Süperopa - Adnan Maral - E-Book

Süperopa E-Book

Adnan Maral

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Beschreibung

Packt den Ayran weg! Süperopa ist in der Stadt ...

Rentner Kenan hat's wahrlich nicht leicht. Mit Sohn Tan liegt er im Dauerclinch, die deutsche Schwiegertochter versteht kein türkisches Wort und Enkel Tobias hat nur seine verrückten Cosplay-Videos im Kopf. Doch als Kenan sich unbemerkt mit genetisch veränderten Viren infiziert, wendet sich das Blatt. Denn plötzlich entwickelt er Superkräfte. Jedes Mal wenn er Ayran trinkt, kann er durch die Luft fliegen, sich an Objekte anhaften und spüren, wenn seine Familie in Not ist. Im Superheldenkostüm wird Kenan zum schrulligen Süperopa, der den Ganoven der Stadt den Kampf ansagt ...

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Seitenzahl: 389

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Buch

»Allah, womit habe ich diesen deutschen Sohn verdient?«, fragt sich der türkischstämmige Rentner Kenan. Der Witwer ist mit seinem perfekt integrierten Polizistensohn Tan, der sogar den deutschen Nachnamen seiner Frau Ina angenommen hat, im Dauerclinch. Ina selbst forscht bei Kenans ehemaligem Arbeitgeber Poser Pharma an Virenstämmen. Dann geschieht das Unglaubliche: Kenan infiziert sich unbemerkt mit genetisch veränderten Viren, doch stirbt er nicht an den Folgen, sondern entwickelt auf einmal Superkräfte. Endlich sind seine Sinne übernatürlich geschärft – alt und gebrechlich war gestern! Mithilfe von Enkel und Comicfan Tobias und getarnt im Superheldenkostüm mit Maske wird Kenan zum SÜPEROPA! Doch als seine Familie in Gefahr gerät, muss Kenan mehr als seine neugewonnene übermenschliche Kraft aufbieten …

Autor

Adnan Maral, geboren 1968 in Çıldır in der Türkei, lebt seit 40 Jahren in Deutschland und besitzt bis heute keinen deutschen Pass – im Gegensatz zu seinen drei in Deutschland geborenen Kindern. Maral ist Schauspieler und Kulturbotschafter im deutsch-türkischen Dialog. In dieser Funktion begleitete er Außenminister Frank-Walter Steinmeier regelmäßig nach Istanbul und ist in zahlreichen Rollen auf dem Fernsehbildschirm und der Kinoleinwand zu sehen. Zuletzt spielte er in »Türkisch für Anfänger«, »Kückückskind« und »Einmal Hans mit scharfer Soße« mit. Er lebt mit seiner Familie bei München.

Von Adnan Maral bereits erschienen

Adnan für Anfänger · Ach, Deutschland! · Super unkühl, Alter!

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Adnan Maral

Süperopa

Roman

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Copyright © 2019 by Adnan Maral

© 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Margit von Cossart

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

BL · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21180-6V001

www.blanvalet.de

Prolog

Ihr dröhnten die Ohren vom langen Flug dicht über dem Blätterdach der fast hundert Meter in den Himmel ragenden Bäume. Stundenlang war der Helikopter dem größten Arm des Flusses gefolgt, der sich wie eine Schnur durch die Landschaft schlängelte. Es war der in der Abendsonne smaragdgrün schimmernde Karawari River, der den Yali ermöglichte, fernab der Zivilisation ein friedliches Leben zu führen. Eine atemberaubende Kulisse – wäre da nicht die so überaus wichtige Mission, auf der sie sich befand.

Die schwüle Atmosphäre des Dschungels kroch ihr unter das Leinenhemd. Obwohl die Dämmerung schon eingesetzt hatte, legte sich die Hitze wie eine Decke über sie und erschwerte ihr das Atmen. Sie wusste nicht, ob sie schwitzte oder ob es die feuchte Luft um sie herum war, die für den klebrigen Film auf ihrer Haut sorgte. Es roch nach nasser Erde, Fäulnis und noch etwas anderem, das sie nicht einzuordnen vermochte. Vielleicht war es der Urwald, der sie warnte, nicht noch tiefer in ihn einzudringen.

Doch sie hatte keine Wahl. Sie musste es zu Ende bringen.

Es kam ihr vor, als würde der Boden unter ihren Füßen vibrieren. Mit jedem Schritt, den sie sich vom Hubschrauber entfernte, spürte sie das Leben zurück in ihren Körper kriechen. Ein schmerzhaftes Zittern breitete sich von ihren Oberschenkeln bis zu den Knöcheln aus und ließ sie erschaudern. Hinter sich spürte sie die Anwesenheit ihrer Kollegen, die gemeinsam mit ihr die beschwerliche Reise an diesen entlegenen Ort auf sich genommen hatten.

Noch immer das rhythmische Flappen der Rotorblätter im Ohr, nahm sie wahr, dass sich die Geräuschkulisse des Dschungels langsam an sie heranschob. Das Heulen und Jaulen unbekannter Tiere vermischte sich mit dem Wehklagen des Stammes, der sich überhaupt nicht begeistert von dem unerwarteten Besuch zeigte. Die Eindringlinge waren wortwörtlich aus heiterem Himmel über die Yali hereingebrochen, sehr zum Unmut der Bewohner dieses verlassenen Fleckchens Erde.

Aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Ihre Mission war dringlicher als die Gefühle der Stammesangehörigen. Und Christopher Kolumbus hatte sich schließlich auch nicht um die Befindlichkeiten der Ureinwohner gekümmert, als er den Kontinent erobert hatte.

Entschlossen kämpfte sie sich durch die Mauer aus Leibern, schob sich vorbei an den Menschen, die auf sie eindrängten, sie berührten. Ihre weiße Haut, ihr helles Haar. Auf die Yali musste sie wirken wie ein Wesen von einem anderen Stern. Das ganze Dorf schien sich versammelt zu haben, um die Fremden zu begutachten. Männer, Frauen, Kinder. Viele davon nackt und mit bemalten Gesichtern.

Sie überquerte den großen Versammlungsplatz, der wie eine Geschwulst das allumfassende Grün aufbrach. In der Feuerstelle zerfielen die letzten glimmenden Kohlestücke zu Asche.

Ohne innezuhalten, hielt sie auf das beigefarbene Forschungszelt zu, das nahe der gut ein Dutzend Hütten, zusammengezimmert aus dicken Bambusrohren und ausladenden Palmwedeln, aufgeschlagen worden war. Es sah aus wie ein ungebetener Gast. Eine überaus passende Metapher, wie sie fand. Und dann bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Von den Forschern war niemand da, der sie in Empfang nahm.

Unschlüssig blieb sie vor dem Zelt stehen. Schließlich riss sie den Reißverschluss auf und kämpfte sich durch das Moskitonetz dahinter. Ein Schwall stickig heißer Luft schlug ihr entgegen, setzte sich tief in ihren Lungen fest und sorgte dafür, dass sie kaum atmen konnte.

Es dauerte, bis sie sich an das diffuse Halbdunkel gewöhnt hatte. An einer der Zeltstangen baumelte eine Öllampe, die das Innere in ein gelbes Licht tauchte und die ohnehin schon knappe Luft mit ihrem Rußgestank verpestete. Der hielt die Stechmücken leider nicht davon ab, um sie herumzuschwirren und sich überall dort auf ihrer Haut niederzulassen, wo der klamme Stoff ihren Körper nicht bedeckte. Doch sie spürte die Stiche nicht. Sie spürte nichts als Euphorie und Dankbarkeit.

Sie drehte sich um und zog den Reißverschluss wieder zu, ehe einer ihrer Mitarbeiter hinter ihr eintreten konnte. Das war ihr Moment. Sie wollte ihn allein genießen, ihn mit niemandem teilen.

Wieder waren ihre Knie weich wie Pudding, doch dieses Mal war der Grund die innere Unruhe, die sie ergriff, als sie das Feldbett erblickte, dessen Umriss sich durch ein mehrlagiges Moskitonetz abzeichnete. Daneben stand ein Beistelltisch, und darauf konnte sie schemenhaft die Konturen des Gegenstands ausmachen, wegen dem sie hier war.

Lage für Lage schob sie sich durch das feine Gewebe des Netzes, das sie an die hauchdünne Haut einer Zwiebel erinnerte. Dann war sie im Inneren angekommen. Sie streckte die Hand nach dem Glasfläschchen auf dem Beistelltisch aus und schloss sie zur Faust. Das Glas fühlte sich kühl an. Eine unendliche Genugtuung ergriff von ihr Besitz. Nach all den Strapazen, die hinter ihr lagen, hatte sie es geschafft. Endlich!

Sie kostete den Moment einige Sekunden mit geschlossenen Augen aus. Dann ermahnte sie sich: Sei keine Närrin! Es ist noch nicht vorbei.

Langsam öffnete sie die Augen wieder und betrachtete den Gegenstand in ihrer Hand näher. Der Inhalt der Phiole leuchtete ihr grün entgegen. Verlockend und verführerisch. Wunderschön. Sie drehte sie, betrachtete sie von allen Seiten. Sie war real, tatsächlich. Alles lief perfekt.

Zu perfekt.

Jemand ganz in ihrer Nähe hustete leise und rasselnd. »Sie dürfen es nicht mitnehmen«, drang eine brüchige Stimme an ihr Ohr. »Das Virus darf den Dschungel nicht verlassen!«

Sie wandte den Kopf zur Seite und musterte die menschliche Gestalt auf dem Feldbett. Umschwirrt von hungrigen Moskitos, denen sie durch ihr Eintreten Zugang verschafft hatte, trat sie einen Schritt darauf zu und schreckte im nächsten Augenblick zurück. Die Stimme, die zu ihr gesprochen hatte, war die eines alten Mannes gewesen. Und auch die eingefallenen Züge, das zerbrechliche Äußere, hatten sie im ersten Augenblick denken lassen, sie hätte es mit einem Greis zu tun.

Nun aber, bei näherer Betrachtung, erkannte sie, dass der Mann, der zu ihr gesprochen hatte, nicht viel älter sein konnte als sie selbst. Seine Züge waren gezeichnet von Krankheit und Leid. Er war kein Eingeborener, sondern ein Europäer, dem Akzent nach zu urteilen Franzose. Die Kleidung, die der Mann trug, war schmutzig und durchnässt. Und das war nicht das Einzige, was nicht stimmte.

Schnell holte sie die Öllampe, die an der Zeltstange hing. Schwarze Rauchfäden schlängelten sich der Zeltdecke entgegen. Und dann erkannte sie, was sie irritierte. Der Mann schwitzte stark, war durchtränkt von seinem eigenen Schweiß. Und als sie genauer hinsah, erkannte sie einen merkwürdigen Schimmer, der von ihm ausging. Die Feuchtigkeit, die seine Haut benetzte, war von einem intensiven Grün, ähnlich dem der Flüssigkeit in der Phiole.

»Sie kommen zu spät.« Der Mann hustete erneut. Es klang schauderhaft.

Sie blieb unschlüssig vor der Pritsche stehen und betrachtete nachdenklich die zappelnden Schatten, die der Lichtschein der Lampe gegen die Zeltwände warf.

»Wo sind die anderen?«, fragte sie.

»Abgereist. Sie haben mich zurückgelassen, da sie nichts mehr für mich tun konnten.«

Sie schaute sich um. Durch das Moskitonetz hindurch sah sie, dass das Zelt vollgestopft war mit kostspieligen Forschungsgegenständen. Über einem Paravent hingen Schutzanzüge in leuchtendem Gelb, die sie wegen ihrer großen Glashelme an Tiefseetaucher denken ließen. An der hinteren Seite stand ein schmaler Tisch, auf dem sich drei der besten Mikroskope aneinanderreihten, die aktuell auf dem Markt zu haben waren Und daneben … War das nicht genau das Plasmapheresegerät, das sie unbedingt für ihr Labor hatte haben wollen? Warum ließ man diese Kostbarkeiten hier? Sie waren doch wahnsinnig wertvoll. Wenn sie ehrlich war, wirkte all dies auf sie nicht wie eine koordinierte Abreise, sondern wie eine … Flucht.

»Warum sind sie gegangen?«, wollte sie wissen.

»Aus Angst.« Das Flüstern vermochte den Worten nicht den Schrecken zu nehmen. Im Gegenteil. »Es ist unberechenbar.« Mit blutunterlaufenen Augen starrte der Mann auf die Glasampulle in ihrer Hand. »Wir haben uns getäuscht, wir können es nicht kontrollieren. Es ist zu gefährlich.«

In ihrem Kopf drehte es sich, als würden Hunderte von Gedanken gleichzeitig nach vorne drängen.

»Aber der Bericht … der Mann … Seine Heilung!«

Der Brustkorb des Kranken hob und senkte sich immer hektischer. »Wir haben uns geirrt – oder etwas übersehen. Das Virus verspricht keine Heilung. Es tötet, es …«

Der Rest des Satzes zerbröselte unter einer kraftlosen Hustenattacke. Der schmächtige Körper bäumte sich kurz auf und fiel beim nächsten Atemzug des Mannes wieder zurück auf die Pritsche.

Sie rief sich noch einmal Auszüge des Forschungsberichts in Erinnerung, den man ihr hatte zukommen lassen. Schwarz-Weiß-Fotografien zogen wie in einem Diaprojektor an ihrem geistigen Auge vorbei. Sie sah das Bild eines Eingeborenen vor sich, der auf Krücken in einer Hütte stand. Von einem Mann war in dem Bericht die Rede gewesen, den eine Lähmung ans Bett fesselte. Doch nach der Behandlung mit dem Wunderserum hatte er wieder gehen können. Zunächst mit fremder Hilfe, schließlich eigenständig. Als hätte es die Lähmung nie gegeben. Der Bericht war wissenschaftlich fundiert, von Mitgliedern eben jenes Forscherteams verfasst, das Kontakt zu ihr aufgenommen hatte und das nun allem Anschein nach überstürzt abgereist war. Und es hatte einen seiner Mitarbeiter zum Sterben zurückgelassen.

Sie empfand Mitgefühl für den Mann, der um die letzten Atemzüge seines Lebens rang. Doch sein Anblick drang nicht bis in das Zentrum ihres Hirns vor, in dem die Logik beheimatet war. Sie wollte seine Worte nicht verstehen, schüttelte ungläubig den Kopf.

»Das Serum hat den Mann geheilt«, bemerkte sie beinahe trotzig.

»Er ist tot.« Der Mann auf der Pritsche schloss kurz die Augen, offenbar ergriffen von der Gegenwärtigkeit des Schicksals, das auch ihm bevorstand. »Es ist nicht zu kontrollieren.« Seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen.

»Wir brauchen es!«, erwiderte sie resolut und umschloss das Fläschchen fester. »Ich brauche es.«

Sie hielt dem flackernden Blick des Mannes stand. In seinen Augen stand etwas, das sie nicht erkannte … War es Mitleid? Ihr stockte der Atem. Er hatte Mitleid mit ihr? Er bedauerte sie? Aber …

»Ist alles okay da drinnen?«

Durch die schweren Zeltplanen drang die dumpfe Stimme eines ihrer Mitarbeiter. Er klang nervös. Auch sie wurde von einer undefinierbaren Unruhe gepackt. Sie mussten weg. Schnell. Die Entscheidung war gefallen.

Im nächsten Moment wurde der Reißverschluss aufgezogen und ein Teil der Plane zur Seite geschoben. Helligkeit zerschnitt das schummrige Licht im Zeltinneren. Zwei Männer kämpften sich durch die Moskitonetze am Eingangsbereich. Einer trug eine weiße Box.

»Alles mitnehmen!«, befahl sie mit fester Stimme.

»Nein!«, rief der Mann auf dem Feldbett. Er hatte seinen Arm erhoben, dünn und zerbrechlich wie das Geäst eines toten Baumes.

Sie sah ihn an, ohne etwas zu empfinden.

Dann plötzlich schnellte sein Arm vor, mit einer Energie, die sie ihm nicht zugetraut hätte. Sie erschrak, als seine dünnen Finger ihr Handgelenk umklammerten, so fest, dass ein scharfer Schmerz sie durchzuckte. Doch die Intensität ließ augenblicklich nach, als hätte der Mann seine letzte Kraft in diese eine Bewegung gesteckt. Stöhnend ließ er sich wieder nach hinten fallen, ohne jedoch ihr Handgelenk loszulassen. Sie wandte sich mit einem entschiedenen Ruck von ihm ab und entzog ihm den Arm.

»Nicht …«, stöhnte er.

Sie warf ihm einen letzten Blick zu. »Es tut mir leid.«

Dann wandte sie sich von ihm ab, arbeitete sich durch die Moskitonetze und nahm die Kühlbox in Empfang. Sie ließ die Verschlüsse aufklappen, woraufhin ein kalter weißer Nebel aufstieg, der sich jedoch rasch in der schwülen Luft des Zeltinneren verlor. Behutsam legte sie die Phiole mit der grünlich schimmernden Flüssigkeit auf das Bett aus Trockeneis und schloss den Deckel der Box. Sie drückte sie an sich, strich beinahe liebevoll über den aufgeprägten Schriftzug. Mit geschlossenen Augen fuhr sie jeden einzelnen Buchstaben ab: POSER PHARMA.

Sosehr ihr das Los dieser einzelnen Person auch ans Herz ging … Was zählte das in Anbetracht ihres eigenen Schicksals? Vielleicht sogar dem der ganzen Welt …

Kapitel 1

»Und das ist Ort, wo ich arbeiten.«

Kenan spürte, wie sich sein Brustkorb vor Stolz hob. Sie fuhren mit seinem Fahrrad auf das Firmengelände, sein sechsjähriger Sohn Tan saß auf der Stange vor ihm. Gerade passierten sie das Eingangstor, über das sich in schweren messingbeschlagenen Lettern meterbreit das Firmenlogo spannte: POSER PHARMA.

»Deutsche können sein froh, dass deine baba hierhergekommen.«

Er arbeitete nun schon seit sechs Jahren für diesen Pharmakonzern. Nachdem er 1973 zum ersten Mal deutschen Boden betreten hatte, begleitet von seiner schwangeren Frau Gül, hatte es nur wenige Tage gedauert, bis er die Anstellung als Industriemechaniker bei Poser Pharma bekommen hatte. Doch noch immer war es ein erhabener Moment, wenn er mit seinem klapprigen Herrenrad aus der Nachkriegszeit durch das Tor fuhr.

Tan drehte sich zu ihm um und sah kurz zu ihm auf. »Du hast da was im Bart!« Er kicherte.

Kenan nahm kurz eine Hand vom Fahrradlenker und fuhr sich über den dichten Schnäuzer. Eine weiße Flüssigkeit blieb an seinem Zeigefinger haften. Er leckte dran und schmatzte. »Ayran!«, erklärte er seinem Sohn. »Beste von Welt.«

»Schmier’s bloß nicht an meinem neuen Trikot ab.«

Der Junge rutschte auf der Stange ein Stück nach vorn, woraufhin Kenan das Gleichgewicht verlor. Sofort umfasste er die Lenkstange wieder mit beiden Händen und schaffte es mit einem umständlichen Schlenker, in den Tritt zu gelangen.

Sein Blick fiel auf den Rücken des Jungen. Eine riesige schwarze Neun sprang ihm ins Auge. Die Nummer von Dieter Müller, dem Helden seines Sohnes. Ein deutscher Fußballer. Ausgerechnet! Dass er Tan trotzdem dieses sündhaft teure Trikot – fast dreißig Mark hatte es bei Quelle gekostet − gekauft hatte, war ein purer Beweis seiner unendlichen Vaterliebe.

»Du fährst fast so schlecht Fahrrad, wie du Deutsch sprichst!« Tan lachte und umfasste mit seinen kleinen Händen den Lenker.

Kenan fiel in das Lachen ein. Obwohl er es eigentlich gar nicht lustig fand, dass sein Sohn tatsächlich besser als er die Sprache dieses merkwürdigen Landes beherrschte, in dem er und seine Familie seit einigen Jahren wohnten. Und das war ja noch nicht das Schlimmste. Tan weigerte sich mittlerweile sogar, seinem Vater auf Türkisch zu antworten.

Behäbig radelte Kenan die breite Straße entlang, durch die sich werktags die schweren Lastwagen schoben, mit ehrfürchtigen Namen wie Magirus-Deutz, MAN und DAF. Monströse PS-Boliden, deren Motoren die Straßen erbeben ließen. Man mochte von den Deutschen halten, was man wollte, aber vom Autobau, das musste selbst Kenan zugeben, verstanden sie was.

Ohne Vorwarnung sprang Tan vom Rad, was zur Folge hatte, dass Kenan erneut das Gleichgewicht verlor und es gerade noch so schaffte, sich auf dem Sattel zu halten. Der Junge hatte recht. Er war wirklich ein miserabler Fahrradfahrer.

»Was machst du?«, rief er ihm auf Türkisch hinterher. »Komm zurück!«

Doch Tan beachtete ihn nicht. Seine Aufmerksamkeit galt der zerdrückten Mirinda-Dose, die jemand achtlos neben den Mülleimer geworfen hatte. Mit flinken dünnen Beinen, die in einer viel zu groß wirkenden kurzen Hose steckten, kickte er auf die Dose ein, als wäre sie ein Fußball.

Kenan stieg umständlich ab und lehnte das Fahrrad gegen die Backsteinwand der Firmenhalle. »Lass mich mitspielen!«

Sein Sohn kam mit der zerdrückten Dose am Fuß auf ihn zu, umtänzelte ihn und täuschte Finten vor, auf die Kenan samt und sonders hineinfiel. Er wurde getunnelt, flankiert, ausgetrickst. Von einem Sechsjährigen, der noch dazu ununterbrochen quasselte.

»Müller in der dreiundachtzigsten Minute«, gab Tan einen imaginären Fußballkommentator wieder. »Umringt von drei Jugoslawen stürmt er in den gegnerischen Strafraum, nimmt Anlauf und … Wird er es schaffen? Drei Tore in nur einem Spiel? Den Hattrick? Müller dribbelt, setzt zum Schuss an und … Toooooooor!«

Just in diesem Moment zischte die Mirinda-Dose durch Kenans Beine hindurch. Tan riss die Arme zu einem ausgelassenen Siegestaumel in die Höhe und hüpfte im Kreis.

Kopfschüttelnd bückte Kenan sich, hob die Dose auf und warf sie in den Mülleimer. Wie es sich gehörte. Immerhin das hatte er in Deutschland recht schnell begriffen: Bei Müll neben der Tonne hörte die Freundschaft auf.

»Du und deine Müller«, sagte er kopfschüttelnd. »Nur Glück, dass Deutsche gekommen so weit letzte Jahr in Argentinien! Die könne nix Fußball spielen.«

Der Junge schaute mit empörter Miene zu ihm auf. Die Arme hatte er immer noch erhoben. »Wir sind 76 Vizemeister bei der Europameisterschaft geworden.«

Kenan lachte verächtlich auf. »Die verlieren Finale gegen Tschechoslowakei. Tschechoslowakei! Wenn Türkei mitgespielt, wären geworden wir Europameister.«

»Aber die Türkei hat nicht mal die Qualifikation zur Endrunde geschafft«, besserwisserte sein Sohn.

»Wallah! Zum Glück für Deutschland! Und für Tschechoslowakei. Sonst Türkei Europameister. Und jetzt still, wir sein da.«

Der strubbelige Schopf des Jungen ruckte von rechts nach links. »Woah, ist das alles riesig!« Mit staunendem Blick betrachtete er die hohe Fassade, die sich vor ihm auftürmte. »Und hier arbeitest du also?«

Kenan nickte stolz. »Wieder große Glück für Deutsche. Die können sein froh, dass dein Vater kommen aus Türkei.«

Der Junge sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Warum, Papa?«

»Nicht Papa! Baba!«

»Mama sagt, ich soll mit dir üben, damit du besser Deutsch lernst.«

»Pff! Mama sagen das? Wallah!«

Tan sah sich neugierig um. »Wofür steht das X?« Mit dem Finger deutete er nach oben. Über dem Eingang des Gebäudes stand in großen Druckbuchstaben HALLE X.

»X«, Kenan setzte zu einem verschwörerischen Flüstern an, »heißen ›streng geheim‹.« Er machte große Augen, weil er hoffte, dass sein Sohn angemessen beeindruckt war.

»Aha. Und was ist hier so streng geheim?«

Kenan winkte ab. »Nicht so viel fragen, mitkommen! Ich dir zeigen alles.«

Während er Tan die Eingangstür aufhielt, vernahm er mit Genugtuung dessen ehrfürchtiges Raunen. Wer war schon dieser Dieter Müller? Drei Tore in einem Spiel. Pah. Das war doch keine Leistung. Das hier war etwas Bemerkenswertes! Er, Kenan Ümnyazici, hatte eine der Fertigungsmaschinen umgebaut. Mit seinen eigenen Händen. Er, ganz allein!

Seinen Sohn vor sich herschiebend, schritt er durch den Korridor und begrüßte die Kollegen, die allesamt blaue Overalls und weiße Schutzhelme trugen.

»Das hier mein Reich.« Kenan klopfte dreimal fest gegen ein dickes Rohr aus gebürstetem Edelstahl, das in einen riesigen Kessel führte.

Tan ließ seinen Blick das Rohr entlangfahren und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ihm war anzusehen, dass er beeindruckt war. Seine Augen wurden immer größer. »So viele Rohre und Ventile!«

Kenan nickte stolz. »Chef sagen: ›Kenan, meine beste Mann.‹«

Tatsächlich war die ganze Halle ein Konstrukt aus ineinanderlaufenden Rohren in allen erdenklichen Größen, die sich scheinbar wirr in alle Richtungen schlängelten und in irgendwelchen Kesseln endeten. Doch Kenan kannte jeden Zentimeter der Anlage in- und auswendig und wusste über die Position jeder einzelnen Schraube Bescheid.

Ein Mann, nur ein paar Zentimeter größer als Tan, legte die Hand auf die Schulter des Jungen. Er hatte einen vollen Schnauzbart, genau wie Kenan, und eine Halbglatze.

»Das hat alles dein Papa gebaut.«

»Das ist Muhamet«, erklärte Kenan seinem Sohn. »Er Gastarbeiter wie ich. Auch aus Türkei. Gute Freund von mir.«

Wie alle anderen Arbeiter in der Halle trug auch Muhamet einen blauen Overall. Doch seiner war ihm viel zu groß und der Helm mehr schmutzig als weiß. Sie begrüßten sich mit einem missglückten Handschlag, über den sie gut gelaunt hinweglachten.

Ein weiterer Blaumannträger gesellte sich zu ihnen.

»Das ist Hans«, erklärte Kenan und bemerkte, dass Tan den dicken Bauch anstarrte, der sich prall gegen den Blaumann drückte.

»Is a guada Tüftla, dei Voda«, meinte Hans glucksend.

Kenan mochte ihn – auch wenn er Deutscher war. Schade war bloß, dass er ihn beim besten Willen nicht verstand. Und so tat er das, was er immer machte, wenn Hans ihm etwas in seinem merkwürdigen bayrischen Dialekt zuwarf. Er lachte verlegen und hoffte, dass er keine Frage überhört hatte.

»Zeigst du deim Bubn de grouse weide Wäid?«

Kenan grinste und machte eine Kopfbewegung zwischen Nicken und Schütteln.

»Und wer ist das?« Der Blick des Jungen löste sich von dem Geflecht aus Stahlrohren. Er hatte eine Frau mit Krücken ins Visier genommen.

Kenan stieß einen tiefen Seufzer aus und sagte auf Türkisch zu Tan: »Das, aşkım, mein Schatz, ist Mathilda von Poser, Inhaberin von Poser Pharma.«

»Des is de Chefin«, erklärte Hans, der unmöglich wissen konnte, das Kenan seinem Sohn eben dies gerade mitgeteilt hatte. Für ihn klang es vermutlich wie: Üldürüdenüridimgüdrüdü.

»Und der Mann, mit dem sie sich unterhält«, gab Muhamet in seinem beinahe akzentfreien Deutsch ungefragt Auskunft, »ist Herr Schmieder. Vorarbeiter der Anlage.«

Er zeigte auf einen hochgewachsenen älteren Herrn, der als Einziger in der Halle einen roten Schutzhelm trug.

»Was ist ein Vorarbeiter?«, wollte Tan wissen. Die Männer ergaben sich in missmutigem Schnauben, während sie die Frau musterten, die ein sehr kurzes senffarbenes Minikleid mit farblich passendem Stirnband und hochhackigen Sandalen trug. Kenan hatte sich immer noch nicht damit angefreundet, dass sich die deutschen Frauen derart freizügig kleideten. Seinem Jungen hingegen schien es zu imponieren. »Sie ist wunderschön.«

»Ja«, gab ihm Kenan recht und fügte in seiner Muttersprache hinzu: »Sie sollte aber ein Kopftuch tragen, wie es sich für Frauen gehört.«

»Warum läuft sie auf Krücken?«, fragte Tan, zu Kenans Überraschung ebenfalls auf Türkisch.

»Frau von Poser hat eine schlimme Krankheit.«

Zu viert beobachteten sie das in der Ferne stattfindende Gespräch. Kenan erkannte, dass seine Chefin die Stirn in Falten gelegt hatte. Schließlich humpelte sie auf den Krücken davon.

Schmieder blieb noch eine Weile unentschlossen stehen, dann fing sein Blick ausgerechnet den von Kenan auf, und er kam mit schnellen Schritten, die Arme in die Hüften gestemmt, auf ihn zu.

»Ach, da ist er ja, mein Lieblingstürke«, rief er.

Kenan grinste und zwinkerte seinem Sohn zu. »Was ich sagen? Ich beste Mann!«

»Und das ist dein Sohn?« Schmieder wuschelte Tan durch die Haare.

Der machte augenblicklich einen Schritt zurück, um den riesigen Händen des Vorarbeiters zu entkommen. Dennoch konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. »In euren Blaumännern seht ihr aus wie Schlümpfe.« Er zeigte auf den roten Helm des Vorarbeiters. »Und du bist Papa-Schlumpf.«

Muhamet und Hans nutzten den Moment, um sich so unauffällig wie möglich vom Platz des Geschehens zu entfernen.

Schmieder sprach unbeirrt auf Kenan ein, der nicht einmal im Ansatz den Sinn der Worte verstand. Zu schnell drangen sie aus dem riesigen Mund des Vorarbeiters. Weil er sich vor Tan auf keinen Fall blamieren wollte, tat Kenan das, was er in solchen Situationen immer tat: Er lachte und nickte. Nickte und lachte. Meist klopfte der Vorarbeiter ihm dann wohlwollend auf die Schulter und ging seines Weges.

Doch diesmal wollte Schmieder mit dem Reden gar nicht mehr aufhören. Kenan kam mit dem Grinsen und Nicken kaum noch hinterher. Für ihn klang die hölzern-holprige Sprache einfach zu absurd.

Schmieder zeigte neben sich. »Anlage steht!«, hörte Kenan schließlich aus dem Kauderwelsch heraus, worauf er stolz in Richtung seines Sohnes nickte.

»Tan! Anlage stehen wie Eins. Kenan selbst gebaut.« Er suchte den Blick seines Sohnes. Der sah ihn jedoch verunsichert an und schüttelte den Kopf.

Pah. Was verstand ein Sechsjähriger schon von Männergesprächen? Kenan wandte sich wieder Schmieder zu und reckte beide Daumen nach oben.

Doch nun schüttelte auch der Vorarbeiter den Kopf. Er ergriff Kenans Hand und drehte den Daumen nach unten. »Nix tippi-toppi! Die Anlage steht still!«

»Still?«, echote Kenan. Er neigte den Kopf, lauschte.

»Papa! Er meint, dass die Anlage nicht geht«, erklärte ihm Tan auf Türkisch. »Dass sie nicht funktioniert. Dass sie kaputt ist!«

»Kaputt?« Kenans Augen weiteten sich. »Oh!«

Schmieder klatschte lautstark in die Hände. »Der Muselmann hat’s begriffen!«

Das war Kenan vor seinem Sohn nun doch ein wenig unangenehm. Er strich sich über den Schnäuzer und zog die buschigen Augenbrauen hoch, während er eine der Rohrleitungen mit fachmännischer Mimik verfolgte. »Nix kaputt. Gestern noch gut!«

»So so, gestern noch gut«, meinte Schmieder. »Aber heute kaputt! Verstehste?«

»Jorgos gestern letzte Mann an Anlage. Nicht ich.«

»Was ist mit mir?« Ein in der Nähe stehender breitschultriger Hüne streckte bei der Erwähnung seines Namens den Kopf in die Höhe. Als er erkannte, mit wem Kenan sich gerade unterhielt, ließ er alles stehen und kam auf sie zugestürmt. »Was willst du damit sagen, eh?«

Kenan setzte sich über den Protest des ungeliebten Kollegen hinweg und erklärte Schmieder unter aller Anstrengung auf Deutsch: »Hat reingemacht in Anlage!«

Der Grieche bekam einen knallroten Kopf. »Was soll ich gemacht haben? In die Anlage gepinkelt?« Sein Temperament glich einem brodelnden Vulkan. Es war nicht das erste Mal, dass Kenan mit selbigem Bekanntschaft machte.

Der Vorarbeiter stürzte sich zwischen die beiden, damit der Grieche nicht auf Kenan losging.

»Was ist los?«, fragte der völlig perplex, da er Jorgos’ Wut nicht im Ansatz verstand.

Schmieder schüttelte den Kopf. »Könntet ihr eure nationalen Konflikte bitte zu Hause lassen?«

»Aber er sagt, dass ich in die Anlage gepinkelt habe!«, beschwerte sich Jorgos.

Nun verstand auch Kenan. »Nein, nein, nein.« Beschwichtigend hob er die Arme. »Alle falsch verstehen. Du haben rein gemacht.«

Die Hände des Griechen ballten sich zu Fäusten, doch da stieß Tan einen spitzen Schrei aus. »Jetzt weiß ich, was Papa meint!« Abwechselnd betrachtete er seinen Vater, dann die beiden Männer daneben. »Er meint, dass Jorgos die Maschine gestern Abend sauber gemacht hat.«

Jorgos und Schmieder sahen sich eine Sekunde lang schweigend an, dann brachen sie in ein grollendes Lachen aus, das Kenan in der Seele brannte. Auch Tan kicherte – und das verletzte Kenan am meisten. Er fühlte sich dumm und gedemütigt zugleich, nur weil er diese komplizierte Sprache nicht richtig beherrschte. Wütend richtete er sich an Tan.

»Was hast du ihnen gesagt, du Sohn eines Esels?«, fluchte er auf Türkisch und drohte dem Jungen eine Ohrfeige an, woraufhin dieser sofort mit dem Kichern aufhörte, dann aber mutig das Kinn hob.

»Wenn ich der Sohn eines Esels bin, bist du aber der Esel!«, antwortete Tan trotzig auf Deutsch.

Jorgos und Schmieder bekamen sich vor Lachen überhaupt nicht mehr ein.

Kenan spürte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg. Er packte seinen Sohn am Arm und schleifte ihn mit sich. Bloß raus hier!

Außerhalb der Hörweite der beiden zischte er Tan zu: »Sprich gefälligst Türkisch mit mir! Ich habe dich nicht dazu erzogen, dich wie ein Deutscher zu benehmen.«

Tan rief: »Aua, Papa, du tust mir weh!« Er versuchte, sich aus dem Klammergriff zu winden.

Aber Kenan zog ihn weiter, raus aus der Firmenhalle, zum Fahrrad. Dort angekommen, ließ er ihn los. Immer noch schimpfend, wandte er sich dem Fahrradschloss zu und machte sich daran zu schaffen.

»Ich weiß gar nicht, womit ich das verdient habe«, meckerte er unaufhaltsam in seiner Muttersprache weiter. »So ein undankbarer Junge … Verleugnest deine Heimat. Hab ich dich nicht zu etwas Besserem erzogen? Bist du nicht stolz auf die Türkei? Du willst ein Deutscher sein wie alle anderen hier, dabei verstehst du gar nicht …«

Ein Geräusch drang an sein Ohr und ließ ihn innehalten. Es klang merkwürdig. Fremd. Als wenn es in dieser Situation nichts zu suchen hätte. Er lauschte noch einmal. Hatte er es sich nur eingebildet? Nein. Da war es wieder. Ein Kratzen. Und da, schon wieder. Aber nein, es war kein Kratzen, eher ein … Röcheln. Schnarchte da jemand? Tan etwa? Er ließ vom Fahrradschloss ab und richtete sich auf.

In diesem Moment erkannte er, dass er in seinem Bett lag, mit einer dünnen Bettdecke zugedeckt. Und dann hörte er wieder das Geräusch.

Es war eindeutig ein Schnarchen.

Kapitel 2

Verwirrt sah Kenan sich um. Er war in seinem Zimmer. Die Digitalanzeige seines Weckers auf dem Beistelltisch neben dem Bett tanzte vor seinen Augen. Er blinzelte, um sie zumindest kurz zu fassen zu bekommen. 5.58 Uhr. Für einen Mann in seinem Alter zu früh, um wach zu sein.

Schemenhaft nahm er die beiden anatolischen Teppiche an der Wand gegenüber wahr, die Mosaikhängelampe, die tief über der Raummitte baumelte. Verschiedene Sitzkissen und Poufs auf dem Boden, in der Mitte der hübsche Tisch mit der Mamorplatte und den gedrechselten vergoldeten Beinen. An der Wand hinter dem Bett hingen die Cümbsüş und die Tanbur, zwei osmanische Zupfinstrumente, die Kenan nicht beherrschte, die aber zu ihm gehörten wie sein Schnäuzer. Alles war an seinem Platz in seinem Reich. Sechzehn Quadratmeter Heimat. Anatolien, so weit es auch von München-Laim weg war.

Aber dieses Schnarchen. Es klang so falsch. Vor allem klang es nach …

Tan. Es konnte nur sein Sohn sein. Niemand anderes in diesem Haus schnarchte so laut und gleichzeitig so unmännlich – eben typisch deutsch.

Kenan riss die Augen auf und spürte sein Blut unter Hochdruck durch die Venen jagen. Er setzte sich auf und fluchte in seiner Muttersprache: »Mein verdorbener Sohn schnarcht nicht einmal wie ein Türke!« Dann warf er sich mit Schwung wieder zurück auf die Matratze, drehte sich ungehalten auf die linke Seite und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.

Das Schnarchen wurde leiser, aber es war immer noch zu hören. Rrrrraaapschü, rrrraaapschü … Und dabei war er so schwerhörig! Kenan lauschte intensiv und spürte mit jedem weiteren Atemzug die Taktzahl seines Pulses ansteigen. Wie konnte ein Türke nur derart falsch schnarchen? Gut, Tan war in Deutschland geboren, aber musste er deshalb klingen wie ein Deutscher? Bei Allah! Unfassbar.

Das Geräusch trieb ihn in den Wahnsinn. Er nahm das Kopfkissen zu Hilfe und drückte es sich auf die Ohren. Doch das Schnarchen war zu laut, als dass er wieder hätte einschlafen können. Dabei hatte er so einen schönen Traum gehabt. Von damals, als Tan noch klein gewesen war und sie beide sich noch gut verstanden hatten …

Kenan hielt es nicht länger aus, hob das Kopfkissen an und blinzelte noch einmal in Richtung des Weckers. 5.59 Uhr.

Mühsam setzte er sich wieder auf und schwang die Beine über die Bettkante. Er wartete, bis die Rückenschmerzen nachließen und sich seine Kniegelenke von der ersten Bewegung nach dem Schlaf erholt hatten. Es waren eben jene Wehwehchen, mit denen ein alter Mann vom neu anbrechenden Morgen begrüßt wurde. Er tastete nach der Brille neben dem Wecker und setzte sie auf.

Augenblicklich wurde alles um ihn herum deutlicher – wenn auch nicht so scharf wie früher. Aber das war zum Glück schon so lange her, dass er sich kaum daran erinnern konnte.

Er sah die Cordhose, die er am Tag zuvor getragen hatte, unordentlich auf dem Boden liegen. Anscheinend war sie über Nacht von der Stuhllehne gerutscht. Kenan stand vorsichtig auf und kam unbeholfen auf die Beine. Ein paar tapsige Schritte in Richtung des Stuhls, dann versuchte er, sich nach der Hose zu bücken, doch ein scharfer Schmerz im Knie ließ ihn innehalten. Also begann er mit dem Hemd, das sich glücklicherweise noch auf dem Stuhl befand und somit in greifbarer Nähe war. Umständlich schlüpfte er in die Ärmel und tastete dann nach der Knopfleiste. Vorsichtig ging er ein Stück in die Knie. Er hatte Glück, der jäh aufkommende Schmerz, den er beim Bücken verspürt hatte, war weg. Etwas, das man von dem Schnarchen aus dem Zimmer nebenan nicht behaupten konnte.

»Tan, verdammt!«, fluchte er auf Türkisch. »Schnarch endlich wie ein echter Mann.«

»Baba, du weckst noch das ganze Haus.«

Kenan bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sich die Tür geöffnet hatte und jemand in den Raum getreten war. Eine weibliche Hand schob sich in sein Blickfeld und strich ihm die Haare glatt.

Er sah von den Knöpfen auf, die er wegen seiner zittrigen Finger nur schwer in die winzigen Löcher bekam, und bedachte seine Frau mit dem ersten Lächeln des Tages.

»Canim. Liebste. Da bist du.«

»Warum bist du denn schon wach?« Gül schob seine Hände beiseite und begann, ihm das Hemd zuzuknöpfen, dabei betrachtete sie ihn mit diesem sanftmütigen Blick, in den er sich damals als Erstes verliebt hatte.

»Tan. Ich ertrage es nicht länger«, setzte er an, doch Gül unterbrach ihn.

»Hatten wir nicht vereinbart, dass du mehr Deutsch sprichst, Kenan?«

Er seufzte. »Schnarchen von Tan«, begann er dann vorwurfsvoll in dieser Sprache zu erklären, die sich in seinem Mund immer noch so fremd anfühlte wie eine rohe Kartoffel. »Du nicht hören? Ist Schande für Türke, so zu schnarchen.« Während er redete, gestikulierte er wütend mit den Händen.

Gül schnalzte mit der Zunge. »Halt still, Dede! Sonst sind wir morgen früh noch nicht fertig.«

Kenan ließ seine Frau gewähren. Er mochte es, wenn sie ihn Dede nannte. Großvater. Es klang so liebevoll, wenn sie es sagte. Er betrachtete ihr Gesicht, während sie ihm mit den Knöpfen half. Es war umrahmt von langen grauen Haaren, die von weißen und schwarzen Strähnen durchzogen waren. Gül hatte trotz ihres Alters noch rosige Wangen und strahlend braune Augen, die in all den Jahren nichts von ihrem Glanz verloren hatten.

»Du gute Frau«, flüsterte er. »Beste, die Mann sich können wünschen.«

Güls Hände hielten in der Bewegung inne. Sie sah ihn lächelnd an. »Die Männer in deiner Familie haben einfach Glück mit den Frauen.«

Kenan nickte. »Stimmt.« Gül lächelte sanft und knöpfte weiter. »Stell dir vor, dein Eltern hätten genommen an Angebot von Familie Günal.« Er lachte auf. »Dann du würden heute neben Özer stinkende Ziege treiben auf Berge von Karbiyik.«

»Ach, Kenan …« Nun seufzte seine Frau. Ihre schlanke Hand strich ihm liebevoll über die Wange. »Gül ist nicht mehr da. Sie ist vor drei Jahren gestorben. Erinnerst du dich?«

Kenan schloss die Augen und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Es passierte ihm nicht zum ersten Mal, dass er Personen miteinander verwechselte. Aber dass es ihm ausgerechnet bei seiner geliebten Gül geschah …

Als er die Augen wieder öffnete und die Frau vor sich anblickte, war die dunkle Farbe in das eben noch graue Haar zurückgekehrt. Eine braune Strähne hing in einem hübschen, nahezu faltenfreien Gesicht, dessen nunmehr blaue Augen lediglich von einem sanften Fächer aus Lachfalten umgeben waren.

»Ina.« Er stöhnte ergeben auf.

»Ich weiß, sie fehlt dir sehr.« Kenans Schwiegertochter berührte ihn zärtlich am Arm. »Hast du wieder von ihr geträumt?«

»Ich immer träumen von Gül. Sie in meine Träume immer bei mir. Gute Gül.« Er versuchte, sich noch einmal das Gesicht seiner Frau ins Gedächtnis zu rufen. Doch es gelang ihm nicht. Rasch warf er einen Blick auf das Porträt von ihr, das wie immer auf seinem Nachttisch stand, und betrachtete es zärtlich. Doch mit jedem weiteren Schnarcher seines Sohnes wurde sein Geduldsfaden kürzer.

»TAN!« Ungeachtet seiner aufschreienden Gelenke, riss Kenan in einer zornigen Geste die Arme hoch und machte einen Schritt nach vorn.

»Dede, bitte!«

Ina versuchte, ihn aufzuhalten, doch Kenans brodelnde Wut war unbändig, sie musste ein Ventil finden. Verärgert stürmte er aus seinem Zimmer, dem einzigen Ort im Haus, der zumindest im Ansatz an die türkischen Wurzeln seiner Familie erinnerte, und humpelte durch den engen Flur in Richtung Schlafzimmer seines Sohnes und seiner Schwiegertochter. Mit jedem Schritt, den er zurücklegte, wurde das Schnarchen lauter.

»Tan!« Er riss die Tür auf, doch sein Sohn rührte sich nicht. Kenan positionierte sich neben dem Bett und rüttelte an seiner Schulter. »Du bist eine Schande! Für mich und deine gesamte Familie. Ach was, für die gesamte Türkei und alle Türken!«, schrie er in seiner Muttersprache, was seine Wirkung nicht verfehlte. Mit einem Ruck richtete Tan sich auf.

»Ich bin wach! Ich bin wach! Ich bin wach!« Orientierungslos sah er sich um, dann fiel sein Blick auf Kenan. »Papa?«, fragte er sichtlich überrascht. »Was ist passiert? Wo ist deine Hose?«

»Baba! Es heißt baba, verdammt! Wie oft muss ich noch sagen?«

Sein Sohn schaute blinzelnd an ihm vorbei. Kenan folgte seinem Blick und sah Ina im Türrahmen stehen.

»Dein Schnarchen hat ihn gestört«, erklärte sie ihrem Mann mit einem Grinsen im Gesicht.

»Mein …?«

»Dein Schnarchen!« Kenan fauchte ihm die Antwort förmlich entgegen. Immerhin auf Deutsch. Das war er seiner Schwiegertochter, die kein Türkisch sprach, sich aber dennoch liebevoll um ihn kümmerte, schuldig. »Du mich wecken.«

»Aber … du schnarchst doch selbst.«

»Ich schnarchen richtig«, stellte Kenan klar. »Du schnarchen rrrrraaapschü, rrrraaapschü. Echter Türke schnarchen rapapapapapa, rapapapapapa!«

Tan fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich schnarche, wie ich schnarche. Es gibt keine türkische Art zu schnarchen.«

»Wohl! Ich müssen wissen, ich Türke. Und du auch Türke. Obwohl … Ich nicht wissen, wo du hast versteckst deine Türke! Schau um dich. Tapete. Warum hängen kein Teppiche an Wand? Und was das sind für Berge?«

»Die Alpen«, erklärte Ina unaufgefordert.

»Eine Fototapete. Mittlerweile solltest du sie kennen. Wir wohnen ja schließlich schon lange genug in München.«

»Warum da nicht kleben Tapete von Taurus? Türkische Berge viel mächtiger als Alpen. Und schöner!«

Mit einem herzhaften Gähnen schälte sich Tan aus dem Bett, ohne auf die Frage seines Vaters einzugehen, und warf einen genervten Blick auf den Wecker. »Himmel, es ist gerade mal kurz nach sechs. Ich hätte noch eine Stunde schlafen können. Aber nein, ich werde von meinem Vater geweckt, der mir wieder einmal sagt, dass ich nicht türkisch genug bin!«

Er klaubte ein paar Klamotten vom Boden auf, drückte seiner Frau einen Kuss auf die Wange und verschwand dann in Richtung Badezimmer, ohne auf Kenans Vorwurf weiter einzugehen.

Kenan spürte, dass Inas Blick auf ihm ruhte.

»Ein Streit um diese Uhrzeit ist selbst für euch neuer Rekord«, sagte sie, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Er haben angefangen«, meinte Kenan verteidigend.

»Er hat geschlafen, Dede.« Ina sah ihn genervt und müde an. »Ach, weißt du was? Denk doch, was du willst.«

Kopfschüttelnd verschwand sie aus dem Zimmer, und plötzlich war Kenan allein. Im Spiegel des wandbreiten Einbauschranks betrachtete er nachdenklich seine eigene Gestalt, als Gül neben ihm auftauchte. Auch sie schüttelte missbilligend den Kopf.

»Du kannst ihm nicht vorschreiben, wie er sein Leben zu leben hat«, sagte sie auf Türkisch.

Kenan entgegnete: »Ich schreibe ihm nichts vor, ich finde lediglich …«

Die Frau im Spiegel erhob ihren Zeigefinger. Eine Geste, die Kenan wie immer sofort verstummen ließ.

»Du sagst ihm, wie er schnarchen soll, aslanim, mein Löwe.«

Kenan machte eine abfällige Handbewegung. »Das Schnarchen war nur die Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Er nennt mich nicht mal baba zu mir! Und seinen Familiennamen hat er einfach weggeschmissen.«

Süper. Er kam einfach nicht darüber hinweg, dass Tan den Namen seiner deutschen Frau angenommen hatte. Dabei klang er noch nicht mal besonders deutsch! Hätte er auch seinen Familiennamen behalten können …

Die Frau im Spiegel lachte gutmütig auf. »Dein Nachname ist aber auch fürchterlich.«

Kenans buschige Brauen schoben sich zusammen. »Was?«, fragte er scharf. »Was ist mit Ümniyazici nicht in Ordnung? Das ist ein ehrenhafter türkischer Name!«

»Ach, Kenan. Sei nicht immer so engstirnig.«

Er schlug die Augen nieder. Als er wieder aufblickte, sah er nur noch sich selbst im Spiegelbild. Gül hatte ihn allein gelassen.

»Frauen …«, nuschelte er und kratzte sich verlegen am Bart.

Unter wehklagendem Protest seiner Knie verließ er das künstliche Bergpanorama der Alpen, dieser mickrigen Imitation des türkischen Taurus. Missmutig warf er einen letzten Blick zurück in den Raum, betrachtete die Kommode, das Doppelbett, den Schminktisch, den Schrank. Alles funktional und in Weiß. Sogar die Bettwäsche sah aus wie im Krankenhaus. Nein, in diesem Zimmer war wirklich nichts Osmanisches zu finden. Und schon gar nicht der Mann, der darin schlief.

»Geht bitte wer Tobias wecken?«, hörte Kenan in diesem Moment Inas Stimme aus der Küche im Erdgeschoss.

Kenan schlurfte los. Als er vor der Zimmertür seines Enkels ankam, bog gerade sein Sohn um die Ecke. Offenbar hatte er dasselbe vor.

Tan musterte ihn kritisch. Dann zischte er: »Zieh dir endlich ’ne Hose an!«

»Und du lernen richtig schnarchen!«

Dann machten beide auf dem Absatz kehrt.

Kenan quälte sich die Treppe hinunter und suchte die Abstellkammer neben der Küche auf. Dort befand sich in der Tiefkühltruhe sein einziger wahrer Schatz, das Letzte, was ihm in diesem Leben noch etwas bedeutete: Güls Ayran.

Er öffnete den Deckel. Damals, nach Güls Tod, hatte er den gewaltigen Vorrat an Flaschen, den seine Frau in den letzten Monaten ihres Lebens zubereitet hatte, eingefroren und sich vorgenommen, nur in Notsituationen eine Portion aufzutauen. Nun sah er auf den letzten Rest des Nationalgetränks seiner Heimat hinunter, der übrig geblieben war. Gerade mal eine Handvoll Flaschen. Und dabei war Gül erst seit drei Jahren tot.

Ein Grund mehr, sobald wie möglich den Abgang zu machen, dachte Kenan grimmig und warf einen misstrauischen Blick an die Zimmerdecke. Er war bereit. Er könnte jeden Augenblick abtreten. Er wartete nur auf das göttliche Zeichen, und dann würde er von der Bühne gehen. Aus, Ende. Doch bislang hatte sich Allah noch nicht blicken lassen, um ihn ins Paradies zu geleiten, wo hoffentlich nicht zweiundsiebzig Jungfrauen, sondern nur eine einzige Frau auf ihn wartete − Gül.

Kenan bückte sich und nahm eine der Flaschen aus der Tiefkühltruhe, dann öffnete er den Kühlschrank und stellte sie in die Schranktür. Daneben stand eine bereits aufgetaute Flasche, die er nun herausnahm. Auch wenn er sich vorgenommen hatte, sparsamer mit dem Ayran umzugehen – dies war so ein Tag, da würde es nicht ohne gehen.

Er drehte den Schraubverschluss auf und setzte zu einem tiefen Schluck an. Als das Getränk seine Zunge berührte, spürte Kenan beinahe augenblicklich, wie die Lebensgeister in seinen altersschwachen Körper zurückkehrten. Der erfrischende Geschmack nach Joghurt und Säure ließ ihn laut seufzen.

Er dachte: Gül hat einfach den besten Ayran der ganzen Türkei gemacht. Dann fiel ihm ein, wie wenige Flaschen nur noch in der Tiefkühltruhe lagen. Wenn die aufgebraucht waren, würde auch die letzte Erinnerung an Güls Rezept unweigerlich fort sein. Für immer.

Und dann? Das Leben rauschte nur so an ihm vorbei, in einem Tempo, bei dem er einfach nicht mehr mithalten konnte. Er hörte die Dusche im Obergeschoss rauschen, jemand betätigte die Toilettenspülung. Irgendwo klingelte ein Wecker, den niemand ausstellte. Schubladen wurden aufgezogen, Schranktüren geknallt, etwas fiel klirrend zu Boden. Der allmorgendliche Wahnsinn im Haus.

Alle hatten ihre Aufgabe, ihren Platz, wussten, wo sie hinmussten. Nur er hatte nichts außer diesen vier Wänden und den Erinnerungen an ein Leben, das längst vorbei war. Für ihn gab es nichts weiter als Warten. Darauf, endlich wieder bei seiner geliebten Gül zu sein.

»Männer! Was ist denn jetzt mit Tobias?«, beschwerte sich Ina in diesem Moment aus der Küche. »Könnte sich vielleicht mal jemand erbarmen?«

Na ja. Immerhin etwas, das er tun konnte.

Zum Glück war die Luft rein, denn Tan war immer noch im Bad. Mit der Ayran-Flasche in der Hand marschierte Kenan wieder die Treppe hoch in den ersten Stock und ging auf das Zimmer zu, auf dessen Tür ein riesiges Schild prangte. Darauf stand: ACHTUNG: TEENAGERGEBIET. ERWACHSENE MÜSSEN DRAUSSEN BLEIBEN! ELTERN HAFTEN FÜR IHRE KINDER!

Er ignorierte den Hinweis geflissentlich und klopfte zweimal an, während er die Klinke herunterdrückte. »Mert! Aufstehen. Neue Tag. Neue Glück«, rief er und betrat den Raum.

Durch die Ritzen der heruntergelassenen Jalousien drückten sich vereinzelte Sonnenstrahlen und beleuchteten wie Scheinwerfer das Chaos. Überall auf dem Boden lagen Actionfiguren, Comichefte und Klamottenberge herum. Aus einer Ecke starrte ihn ein überlebensgroßer Pappaufsteller an. Der Mann darauf war grün und muskelbepackt und blickte grimmig drein. Von seinem Enkel wusste Kenan, dass er Hülk hieß. Oder so.

»Mert?« Eigentlich hieß sein Enkel mit dem Erstnamen Tobias und nur mit dem Zweitnamen Mert. Aber Kenan brachte es nicht über sich, seinen Enkel bei seinem deutschen Namen zu nennen. Der hatte glücklicherweise nichts dagegen. Wenn er schon so schlecht die Sprache seines Großvaters sprach – auch etwas, das Kenan ganz massiv gegen den Strich ging −, sollte er sich wenigstens mit seinem türkischen Namen ansprechen lassen.

»Mert! Du wach?«

Unter der Bettdecke, auf der Kenan einen Mann mit langen schwarzen Haaren in einem eng anliegenden gelben Kostüm mit dem Schriftzug Deli Knight auf der Brust erkennen konnte, vernahm er etwas, das so klang wie: »Rottenemürüh.«

»Deine Mama sagen, du sollen aufstehen. Du jetzt aufstehen!«

Der lockige Schopf seines Enkels kam unter der Bettdecke zum Vorschein. Er blickte auf den Wecker, der einem schwarzen Plastikmännchen mit schwerem Helm und rotem Leuchtstab nachempfunden war. Alle paar Sekunden machte die Figur einen metallisch klingenden Atemzug. Kenan lachte leise auf. Sogar der Wecker klang türkischer als sein eigener Sohn.

»Ist doch noch viel zu früh«, beschwerte sich der Junge, drehte den Kopf herum und betrachtete seinen Großvater. »Warum hast du keine Hose an?«

»Ich, äh …«

Merts Blick fiel auf die Ayran-Flasche. »Bäh! Wie kannst du das Zeug nur am frühen Morgen schon trinken? Das ist drei Jahre alt! Oma hat das noch gemacht, das kann doch nicht mehr gut sein.«

Kenan betrachtete die Flasche in der Hand. »Ist gefroren tief. Ist gut. Müssen du probieren.« Er hielt seinem Enkelkind die Flasche hin.

»Danke, nein.« Der Junge strich sich die Haare aus dem Gesicht. Plötzlich erhellten sich seine Züge. »Ich hatte einen tollen Traum, Dede. Ich habe geträumt, dass ich eine Million Follower auf meinem YouTube-Channel habe.« Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen.

Kenan nickte matt. Seit Monaten gab es für seinen Enkel kein anderes Thema mehr als diesen komischen Kanal mit dem englischen Namen, auf dem er in regelmäßigen Abständen Videos präsentierte, in denen er in die Rolle seines absoluten Lieblingscomichelden schlüpfte: Deli Knight, der Mann auf der Bettdecke. Kenan verstand Merts Begeisterung dafür nicht – nicht für den Helden und nicht für die Videos. Wer guckte sich die an? Offenbar verstanden auch andere nicht, was Kenans Enkel damit ausdrücken wollte, denn soweit er es verstanden hatte, gab es nicht so viele Leute, die sich die Videos ansahen.

»Wir müssen Gas geben, damit mein neues Kostüm auch wirklich perfekt wird«, ermahnte sein Enkel ihn. »Hast du zufällig Doris getroffen? Die hat mir versprochen, dass es Ende der Woche fertig ist.«

Kenan schüttelte matt den Kopf. »Nein.«