob Dylan

[home]

Erster Teil

Kuhflucht

1

»Ich bin Tabor Süden und kein Japaner«, sagte er unvermittelt, nachdem er zehn Minuten lang von der Tür aus stumm zugehört hatte. Und er unterbrach die Frau am Schreibtisch auch nur, weil sie sich eine Zigarette anzündete und mehrere Züge machte, ohne ihn anzusehen. Der Satz brachte sie zum Lachen. Rauch hüpfte aus ihrem Mund. Süden warf einen Blick zum Fenster, vor dem es dunkel wurde, und als er den Kopf abwandte, hörte Edith Liebergesell auf zu lachen.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich wollte Ihnen keine Kamellen erzählen.«

Süden dachte an den Karneval am Kölner Eigelstein, wo er die vergangenen sieben Jahre verbracht hatte, und sagte: »Ich war lange auf der Vermisstenstelle, ich weiß, wie es Leuten geht, die verschwinden.«

»Ich finde es interessant, dass die Japaner ein eigenes Wort dafür haben.«

»Ich habe es schon wieder vergessen.«

»Hikikomori«, sagte Edith Liebergesell. »Menschen hinter Wänden.«

Süden hielt sich die Hand vor den Bauch. Die Frau stippte die Asche in den weißen Aschenbecher. Vom Sendlinger-Tor-Platz drang das Rauschen des Verkehrs herauf.

»Dann sind wir uns einig?«, fragte sie.

Er wusste es nicht. Er war in das Büro der Detektivin gekommen, weil er sich an ihren Namen erinnert hatte.

Kurz nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst hatte sie ihn angerufen und gefragt, ob er bei ihr als Vermisstenfahnder anheuern wolle. Aber er wollte nur weg aus der Stadt und sonst nichts. Er wollte niemanden mehr suchen, er wollte für sich sein, fern seiner Vergangenheit.

Und vor fünf Tagen war er nach München zurückgekehrt. Nicht um alte Pfade wiederzufinden, sondern um ein Telefongespräch fortzuführen, das so abrupt abgebrochen war, wie es begonnen hatte, und ihn seither mehr aufwühlte als jedes andere Gespräch in jüngster Zeit.

Wahrscheinlich war er nur aus Versehen zum Sendlinger-Tor-Platz gegangen. Als wollte er ein Spiel mit sich selbst spielen, als gäbe er einer Laune nach, die seiner Ratlosigkeit und Verlorenheit entsprach, seinen strauchelnden Gedanken.

»Sie wären für die Straße und die Zimmer zuständig«, sagte Edith Liebergesell. »Keine Bürohockerei. Würde Ihnen das passen?«

Er wusste es nicht. Nach einem Schweigen sagte er: »Ich habe einen Job in einer anderen Stadt, eine Wohnung, ich bin einverstanden mit dem, was ich mache.«

»Warum sind Sie dann hier?« Weil er nichts erwiderte, sagte sie: »Sie kriegen rund zweitausend Euro netto im Monat. Um Ihre Sozialversicherung kümmere ich mich, für Ihre Rente müssen Sie selber sorgen. In Sonderfällen sind Bonuszahlungen möglich. Unsere Klienten zahlen fünfundsechzig Euro die Stunde plus einen Euro Kilometerpauschale. Damit sind wir nicht die teuerste Detektei in der Stadt. Von meinen Mitarbeitern habe ich Ihnen schon erzählt, mein Büro kennen Sie jetzt auch, Sie brauchen nur noch ja zu sagen.«

 

Leicht nach vorn gebeugt stand er seit einer Stunde an der Tür, die Hände entweder vor dem Bauch oder hinter dem Rücken verschränkt, in schwarzer Jeans, einem weißen Hemd, einer schwarzen Lederjacke und schwarzen, englischen Halbschuhen. Bei knapp einem Meter achtzig wog er, so schätzte die Detektivin, mindestens fünfundneunzig Kilo, deren deutliche Schwerpunkte im Hüft- und Bauchbereich lagen. Seine Haare waren kürzer, als sie sie in Erinnerung hatte. Sein Gesicht war genauso unrasiert wie früher, und an seinem Hals baumelte die Kette mit dem blauen Stein, die sie von alten Fotos kannte. Wie er so dastand, schweigend, fremd und doch absolut anwesend, seit er diesen Raum betreten hatte, wäre sie am liebsten zu ihm hingegangen und hätte sich neben ihn gestellt, ins sinkende Licht dieses nachösterlichen Tages.

»Früher haben Sie doch Hosen mit Schnüren an der Seite getragen«, sagte Edith Liebergesell.

»Die sind meinem Körper nicht mehr gewachsen.«

Das Telefon klingelte, und sie nahm den Hörer ab. »Detektei Liebergesell.« Sie hörte eine Weile zu, während Süden endlich näher kam.

»Selbstverständlich erinnere ich mich.« Sie zündete sich eine weitere Zigarette an, legte den Kopf schief, schloss die Augen und nickte. »Jederzeit, wenn Sie das möchten … Nein, der Preis hat sich nicht erhöht …«

Süden stellte seine leere Bierflasche an den Rand des von Schreibblöcken, Büchern, Schatullen voller Heftklammern, Briefmarken, Muscheln und Kastanien, Aktenmappen und sonstigen Büroartikeln überfüllten Schreibtischs. Und als wäre der aus hellem Holz gefertigte Tisch nicht schon überladen genug, stand an der Ecke ein hölzerner Globus, der zusammen mit der antiken grünen Lampe die Aura eines altehrwürdigen Studierzimmers vermitteln sollte. Zumindest stellte sich Süden, der nie eine Universität besucht hatte, ein Studierzimmer so vor.

Nach seiner rabiaten Aushäusigkeit während der vergangenen Tage genoss er die behagliche Wärme des Büros. Er sog den Geruch nach Parfüm und Rauch ein. Seine gedämpften Schritte auf dem blaugrauen Teppich kamen ihm beinah lässig vor. Vom Fenster aus sah er hinunter auf das Rondell, wo die Straßenbahnen kreuzten und wendeten wie von jeher. Ihm gefiel die Vorstellung, dass er, wenn er die Detektei verließ, in das Lokal im Erdgeschoss gehen konnte, wie früher in das türkische Café, das sich im selben Haus wie die Vermisstenstelle befand. Auch von dort hatte er die Straßenbahnen und das Fließen der Menschenströme beobachtet.

»Ich werde mit meinen Mitarbeitern darüber sprechen«, sagte Edith Liebergesell ins Telefon. »Aber wir sollten behutsam mit unserer Hoffnung sein, Frau Zacherl … Auf Wiedersehen.«

Sie legte auf, drückte die Zigarette aus, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schrieb Wörter auf einen linierten Block.

»Das ist eine eigenartige Geschichte«, sagte sie, an Süden gewandt. »Vor zwei Jahren ist ein Wirt verschwunden, von einem Tag auf den anderen, dreiundfünfzig Jahre alt. Sein Lokal ist in Sendling, unweit der Garmischer Autobahn, der Lindenhof, er hatte ihn schon vor Jahren seiner Frau überschrieben. Offensichtlich hatte er sein Weggehen geplant. Allerdings behauptet die Ehefrau, er habe das Geschäft an sie übergeben, weil er keine Lust mehr gehabt habe, Wirt zu sein. Er habe sich verändert, habe sich zurückgezogen und seine Gäste mehr und mehr vernachlässigt.

Die Frau war ratlos, sie versuchte, mit ihrem Mann zu reden, sie bat seine Freunde, auf ihn einzuwirken, ohne Erfolg. Er trank nicht, er nahm keine Drogen, körperlich schien es ihm gutzugehen, jedenfalls nicht schlechter als früher. Nur sein Verhalten hatte sich völlig geändert. Früher war er leutselig, ein heiterer Geselle, wie seine Frau sagt.

Er spielte Karten, schaute mit seinen Gästen Fußball im Fernsehen, kochte leidenschaftlich, seine Spezialiäten waren Tafelspitz und Eisbein, eher ungewöhnliche Gerichte für ein kleines Lokal. Er war ein gestandener, allseits beliebter Wirt.

Und plötzlich: ein neuer Mensch. Als hätte er über Nacht mutiert, wie seine Frau sich ausdrückte. Dann, am Karsamstag vor zwei Jahren, kehrte er von einem Besuch in der Innenstadt nicht zurück. Er wollte in einem Elektrogeschäft im Tal Kabel und Glühbirnen besorgen, anschließend in ein Lampengeschäft in der Nähe, angeblich wegen einer neuen Stehlampe fürs Wohnzimmer. In beiden Läden ist er nie angekommen. Er war definitiv nicht dort. Die Polizei hat die üblichen Maßnahmen ergriffen, die Zeitungen haben sein Foto gebracht, aber eine konkrete Spur kam nicht dabei heraus. Raimund Zacherl blieb wie vom Erdboden verschluckt. Aber, das wissen wir, niemand wird vom Erdboden verschluckt, außer er wird Opfer eines Erdbebens.«

Edith Liebergesell griff nach der Zigarettenschachtel und legte sie wieder hin. »Nach einem Jahr wurde die offizielle Suche eingestellt. Der Mann hat jetzt seinen festen Platz im Computer, für den Fall, dass seine Leiche gefunden wird. Seine Frau glaubt nicht, dass er tot ist. Was soll sie sonst glauben?

Über Ostern hatte sie das Lokal geschlossen, unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ein Irrsinn, das hat sie gerade am Telefon zugegeben. Sie sagt, sie konnte einfach keine Leute sehen. Karsamstag war der zweite Jahrestag seines Verschwindens. Frau Zacherl möchte, dass wir die Suche wiederaufnehmen. Ein halbes Jahr nach seinem Verschwinden bat sie uns schon einmal um Hilfe, und wir waren einen Monat lang nur mit ihrem Auftrag beschäftigt. Wir haben sogar zwei Bekannte von Zacherl ausfindig gemacht, Wirtskollegen aus der Bahnhofsgegend. Zwischendurch sah es so aus, als würde Zacherl für sie Geld waschen, aber die Spur blieb zu vage, Unterlagen existieren natürlich nicht, und unsere Observierungen ergaben keine brauchbaren Hinweise.

Seit ich meine Detektei eröffnet habe, vor neun Jahren, hatten wir nur einen einzigen unaufgeklärten Vermisstenfall, das war ein irakisches Mädchen, das von seinem Vater in dessen Heimat entführt wurde. Niemand hat je wieder von ihr gehört, auch nicht ihre deutsche Mutter. Bei allen anderen Aufträgen gelang es uns, die gesuchte Person tatsächlich zu finden, mit Ausnahme von Raimund Zacherl. Wir sind bekannt für unsere Erfolgsquote, deswegen wenden sich viele Eltern, aber auch andere Angehörige an uns. Sogar für die Kripo waren wir schon tätig. Ich weiß nicht, warum wir bei Raimund Zacherl versagt haben.«

Nach einem Blick auf ihre Armbanduhr, die sie am rechten Handgelenk trug, stand Edith Liebergesell auf. Sie war mindestens einen Kopf größer als Süden. Der schwarze, weit geschnittene Hosenanzug machte erst recht keine Gazelle aus ihr. Süden gefiel der Anblick ihres uneckigen Körpers. Ihr Gehen war eine Art Marschieren ohne Zackigkeit. Wenn sie den Rücken streckte, verdrängte sie mehr Luft als der ehemalige Kommissar. Ihre Fingernägel waren nicht lackiert, und sie trug keine Ringe. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden, was ihr Gesicht nicht streng, sondern weich wirken ließ. Von ihren großen, dunklen Augen ging eine Eindringlichkeit aus, die Süden sofort fasziniert hatte. Überhaupt ertappte er sich dabei, dass er sie immer wieder verstohlen taxierte, wofür er sich auf eine fast schülerhafte Weise schämte.

»Ich will was essen«, sagte Edith Liebergesell. »Begleiten Sie mich?« Sie hob ihre grüne Handtasche vom Boden hoch und verstaute ihre Zigaretten und das Feuerzeug darin. »Was schauen Sie so?«

»Ich denke nach«, sagte Süden.

»Wenn Sie beim Nachdenken immer so schauen, sollten Sie in der Gegenwart von Frauen eine Sonnenbrille aufsetzen.«

»Sie haben den Grund für sein verändertes Verhalten nicht herausgefunden.«

»Bitte? Nein. Das war ja das Merkwürdige: Niemand hatte eine Vorstellung, was mit dem Wirt passiert sein könnte.«

»Irgendjemand schon.«

»Wer?«

»Irgendjemand.«

Auf dem Weg zur Tür sagte Edith Liebergesell: »Haben Sie in München eigentlich eine Bleibe?«

Süden horchte auf seine Schritte auf dem Teppich und lächelte. »Ich habe ein Zimmer in der Brecherspitze.«

»Wo ist die?«

»In Giesing.«

»In Ihrer alten Heimat.«

Im Treppenhaus sperrte Edith Liebergesell die Bürotür ab. An der Wand hing ein Messingschild mit ihrem Namen und dem Zusatz »Detektei«. Es roch nach Zigaretten, jede zweite Holzstufe knarzte. Die Detektivin und Süden waren schon vom Gewicht her keine Leisetreter.

»Mein Mitarbeiter, Herr Kreutzer, hat eine Vierzimmerwohnung in Haidhausen«, sagte Edith Liebergesell, und ihre Stimme hallte durchs Haus wie ihre Schritte. »Er hat ein Gästezimmer, fast zwanzig Quadratmeter, da könnten Sie bestimmt fürs Erste wohnen. Herr Kreutzer hat gern ab und zu einen Gast.«

»Ich soll eine WG gründen?«, sagte Süden. »Was soll das bringen? Betreutes Schnarchen?«

»Die meisten Ehen sind nicht viel mehr als betreutes Schnarchen.«

Als sie aus der Haustür traten, blies ihnen ein kalter Wind entgegen. Auf der Sonnenstraße staute sich der Feierabendverkehr. Das Klingeln der Straßenbahnen mischte sich mit dem unaufhörlichen Hupen genervter Autofahrer. Radfahrer huschten im trüben Licht an den Fußgängern vorbei.

»Wir gehen gleich nebenan in den Torbräu«, sagte Edith Liebergesell. »Die haben ein passables Schnitzel. Ich habe Sie noch gar nicht gefragt, warum Sie überhaupt nach München zurückgekommen sind.«

Süden legte den Kopf in den Nacken und schaute zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. Dann strich er sich mit einer langsamen Geste die Haare aus dem Gesicht. »Ich hoffte, meinen Vater zu treffen.«

»Ihren Vater?« Edith Liebergesell sah ihn an. Ihre Augen schienen noch größer, noch dunkler zu werden. »War der nicht verschwunden? Ich erinnere mich an Gespräche mit Ihren ehemaligen Kollegen über das Thema.«

»Seit meinem sechzehnten Lebensjahr ist er verschwunden«, sagte Süden. »Und jetzt rief er mich in Köln an. Ich weiß nicht, wo er die Nummer herhatte. Ich war so verwirrt, dass ich ihn nicht danach gefragt habe. Er sagte, er sei nicht gestorben, sei unterwegs gewesen und seit einigen Wochen wieder in München. Ob ich Interesse hätte, ihn zu sehen. Ich fragte ihn, wie es ihm gehe. Das heißt, ich stotterte, ich suchte nach Worten. Und dann brach die Verbindung ab. Und er rief nicht wieder an.«

»Bitte?«

»Er hatte von einem Münztelefon angerufen. Wahrscheinlich war sein Geld aus.«

»Was erzählen Sie denn da? Nach fünfunddreißig Jahren taucht Ihr Vater aus der Versenkung auf, und dann scheitert die Begegnung an einem Münztelefon? Das kann doch nicht wahr sein.«

»Es ist die Wahrheit«, sagte Süden.

»Wieso hat er nicht wieder angerufen?« Sie wollte noch etwas sagen und fand die Worte nicht. Wie vorhin schaute Süden zum Himmel hinauf. Als er den Kopf senkte, erschrak Edith Liebergesell.

Über sein Gesicht liefen Tränen.

 

Während sie, ohne einen Schluck Veltliner zu trinken oder aus einem anderen Grund das Besteck kurz beiseitezulegen, ihr Schnitzel mit den Pommes frites und dem gemischten Salat aß, stellte sie Süden eine Frage nach der anderen. Doch Süden wurde immer wortkarger und versank schließlich in Schweigen.

Sie fragte ihn nach seinem Vater, seiner Mutter, seiner Kindheit, seiner Zeit am Kölner Eigelstein, seinen Plänen für die Zukunft. Nachdem sie den Teller leer gegessen und an den Tischrand geschoben hatte, tupfte sie sich noch einmal mit der Papierserviette den Mund ab und schüttelte den Kopf.

»Haben Sie den Eindruck, ich will Sie aushorchen?«

»Nein«, sagte Süden.

»Wieso reagieren Sie dann so abweisend?«

»Ich reagiere nicht abweisend, mir fehlen die Erklärungen.«

»Dieses Rauchverbot ist eine so hirnrissige Erfindung«, sagte Edith Liebergesell und sah zur Tür, vor der zwei Gäste standen und rauchten. »Wird das in Köln auch so rigoros durchgezogen wie hier?«

»Ja.«

Sie betrachtete die Narbe an seinem Hals, wollte ihn danach fragen und schüttelte stattdessen den Kopf.

Obwohl sie sich über seinen Anruf gefreut und sofort gedacht hatte, dass sie endlich jemanden ausschließlich für die steigende Zahl von Vermissten abstellen könnte, fragte sie sich mittlerweile, ob das Auftreten Südens manche Klienten nicht irritieren oder sogar abschrecken würde.

Andererseits rührte sein Benehmen möglicherweise von der Sache mit seinem Vater her. Immerhin hatte Süden als Fahnder im Dezernat 11 eindrucksvolle Erfolge aufzuweisen gehabt.

»Noch mal zu meinem Angebot«, sagte sie. »Sie haben sich bei mir gemeldet, also vermute ich, Sie sind grundsätzlich an einem Job interessiert.«

Süden schwieg.

»Würde es Ihnen sehr schwerfallen, mir hin und wieder eine klare Antwort zu geben?«

Sie kruschte in ihrer Handtasche, fand die Schachtel und das Feuerzeug und zog eine Zigarette heraus. Dann hob sie das Weinglas. »Haben Sie was dagegen, wenn wir uns duzen?«

»Nein«, sagte Süden. Sie stießen mit den Gläsern an. »Möge es nützen!« Sein Bierglas war leer, es war sein drittes.

»Nehmen wir noch eine Runde?«, sagte Edith Liebergesell.

»Ich melde mich im Lauf der Woche bei dir.« Er hielt nach dem Kellner Ausschau.

»Ich zahl die Rechnung«, sagte die Detektivin. »Denk noch mal über meinen Vorschlag mit Herrn Kreutzer nach. Oder hast du so viel Geld, dass du ständig in einem Hotel wohnen kannst?«

»Nein.«

Süden gab ihr die Hand.

»Bis bald«, sagte er und verließ die Kneipe, ein wenig schwankend, die Hände tief in den Taschen seiner Lederjacke. Die Detektivin sah ihm hinterher und dachte an Ilona Zacherl, die vor lauter Vermissen ihr Restaurant über die Feiertage geschlossen hatte und vielleicht nie wieder an Ostern öffnen würde – so lange, bis die Geschichte ihres unsichtbar gewordenen Mannes zu Ende erzählt war.

2

Tabor Süden dachte an den Wirt aus Sendling, während er durch die Fraunhoferstraße in Richtung Nockherberg ging. Früher war er auf dieser Strecke fast jeden Tag unterwegs gewesen, oft nachts, wenn er als Gasthausvertriebener seine Wohnung in Obergiesing ansteuerte.

Seit er wieder in München war, hatte er den Weg bereits viermal eingeschlagen, ohne allerdings in einem Lokal einzukehren. An diesem Dienstagabend hatte er sich vorgenommen, wie schon vor zwei Tagen, die Gegend um die Deisenhofener Straße zu durchstreifen, wo er im dritten Stock eines grünen, langgezogenen Blocks gewohnt hatte, in zwei Zimmern, von denen eines gelb gestrichen war und in dem außer einem Stuhl keine Möbel standen. Er war überzeugt, dass sein Vater in der Nähe gewesen war, auch wenn er, Süden, am Sonntag niemanden getroffen hatte, der ihm einen konkreten Hinweis hätte liefern können.

Vielleicht waren seine Beschreibungen zu vage.

Er hatte keine Ahnung, wie sein Vater heute aussah.

Alles, was er wusste, war, dass sein Vater hinkte, denn am Telefon hatte er eine Beinverletzung erwähnt. Er sei gestürzt, und die Zerrung heile einfach nicht. »Ich werd das Hatschen nicht mehr los«, hatte er gesagt, um sofort von etwas anderem zu sprechen.

Das Gespräch hatte höchstens zwei Minuten gedauert.

Jedes Mal, wenn Süden jetzt daran dachte, brach in seinem Magen eine Art Feuer aus. Nach dem Telefonat hatte er versucht, sich an jedes einzelne Wort zu erinnern, aber das gelang ihm nicht. Darüber wurde er wütend. Der Anruf war ein Schock für ihn gewesen. Hinterher glaubte er, er hätte sich die Stimme bloß eingebildet. Als wäre sie einer lodernden Sehnsucht entsprungen, der er sich nicht einmal bewusst gewesen war.

»Ein hinkender alter Mann in alten Sachen«, sagte er wieder und wieder zu Passanten auf der Straße, zu Menschen, die aus einem der umliegenden Häuser traten, zu Leuten, die auf dem Weg zur S- oder U-Bahn am Giesinger Bahnhof waren. Sie grinsten ihn an, schüttelten den Kopf, hörten nicht zu oder warfen ihm mitleidige Blicke zu.

Er hatte gehofft, seine ehemalige Nachbarin, Frau Schuster, würde noch in der Deisenhofener Straße 111 wohnen. Manchmal hatte er ihr von ihm erzählt, wenn er wegen einer Ermittlung erst gegen Mitternacht nach Hause kam und im Hof noch Licht hinter ihrem Fenster sah. Dann klingelte er bei ihr, und sie tranken Eierlikör.

Elsa Schuster lebte nicht mehr. Sie war einundachtzig, als sie starb. Ihre Wohnung hatte ein Mann übernommen, der ein Lampengeschäft geführt hatte, bevor er seine Rente mit dem illegalen Verkauf von 100-Watt-Birnen aufbesserte. Ungefähr tausend Stück bunkerte er in seinem Eichenschrank im Wohnzimmer, sorgfältig aufgereiht in lauter einzelnen kleinen Schachteln. Nichts sonst war im Schrank.

»Die bei der EU in Brüssel haben einen Schlag«, sagte er zu Süden, als dieser ihn besuchte. »Die haben keine Lesekultur, null, sonst wüssten die, dass man zum Lesen ein anständiges Licht braucht in der Nacht. Wollen Sie eine? Ich schenk Ihnen ein Birndl, weil Sie ein Freund von der Frau Schuster gewesen sind.«

Süden lehnte ab.

 

Jetzt fragte Süden die Gäste in einem italienischen Lokal, das zu seiner Zeit griechisch gewesen war, nach seinem Vater. Er fragte die Angestellten der Gaststätte im Giesinger Bahnhof, die Taxifahrer an der Schlierseestraße, Fußgänger, Billardspieler in einer Bar. Niemand konnte mit der Beschreibung etwas anfangen.

Als er auf dem Bahnhofsvorplatz stand und die neugebauten Gebäudekomplexe mit Wohnungen, einer Apotheke, einem Fastfoodladen, einem Supermarkt, einer Seniorenunterkunft betrachtete, fuhr auf einem Gleis hinter der ehemaligen, in ein Kulturzentrum umfunktionierten Schalterhalle, eine S-Bahn ein.

Irgendwann während seiner Zeit als Hauptkommissar, so erinnerte sich Süden, glaubte er an verschiedenen Stellen der Stadt seinen Vater wiederzuerkennen, immer in Gestalt eines Obdachlosen, der auf die gleiche Weise wie sein Vater mit den Armen schlenkerte und die Schultern hochzog. Und jedes Mal hatte Süden zu weit weg in einem Auto gesessen und nicht anhalten können. Und wenn er sich später auf die Suche machte, fand er den Mann nicht mehr.

Zwei- oder dreimal war er rund um den Ostbahnhof in solche Situationen geraten.

An einem Automaten kaufte er sich einen Fahrschein und nahm die nächste S-Bahn.

 

Auch am Ostbahnhof hatte sich vieles verändert. Einkaufspassagen waren entstanden, im Untergeschoss gab es einen Imbissstand mit Kebab und Pizzen, eine offene Bäckerei, einen Supermarkt, Coffeeshops und die unvermeidliche Apotheke. Die Leute eilten zu den Gleisen, Jugendliche standen in Gruppen zusammen und spielten mit ihren Handys. Stadtstreicher waren nicht zu sehen.

Erst auf dem Orleansplatz gegenüber dem Bahnhof entdeckte Süden mehrere Männer und eine Frau, die, in zerschlissene Mäntel gehüllt, auf Bänken saßen, Bier tranken und rauchten. Einer von ihnen hielt eine Gitarre, der er eigenwillige Töne entlockte. Er sang dazu, mit einer Stimme, die besser klang als sein Instrument. Als Süden näher kam, sah er, dass die Gitarre nur fünf Saiten hatte. Der Mann trug einen Strohhut mit einer grauen Feder, eine dicke rote Wolljacke und zerrissene Bluejeans. Seine Füße steckten in gemusterten Lederstiefeln. Nach dem Refrain erkannte Süden den Song »Is your love invain« von Dylan.

Weil der Sänger allein auf der Bank saß, nahm Süden neben ihm Platz.

Nachdem er zu Ende gespielt hatte, lehnte der Mann seine Gitarre an die Bank, erhob sich, nahm den Strohhut ab, senkte den Kopf wie zu einer Verbeugung, kratzte sich am Kopf, setzte den Hut wieder auf und ließ sich auf die Bank fallen. Dann drehte er den Kopf. »Wer bist du?«

»Süden.«

Der Mann verzog den Mund und schob den Unterkiefer hin und her. »Wärmender Name.«

»Und wer sind Sie?«

»Gestatten: Josef Furler. Was willst du von mir?«

»Kennen Sie einen Branko Süden?«

Süden roch die Ausdünstungen des Alkohols und wünschte, er hätte etwas zu trinken dabei.

»Ich kenn niemand. Mich kennt auch niemand.« Furler rülpste, hielt die Luft an, blies sie durch die Nase.

Neben ihnen, eine Bank weiter, beschimpfte ein Mann einen anderen, schrie ihm wirre Sätze ins Gesicht, was seinen Freund nicht zu stören schien. Dieser saß da, trank aus einer Bierflasche und starrte zur Straße. Die alte Frau mit den struppigen Haaren an seiner Seite schätzte Süden auf höchstens fünfundzwanzig.

Es war kurz vor acht Uhr abends. Süden hatte nichts erreicht. Er hockte auf einer Bank unter Stadtstreichern, nüchtern und verkehrt am Platz, durch die Zeit getrieben von einer Stimme, die nicht aufhörte, in seinem Kopf Dinge zu sagen wie: »Ich werd das Hatschen nicht mehr los.« Und: »Wir können uns irgendwo treffen, und ich erzähl dir, wenn du willst …«

 

»Magst einen Schluck Norden, Süden?« Vor seinem Gesicht tauchte eine Flasche Korn auf. »Küstennebel ist das. Wegen der Küste. Verstehst?«

»Nein.«

»Als er noch seine Frau küsste.«

»Wer?«

Furler schob den Unterkiefer hin und her, atmete mit offenem Mund tief ein und schraubte die Flasche auf. Er nahm einen Schluck, spülte seinen Mund aus und schluckte runter. Daraufhin verschloss er die Flasche und stellte sie unter die Bank. Mit dem Daumen zeigte er auf den Mann, der vorhin laut geredet hatte und nun wortlos vor der Bank auf und ab ging, mit ausholenden Gesten, anscheinend in sich hineinfluchend.

»Der Werner. Hat seine Frau verloren, sie war vierzig, Unterleibskrebs, innerhalb von vier Wochen. Wir waren alle bei der Beerdigung, ich hab gespielt. Ostfriedhof, verstehst? Da wirst irre, wenn deine Frau auf einmal tot ist, und du wachst in der Früh auf und die Erde ist weg und du hängst allein im Weltall. Weil die Erde war die Frau. Verstehst?«

»Ja«, sagte Süden.

Furler musterte ihn. »Was geht dich das überhaupt an? Du kennst den Werner nicht, was machst du überhaupt hier?«

»Ich suche einen alten Mann, der hinkt.«

»Warum nicht?« Furler packte seine Gitarre am Griffbrett, zog sie hoch und formte seine Finger umständlich zu einem Griff.

In diesem Moment, beim Anblick des vor sich hin fuchtelnden, innerlich tobenden Mannes, hatte Süden eine Idee.

 

Beim ersten Mal hatte er nur wissen wollen, ob sein Vater sich auf seiner ehemaligen Dienststelle gemeldet hatte, um die aktuelle Telefonnummer seines Sohnes zu erfahren. Und das hatte Branko Süden auch getan, doch es hatte ihm, wie sich herausstellte, nichts genützt. Niemand in der Vermisstenstelle wusste, wo Süden inzwischen lebte. Manche behaupteten, er wäre nach Helgoland gezogen, weil er angeblich öfter von der Insel geschwärmt hatte. Manche meinten, er verdiene seinen Unterhalt bei einer Sicherheitsfirma in Berlin. Und die üblichen Witzbolde verbreiteten das Gerücht, er habe endlich zu seiner wahren Bestimmung gefunden und das Augustiner-Stüberl in Giesing übernommen. Im Grunde, hatte Süden gedacht, war es wie bei einer offiziellen Vermissung: Wenn man zehn Personen nach den Wesensmerkmalen eines Verschwundenen fragte, erhielt man zehn verschiedene Biographien.

»Das ist eine Überraschung«, sagte der Mann, wegen dessen Telefonnummer Süden ein zweites Mal im Dezernat angerufen hatte, am anderen Ende der Leitung. »Obwohl ich schon gehofft hab, du würdst dich melden. Wo bist du?«

»In München.«

»Mit deinem Vater?«

»Er hat meine Telefonnummer also von dir bekommen.«

Dieser Gedanke hatte Süden vorhin von der Parkbank gescheucht.

»Ja«, sagte Paul Weber. »Jemand im Dezernat muss ihm gesagt haben, ich wär früher dein Vertrauter gewesen.«

»Wer hat ihm das gesagt?«

»Das wusste dein Vater nicht, eine Frau.«

»Sonja?«

»Er hat keinen Namen genannt. Wie geht’s deinem Vater?«

»Er rief an, die Verbindung brach ab, seitdem hat er sich nicht mehr gemeldet.«

Süden hörte, wie sein ehemaliger Kollege etwas trank und dann ein Brummen von sich gab.

»Komm vorbei«, sagte Weber. »Weißt du noch, wo ich wohn?«

 

Eine Stunde später saßen sie sich am Couchtisch gegenüber. Für Süden war es, als wäre er vor einem halben Jahr zum letzten Mal in der Wohnung am Harras gewesen. Jedes der dunklen Möbelstücke kam ihm vertraut vor. Der bullige, pensionierte Hauptkommissar mit den buschigen Augenbrauen, den geschneckelten Haaren und den geröteten Ohren schien weder an Gewicht verloren noch zugenommen zu haben. Sogar der Geruch nach Kölnisch Wasser, der in den engen Zimmern hing, war derselbe wie immer.

Paul Weber war siebenundsechzig Jahre alt. Beim Tod seiner Frau Elfriede war er Mitte fünfzig gewesen, und obwohl er auch nach ihrem Tod unermüdlich seinen Dienst ausübte, kam er nie über den Verlust hinweg. Zwar verliebte er sich noch einmal – in eine Krankenschwester aus der Lüneburger Heide, die im Schwabinger Krankenhaus arbeitete, wo seine Frau gelegen hatte –, doch schließlich kehrte er allein in die leeren Zimmer seiner Ehe zurück. Hier saß er immer noch und sprach Gedichte in einen alten Kassettenrecorder, wie er es früher für Elfriede getan hatte, die seine sonore Stimme liebte. Gelegentlich zog er die unterste Schublade des Schlafzimmerschrankes auf. Dort bewahrte er seinen siebenschüssigen »Smith & Wesson«-Revolver auf, eine vollfunktionstüchtige Rarität, eingewickelt in braunes Packpapier, und dazu die Schachtel mit den Patronen.

»Erzähl, wie es dir ergangen ist«, sagte Weber. »Wie war das, als du in München aus dem Zug gestiegen bist? Hast du alles gleich wiedererkannt?«

 

Nichts, dachte er auf dem Bahnsteig, während die Stimme seines Vaters immer lauter wurde, hatte sich verändert.

Jede Glaswand, jeden Kiosk, jedes Werbeplakat, jeden Ausschank, jedes Geräusch und jeden Geruch, jeden diffusen Strahl des Sonnenlichts, der in die Halle fiel, das Flattern einer Taube – das alles, bildete Süden sich ein, erkannte er augenblicklich wieder. Sein Kopf dröhnte. Er stand neben Gleis zweiundzwanzig, wenige hundert Meter von seinem ehemaligen Arbeitsplatz entfernt.

Gestern hatte sein Vater angerufen, und das Gespräch war ein Alptraum gewesen.

Das Gespräch war kein Alptraum. Es hatte tatsächlich stattgefunden, um 15.35 Uhr, mit ihm als Gesprächsteilnehmer. Und einen Tag später, Gründonnerstag, stand er inmitten von Fremden, die an ihm vorbeihuschten und ihm luftleere Blicke zuwarfen.

Er hob die grüne Reisetasche vom Boden, sog die kalte Luft ein und machte einen Schritt.

In der Vorhalle bei den Ticketschaltern roch es nach frischen Brezen, Pizza und aufgebackenen Hörnchen. In der Mitte der Halle stand eine fünf Meter lange weiße Limousine. Sie war kein Ausstellungsmodell, sondern der Verkaufsstand für einen Sylter Fischgroßhändler. Da wurden Salate angeboten, belegte Semmeln und frisch zubereitete Fische, Matjes, Krabben, Thunfisch, Lachs, Hering, dazu Weißwein, Sekt und Champagner. An einem der Tische, die um die rollende Fischbude plaziert waren, saßen eine Frau in einem Pelzmantel und ein braungebrannter Mann in einem Wildledermantel.

Er bestellte ein Glas Pinot und eine Krabbensemmel. Der Mann im Wildledermantel küsste die Frau im Pelzmantel. Und Süden hörte die Stimme seines Vaters, der sagte: Wir können uns irgendwo treffen … Wir treffen uns irgendwo …, sagte sein Vater.

Jetzt fiel es ihm wieder ein: Wir treffen uns dann irgendwo, und ich erzähl dir, wenn du willst …

Er hörte seinen Vater sprechen, in Paul Webers Wohnzimmer, in dem alles so war wie früher.

3

»Hier ist dein Vater. Du wunderst dich wahrscheinlich jetzt. Aber ich leb noch. Ich war die ganze Zeit unterwegs. Meine Knochen sind kaputt, und ich werd das Hatschen nicht mehr los. Bist du noch dran?« Als könnte Süden woanders sein.

»Ich bin wieder in der verhunzten Stadt. Kann dir nicht erklären, wieso. Du bist bestimmt verdutzt, dass ich mich nach so langer Zeit melde, wo du wahrscheinlich sicher warst, ich bin schon tot. Und ich war ja auch fast tot. Ich hab bloß geatmet, das hab ich dir in dem Brief damals geschrieben. Ich hab nicht länger warten können, das ist alles ewig her. Und jetzt bin ich wieder da. Und ich hab gedacht, ich ruf dich einfach an. Ich hab dich gesucht in der Stadt. Und als ich deine Nummer hatte, hab ich gezögert. Das ist ja ein Schock, wenn der totgeglaubte Vater plötzlich aus der Gruft auftaucht. Übrigens war ich schon öfter mal in der Stadt, einmal hab ich dich sogar gesehen. Hab dich gleich wiedererkannt, obwohl du lange Haare hattest und so groß geworden warst, und stattlich. Ich hab einen Vorschlag, wir treffen uns irgendwo, und ich erzähl dir, wenn du willst …«

Es war, als wäre Süden jedes einzelne Wort wieder eingefallen.

4

Das Hotel, die Brecherspitze, erreichte Süden vermutlich auf magische Weise. Roland Zirl, dem Wirt, konnte er nicht erklären, wie er den Weg vom Harras nach Giesing gefunden hatte.

»Trink noch einen Aquavit«, sagte Rollo. »Vielleicht erinnerst du dich dann wieder.«

»Wozu denn?« Süden trank den Schnaps und spülte mit Bier nach, um den Kümmelgeschmack zu vernichten.

In dieser Nacht trank er eine Reihe von Kümmelschnapsvernichtungsbieren, bevor er sich angekleidet auf seinem Bett im ersten Stock wiederfand, zur Decke starrend und im Gespräch mit einem Toten, der Martin Heuer hieß.

Süden delirierte nicht. Der Tote war sein Gesprächspartner schon in so mancher Nacht und auch an Tagen gewesen, an denen Süden keinen Schatten warf. An Martins unvermittelte Anwesenheit hatte Süden sich gewöhnt wie an dessen Abtauchen zu Lebzeiten.

Warum quälst du dich so?, sagte Martin Heuer.

Süden wandte den Blick nicht von der Zimmerdecke. Er hoffte, ihm würde nicht schwindlig werden.

Du schweigst zu viel.

Süden schwieg.

Siehst du?

»Ich bin hier verkehrt.«

Du bist aus freien Stücken gekommen.

Aus freien Stücken! Bei diesem Spruch hätte Süden sich beinah aufgerichtet und seinen Freund laut ausgelacht. Die Formulierung kam ihm vor wie der Aufdruck auf einem nie gewaschenen T-Shirt, das ein Mann durch die Jahre getragen hatte, und der am Ende, im Alter von dreiundvierzig, in den Müllcontainer eines Bordells kletterte, den Deckel zuklappte und sich mit der Dienstwaffe in den Kopf schoss.

Aus freien Stücken.

Deswegen: Freitod.

Alles, was Martin Heuer getan hatte, hatte er aus freien Stücken getan.

Wenn die Sonne schien, trug er einen braunen Rollkragenpullover und eine türkisfarbene Bomberjacke. Wenn es schneite, genauso. An sehr heißen Sommertagen holte er eine graue Filzjacke aus dem Schrank, die er auch bei Vernehmungen in stickigen Räumen nicht ablegte.

Aus freien Stücken unterhielt er eine Beziehung zu einer sechsundfünfzigjährigen Hure, deren Sanftmut und Verständnis er ignorierte. Lieber schlief er bei ihr bloß seinen Rausch aus oder kam vorbei, um hastig und wortlos zu duschen. In ihrem Zimmer hatte Lilo, die sich die Wohnung mit zwei Kolleginnen teilte, für gewisse Kunden eine Duschkabine installieren lassen. Martin Heuer war kein Kunde. Er war auch kein Freund oder Liebhaber, er war so etwas wie der ewige letzte Gast und Lilo die Lumpensammlerin, die ihn aufgabelte und in ihrem Bett zum Ende der Nacht chauffierte.

 

Süden und Martin Heuer waren in Taging aufgewachsen. Und weil sie nach dem Abitur, das beide nur mit großer Mühe schafften, nicht wussten, was sie werden sollten, kam Heuer auf die Idee mit der Polizei. So brauchten sie keinen Wehrdienst abzuleisten und konnten sich eine Wohnung in der Stadt leisten.

Vier Jahre lang lebten sie in einer WG in Schwabing, kundschafteten die einschlägigen Szenelokale aus, tranken und kifften mit Studenten, Ex-Studenten, Möchtegern-Studenten und Künstlern und verschwiegen ihren zukünftigen Beruf. Als sie eines Nachts in Uniform aus einem Streifenwagen stiegen – zwei Bereitschaftspolizisten, die pflichtgemäß einen nach sphärischem Gras duftenden Fahrer eines 2CV kontrollierten –, begriffen sie, dass sie sich für eine Zukunft in Beige-Grün nicht neun Jahre lang durchs Gymnasium hätten quälen müssen.

Am nächsten Morgen besorgte Süden die Unterlagen zur Beförderung in den gehobenen Dienst, und wiederum drei Jahre später fanden sie sich in der Mordkommission wieder, wo damals dringend neue Kommissare gesucht wurden. Mit Anfang dreißig wechselten sie in die Vermisstenstelle.

Zu dieser Zeit hatte Martin Heuer bereits eine graue Haut.

Seine wenigen Haare waren zu einem Nest geformt, unter seinen Augen hingen dunkle Tränensäcke. Schon lange war er nicht mehr schlank, sondern dürr. Unter seiner Bomberjacke kam ein ausgemergelter Körper zum Vorschein, und wenn er es eilig hatte, dann, so verriet er manchmal zu später Stunde, würden die gläsernen Kobolde, die in ihm hockten, bei jeder Bewegung einen Splitter verlieren, der ihn stumm aufschreien ließ.

Alle Versuche von Süden und seinen Kollegen, Martin Heuer in die Obhut eines Arztes zu geben, scheiterten.

Einmal bei der Mordkommission und einmal während eines Einsatzes für die Vermisstenstelle wurde auf Heuer geschossen. Die Verletzungen waren jedes Mal nur leicht, aber den Schock hatte er nie überwunden. Er redete nicht darüber, er ertränkte diesen Zustand wie jeden anderen.

Als Süden eine Beziehung mit seiner Kollegin Sonja Feyerabend begann, schien Heuer eine Zeitlang aus seinem Schatten zu treten. Zu dritt gingen sie ins Kino und in Lokale, sie fuhren zum Schwimmen an nahe gelegene Baggerseen, sie verbrachten den Heiligen Abend zusammen. Doch mit Südens allmählicher Entfernung von Sonja kehrte auch Heuer zu seinem Nachtgeschwader aus Trinkern und gestürzten Engeln zurück, Süden erreichte ihn nur noch in seiner Funktion als Kriminalhauptkommissar und immer seltener als Freund, der seine Bomberjacke auszog, um sich erkennen zu lassen.

Sie stritten, und sie schrien sich an. Süden fegte die unvermeidliche Zigarettenschachtel seines Freundes vom Tresen oder ließ ihn einfach auf dem Bürgersteig hocken, wenn Martin wieder einmal beschlossen hatte, auf der Stelle zu krepieren.

In einer dieser vom ersten Glas an ausweglosen Nächte packte Süden ihn an der Schulter, hob ihn hoch, schüttelte ihn wie eine Puppe und schleuderte ihn auf die Schienen, direkt vor dem Augustiner-Stüberl in der Tegernseer Landstraße. Mit lautem Klingeln und kreischenden Bremsen kam die Tram zum Stehen. Der Fahrer stieß Flüche aus, die in den Dienstvorschriften des Münchner Verkehrsverbunds garantiert nicht unter »deeskalierende Maßnahmen bei Betriebsstörungen« aufgelistet waren.

Aus freien Stücken kehrte Martin Heuer einer laufenden Ermittlung den Rücken.

Aus freien Stücken kehrte er seinen Kollegen und seinem besten Freund den Rücken.

Aus freien Stücken fuhr er mit seinem verrosteten Opel, einem ehemaligen Dienstfahrzeug, nach Berg am Laim, um dort mit seiner Dienstwaffe in einen Müllcontainer zu steigen.

Warum war Süden nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen?

Warum hatte er die letzten Zeichen nicht erkannt?

Warum hatte er Martin in der Nacht zuvor allein gelassen?

Martin Heuer hatte es ihm wieder und wieder erklärt. Du konntest nicht da sein, das war unmöglich.

»Vielleicht hätte ich trotzdem da sein müssen.«

Das redest du dir ein, du bist nicht schuld.

»Am Selbstmord eines anderen ist nie nur der Selbstmörder schuld.«

Glaubst du das wirklich?

»Ja«, hatte Süden wieder und wieder geantwortet.

So wenig, wie an einem Mord nur der Mörder schuld ist?

»Für den Mord ist der Mörder ganz allein verantwortlich.«

Dann bist du nicht auf dem neuesten Stand der Erkenntnisse.

»Das ist mir egal«, sagte Süden, als wäre er überzeugt davon.

Du sollst die Toten nicht anlügen.

 

Seine letzte Ruhestätte fand Martin Heuer auf dem Waldfriedhof, inmitten von Fichten, Tannen, Birken und Sträuchern, neben dem Grab der Kolonialwarenhändlerswitwe Krescenzia Wohlgemuth.

Zweihundertfünfzigtausend Tote lagen auf diesem Friedhof, auf dem auch die Urnen all jener in der Erde vergraben waren, die eine anonyme Bestattung verfügt hatten.

Einseinsnull ist die passende Zimmernummer für dich.

»Das Zimmer hat Rollo mir früher auch immer gegeben«, sagte Süden in die Dunkelheit.

Such den Wirt aus Sendling. Such deinen Vater, obwohl ich befürchte, du wirst ihn nicht finden. Such die verschwundenen Kinder.Die Leute warten auf dich.

»Niemand wartet auf mich«, sagte Süden. »Höchstens die Leute am Eigelstein, meine Gäste.«

Es genügt, wenn du mich anlügst, lüg dich nicht auch noch selber an.

Süden wuchtete sich in die Höhe, schlug sich erst mit der rechten, dann mit der linken Hand gegen den Kopf, stellte die Beine auf den Boden, beugte sich nach vorn, röchelte und erhob sich schwankend.

Er sah zum Fenster, wankte, ging hin und riss es auf. So weit er konnte, streckte er den Kopf nach draußen und atmete mit weit geöffnetem Mund die kalte Luft ein. Dass er schon wieder mit seinem toten Freund redete, gefiel ihm nicht.

Da war mindestens eine Stimme zu viel in seinem Kopf.

Süden horchte.

Die Stimme seines Vaters war verstummt.

Aus der Ferne näherte sich ein Auto. Die St.-Martin-Straße war menschenleer.

Sein Vater sprach nicht mehr. In seinem Kopf Sirren und Rauschen.

Morgen, dachte er, wollte er das gesamte Viertel durchstreifen, Obdachlosenheime aufsuchen, an den Bahnhöfen und in den Untergeschossen Ausschau halten. Hauptsache, er tat etwas und dachte nicht ständig an die Sätze, die sein Vater ihm am Telefon hinterlassen hatte.

Und wenn es gar nicht sein Vater war, der angerufen hatte?

Auf diesen Gedanken kam er jetzt zum ersten Mal.

Wer sollte so etwas tun?

Süden drehte sich um und sagte: »Wer sollte so etwas denn tun?«

Martin Heuer schwieg, wie es sich für einen Toten gehörte.

5

Süden schnaufte eine Zeitlang vor sich hin. Dann zog er sich nackt aus, legte sich bei offenem Fenster ins Bett, deckte sich zu und verschlief die Hälfte des nächsten Tages.

 

Eigenartigerweise musste er das Zimmer jedes Mal lange suchen. Es lag im vierten Stock, das wusste er genau, aber der Aufzug fuhr immer entweder in den fünften oder in den dritten Stock.

Süden stieg aus, lief durch lange, mit Teppichen ausgelegte Flure, durchquerte Hinterzimmer von Restaurants, in denen niemand saß, fand sich auf einer breiten, geschwungenen Treppe wieder, die, davon war er überzeugt, in den vierten Stock führte.

Als er dort ankam, hatte er seine Zimmernummer vergessen. Allerdings hatte er eine vage Vorstellung von der Lage des Zimmers. Die Angestellten und die wenigen Gäste, die ihm begegneten, traute er sich nicht anzusprechen, er genierte sich für sein Verhalten. Zu seiner Überraschung fand er, nachdem er mehrmals die Richtung gewechselt hatte und im Kreis gelaufen war, die richtige Tür. Zumindest bildete er sich ein, sie wiederzuerkennen, denn sie hatte, im Gegensatz zu den übrigen Türen, keine Nummer.

Er steckte den Schlüssel, den er wie selbstverständlich aus der Tasche zog, ins Schloss und öffnete die Tür.

Das Zimmer glich seinem eigenen zu Hause: ein schmales Fenster, links das Bett, rechts die Tür zum Bad, ein runder Tisch voller Bücher und Zettel. Auf einem Stuhl lag ein aufgeklappter schwarzer Koffer, der ihm, dachte Süden sofort, nicht gehörte. Aus dem Koffer hingen ein Hemd und eine Hose heraus. Jetzt bemerkte er, dass das Bett zerwühlt und benutzt aussah.

Von nebenan hörte er Wasserrauschen. Kurz darauf kam ein jüngerer Mann in Jeans und T-Shirt aus dem Bad, grüßte mit einer schnellen Handbewegung und zeigte zum Bett. Tut mir leid wegen der Unordnung, sagte er, ich war dermaßen fertig heut Nacht, kommst mit, was trinken?

Süden begriff, dass der Mann in diesem Zimmer wohnte, aber er brachte keinen Ton heraus.

Er wachte auf.

 

Mit schweren Schritten ging er ins Bad, trank Wasser aus dem Hahn, wich dem Anblick seines Gesichts im Spiegel aus, taumelte zurück zum Bett.

Irgendwann am Nachmittag schaffte er es, sich anzuziehen und nach unten zu gehen.

Da war niemand, also verließ er das Hotel. Der Stadtteil war nicht gerade berühmt für seine Kaffeehausdichte, vielmehr als Geburtsstätte der Lichtgestalt Beckenbauer und Heimstatt des Turn- und Sportvereins 1860 München, dessen ruhmreiche Zeit im Paläozoikum lag.

Auf der Tegernseer Landstraße, fiel Süden ein, gab es eine Konditorei mit angeschlossener Gastronomie. Der Laden befand sich gegenüber dem Postamt, das, wie er verblüfft feststellte, heute auch eine Metzgerei und einen Drogeriemarkt beherbergte.

Das Café existierte nicht mehr, ebenso wie das Kaufhaus nebenan.

Erschöpft vom zwecklosen Ausschauhalten kehrte Süden ins Hotel zurück, ließ sich aufs Bett fallen und las im Roman eines chilenischen Schriftstellers, dessen Titel »Kater und Katzenjammer« lautete.

 

Den nächsten Tag verbrachte er mit der Suche nach Spuren und Stimmen, nach Menschen, die wie Branko Süden in Schlupfwinkeln hausten, notgedrungen oder – aus freien Stücken.

Branko Süden war freiwillig fortgegangen, damals. Niemand hatte ihn vertrieben, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, als er mit seinen Eltern aus dem Sudetenland flüchtete. Niemand hatte ihn gezwungen, Taging zu verlassen.

Er schrieb einen Brief, in dem er versuchte, etwas zu erklären. Der Tod seiner Frau, Tabors Mutter, drei Jahre zuvor, habe ihn aus der Welt fallen lassen und ihm jede Zuversicht geraubt, ihm fehle die Kraft, ein Kind zu erziehen …

Die Sätze kamen dem sechzehnjährigen Jungen verlogen vor. Er verachtete seinen Vater für dessen Feigheit. Jahre vergingen, bis er den letzten Satz des Briefes halbwegs begriffen hatte. »Gott ist die Finsternis«, schrieb sein Vater in einer nach Tabors Meinung gestelzten Schrift, »und die Liebe das Licht, das wir ihm schenken, damit er uns sehen kann.«

Den Brief trug Süden durch ganz München mit sich herum. Er zeigte ihn niemandem. Einige der alten Sätze gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf, wie die Stimme seines Vaters.

Doch anstelle seines Vaters begegnete er jemand anderem aus der Vergangenheit.

6

Er gönnte sich keine Pause. Er aß im Gehen, trank hastig im Stehen, sprang aus Straßenbahnen und rannte los, schwitzte und schnaufte und stellte immer wieder dieselben Fragen.

Ein Foto seines Vaters hatte er nicht dabei. Er besaß keines. Nicht ein einziges. Er hatte ein vergilbtes Bild im Kopf.

Er tat, als käme es auf jede Minute an. Als könnte jede Stunde die letzte sein, die er zur Verfügung hatte, um seinen Vater doch noch ausfindig zu machen.

Die Obdachlosen, die er ansprach, hatten keine Ahnung. In den Heimen und Krankenhäusern war Brankos Name unbekannt. An den Bahnhöfen traf er auf Männer und Frauen, in deren Stimmen Schnee fiel.

Von einem Münztelefon rief er bei Martin Heuers Eltern in Taging an, um zu erfahren, ob sein Vater sich vielleicht in seinem alten Dorf herumgetrieben hatte. Sie verneinten und fragten, wie es ihm gehe und ob er sie besuchen käme. Vielleicht, sagte er und beendete schnell das Gespräch.

Aus der Innenstadt war er zu Fuß zum Pariser Platz gelaufen und hatte von dort telefoniert, jetzt bestellte er in einer Kneipe an der Ecke Pariser und Wörthstraße ein Helles und anschließend ein zweites.

Den Brief seines Vaters hatte er seit mehr als zehn Jahren zum ersten Mal wieder gelesen, als er allein in seinem Zimmer im Kölner Ost-West-Hotel das verstummte Telefon anstarrte.

 

Er holte den zusammengefalteten Zettel aus der Zigarrenkiste, die oben auf dem Bücherregal seines Hotelzimmers stand, und strich ihn glatt. Seine Hände begannen zu zittern. Während er las, hörte er die Stimme seines Vaters am Telefon, sie vermischte sich mit der des Briefes, die Süden gehört hatte, als er zum Taginger See hinuntergerannt war, das zerknitterte Papier in der Hosentasche, und geglaubt hatte, sein Herz schlage über ihn hinaus.

 

»Haben Sie in letzter Zeit einen hinkenden Obdachlosen gesehen?«, fragte Süden am Pariser Platz den Barkeeper, und dieser erwiderte: »Etliche. Noch ein Erfrischungsgetränk?«

 

Draußen war es dunkel geworden. Aus einem Grund, den er nicht begriff, machte Süden sich auf den Weg zum Kaufhaus am Orleansplatz, wenige hundert Meter vom Pariser Platz entfernt. Aus alter Gewohnheit und als bräuchte er tatsächlich Nachschub für anstehende Ermittlungen, suchte er in der Schreibwarenabteilung nach einem bestimmten Block.

Versteckt zwischen unterschiedlichen Formaten entdeckte er, was er suchte: einen kleinen karierten Block mit der Spirale am oberen Rand. Es war der einzige in der Art. In seiner Zeit als Hauptkommissar hatte er nie einen anderen Block für seine Notizen verwendet, auch dann nicht, wenn er damit rechnen musste, dass eine Vernehmung mehrere Stunden dauern würde. Die fünfzig Blatt dicken Blocks waren sein Gedächtnis, mehr brauchte er sich nicht zu merken.

Er kaufte auch noch einen billigen Kugelschreiber mit blauer Mine.

»Da steht kein Preis drauf«, sagte die Kassiererin und betrachtete den Block wie das größtmögliche Ärgernis kurz vor Ladenschluss.

»Ein Euro fünfzig«, sagte Süden.

»Wo haben Sie den her?«

»Aus dem Regal da hinten.«

»Bei den Sonderangeboten?«

»Darauf habe ich nicht geachtet.«

»Ich kann ja nicht irgendeinen Preis berechnen.«

»Ein Euro fünfzig«, wiederholte Süden.

Sie hielt nach einer Kollegin Ausschau. Die einzige Angestellte, die zu sehen war, verschwand gerade im Aufzug.

»Der Kuli ist ein Euro«, sagte die Kassiererin und tippte den Preis ein. »Können Sie keinen anderen Block nehmen?«

Die Kundin, die hinter Süden stand, klopfte mit zwei gelben Rollen Geschenkpapier auf die Ablagefläche.

Süden sagte: »Ich kann nur mit diesem Block arbeiten.«

Zeit verging, während die Kassiererin durch das Erdgeschoss blickte und die Kundin hinter Süden sich vor Stöhnen fast verschluckte.

»Also gut«, sagte die Kassiererin. »Das macht dann zwei Euro fünfzig. Ist doch immer dasselbe.«

Was ihrer Meinung nach immer dasselbe war, blieb ungewiss.

Süden verließ das Kaufhaus, überquerte den Platz, auf dem die Trinker und Stadtstreicher, die er schon befragt hatte, noch immer in Dispute verstrickt waren, und ging auf die Haltestellen vor dem Ostbahnhof zu. Von dort wollte er mit dem Bus in den Englischen Garten fahren.

Vielleicht, redete er sich ein, trieb sein Vater sich in der finsteren Anonymität des weitläufigen Parks herum.

Der Busfahrer stand neben der offenen Tür und rauchte eine Zigarette. Süden fragte ihn, ob er bei ihm einen Fahrschein kaufen könne, der Fahrer deutete auf den blauen Automaten bei den Wartesitzen.

Als Süden das Geld einwarf, hörte er Schritte, die ihm eigentümlich vertraut vorkamen. Ein staksiges Gehen, wie tausend andere eigentlich. Doch unwillkürlich drehte er den Kopf.

»Süden?« Die Frau blieb stehen und schaute ihn aus Augen an, die so grün waren wie seine eigenen.

Sie trug einen knielangen dunklen Mantel, eine lederne Schirmmütze, schwarze Stiefel und einen kleinen modischen Rucksack. Ihr Gesicht mit der hohen Stirn und der leicht nach oben gebogenen Nasenspitze wirkte schmaler, als Süden es in Erinnerung hatte. Sie sah erschöpft und auf eine für sie schon wieder typische Weise gereizt aus.

»Servus, Sonja«, sagte er.

Mehr als zehn Jahre hatten sie gemeinsam auf der Vermisstenstelle gearbeitet, Sonja Feyerabend und Tabor Süden. Einen Teil dieser Zeit waren sie ein Liebespaar gewesen, anfangs auf die übliche, überschäumende Weise, bald verhaltener, am Ende gefangen in partnerschaftlicher Unnähe.

Sie trennten sich, ermittelten weiter Tür an Tür, gingen sich aus dem Weg. Manchmal beobachtete er sie heimlich, wie sie den Kopf senkte und ihre Hände zu Schalen formte, als wollte sie Tränen darin auffangen.

Seit Süden sie kannte, war sie eine eigenbrötlerische, zu Ingrimm neigende Frau gewesen, mit einer Aura von Traurigkeit. Er hatte sich oft vorgestellt, sie an der Hand zu nehmen und loszulaufen, bis der schwere Atem aus ihr herausgeströmt wäre und sich ihr Herz in ein beschwingtes Organ verwandelt hätte.

Anders als Martin Heuer jedoch erlaubte Sonja der Schwermut nicht, sie vollständig zu besetzen. Sie verscheuchte die Wolken, indem sie spontane Reisen auf die Kanarischen Inseln oder nach Asien unternahm. Und anders als Süden zelebrierte sie ihr Alleinsein nicht mit Ritualen, sondern hielt es einfach aus.

Zu seiner Verabschiedung aus dem Dienst hatte sie ihm einen kurzen Brief geschrieben, mehr einen Zettel, den sie ihm in einem Kuvert überreichte. Sie bezweifelte, dass seine Entscheidung richtig und klug sei und wünschte ihm »einen sich öffnenden Horizont«.

»Wie geht’s dir?«, fragte er, weil er ihr stummes Dastehen nicht länger als Schweigen empfand, sondern als Tottreten von Worten.

»Gut. Und dir?«

»Gut.«

»Bist du wieder in der Stadt?«

»Ich bin auf Besuch«, sagte er.

Sie biss sich auf die Unterlippe, früher ein Zeichen für Gefahr im Verzug.

»Und du?«, sagte Süden schnell. »Was machst du hier in der Gegend?«

»Ich wohn nicht weit von hier.«

»Du bist umgezogen.«

»Schon vor einer Weile.«

Süden sah, wie der Busfahrer die Kippe austrat, hustete und in den Bus stieg. »Isst du immer noch gern Erdbeerkuchen?«

Der Busfahrer ließ den Motor an.

»Hast du jemanden?«, fragte Süden.

»Ja«, sagte Sonja. »Mich.«

Vor der nächsten Frage zögerte er einen Moment. »Hast du am Telefon jemandem die Nummer von Paul Weber gegeben?«

»Wem denn?«

»Einem Bekannten von mir.«

»Nein.«

Süden stieg in den Bus, setzte sich auf die Rückbank und sah Sonja mit eckigen Schritten bei Rot über die Straße gehen, wie es von jeher ihrer Art entsprach.

Als Martin Heuer und er einmal im Sommer mit Sonja an den Osterseen waren, zeigte sie ihnen eine blühende Sonnenblume am Ufer. Die Männer staunten, denn es war die größte Sonnenblume weit und breit. Sie habe, erzählte Sonja, eine Woche nach dem Tod ihres Vaters an dieser Stelle Kerne in der Erde vergraben, in der Gewissheit, sie würden eines Tages aufgehen. Das war vor fünfunddreißig Jahren gewesen. Sonja hatte recht behalten. Ihre Sonnenblume thronte über allem Gesträuch, jedes Jahr von neuem.

Jedes Jahr von neuem.

Damals vielleicht, dachte Süden, hätte Sonja sie beide, Martin und ihn,an der Hand nehmen und losrennen sollen, den Hügel hinauf und über die Wiesen und durch die Wälder bis nach Seeshaupt und noch weiter, so lange, bis ihnen, Martin und ihm, die ganze schwere Luft ausgegangen wäre.

7

Sein Vater blieb unsichtbar wie die Nymphe Echo, und nur seine Stimme hallte durch Südens Kopf wie durch einen schwarzen Wald. Und er wusste nicht einmal, ob es überhaupt die Stimme seines Vaters war und nicht womöglich die eines Fremden, der im Namen seines Vaters angerufen hatte, aus welch dunklem Grund auch immer.

Am Sonntag verließ Süden das Hotel nicht ein einziges Mal. Mittags trank er Kaffee, abends Bier zum Cordon bleu, das der Wirt ihm unaufgefordert hinstellte. Nachts in seinem Zimmer kritzelte er wahllos Buchstaben in seinen neuen Block, wie Morsezeichen aus einem Verlies unter der Erde.

 

Am Montag irrte er durch die Stadt.

Er suchte nicht mehr.

Er schaute wenig, er folgte seinen Schritten. Er sah die prachtvollen Neubauten am St.-Jakobs-Platz und anderswo. Mit halben Blicken registrierte er die gutgekleideten jungen Leute rund um den Odeonsplatz, die lässig schlendernden Touristen und die Bettler vor der Theatinerkirche. Und weil er gerade in der Nähe war, stellte er sich an den Rand des Bürgersteigs, mit dem Gesicht zur Maximilianstraße, so dass ihm die von sich selbst gedoubelten, beringten und bepelzten Passanten galant am Arsch vorbeigingen.

Er war zurück in seiner Stadt, wo er nie wieder hinwollte. Und er würde wieder verschwinden.

Möge es nützen!, sagte Martin Heuer in der Nacht, während Süden bereits die Stille des Ostfriedhofs zersägte.

 

Am nächsten Vormittag, Dienstag nach Ostern, fuhr er mit dem Taxi zum Waldfriedhof. Er besuchte das Grab seines Freundes, auf dem frische gelbe Tulpen in einer Vase standen.

Süden redete eine Weile mit Martin Heuer und war bereits auf dem Weg zum Ausgang, da hörte er einen Mann in einem langen grauen Mantel und mit einer blauen Wollmütze zu einem Grab sprechen.

Hinter einem Baumstamm blieb Süden stehen. Er wollte nicht lauschen, aber mit seinen Schritten im knirschenden Kies auch nicht stören.

»Am nächsten Dienstag kann ich nicht kommen«, sagte der Mann. Er stand leicht nach vorn gebeugt, seine Arme hingen herunter. »Da muss ich vor Gericht, du weißt, wegen der Sache mit Constanze. Die Polizei hält mich für einen wichtigen Zeugen, weil ich sie angeblich als Letzter gesehen habe und mit Reinhard befreundet bin. Glaubst du, er weiß, was passiert ist? Mir hat er erzählt, er habe sie in der Nacht nach Hause gebracht, nachdem sie bei ihm war. Ich hab die beiden aus dem Lokal wegfahren sehen. Ich kenne Reinhard seit meiner Schulzeit, er ist kein Verbrecher. Er mag Frauen, junge Frauen, sehr junge Frauen, ist das ein Verbrechen? Früher hab ich mich manchmal gefragt, ob er wegen dir so oft zu uns gekommen ist.«

Er machte eine Pause, bewegte den Oberkörper vor und zurück, bis er wieder gekrümmt verharrte.

»Du warst vierzehn. Ich hätt ihn verprügelt, wenn er dich angefasst hätt. Und er war oft da. Im Sommer haben wir gegrillt, im Winter Karten gespielt und getrunken, das mochtest du nicht. Du hast dich geekelt, das tut mir immer noch leid. Einmal hab ich euch zusammen in der Stadt gesehen, vor der Eisdiele am Rotkreuzplatz. Du hast ein Eis gegessen, er hat mit dir geredet. Fast hätt ich euch im Vorbeifahren zugewinkt, aber es war viel Verkehr, überall Radfahrer und Leute, die einfach über die Straße rannten. Außerdem wartete ein Kunde seit einer halben Stunde auf uns. Pepe saß mit mir im Auto, er hat dich auch gesehen und den Reinhard. Jetzt denk ich grad … Verzeih mir.«

Er schwieg, bewegte sich nicht, sekundenlang.

»Das kommt mir nach der langen Zeit nur so vor. Ich dachte grad … Ich dachte, er wär wieder öfter bei uns gewesen in der Zeit vor deinem … vor deinem Tod. Täusch ich mich? Bestimmt. Ab und zu hast du nach ihm gefragt, das ist wahr. Du warst siebzehn und meine Tochter. So etwas hätt er nie getan, nicht mit dir, nicht mit mir. Niemals.