Superhits der Shōwa-Ära - Ryū Murakami - E-Book

Superhits der Shōwa-Ära E-Book

Ryu Murakami

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Beschreibung

Sechs junge Männer ohne Ambitionen, sechs alleinstehende Frauen, die alle Midori heißen, und eine gemeinsame Leidenschaft: Karaoke! Doch was, wenn eine Fehde zwischen den beiden Gruppen eskaliert und in einen regelrechten Krieg ausufert Ishihara und seine Freunde sind zu nichts zu gebrauchen. Ihr Lebensinhalt sind öde Partys und das Spannen bei der Nachbarin. Als einer von ihnen eine Frau auf offener Straße brutal ermordet, sehen sich deren Freundinnen gezwungen, ihren Tod zu rächen. Sie schließen sich zusammen, um den Täter ausfindig zu machen und zu töten. Nach dem Prinzip »Auge um Auge« beginnen die beiden Lager, sich gegenseitig zu dezimieren, wobei sie auf immer skurrilere und grausamere Methoden zurückgreifen. Diese Aufgabe jedoch ruft in allen Beteiligten auch einen ganz neuen Tatendrang und ungeahnte Fähigkeiten hervor. Untermalt mit den Melodien großer Hits aus der Showa-Ära, entsteht ein verheerender Bandenkrieg der etwas anderen Art. In seinem satirischen Roman Superhits der Showa-Ära, der sowohl verfilmt als auch fürs Theater adaptiert wurde, karikiert Ryu Murakami schonungslos die Kultur der Moderne sowie den Geschlechter- und Generationenkonflikt in der japanischen Gesellschaft. Dabei zeigt er auf unheimlich mitreißende und komische Weise, wie aus einer vermeintlich unbedeutenden Feindschaft eine Gewaltorgie apokalyptischen Ausmaßes werden kann.

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Seitenzahl: 254

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Autor und Klappentext

Titelseite

Buchanfang

Saison der Liebe

Im Fluss der Sterne

Chanchiki Okesa

Triff mich in Yūrakuchō

Hügel mit Hafenblick

Das rostige Messer

Wenn die Akazien nicht mehr regnen

Lieb mich bis ins Mark

Wann immer dir nach Träumen ist

Bis wir uns wiedersehen

Nachwort zur Erstausgabe

Nachwort zur zweiten Taschenbuchausgabe

Songverzeichnis

Glossar

Originaltitel: Shōwa-kayō dai-zenshū

© 1994 by Ryū Murakami

All rights reserved.

© 2024, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Teresa Profanter

Cover: Jürgen Schütz

Coverbild: © i-stock

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-99120-040-6

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag

ISBN: 978-3-99120-034-5

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.instagram.com/septimeverlag

Ryū Murakami

RYŪ MURAKAMI, Jahrgang 1952, ist neben seiner Tätigkeit als Filmemacher einer der interessantesten japanischen Schriftsteller der Gegenwart. Er ist Träger des Akutagawa-Preises, des wichtigsten Literaturpreises Japans. Ryū Murakami prägte mit seinem Roman Coin Locker Babys (Septime, 2015) die Popkultur Japans der vergangenen 30 Jahre mit und inspirierte u. a . Künstler und Schriftsteller wie seinen Namensvetter Haruki Murakami. Sein Roman Das Casting sowie der zweibändige Roman In Liebe, Dein Vaterland erschienen ebenfalls bei Septime. Er gilt als Enfant terrible der japanischen Literaturszene und zählt zu den kontroversesten Autoren unserer Zeit.

Klappentext:

Sechs junge Männer ohne Ambitionen, sechs alleinstehende Frauen, die alle Midori heißen, und eine gemeinsame Leidenschaft: Karaoke! Doch was, wenn eine Fehde zwischen den beiden Gruppen eskaliert und in einen regelrechten Krieg ausufert

Ishihara und seine Freunde sind zu nichts zu gebrauchen. Ihr Lebensinhalt sind öde Partys und das Spannen bei der Nachbarin. Als einer von ihnen eine Frau auf offener Straße brutal ermordet, sehen sich deren Freundinnen gezwungen, ihren Tod zu rächen. Sie schließen sich zusammen, um den Täter ausfindig zu machen und zu töten. Nach dem Prinzip »Auge um Auge« beginnen die beiden Lager, sich gegenseitig zu dezimieren, wobei sie auf immer skurrilere und grausamere Methoden zurückgreifen. Diese Aufgabe jedoch ruft in allen Beteiligten auch einen ganz neuen Tatendrang und ungeahnte Fähigkeiten hervor. Untermalt mit den Melodien großer Hits aus der Showa-Ära, entsteht ein verheerender Bandenkrieg der etwas anderen Art.

In seinem satirischen Roman Superhits der Showa-Ära, der sowohl verfilmt als auch fürs Theater adaptiert wurde, karikiert Ryu Murakami schonungslos die Kultur der Moderne sowie den Geschlechter- und Generationenkonflikt in der japanischen Gesellschaft. Dabei zeigt er auf unheimlich mitreißende und komische Weise, wie aus einer vermeintlich unbedeutenden Feindschaft eine Gewaltorgie apokalyptischen Ausmaßes werden kann.

RYŪ MURAKAMI

SUPERHITS

DER SHŌWA-ÄRA

Roman | Septime Verlag

Aus dem Japanischen von Jan Manus Leupert

Saison der Liebe

Teil eins

Ishihara hatte schon seit der allmonatlichen Party am Vorabend geahnt, dass so etwas passieren würde. Dabei war er weder klüger als seine Kameraden, noch besaß er ein besseres Urteilsvermögen oder die Fähigkeit, Dinge vorherzusagen, oder so etwas in der Art. Er und seine Freunde hatten zwar die gemeinsame Eigenart, krampfhaft in gellendes Gelächter auszubrechen, aber Ishihara war der Einzige, dem zwischen jedem albernen Lachen und dem nächsten irgendwelche Gedankenbilder erschienen.

Die Party hatte um sieben Uhr abends begonnen, und neben Ishihara waren mit Nobue, Yano, Sugiyama, Katō und Sugioka so gut wie alle Kameraden versammelt. »So gut wie«, weil es in dieser Gemeinschaft weder Regeln noch Grundsätze und überdies auch keinen Mitgliedsbeitrag gab.

Veranstaltungsort war Nobues Wohnung in Chōfu. Alle hatten Papiertüten oder Taschen mitgebracht, wobei einer seine Sachen ganz altmodisch in ein Tuch gewickelt hatte. Es war Yano, der dieses Bündel in der Hand trug, doch auch die Leica M6, mit der er so gern prahlte, hatte er um den Hals hängen.

»Letztens hab ich die Pornodarstellerin Rie Karinaka in Shinjuku getroffen, ihr wisst schon, da, wo sie regelmäßig die Fußgängerzone einrichten. Jedenfalls hab ich auf den Auslöser gedrückt, aber irgendwie hat das Ding kein Foto gemacht. Es ist total merkwürdig. Woran könnte das liegen? Ich hab echt viel darüber nachgedacht, aber ich versteh’s einfach nicht«, erzählte er in einem fort, während er die M6 um seinen Hals mit dem rechten Zeigefinger berührte, doch von den anderen kam keinerlei Reaktion.

Sie nannten es »Party«, aber die Atmosphäre unterschied sich von jener üblicher Partys. Nobues Wohnung befand sich in einem verputzten zweistöckigen Haus nördlich des Bahnhofs Chōfu, dahinter lag ein ziemlich großer Parkplatz. Normalerweise veranstalteten sie hier jeden zweiten Samstagabend im Monat ihre Partys, doch zunächst einmal war unklar, was der Zweck dieser Partys überhaupt sein sollte. Sie empfanden sich zwar als Kameraden, aber eigentlich hatten sie keine gemeinsamen Ziele oder Hobbys. Nobue und Ishihara waren zusammen auf die Oberschule gegangen. Yano war Ishihara zum ersten Mal in der Computer- und Informatikabteilung einer Buchhandlung begegnet. Sie unterhielten sich über diese und jene Aspekte eines Macintosh, bevor sie aus irgendeinem Grund in ein nahe gelegenes Café gingen, wo sie sich zwei Stunden lang gegenübersaßen und während dieser Zeit kaum miteinander sprachen. Aber da beide sonst nichts zu tun hatten, dachten sie während dieser zwei Stunden: Der ist so ähnlich wie ich, tauschten Telefonnummern aus und wurden so etwas wie Freunde. Sugiyama war ein Freund oder vielmehr ein Bekannter von Yano und hatte als Einziger bereits die dreißig überschritten. Er und Yano hatten sich auf einer Baustelle irgendwo in der Nähe von Chiba kennengelernt. Katō war ein Kollege von Sugiyama und Sugioka ein Bekannter von Nobue.

Den Vorschlag mit der Party hatte Nobue gemacht, doch als vor etwa einem Jahr alle zum ersten Mal in dessen Wohnung zusammengekommen waren, war überhaupt nichts Partymäßiges vorbereitet gewesen. Es hatte auch niemand etwas zu essen oder zu trinken mitgebracht. Das heißt nicht, dass kein Einziger von ihnen jemals auf einer Party gewesen war. Es war nur noch nie jemand der Veranstalter gewesen oder hatte darüber nachgedacht, wie genau man eine Party überhaupt organisiert, geschweige denn daran so aktiv teilnimmt, dass man selbst zu den Stimmungsmachern gehört, und solche Dinge. Bei der ersten Party waren sie zu fünft gewesen: Nobue, Ishihara, Yano, Sugiyama und Katō. Katō, der bei Schnick-Schnack-Schnuck verloren hatte, besorgte an einem Automaten in der Gegend One Cup Sake, den sie über ungefähr fünf Stunden hinweg in aller Stille tranken, und während sich einer plötzlich an etwas Lustiges erinnerte und laut loslachte und ein anderer mit Unterbrechungen aus seinem Leben erzählte, im vollen Bewusstsein, dass ihm niemand zuhörte, ging die Party irgendwie zu Ende.

Erst beim vierten Mal begannen die Partys, sich zu verändern. Es war eine Vollmondnacht im Winter. Sugiyama hatte einige Karaoke-Laserdiscs mitgebracht, aber niemand sang. Nur ein paar summten die Begleitmelodie. Inmitten des Gesummes jedoch ging in einem Zimmer der Wohnung gegenüber plötzlich das Licht an und eine junge Frau mit einer unheimlich tollen Figur begann sich umzuziehen. Alle tranken sie ihren One Cup Sake und beobachteten gemeinsam mit dem Vollmond den bescheidenen Striptease. Die junge Frau mit der unheimlich tollen Figur wurde zu ihrem ganz besonderen Star, und die Karaokeanlage, die Wundermaschine, die sie mit diesem Star bekannt gemacht hatte, fanden alle plötzlich noch grandioser als ihre geliebten Computer. Karaoke wurde zu einem unentbehrlichen Bestandteil ihrer Partys, doch obwohl alle die Liedtexte lernten und zaghaft begannen, sie auch zu singen, bekamen sie den Strip der jungen Frau mit der unheimlich tollen Figur kein zweites Mal zu sehen. Als er zum zweiten Mal ausblieb, machte Nobue einen Vorschlag, der auch umgesetzt wurde. Dass ein Vorschlag gemacht und von allen angehört, kommentiert, bewilligt und in die Tat umgesetzt wurde, war für diese Gruppe wahrlich ein noch nie da gewesenes Großereignis, in etwa vergleichbar mit dem historischen Faktum, als die Vorfahren des Menschen vor sieben oder acht Millionen Jahren begannen, aufrecht auf zwei Beinen zu gehen.

Mit jedem Mal entwickelten sich die Partys ein Stückchen weiter. Beim dritten Mal brachte Ishihara getrocknete Rochenflügel, Mochi mit Beifuß und Peasen mit, was alle dazu veranlasste, von da an jedes Mal etwas zu essen oder zu trinken mitzubringen. Als Sugioka beim neunten Mal keine sogenannten Trockensnacks wie Rochenflügel, Erdnüsse oder Schokolade, sondern abgepackten Makkaronisalat dabeihatte, wie er beim Fleischer oder im Supermarkt verkauft wurde, brach leichte Panik aus. Nachdem Nobue den Makkaronisalat gesehen hatte und krampfhaft in gellendes Gelächter ausgebrochen war, legte er an jeden Platz Teller und Gabeln. Da weder Nobue noch einem der anderen je der Gedanke gekommen wäre, für andere Leute vorsorglich Geschirr bereitzustellen, selbst wenn sie ihr Gehirnschmalz bis ins kleinste Detail durchsucht hätten, war dies eine nahezu rührende Handlung. Angesichts der Tatsache, dass der Makkaronisalat, den er bei einem Fleischer in der Nachbarschaft gekauft hatte, derart hohe Wellen schlug und eine so große Macht offenbarte, bekam Sugioka ganz feuchte Augen. Auf der zehnten Party rief Yano, der aus Kyūshū stammte, bei allen tiefe Ergriffenheit hervor, indem er sechs Portionen Nagasaki-Chāmen mitbrachte, ein Instantprodukt, das zubereitet wurde, indem man einfach heißes Wasser darüber goss. Nobue, Ishihara und die anderen waren längst der Ansicht, die Gründe für diese herzergreifenden Veränderungen ihrer Partys lägen allesamt im Karaoke, und so wurde das Ritual, das sie nach den Partys abhielten und das schließlich zu dem bedeutenden Vorfall führen sollte, von da an in größerem Umfang fortgeführt.

Am Abend des zweiten Samstags im Juni, als Luft, Kleidung und Gemüt kaum hätten dumpfiger sein können, verspürte Ishihara eine bis dahin nicht gekannte Unruhe. Eigentlich waren sie mit Gefühlen der Unruhe allesamt nicht vertraut. Dabei war es jedoch nicht so, dass die sechs Gruppenmitglieder auffällige Gemeinsamkeiten hatten. Bis auf zwei oder drei von ihnen stammten sie aus verschiedenen Gegenden, ihr Arbeitsplatz war nicht derselbe, sie waren in unterschiedlichen familiären Verhältnissen aufgewachsen und ihre finanzielle Situation unterschied sich ebenfalls. Was die Sache noch komplizierter machte, war, zum Beispiel, dass Nobue, den Gesichtszügen nach zu urteilen, durchaus etwas von einem naiven Bürschchen aus gutem Hause an sich hatte, in Wirklichkeit aber der dritte Sohn eines Tagelöhners auf einer Zitrusplantage in Shizuoka war. Yano hingegen schien, aus einem bestimmten Winkel betrachtet, jemand zu sein, der von einer einigermaßen anspruchsvollen Oberschule oder Universität kam, doch in Wahrheit hatte er tagein, tagaus minderwertiges Toluol geschnüffelt, was heutzutage längst niemand mehr macht, und während seine Freunde irgendwann alle mit Nervenkrankheiten flachlagen, hatte er, der trotz seiner kleinen Statur unheimlich zäh war, sich seine Gesundheit erhalten. Das mit dem Toluol aber flog auf und er wurde unverzüglich der Schule verwiesen – die er jedoch sowieso nur selten besucht hatte –, weshalb auf seinem Lebenslauf nur der Mittelschulabschluss zu finden war. Sugiyama wiederum machte immerzu ein so düsteres Gesicht, dass man auf den ersten Blick dachte, er würde jeden Moment Selbstmord begehen, aber er lachte so oft und so blöd, dass er wahrscheinlich selbst nicht wusste, warum. Trotz all der Unterschiede hatten sie die Gemeinsamkeit, dass sie es aufgegeben hatten, auf die eine oder andere Weise aktiv an der Gesellschaft teilzunehmen, was jedoch nicht ihre Schuld war, sondern die einer gewissen Zeitströmung, ihre Mütter mit eingeschlossen. Mit »Zeitströmung« ist selbstverständlich die bedrückende Wertvorstellung gemeint, dass sich die Welt in Zukunft kein bisschen verändern wird.

Wenn es noch eine Gemeinsamkeit gab, dann betraf das vielleicht – und das ist schwer zu verstehen – eine gewisse Stärke auf, sagen wir, zellulärer Ebene. Auch wenn in ihrer Gruppe nicht gerade tolle Witze gerissen oder geistreiche Wortspiele gemacht wurden und auch sonst nichts besonders Lustiges passierte, waren sie doch Menschen, die wirklich ungewöhnlich oft lachten.

Das heißt jedoch nicht, dass sie alle gleichzeitig loslachten. Wie die Verrückten brachen sie einer nach dem anderen urplötzlich und mit vollkommen unterschiedlichem Timing in gellendes Gelächter aus. Nicht einmal der jeweils Lachende selbst kannte den Grund für sein Lachen. Sie lachten krampfhaft, so als müssten sie niesen oder hätten Schluckauf. Von außen betrachtet, wirkte es, als würde ununterbrochen jemand in Lachen ausbrechen und, wenn dieses eine Lachen aufgehört hatte, jemand anderes loslachen. Es hörte sich also so an, als würde das Lachen nie enden, und dennoch machte es insgesamt überhaupt nicht den Eindruck, als würden sie sich amüsieren. Für sie, die sie in der zweiten Hälfte der Shōwa-Ära zur Welt gekommen waren, hatten Spaß und Lachen wahrscheinlich überhaupt nichts mehr miteinander zu tun.

Es war mitten auf einer solchen Party, als Ishihara jene Unruhe verspürte. Wie immer offenbarten alle, willkürlich und ohne dass jemand zuhörte, Dinge aus ihrem Leben, und während ständig jemand sein albernes Lachen im Raum ertönen ließ, vergingen die Stunden. Doch selbst als es allmählich Zeit für das Ritual wurde und alle ungeduldig begonnen hatten, Schnick-Schnack-Schnuck zu üben, wollte Ishiharas Unruhe nicht verschwinden. Aus den Lautsprechern ertönte leise Saison der Liebe von Pinky & Killers, der Titelsong für das Ritual an diesem Abend, und mit der festen Absicht, die Hauptrolle zu übernehmen, probte jeder für sich Pinkys Leadgesang.

Teil zwei

Ishihara erschrak angesichts der Unruhe, die sich in seinem Inneren verfestigt hatte. So etwas war ihm bis dahin noch nie passiert. Dabei war ihm völlig klar, dass er sie nicht einfach plötzlich bemerkt hatte. Dieses Gefühl der Unruhe hatte die Form eines Fötus. Wie ein Fötus, der in der Spätphase der Schwangerschaft gegen die Gebärmutterwand tritt, um seine Existenz zu beteuern, schickte dieses Unruhegefühl Ishihara andauernd unheimliche Signalwellen, so als wollte es sagen: »Denk nicht mal im Traum daran, zu vergessen, dass ich hier bin.« In regelmäßigen Abständen ließ das Signal sein Herz aus dem Takt geraten, seinen Puls schwächer werden und das Gedankenbild eines Fötus aufblitzen, der mit gekrümmtem Rücken seine Nabelschnur ausrollte wie einen Feuerwehrschlauch. Ishihara fühlte sich überhaupt nicht gut dabei, also lachte er immer wieder wie ein Idiot laut los, um sich von dem Signal abzulenken. Es war ein derart explosionsartiges und dummes Lachen, dass die anderen dachten, er hätte den Verstand verloren. »He, nur dass du Bescheid weißt: Wenn der Typ noch’n bisschen komischer wird, setz ich ihn irgendwo aus«, flüsterte Nobue Yano wiederholt zu.

Da Yano schon seit Langem eine ungewöhnliche Leidenschaft für das Aussetzen von Dingen hatte, zitterte er geradezu vor Aufregung, als ihm die Worte »setz ich ihn irgendwo aus« ins Ohr geflüstert wurden. Als er einmal im Rahmen eines Betriebsausflugs eine »Schlemmer-Tour«, also eine Essensreise, durch Hongkong gemacht hatte – was auch immer der Sinn einer solchen Reise sein mochte –, hatte er einem Fotoladenbesitzer mit Glasauge die Leica abgekauft, doch bereits zuvor hatte er von seinem Vater eine Olympus PEN bekommen. Erst kürzlich war ihm klar geworden, dass er Fotoapparate nicht so sehr deshalb mochte, weil man mit ihnen etwas ausschnitt und einrahmte, sondern eher weil man, wenn man sie auf etwas richtete und den Auslöser drückte, dieses Etwas »wegwarf«, also gewissermaßen aussetzte. Durch das Fotografieren hatte er zwar bereits eine Katharsis durchgemacht, aber eigentlich wollte er ein konkretes Objekt oder, wenn möglich, einen Menschen aussetzen. Yano fühlte sich am meisten zu so merkwürdigen Geschichten hingezogen, in denen ein Sohn seine Mutter nach den Regeln seiner Gemeinde auf einem Berg aussetzt; Geschichten, die als Roman oder Film mit Lob überhäuft werden, aber bei denen Migranten, Flüchtlinge oder Nachkommen von Sklaven mit Sicherheit Brechreiz bekämen. Etwas auszusetzen, das einem wirklich wichtig ist; es wie etwas aufzugeben, das man nicht mehr benötigt – so etwas war bei Yano noch kein einziges Mal vorgekommen. Wär ich eine Frau, würd ich wahrscheinlich einfach schwanger werden, ein Kind gebären und es aussetzen, hatte er sich immer gedacht. Ob es mir wohl ein ähnliches Gefühl gäbe, wenn ich anfinge, mich als Frau zu verkleiden und ein Cabbage Patch Kid aussetzte?, dachte er, aber ihn beschlich das Gefühl, dass er nicht wieder zur Normalität würde zurückkehren können, wäre er einmal so weit gegangen. »Schließlich bin ich immer noch ein Mann«, murmelte er und wartete weiter auf die Gelegenheit, etwas Essenzielles auszusetzen. Yano hatte, wie eigentlich alle anderen auch, noch nie etwas ausgesetzt, und natürlich war er auch noch nie ausgesetzt worden.

Nachdem er die anderen mehrmals mit seinem albernen Lachen verunsichert hatte, beruhigte sich Ishihara endlich ein wenig und gesellte sich zu ihnen, um ebenfalls Schnick-Schnack-Schnuck zu üben. Schnick-Schnack-Schnuck war, wenn man so will, der Prolog ihres neuen und wichtigen Rituals. Es versteht sich von selbst, dass Schnick-Schnack-Schnuck nichts ist, das sich üben lässt. Und dennoch waren sie alle überzeugt, sie würden üben, und zwar jeder für sich. Nobue etwa verkündete lauthals: »Yano zeigt als Erstes auf jeden Fall Stein! Sugiyama zeigt auf jeden Fall Papier!« Natürlich hörten sie nicht auf das, was er sagte, egal, wie laut er sprach. Yano starrte auf seine Hände, während sie Stein, Schere und Papier formten. Da er bezüglich der Form seiner Schere besonders anspruchsvoll war, korrigierte er mehrmals den Winkel von Zeige- und Mittelfinger, wobei er jedes Mal etwas vor sich hin murmelte. »Die Winkelfunktion bei einem gleichschenkligen Dreieck, dessen Schenkel ja die exakt gleiche Länge haben, gegenüber der Funktion eines normalen Höhenwinkels müsste in der euklidischen und der nichteuklidischen Geometrie jeweils eine völlig andere sein, also …« Sugioka spielte mit der linken und rechten Hand Schnick-Schnack-Schnuck. »Welche von beiden ist wohl mein wahres Ich, die rechte oder die linke Hand?«, fragte er irgendjemanden, aber niemand hörte ihm zu. Katō glaubte an die Theorie, die Schwingungen der Gefühle seiner Mitspieler würden seine Handlinien subtil verändern, und betrachtete die Linien seiner linken Hand. »Wenn die Lebenslinie auch nur ein bisschen zuckt, müsste der Gegner Papier zeigen …« Sugiyama rieb sich mit einem Eisklumpen über die rechte Handfläche. »Wenn man seine Eier kühlt, werden sie dadurch ja auch abgehärtet …« Ishihara hielt die rechte Hand über den Kopf, zeigte mal Stein, dann Schere und sagte jeweils »Stein«, dann »Schere« und so weiter. »Wenn man doch selbst weiß, was man als Nächstes zeigt, warum wissen es die anderen dann nicht?«

An diesem Abend tranken alle neben One Cup Sake auch Bier und Wein. Die Hauptrolle unter den Snacks spielte das Beef Jerky. Es gab auch noch den Makkaronisalat, der eine ganze Ära begründet hatte, sowie andere Trockensnacks, aber was die opulente Optik und den Duft betraf, konnte nichts davon mit dem Beef Jerky mithalten. Mitgebracht hatte es Katō, der bei einer kleinen Lebensmittelimportfirma arbeitete. Da die Lebensmittel seiner Firma für ihn Grundnahrungsmittel waren, hatte er sich nicht vorstellen können, dass sie der Party eine so opulente Stimmung verleihen würden. Er ernährte sich hauptsächlich von peruanischem Choclo, und wenn er Lust auf Fleisch hatte, weichte er das Beef Jerky der amerikanischen Firma Tengu in heißem Wasser ein und aß es dann als Sukiyaki oder Shabu-Shabu. Wenn ihm der Sinn nach Gemüse stand, aß er in dem unbeirrbaren Glauben, Aprikosen seien ein Gemüse, in Sirup eingelegte Aprikosen aus der Volksrepublik China. Das Beef Jerky, das er in der bescheidenen Hoffnung mitgebracht hatte, die anderen könnten sich vielleicht darüber freuen, versetzte alle in große Erregung, und als die vier Packungen Teriyaki Beef Jerky von Tengu lieblos auf den Tatamis von Nobues Wohnung platziert wurden, herrschte plötzlich Schweigen im Raum, was bei diesen Kameraden äußerst selten vorkam. Das bedeutete nicht, dass sie noch nie Beef Jerky gegessen hatten. Vielmehr war es ihre Energie, von der die sechs Männer selbst am allerwenigsten wussten, worauf sie sie verwenden sollten, die dem stoischen Nahrungsmittel, mit dem sie einen gewissen Pioniergeist verbanden, einen surrealen Glanz verlieh. So wie sie Stücke von dem Jerky abrissen und aßen, ohne dabei auch nur ein Wort zu verlieren, musste man sich fragen, was wohl passiert wäre, wenn es nicht Beef Jerky, sondern zum Beispiel Rosshaarkrabben oder Steinkrabben gewesen wären. Begleitet von den Weinen aus Yamanashi und Portugal, war das Beef Jerky nach kurzer Zeit aufgegessen. Ishiharas albernes Lachen ertönte, es wurde Schnick-Schnack-Schnuck geübt, doch gerade als es endlich mit dem Spiel losgehen sollte, machte Nobue eine Entdeckung und alle gerieten in Aufruhr.

In dem Zimmer gegenüber von Nobues Wohnung war nach langer Zeit wieder das Licht angegangen. Hinter dem Spitzenvorhang erschien die Silhouette jener Frau mit der unheimlich tollen Figur. Sugiyama schien vor lauter Anspannung kurz davor zu stehen, wie verrückt loszuschreien, und musste sich in die linke Hand beißen, um sich zu beherrschen. Die Frau mit der unheimlich tollen Figur kämmte zunächst ihr Haar und fuhr dann ein paarmal lässig mit der Hand durch die langen Haare, die ihr über die Stirn hingen. Allein dadurch entstand unter Nobue und den anderen so etwas wie ein Tumult. Ishihara murmelte sogar: »Wär’s okay, wenn ich mir einen runterhole?« Nicht nur er dachte ans Masturbieren. Sie alle taten das, aber die Frau mit der unheimlich tollen Figur, die hinter dem Vorhang begann, ihre Bluse aufzuknöpfen, strahlte eine so würdevolle Aura aus, dass es ob dieser Erhabenheit niemand fertigbrachte, zu onanieren. Schulter- und Rückenlinie kamen zum Vorschein, und als die Frau ihren Rock herunterzog, standen Yano, Sugioka und Katō bereits die Tränen in den Augen. »So muss man sich fühlen, wenn man ein Ufo sieht oder die Erde von einem Spaceshuttle aus betrachtet«, sagte Nobue, und alle nickten. Die Frau streifte die Träger ihres Unterkleids von den Schultern, und noch während sie den BH auszog, verschwand ihre Silhouette aus dem Blickfeld.

»Sie geht duschen!«, schrie Ishihara, und als würden sie in einer Schulaufführung mitspielen, wiederholten alle: »Jawohl, sie geht nun duschen!«

Die Frau geht nun duschen.

(Alle) Geht nun duschen.

Sie geht nun heiß duschen.

(Alle) Geht nun heiß duschen.

Die Dusche ist ein Wunder.

(Alle) Ein Wunder.

Dass aus dem Ding mit den klitzekleinen Löchern und der seltsamen Form …

(Alle) Seltsamen Form …

… heißes Wasser herauskommt, man stelle sich vor …

(Alle) Man stelle sich vor.

… das wird es sein, was man ein Wunder nennt.

(Alle) Jawohl, es ist ein Wunder.

Indem sie auf diese Weise, mit dem Stilmittel einer Apostrophe, ihre Stimmen erhoben, milderten sie die Erregung ab, die tief aus ihrem Inneren heraussprudelte. Während sie den in ihren Gläsern verbliebenen Wein und das restliche Bier tranken, schwelgten sie im Nachklang dieser Glückseligkeit.

Dann, endlich, begann das Schnick-Schnack-Schnuck.

Da der Titelsong des Abends Saison der Liebe war, mussten alle »Pick, Pack, Pinky« sagen.

In der ersten Runde verlor Nobue mit Stein. Verärgert wälzte er sich auf dem Boden, aber ihr Regelwerk besagte nun einmal, dass er fahren musste. Also nahm er von Sugiyama den Autoschlüssel entgegen und ging, um den Motor anzulassen.

Den Sieg errang Ishihara. In dem Moment, als er mit einem Freudenschrei aufsprang, fragte er sich plötzlich, ob es angebracht war, so glücklich zu sein, und schon lebte die Unruhe in ihm wieder auf. Schlussendlich sollte Ishiharas Unruhe sich als richtig erweisen.

Teil drei

Da in dieser Nacht Saison der Liebe auf dem Programm stand, mussten sie per Schnick-Schnack-Schnuck außer dem ersten nur den letzten und den fünften Platz bestimmen – den Fahrer und den Mann für die Technik. Wäre es dagegen ein Song von Hiroshi Uchiyamada and Cool Five oder Danny Iida and Paradise King oder Three Funkies oder Three Graces gewesen, hätte dies natürlich eine andere Rangordnung erfordert.

Vor lauter Freude über den ersten Platz stieß Ishihara einen seltsamen Schrei aus und tanzte seinen Tanz, den alle »den Ishihara« nannten. Wie immer dachte er, alles würde schon irgendwie werden, wenn er erst einmal seinen Körper bewegen würde, und außerdem war da ja noch jenes unerklärliche Gefühl der Unruhe, das es zu verdrängen galt. Dieser Tanz – und das wusste er selbst natürlich nicht – ähnelte stark dem Liebeswerben eines Nagetiers, das in der Kalahari lebt und aussieht wie eine Kreuzung aus Eichhörnchen und Maus. Er ging leicht in die Knie, streckte ein wenig das Gesäß heraus, hielt die Hände vor der Brust in die Luft, und während er mit dem Körper auf und ab wippte, jaulte er.

Nachdem alle ihre Sachen zusammengepackt hatten und in den HiAce gestiegen waren, begann Yano, der in der zweiten Runde verloren hatte, mit der Inspektion der Ausrüstung. Als er grünes Licht gab, fuhr der HiAce mit Nobue hinterm Steuer los. Angespannt wegen des unmittelbar bevorstehenden Rituals, führten alle leise Selbstgespräche. Es ging hauptsächlich um den flüchtigen Striptease der Frau mit der unheimlich tollen Figur, den sie kurz zuvor gesehen hatten. Sugiyama zum Beispiel kniff die Augen hinter den Brillengläsern zusammen, sodass sie nahezu eine einzige dünne Linie ergaben, was im dunklen Innenraum des HiAce allerdings niemand erkennen konnte, und murmelte grinsend: »Das war so krass, so krass, so krass, einfach krass.« Katō rieb sich mit der linken Handfläche über eine schon etwas schüttere Stelle seines Hinterkopfs. »Da bist du echt platt, aber die eigentliche Herausforderung kommt erst noch«, murmelte er vor sich hin, ohne selbst richtig zu wissen, was er da redete.

Der HiAce überquerte den Tama, fuhr am Yomiuri-Land vorbei und dann am Autobahnkreuz Kawasaki auf die Tōmei-Autobahn, von der Odawara-Atsugi-Straße ab in Richtung Ninomiya, um auf die Seishō-Tangente zu wechseln, und hielt schließlich an jener Stelle eines unbewohnten Küstenabschnitts, die Yano und Katō irgendwann zufällig entdeckt hatten. Da er auf dem letzten Platz gelandet war, ging Nobue los, um eine geeignete Location zu finden. Zunächst blieb er vorschriftsmäßig zwanzig Minuten lang am Strand sitzen. Er musste sich vergewissern, ob auch wirklich niemand vorbeikam. Auf einem freien Grundstück, das Yano in der Bucht von Tokio irgendwann zwischen einigen Lagerhäusern entdeckt hatte und das gelegentlich zum Schauplatz irgendwelcher geheimer Geschäfte wurde, waren sie einmal von zwei jungen Männern auf Motorrädern ertappt worden, die ihnen daraufhin die Scheiben eingeschlagen hatten. Nobue, Ishihara und die anderen konnten so etwas gar nicht leiden. Es war jedoch nicht so, dass sie Gewalt verabscheuten. Sugiyama praktizierte schon seit der Mittelschule Karate und Kickboxen und hatte die Angewohnheit, sich sogar gegen Gegner zur Wehr zu setzen, die offensichtlich stärker waren als er. Ganze vier Schädelbrüche hatte er sich dadurch bereits zugezogen. Yano war mit achtzehn irrtümlicherweise einer rechtsextremen Gruppierung beigetreten und hatte im Rahmen der Ausbildung tief in den Bergen Naganos mit der Armbrust auf Waldmäuse geschossen. Auch Nobue und Ishihara hatten nach vorangegangener Streiterei im Vollrausch schon einige Male jemanden k. o. geschlagen, wenn auch stets im Rahmen eines Überraschungsangriffs von hinten. Sugioka hatte eine Sammlung von über einhundert verschiedenen Schneidewerkzeugen, die vom Teppichmesser bis zum japanischen Schwert reichte, und immer ein bis zwei Messer dabei, mit denen er häufig in Wände, Baumstämme oder mit Sägespänen gefüllte Ledersäcke hineinstach. Wenn er besonders schlecht gelaunt war, schlitzte er manchmal auch die glänzende Haut von gebrauchten Sexpuppen auf. Katō war ein besonders extremer Fall, denn er litt andauernd unter der Wahnvorstellung, er würde irgendwann ein Baby oder ein Kleinkind, jedenfalls irgendein furchtbar schwaches Wesen, umbringen und sich dabei obendrein noch viel Zeit lassen. Er bildete sich sogar ein, die einzige Möglichkeit, sich von einer solchen Wahnvorstellung zu befreien, bestünde darin, diese wirklich in die Tat umzusetzen. Es war nicht die Gewalt, die ihnen zuwider war, sondern der Kontakt mit anderen Menschen. Nichts hassten und fürchteten sie mehr, als von Fremden angesprochen zu werden oder sich vor Leuten erklären zu müssen, die sie überhaupt nicht kannten.

»Sugioka hatte recht. Hierher scheint sich echt niemand zu verirren. Ein Hund mit ’nem Sardinenkopf im Maul ist vorbeigekommen, aber ich hab mit ’nem Stein nach seinen Eiern geworfen und er ist abgehauen. Hab aber nicht getroffen«, sagte Nobue.

Die anderen jubelten freudlos, nahmen ihre Sachen und stiegen aus. Da sie an diesem Abend die Zuarbeiter waren, mussten Nobue und Yano die schwere Ausrüstung tragen. Keuchend schleppten die beiden die selbstaufwickelnden Verlängerungskabel, die Hi8 3CCD-Camcorder samt Stativen, die 500-Watt-Spotlights und deren Standfüße, den riesigen Radiorekorder und die Bose-Lautsprecher sowie einen Satz Sennheiser-Mikrofone die schmale Steintreppe zum Strand hinunter. Ishihara und die anderen schlüpften hinter dem HiAce in ihre Kostüme: Samthose mit weitem Schlag und Lackschuhe, Smoking-Jackett mit Samtrevers, Rüschenhemd aus Seide und Kummerbund, Fliege, dazu Zylinder und falscher Bart, Spazierstock, weiße Handschuhe; und während er abgehackt kicherte, trug Ishihara als Einziger Lippenstift auf, klebte sich falsche Wimpern an und stülpte sich eine Perücke mit Pagenschnitt über. Gekleidet wie einst die Bandmitglieder von Pinky & Killers, gingen sie zum Strand hinunter. Ishihara trat allein nach vorn, vor ihm das offene Meer, auf dem ganz klein die Lichter von Fischerbooten zu sehen waren. Mit gespreiztem kleinem Finger ergriff er das Mikro und sagte: »Alles bereit«, woraufhin Yano von der Seite ein Spotlight auf ihn richtete und das Intro von Saison der Liebe, abgespielt auf dem riesigen Radiorekorder, aus dem Bose-Lautsprechersystem 501 in den Nachthimmel und aufs Meer schallte. Als Ishiharas unerträgliches »Kann ihn einfach nicht vergessen« in Richtung der Wellen tönte, versteckten sich am ganzen Strand die Krabben in ihren Löchern. Natürlich gelang es sogar Ishihara, zumindest während er sang, seine innere Unruhe zu vergessen.

Am Tag nach dem Ritual wurde die Unruhe zur Realität.

Der Auslöser für alles war der verkaterte Sugioka. Nachdem er sich mehr als vierzig Mal Ishiharas Version von Saison der Liebe hatte anhören müssen, war er schließlich in seine Wohnung zurückgekehrt, die ebenfalls im Stadtgebiet von Chōfu, unweit von Nobues Wohnung, lag. Da er noch immer völlig erregt war und einfach nicht schlafen konnte, zerkaute er eine der ovalen Schlaftabletten, die er von einem blassgesichtigen Mädchen gekauft hatte, als er einmal durch Shibuya gestreift war, spülte sie mit Bier hinunter und schlief endlich ein, doch obwohl sein Körper schwer wie ein Stein war, wachte er schon um zehn Uhr morgens wieder auf. Wie wohl jeder andere in einer solchen Situation war Sugioka darüber furchtbar irritiert. Abgesehen von den ungeduldig zuckenden Nerven, die seine untere Körperhälfte – kurzum: sein Glied – direkt mit irgendeiner Stelle in seinem Gehirn verbanden, war er förmlich scheintot. So etwas hatte er früher schon einmal erlebt, aber an diesem Tag war sein Zustand noch um einiges schlimmer. Er überlegte lange, ob er sich einen Pornofilm ansehen und masturbieren sollte, bis sich die Spitze seines Penis abnutzen würde, oder ob er zu dem Pink Salon am Südeingang des Bahnhofs Chōfu gehen sollte, der schon vormittags geöffnet hatte, oder ob er sich mit der Sexpuppe namens Eriko behelfen sollte, in die er noch kein Messer gesteckt hatte und in deren Broschüre etwas von einem »ultraengen Anal-Feeling« stand, doch irgendwann wurde das Nachdenken über diese Dinge selbst zur Qual, und nachdem er sein orthopädisches Kopfkissen mit der zwanzig Zentimeter langen Klinge eines schwedischen Gebirgsjägermessers in Stücke zerschnitten hatte, trat er, geblendet und mit schwindelndem Schädel, auf die Straßen von Chōfu hinaus. Das Messer, das zwischen Jeans und Gürtel steckte, verdeckte er mit dem Plastikregenmantel. Er ging gerade eine schmale Gasse zwischen der alten Kōshū-Straße und Itō Yōkadō entlang, als ihm eine ältere Tante mit Einkaufstasche ins Auge fiel. Sie trug ein altmodisches weißes Kleid und hatte eine mit Muscheln, Eiertofu, Sellerie, mit Curry gefüllten Brötchen und allerlei anderen Dingen vollgestopfte Plastiktasche dabei. Der Schweiß auf ihrer Stirn und unter ihren Achseln verbreitete einen merkwürdigen Geruch, und beim Gehen streckte sie den Hintern heraus. Für Sugiokas blutunterlaufene Augen wirkte es so, als stünde »Tu es« auf ihrem Gesäß geschrieben. Tatsächlich ähnelten die Formen der Falten ihres Kleides diesen Schriftzeichen. Was? Du willst also, dass ich es tue?