Survival Quest: Der dunkle Schamane - Vasily Mahanenko - E-Book
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Survival Quest: Der dunkle Schamane E-Book

Vasily Mahanenko

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Beschreibung

Ein Computerspiel als Gefängnis? Längst ist es möglich, sein ganzes Leben in Onlinespielen zu verbringen, während der Körper in Überlebenskapseln versorgt wird. Daniel Mahan wurde zu acht Jahren in solch einem Spiel verurteilt. Er glaubt, dass ihn dort nur öde Quests erwarten, doch er merkt schnell, dass das Spiel einige Überraschungen für ihn in petto hält. Und bald ist er nicht nur Herr einer Goblinmannschaft, sondern auf den Spuren eines weltumspannenden Komplotts ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumKapitel 1: Am Rande des ImperiumsKapitel 2: Wölfe und andere AngelegenheitenKapitel 3: FernstattKapitel 4: Spierbels SchatzKapitel 5: Vagren-JagdKapitel 6: KornikKapitel 7: Die OrkkriegerKapitel 8: Das TotemtierKapitel 9: Der Fehler des SchamanenKapitel 10: Wenn man glaubt, es kann nicht schlimmer werden …Kapitel 11: Das Nebelmonster und andere EntdeckungenKapitel 12: Das Finale

Über dieses Buch

Ein Computerspiel als Gefängnis? Längst ist es möglich, sein ganzes Leben in Onlinespielen zu verbringen, während der Körper in Überlebenskapseln versorgt wird. Daniel Mahan wurde zu acht Jahren in solch einem Spiel verurteilt. Er glaubt, dass ihn dort nur öde Quests erwarten, doch er merkt schnell, dass das Spiel einige Überraschungen für ihn in petto hält. Und bald ist er nicht nur Herr einer Goblinmannschaft, sondern auf den Spuren eines weltumspannenden Komplotts …

Über den Autor

Vasily Mahanenko wurde 1981 im russischen Severodvinsk geboren. Er gehört zu den erfolgreichsten Autoren des neuen Genres LitRPG, das Elemente des Online-Gamings mit SF- und Fantasyliteratur kombiniert. Während seiner Studienjahre an der Belgorod State University, wo er Physik und Mathematik studierte, war Mahanenko selbst begeisterter Gamer. Er lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Moskau.

VASILY

MAHANENKO

DER DUNKLESCHAMANE

SURVIVAL QUEST

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Andreas Kasprzak

Vollständige Taschenbuchausgabe

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2015 by Vasily Mahanenko

Copyright © 2015 by Magic Dome Books

Titel der russischen Originalausgabe:

»Мир Барлионы 2: Путь Шамана. Гамбит Картоса«

Agreement by Wiedling Literary Agency

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Titelillustration: Arndt Drechsler, Leipzig

Nach einer Vorlage von Valdimir Manyukhin

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7394-3

www.luebbe.de

www.lesejury.de

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Kapitel 1: Am Rande des Imperiums

Mutig betrat ich das Portal und bereitete mich auf einen langen, qualvollen Aufenthalt beim Gouverneur vor. Die Vorstellung, drei Monate unter seiner Fuchtel zu verbringen, war nicht gerade ein Grund zur Freude, aber ich hatte nicht vor aufzugeben. Oder zu Kreuze zu kriechen oder den Schwanz einzuziehen wie ein geprügelter Hund, nur weil die Programmierer so etwas erlaubten. Dieser verschwitzte Kröterich konnte mir den Buckel runterrutschen, und die Orkkrieger-Figuren auch gleich vergessen. Ganz egal, womit er mich vielleicht zu bestechen versuchte: Frieden, Liebe oder Geld. Darum, dass er physische Gewalt gegen mich einsetzen könnte, machte ich mir keine großen Sorgen. Ich war sicher, dass entlassene Gefangene nicht einfach so bestraft oder gefoltert werden konnten – wir hatten schließlich Rechte, auch wenn diese eingeschränkt waren. Das System wusste, dass meine Sinnesfilter abgeschaltet waren, insofern hatte ich wenig zu befürchten, und … Was um alles auf der Welt war das?

An den Spieler in der Strafkapsel! Du hast bei den Wachen der Pryke-Mine den Status »Respektvoll« erlangt und wirst in die Hauptspielwelt versetzt.

Du hast die Option, am Adaptionsszenario »Das Schloss des Gouverneurs« teilzunehmen. Am Ort »Das Schloss des Gouverneurs« zu verbringende Zeit: 2 Monate, 26 Tage. Rolle: »Schloss-Handwerker«.

Bedingungen: achtstündige Arbeitstage, wöchentliche Entlohnung. Die Ergebnisse der täglichen Arbeit gehen an die Provinz Serrest; jeder siebte Tag ist ein Feiertag. Verbesserung der Handwerksfähigkeit möglich (bis einschließlich Level 30) – Verbesserungen beim Gouverneur einlösbar.

Belohnung für die Teilnahme an diesem Szenario: Respekt bei der Provinz Serrest, zwei Gegenstände der Klasse »Selten«.

Falls du ablehnst, wirst du zu einer zufälligen Siedlung im Malabar-Imperium transportiert, und dein Ruf in der Provinz Serrest fällt auf die Stufe »Verhasst«. Möchtest du am Adaptionsszenario »Das Schloss des Gouverneurs« teilnehmen?

Dem schimmernden Portal nach zu schließen, das mich umgab, würde man mich nirgends hinbringen, ehe ich nicht eine Entscheidung getroffen hatte. Falls dem so war, hatte ich Zeit, nachzudenken und das Für und Wider abzuwägen.

Also, erstens. Ein Adaptionsszenario … Wie viel mehr Schufterei könnte ich wohl noch wollen? Ich meine, schon klar – ich war ein Loser und ein Schuft, der anstelle des Standardspiels und normaler Kommunikation mit anderen Spielern nur tonnenweise Zwangsaufgaben vorgesetzt bekommen würde. Das war definitiv ein Minus.

Zweitens. Ich wäre in unmittelbarer Nähe der Gouverneurskröte, und sei es nur räumlich. Tut mir leid, Herr Digitaler NPC, unser Treffen war ein Fehler und wir werden einander nie ausstehen können. Sie wollen mich nur benutzen … Oh, Mann, mein Gedankenfaden verknotete sich schon wieder … Aber die Persönlichkeit des Gouverneurs war auf jeden Fall ein zweites, dickes Minus.

Drittens war ich eine logisch denkende Person und sollte die Dinge rational angehen können. Es wäre dumm, so eine Gelegenheit einfach links liegen zu lassen: die Bezahlung, die Entwicklung einer beliebigen Zahl von Berufen, beschränkt lediglich durch mein Level. Ich könnte die Schmiedekunst, Alchemie, Magie und Kartografie erlernen und gleichzeitig in mehreren anderen Bereichen leveln, und das alles innerhalb der Regeln des Szenarios. Das war definitiv ein doppeltes Plus.

Viertens. Falls ich mich weigerte, würde ich in Serrest verhasst sein. Das war ein klares Minus, oder besser, ein klares Argument, an dem Szenario teilzunehmen. Malabar hatte nur vierzig Provinzen, und zu einer von ihnen den Zugang zu verlieren wäre eine äußerst kurzsichtige Entscheidung.

Das waren alle Argumente, die ich mir vorstellen konnte. Ich weiß nicht, wie jemand anderes an meiner Stelle entschieden hätte, aber für mich war die Sache klar. Ich wollte meine Freiheit nicht auf einen Tag pro Woche einschränken. In diesem Sinne, alles Gute, Gouverneurskröte – du wirst leider auf mich verzichten müssen.

Beim Sprung in das Portal war ich zutiefst betrübt gewesen, die nächsten zwei Monate und sechsundzwanzig Tage im Schloss des Gouverneurs festzusitzen. Jetzt sah die Sache weit weniger schlimm aus – das System hatte mir eine Vorschau auf das Szenario angeboten, in der naiven Überzeugung, dass ich es akzeptieren würde. Schließlich wurde es durch so viele Geschenke und Boni versüßt … Aber ohne mich!

Selbstsicher wählte ich das »Ablehnen«-Feld, winzig klein neben dem viel größeren »Annehmen«-Button, und eine Sekunde später war die Welt von Farben, Geräuschen und dem vollen Geruch eines Kiefernwaldes erfüllt.

An den Spieler in der Strafkapsel! Du hast das Adaptionsszenario abgelehnt und wurdest in die Siedlung Dochtheim transportiert. In dieser Siedlung zu verbringende Zeit: 2 Monate, 26 Tage. Du darfst dich maximal 48 Stunden außerhalb von Dochtheim aufhalten. Solltest du der Siedlung länger fernbleiben, wirst du dorthin zurückteleportiert und der Verstoß wird in deinen Bewährungsdaten vermerkt. Nach drei Verstößen wird die Bewährung aufgehoben. In dem Fall wirst du in die Minen zurückgebracht, um dort den Rest deiner Strafzeit abzuleisten. Wir wünschen dir ein angenehmes Spiel!

Du hast die Pflicht-Quest »Besuch beim Dorfvorsteher« angenommen.

Beschreibung: Gehe zum Vorsteher von Dochtheim, um dir für die nächsten drei Monate eine Unterkunft zuweisen zu lassen. Muss innerhalb von 12 Stunden erfüllt werden.

Strafe bei Scheitern/Nichterfüllung der Quest: 3 Strafvermerke.

Ich konnte das Dorf in der Ferne sehen, und ich machte ein paar Schritte darauf zu, wurde aber prompt von einer weiteren Nachricht aufgehalten:

Deine Reputation beim Gouverneur der Provinz Serrest ist um 22.000 Punkte gesunken. Aktueller Status: »Verhasst«. Dir fehlen 12.000 Punkte bis zum Status »Verfeindet«. Da du einen maximalen Negativwert erhalten hast, sind alle Boni für tägliche Reputationsverbesserungen ungültig.

Das hätten sie mir nicht extra noch mal sagen müssen. Ich hatte schon gewusst, worauf ich mich einließ: die maximale Menge an Negativpunkten. Aber auch eine schlechte Reputation ist eine Reputation.

In Barliona gab es vier Stufen negativen Ansehens: »Misstrauisch«, »Abgeneigt«, »Verfeindet«, und »Verhasst«. Zwischen neutralem Ansehen und »Misstrauisch« lagen 1.000 Minuspunkte, mit minus 3.000 war man bei »Abgeneigt«. Minus 6.000 bedeutete »Verfeindet«, und minus 12.000 Punkte machten einen »Verhasst«. Ich hatte auf einen Schlag das Maximum erreicht! Als ich meinen Jäger gespielt hatte, hatte ich nur bei einer Fraktion den Status »Bewundert« erreicht, die höchste Reputation – und auch das erst nach mehreren Jahren im Spiel. Jetzt war ich nach nur drei Monaten geradewegs bei »Verhasst« gelandet!

Sicher, ein Schamane machte keine halben Sachen; da hieß es alles oder nichts; sei es beim Ansehen, beim Herstellen von Gegenständen – bevorzugt legendäre – und bei Frauen – bevorzugt solche, die einen ins Gefängnis bringen könnten. Schade war nur, dass ich nun nicht mehr nach Serrest konnte. Sollten die Wachen dort mich erblicken, würden sie mich sofort ins Gefängnis schicken, während die Situation »beurteilt« wurde. Ich würde dann einen Tag in vorläufiger Haft in einer Zelle verbringen, bevor man mich zur Grenze der Provinz teleportierte. Beim nächsten Mal würde ich zwei Tage in der Zelle sitzen, danach drei, und immer so weiter, ohne Obergrenze. Das Schlimmste daran: Es ist so gut wie unmöglich, so eine Reputation wieder zu verbessern – da müsste schon der Imperator persönlich eingreifen.

Am Rand meines Bewusstseins schwirrten Visionen eines sorgenfreien Lebens im Schloss des Gouverneurs herum, aber ich verscheuchte sie rasch und ging weiter Richtung Dochtheim. Auf den ersten Blick schien es ein ziemlich unspektakuläres Dorf zu sein. Den Schornsteinen nach zu schließen, gab es mindestens siebzig Haushalte. Die Gebäude bestanden aus Holz mit Schindeldächern, eingehüllt in das Gebell von Hunden und die vergnügten Rufe von Kindern, die hinter einer wie verrückt kreischenden Katze herrannten, welcher sie etwas an den Schwanz gebunden hatten – eine Szene ganz normalen Dorflebens, wie ich es von Besuchen bei meinen Eltern kannte. Die hohe Palisade aus dicken Baumstämmen rings um das Dorf bot Schutz vor dem dunklen Wald, der ungefähr hundert Meter entfernt aufragte. Irgendwie erinnerte mich dieser Wald an einen Hafen voller Masten; die Kiefern ragten kerzengerade in den Himmel hoch und filterten die Sonnenstrahlen mit ihrem dichten Nadelkleid aus, sodass darunter ein schummriges Zwielicht herrschte. Umgestürzte Bäume, Sträucher und Dickichte machten den Waldboden so gut wie unpassierbar. Nur vereinzelte Pfade, vermutlich von den Einheimischen hineingehackt, führten durch seine wundersamen Tiefen. Dieser finsteren Umgebung zum Trotz war das Dorfleben aber nicht auf das Innere der Palisaden beschränkt. Breite Felder, bepflanzt mit gelbem Getreide, und grüne Wiesen, auf denen Kühe und Schafe grasten, erstreckten sich bis direkt an den Waldrand. Dazu kam ein Acker voller Gemüse, über das sich einige Einheimische mit ihren Hacken bückten. Alles, was man von einem ländlichen Dorf erwarten konnte, war hier vertreten. Dichter, schwarzer Rauch und das widerhallende Klirren eines Hammers kennzeichneten die Schmiede, die nahe der Straße knapp außerhalb des Dorfs stand. Großartig: Dies war der Ort, wo ich hochleveln würde. Das einzige Problem war das rote Stirnband um meinen Kopf, das mich als Verbrecher auswies; ohne das Ding würden sie mir als freiem Bürger des Imperiums vermutlich einen roten Teppich ausrollen. So aber musste ich froh sein, wenn sie nicht mit Hunden und Mistgabeln anrückten.

Ich atmete die frische Luft tief ein und ging dann ohne Hast auf das Tor des Dorfes zu, wobei ich nach irgendwelchen Besonderheiten im örtlichen Leben Ausschau hielt. Meine Aufgabe war es, den Vorsteher zu finden und mich in Dochtheim zu »registrieren«. Wenn ich nur wüsste, wo ich nach ihm suchen sollte. Das hier waren nicht die Minen von Pryke, wo immer ein Ork an seinem Schreibtisch saß – hier konnte der Vorsteher praktisch überall sein.

Als ich mich dem Dorf näherte, versuchte ich, jedes Detail aufzuschnappen, das mir während der nächsten drei Monate von Nutzen sein könnte.

Ich sah den Schmied, größer als ein Bär, der aus der Schmiede trat, einen kleinen Eimer mit Wasser hob und ihn dann mit einem lauten »Ahhh« über seinem Kopf ausschüttete. In der kühlen Luft stieg Dampf von ihm auf, während er schnaubend das Haar schüttelte, und ein paar Sekunden maß er mich mit einer unfreundlichen Miene, bevor er den Amboss vom Boden hob, als wäre der eine Feder, und dann – mit einem letzten Blick an meine Adresse – wieder in der Schmiede verschwand. Meine Hoffnung, in diesem Beruf zu leveln, bekam erste Risse: Ich hasste Hitze. Ich arbeitete lieber gar nicht, als literweise zu schwitzen, während mir die Zunge aus dem Mund hing und kochende Luft mir die Lungen verbrannte.

Eine Gruppe von drei bärtigen Männern schwang auf dem Feld ihre Sensen, und auch sie starrten mich extrem unfreundlich an. Ihre schmalen Stirnen und ihre bedrohlichen und gleichzeitig intelligenzlosen Augen verliehen ihnen das Aussehen von Neandertalern, wie ich sie mal im Geschichtsunterricht gesehen hatte. Alles, was fehlte, waren Tierfelle auf ihren Rücken, aber ansonsten – wie aus dem Gesicht geschnitten. Als ich an ihnen vorbeiging, hörte ich Gemurmel, das rein gar nicht nach der Gemeinsprache von Barliona klang. Sicher war das Trio durch eine Quest verbunden: Entweder sie waren Questgeber, oder sie besaßen Informationen, die bei einer bestimmten Mission helfen würden. Falls ich mich unter den Einheimischen umhörte, würde sich sicherlich herausstellen, dass die drei nicht von hier waren.

Ein kurios aussehender Baum erregte meine Aufmerksamkeit …

»Vorsicht!« Die helle Stimme eines Kindes riss mich aus meiner Betrachtung lokaler Sehenswürdigkeiten. Ich drehte mich zur Quelle des Geräusches herum und öffnete den Mund, um zu fragen, was los war, da traf etwas Großes, Hartes und sehr Schmerzhaftes meine Stirn. Bämm! Kurz wurde die idyllische Dorflandschaft um einen durch die Luft fliegenden Schamanen bereichert, der wilde Verwünschungen ausstieß. Aber mein Flug war nur von kurzer Dauer und endete in einem Haufen frisch geschnittenen Heus. Mühsam und Gras spuckend grub ich mir einen Weg aus dem grünen Gewirr, dann strich ich meine Kleidung sauber. Was zum Teufel?! Aus reiner Gewohnheit blickte ich auf meine Trefferpunkte, was mir noch einen Fluch entlockte. Ich war runter auf 60 %! Was zur Hölle war das jetzt? Die Antwort folgte auf dem Fuße in Form eines mit Seil umwickelten und durch Metallplatten verstärkten riesigen Wagenrades. Aha. Eine Begegnung mit dem Ding konnte ganz leicht zu vorzeitigem Spielertod und einem Respawn führen!

»Alles in Ordnung?« Ein kleiner, atemlos keuchender Junge rannte mit rotem Kopf auf mich zu. Dem Aussehen nach konnte er nicht älter als sieben sein. »Ich war … mein Zahn … das Rad! Es ist so schwer! Und dann warst du plötzlich da! Und es rollte in die falsche Richtung! Hat meinen Zahn glatt ausgerissen! Und dann … bumm! Und du fliegst durch die Luft … wuschhh! Hat es wehgetan?« Während er sein zerzaustes, rotes Haar mit den Fingern glatt strich, sah er mich so besorgt und schuldbewusst an, dass ich einfach nicht böse auf ihn sein konnte. »Du wirst meiner Mama doch nichts sagen, oder? Unser Schmied ist gut im Zähneziehen, aber er ist immer so beschäftigt, also musste ich es selber machen«, erklärte der Junge, und als er zwischen den Worten Luft in seinen Mund saugte, konnte ich die Lücke sehen, wo sich der Zahn befunden hatte.

»Jetzt habe ich eine Zahnlücke. Wie der Kahle Bobby«, plauderte der Junge munter weiter. Das Rad, das mich erwischt hatte, hielt bei den Einheimischen also als Ersatz für den Zahnarzt her, wenn der Schmied gerade zu beschäftigt war.

»Bitte, sag es meiner Mama nicht. Sonst lässt sie mich nicht mehr allein aus dem Dorf, nur noch mit meiner Schwester. Und die ist so eine Langweilerin: Das darfst du nicht! Fass das nicht an! Bleib von den Hunden weg! Bläh! Wie kann man nur so langweilig sein? Ich weiß noch, einmal gingen wir in den Wald und …«

Es schien Teil seiner NPC-Einstellungen zu sein, dass er vom Angesicht Barlionas verschwinden musste, falls er auch nur eine Minute lang den Mund hielt. Worum es sich handelte, war offenbar unwichtig, ebenso wenig, ob er damit jemandem auf den Keks ging, oder ob überhaupt irgendjemand zuhörte – er musste einfach weiter und immer weiter plappern. »In Ordnung, Stopp!«, unterbrach ich seine Geschichte über dieses eine Mal im Wald, als er den großen, hinterlistigen Hasen gefangen hatte. »Kennst du den Dorfvorsteher? Ich werde deiner Mama nichts sagen, wenn du mich zu ihm bringst.« Ich konnte einen Fremdenführer gebrauchen, bis ich mich zurechtfand, und der Junge kannte sicherlich alles und jeden im Dorf.

»Der Vorsteher? Wer kennt ihn nicht? Fünf Kupfer, und ich bringe dich sofort zu ihm. Er versteckt sich immer, allein wirst du ihn nie finden.« Der Knabe grinste und hielt mir mit erwartungsvoller Miene seine kleine Hand hin.

»Hier, du kleiner Erpresser.« Ich ließ fünf Kupfermünzen in seine Handfläche fallen, und sie verschwanden sofort, als hätten sie nie existiert. Natürlich hätte ich den Jungen dazu bringen können, mich auch ohne Bezahlung zum Vorsteher zu führen, aber fünf Kupfer würden mich nicht in den Ruin treiben. Außerdem sprang ja vielleicht eine Quest bei seinen Eltern heraus. Und falls sich ergab, dass ich dem Bengel kein Geld hätte geben müssen, konnte ich ihm immer noch den Hintern versohlen.

»Wie heißt du?«, fragte ich den Kleinen, der inzwischen um das umgekippte Wagenrad herumschlich und anscheinend überlegte, von welcher Seite es sich am leichtesten wieder aufrichten ließe.

»Ich bin Brecher«, antwortete der Bursche. Seine Versuche, das Rad in die Höhe zu stemmen, ließen sein Gesicht rot anlaufen.

»Das ist kein echter Name. Komm, lass mich dir helfen.« Ich trat neben ihn und stellte das Rad aufrecht hin. Es war wirklich schwer. »Und wohin rollst du es jetzt?«

»Ich bin Brecher«, beharrte der kleine Kerl, wobei er sich mit dem Ärmel über die Nase wischte. »Avtondil ist ein dummer Name. So will ich nicht genannt werden. Alle haben einen guten Namen, nur ich nicht. Ständig werde ich deswegen von den Fällern verprügelt. Das Rad müssen wir nirgends hinschieben. Lass es einfach da runterrollen, es kommt dann schon von ganz alleine an.« Avtondil … nein, Brecher deutete in Richtung des Dorfes. »Diesmal hoffentlich, ohne dass es jemanden trifft.«

»Und wer sind diese ›Fäller‹?«

»Die sind aus der Fällerstraße. Al Spottinos Bande. Vorsicht!« Das schrie Brecher hinter dem Rad her, anschließend rief er mir noch zu: »Wir sehen uns unten!«

Er stolperte ein paar Mal und kullerte den Hang hinab, aber jedes Mal kam er nach ein paar Metern wieder auf die Beine und rannte weiter hinter dem Rad her, wobei er Warnungen schrie, so laut er nur konnte. Ich lachte über seine Tölpelhaftigkeit und wollte ihm gerade folgen, als mich plötzlich eine Hand herumriss, vom Boden hochhob und mich vor das wütende, bärtige Gesicht des Schmieds hielt.

»Warum schikanierst du Brecher, du Strolch?« Bevor ich irgendetwas erwidern konnte, holte der Schmied aus, und ich flog erneut durch die Luft. Es war nicht so, als hätte ich einen königlichen Empfang erwartet, aber das hier ging dann doch zu weit. Diese Flüge wurden allmählich zu einem echten Problem. Während ich mich vom Boden hochkämpfte, sah ich kurz auf meine Trefferpunkte. Oh, Mann! Nur noch 18 % Leben! Der Schlag des Schmieds hatte mir stärker zugesetzt als das Rad! Ich erkannte, dass ich einen zweiten Hieb nicht überleben würde, und begann, einen Geist der Heilung für mich zu beschwören.

»Was soll das Getanze? Du bist ein Hexenmeister!« Zum Glück beschleunigte die Zaubertrommel die Beschwörung, und ich konnte mich vollständig heilen, bevor ich das nächste Mal durch die Luft segeln würde. Das war doch mal ein Schmied! Stark wie ein Bär. Ich versuchte aufzustehen, aber meine Beine gaben nach, und ich sank wieder auf den Boden. Eine halb durchsichtige Meldung erschien vor mir:

Benommenheit! Du kannst dich 10 Sekunden nicht konzentrieren.

Fähigkeitssteigerung: + 10 % auf Ausdauer. Insgesamt: 60.

»Aufhören, Meister Schiefer!«

»Halt dich da raus, Brecher. Kannst du nicht sehen, dass wir es mit einem brutalen Hexenmeister zu tun haben?«

»Er ist nicht brutal! Er hat mir geholfen, das Rad wieder ins Dorf zu bringen, und er wollte zum Vorsteher!«

»Zum Vorsteher, sagst du?« Schiefer baute sich über mir auf und zog mich mit einer Hand vom Boden hoch. Seinem Griff nach wäre »Granit« wohl der passendere Name gewesen. »Was willst du vom Vorsteher?«

»Ich werde drei Monate hier leben«, krächzte ich durch meinen halb zerquetschten Sprechapparat. Jetzt, wo ich als Schamane spielte, lernte ich Barliona aus einem gänzlich neuen Blickwinkel kennen: Ich hätte nie gedacht, dass man so krächzte, wenn man fast erwürgt wurde. Nicht dass man in Barliona wirklich erwürgt werden konnte – es blinkte lediglich eine Statusanzeige in meinem Sichtfeld, um mich zu informieren, dass ich nicht genug Luft bekam. Aber das Krächzen war trotzdem eine völlig neue Erfahrung. Der Schmied ließ mich los, und ich fiel wie ein Sack Kartoffeln zu Boden.

»Hier leben, hm? Warum lungerst du dann herum, als wolltest du uns ausspionieren? Der Vorsteher ist nicht hier.« Ohne auf eine Erklärung zu warten, drehte Schiefer sich um und verschwand wieder in seiner Schmiede. So wie es aussah, war meine erste Begegnung mit den Bewohnern von Dochtheim alles andere als ein Erfolg.

»Ärger dich nicht«, sprudelte es aus Brecher hervor. »Meister Schiefer ist nett, vermutlich ist ihm heute nur etwas bei der Arbeit misslungen, und deswegen ist er gereizt. Gehen wir gemeinsam ins Dorf. Ich hab das Rad schon zurückgebracht. Siehst du, wo es durch den Zaun gerollt ist? Da kann es liegen bleiben.«

Am hölzernen Tor traf ich auf die Dorfwachen – zwei Männer mit roten Nasen und verquollenen Augen. Sie hatten Mühe, in einer aufrechten Position zu bleiben, und mussten sich schwer auf ihre Speere stützen. Das lag augenscheinlich nicht daran, dass sie müde waren oder schon zu lange auf ihrem Posten standen; vielmehr waren sie stockbetrunken. Den Geruch von Selbstgebranntem konnte man selbst in einem Dutzend Schritt Entfernung riechen. Und als wäre das noch nicht genug, verrieten mehrere auf dem Boden verstreute Flaschen, was diese tapferen Hüter von Recht und Ordnung so trieben. Ihr restliches Erscheinungsbild machte auch nicht viel her: kurze Kettenhemden, die nur halb über feiste Bierbäuche reichten, darunter schlichte Hemden, mit Nieten besetzte, dicke Hosen und abgetragene Stiefel. Ja, die Wachen sahen so »furchteinflößend« aus, dass jeder Feind, der in das Dorf einfallen wollte, sich vorher totgelacht hätte.

»Halt! Hicks … wer bissu …?«

»Ich will mit dem Dorfvorsteher sprechen. Ich soll mich hier niederlassen«, antwortete ich schlicht. Der Vorsteher schien hohes Ansehen zu genießen, ihn zu erwähnen, könnte mir vielleicht ein paar Türen öffnen.

»Zum Vorsteh’r, eh?«, brummelte die zweite Wache mit lallender Stimme. »Sag ihm, das Tor is’ in guten Händen. Wir ham alles im Auge. Kein Feind kommt an uns vorbei!« Der Mann richtete sich auf, um zu demonstrieren, was für ein mächtiger Krieger das Dorf bewachte. Tatsächlich wurde er so von Emotionen übermannt, dass er glatt die Balance verlor und mehrere Schritte nach hinten stolperte, ehe er mit dem Rücken gegen die Palisade prallte und daran entlang auf den Boden rutschte, jetzt, wo er sich nicht mehr auf den Speer stützte.

»Warte, Wilkins!« Die andere Wache eilte zu ihm hinüber und vergaß dabei vollkommen, wie ungerecht solche Dinge wie Gleichgewicht und Schwerkraft doch sein konnten.

Ich schüttelte bei dem Anblick resignierend den Kopf und wollte gerade das Dorf betreten, aber dann sah ich die Flügel des offen stehenden Tors, die bislang hinter den fülligen Wachen verborgen gewesen waren. Sie bestanden aus gewöhnlichem Holz, aber eine Seite war von den Kratzspuren einer wilden Bestie mit vier Klauen überzogen. Und diese Spuren befanden sich auf der Innenseite, so als hätte, was immer diese Krallen trug, versucht, sich einen Weg in die Außenwelt zu bahnen. Ich fragte mich, ob das wohl mit einer Quest zu tun haben mochte. Galt es vielleicht, das Monster zu finden und zu vernichten? In dem Fall würde ich dem Vorsteher gern meine Dienste anbieten.

»Was ist mit dem Tor passiert?«, fragte ich Brecher, als wir uns einem großen Haus in der Mitte des Dorfes näherten.

»Nichts ist mit unserem Tor passiert.«

»Und die Spuren, die aussehen wie von Krallen?«

»Das ist eine Mutprobe der Fäller. Jede Nacht schleichen sie sich an den schlafenden Wachen vorbei und ritzen mit Messern Rillen ins Tor. Falls man sie erwischt, werden sie dem Vorsteher vorgeführt; falls nicht, ernten sie jede Menge Ehre und Respekt. Ich wurde zum Beispiel noch nie erwischt!«

»Und wie oft hast du dich schon ans Tor geschlichen?«, fragte ich, um die Unterhaltung in Gang zu halten. Aber ich war enttäuscht; das hätte so eine tolle Quest sein können!

»Bis jetzt … null Mal, aber dafür wurde ich auch null Mal erwischt.« Das Kind schenkte mir ein zahnlückiges Lächeln und deutete auf ein bunt gestrichenes Haus. »Da wären wir. Der Vorsteher ist meist da drinnen.« Anschließend flitzte er so schnell davon, dass ich nur noch seine hellen Fußsohlen sah. »Und nicht vergessen«, rief Brecher, nachdem er ein gutes Stück gerannt war und sich noch einmal herumdrehte. »Kein Wort zu Mama wegen des Rads!«

»Du wurdest also hergeschickt, um bei uns zu leben?«, fragte der Vorsteher mich, während er behutsam ein Stück Papier aufrollte und es in einer Schublade seines Tisches verstaute. Bereits im ersten Moment, als ich ihn sah, war mir klar: Hier hatten wir jemanden, der die Ordnung liebte. Einen Pedanten und gleichzeitig einen NPC, der ziemlich von sich selbst überzeugt war. Ich konnte nicht sagen, warum, aber seine Erscheinung erinnerte mich irgendwie an die Berater des Imperators von Malabar. Er hatte dieselben herrischen Gesichtszüge, akzentuiert durch einen kurzen Kinnbart, und durchdringende, wachsame Augen, denen kein noch so kleines Detail entging. Rundum schien er der Inbegriff eines guten Barliona-Beamten zu sein – und damit das genaue Gegenteil der Gouverneurskröte. Dass so ein Anführer den Respekt der Leute in seinem Dorf genoss, war keine große Überraschung.

»Ja, für knapp drei Monate.«

»Du musst nicht stehen. Setz dich. Mal überlegen, was du hier tun kannst.« Der Vorsteher deutete auf einen Sessel, dann lehnte er sich auf seinem eigenen zurück und blickte zur Decke hoch, so als müsste er erst darüber nachdenken, wie ich seinem Dorf von Nutzen sein könnte.

Ich setzte mich auf den weichen, recht gemütlichen Sessel, der augenscheinlich nicht hier in Dochtheim hergestellt worden war. Es war seltsam, solche Möbelstücke im Haus eines einfachen NPCs vorzufinden, ob er nun Vorsteher war oder nicht. Da ich seine Überlegungen nicht stören wollte, begann ich, mich im »Büro« umzusehen. Es handelte sich um einen abgetrennten Bereich in einem Wohnhaus mit einem großen Holztisch in der Mitte, ähnlich dem des Gouverneurs in der Pryke-Mine. Das Möbel stellte ein Musterbeispiel für einen aufgeräumten Arbeitsplatz dar: Alles war in Mappen und zu ordentlichen Stapeln angeordnet, nichts lag schief oder war verrutscht. Dieser Mann war wirklich ein Pedant. Das restliche Mobiliar des Büros bestand aus ein paar kleinen Glasvitrinen mit Büchern und Schriftrollen, einem Kamin und einem luxuriösen, dicken Teppich. Ich wollte mich gerade meinem Gastgeber zuwenden, als mein Blick an einem relativ kleinen Gemälde hängen blieb: Es zeigte den Vorsteher, zwei Männer, eine attraktive junge Frau und einen Farbfleck, der das Gesicht einer fünften Person auf dem Bild überdeckte.

»Wir haben keine Gasthäuser, also werden wir dich bei einem unserer Leute unterbringen müssen. Ich denke, Elisabeth wird nichts dagegen haben. Ihr Haus steht seit zwei Jahren fast leer.« Der Vorsteher schrieb etwas auf ein Blatt Papier und reichte es mir dann. »Hier, bitte, gib ihr das, wenn du zu ihr gehst. Bevor ich dich aber für eine Arbeit einteile, muss ich erst einmal wissen, was du kannst und welche Fähigkeitsstufe du besitzt. Ich brauche genaue Zahlen.«

Ich öffnete die Attribut-Liste und begann, einen Teil meiner Fähigkeiten samt dem betreffenden Level vorzulesen. Es war gut, dass er nicht alle meine Werte zu erfahren verlangte. Der Mann mochte zwar nur ein Imitator, ein NPC, sein, trotzdem hätte ich ihm nur höchst ungern verraten, dass ich etwa »Handwerk« beherrschte. So beließ ich es bei einer Aufzählung von ein paar Basiswerten und meinen Berufen, während sich in meinem Sichtfeld eine viel längere Liste geöffnet hatte.

Statistik des Spielers MahanErfahrung

285

von

1400

Zusätzliche AttributeVolkMenschKörperschaden

57

KlasseSchamaneMagieschaden

555

HauptberufJuwelierCharakterlevel

14

Phys. Widerstand

230

Trefferpunkte

680

Magieresistenz

60

Mana

1850

Feuerresistenz

60

Energie

100

Kälteresistenz

60

AttributeProzentGrundwertBonus GegenstandGiftresistenz

60

Chance auf Ausweichen

6,4 %

Ausdauer

58 %

30

68

Beweglichkeit

24 %

7

7

Chance auf kritischen Treffer

2,8 %

Stärke

55 %

18

21

Intelligenz

16 %

56

185

Charisma

40 %

6

6

Handwerk

0 %

3

4

Durchhaltevermögen

60 %

10

10

Nicht gewähltFreie Attributpunkte

0

BerufeJuwelierhandwerk

61 %

12

12

Bergbau

61 %

12

13

Handel

25 %

6

6

Kochen

20 %

5

5

»Ein Juwelier, Bergarbeiter und Koch«, murmelte der Vorsteher nachdenklich. »In unserer Gegend sind diese Fähigkeiten vollkommen nutzlos. Wir haben keine Edelsteine; da muss man schon zwei Tage mit dem Karren in die Stadt fahren und sich welche kaufen. Bergbau wäre vielleicht ganz nützlich gewesen, aber wir haben nur eine Eisenader, drüben bei der Schmiede, und um die kümmert sich schon unser Schiefer. Ganz davon abgesehen, dass du ohnehin nicht gut genug wärst, um eine Eisenader abzutragen. Du könntest natürlich in die Freien Lande reisen. Das ist nicht weit von hier. Da gibt es Zinn- und Marmoradern, aber unser Wald ist gefährlich. Nur die wenigsten wagen sich ohne entsprechenden Schutz dort hinein. Und dass du Koch bist, bringt auch nichts. Unsere Frau Potts ist eine Meisterin ihres Fachs. Von der kann jeder noch was lernen – sogar ein Koch des Gouverneurs. So viel also dazu.«

Wir befanden uns in der Nähe der Freien Lande? Wohin zum Teufel hatte es mich hier verschlagen? Lag dieser Ort wirklich mitten im Nirgendwo?

»Sie haben nicht zufällig eine Karte des Imperiums zur Hand? Ich würde gerne wissen, wo genau ich hingeschickt wurde, um meine freie Siedlungszeit zu verbringen«, bat ich den Vorsteher.

Er kniff die Augen zusammen und bedachte mich mit einem langen, durchdringenden Blick, bevor er erwiderte: »Ja, es gibt eine Karte.«

Er räumte den Tisch frei, nahm eine Pergamentrolle aus einer der Schubladen und breitete sie zu einer umfassenden Karte des Imperiums von ungefähr einem mal anderthalb Metern Größe aus. Wo hatte er dieses Kunstwerk nur herbekommen?! Solche Karten kosteten normalerweise zehntausend Goldstücke! »Wir sind hier.« Der Vorsteher deutete mit dem Finger auf die Grenze zu den Freien Landen. Ich beugte mich über die Karte und stieß einen lautlosen Fluch aus. Mitten im Nirgendwo war noch eine Untertreibung.

Nach der Vereinigung aller Nationen und der Einführung der einen Sprache war die reale Welt in fünf große Regionen aufgeteilt worden: Eurasien, Afrika, Australien und die beiden Amerikas. Parallel zu dieser Situation in der echten Welt war auch Barliona in Form von fünf großen Kontinenten gestaltet worden, von denen jeder in durchschnittlich drei Zonen untergliedert war. Auf unserem Kontinent gab es beispielsweise die Imperien Malabar und Kartoss sowie die Freien Lande. Malabar war die Heimat der Spieler; dort gab es die meisten Ressourcen, all die großen Quests, Fraktionen und Städte, einschließlich der Hauptstadt, plus einige unerforschte Gebiete. Die Gegend, in der ich mich hier befand, gehörte zu diesen noch nicht gänzlich kartografierten Regionen – selbst auf der Karte des Vorstehers war sie nur sehr grob skizziert.

Kartoss, das Dunkle Imperium unter der Herrschaft des namenlosen dunklen Imperators, maß nur knapp ein Fünftel der Größe Malabars, aber das hielt es nicht davon ab, durch ständige Überfälle und Vorstöße für Ärger zu sorgen. Doch auch Kartoss hatte seine Reize; es quoll förmlich über vor einmaligen Objekten und Bodenschätzen, weswegen immer wieder erfahrene Spieler dorthin aufbrachen. Interessanterweise machte es dabei keinen Unterschied, ob man sich mit einer Gruppe von hundert Spielern nach Kartoss schlich oder ganz allein – die Chance auf fette Beute war exakt dieselbe. Es war unmöglich, auf der Seite des Dunklen Imperiums zu spielen, auch wenn Spieler schon oft Petitionen gestartet und sogar Demonstrationen abgehalten hatten, um für die dunkle Seite von Barliona antreten zu dürfen. Das Unternehmen hatte schon oft versprochen, diese Möglichkeit einzubauen, aber soweit ich weiß, wurde nie etwas in dieser Richtung unternommen. Kartoss war und blieb ein Reich der NPCs.

Zu guter Letzt gab es noch die dritte Zone des Kontinents, die beinah sechzig Prozent des zugänglichen Spielbereichs ausmachte: die Freien Lande. Dort existierten vereinzelte, unabhängige Städte mit eigenen Reputationssystemen, Dörfer, bestehend aus zwei, drei Dutzend Häusern, riesige Wälder, endlose Steppen, unpassierbare Sümpfe und Berge, die bis in die Wolken aufragten. In den fünfzehn Jahren seit der Schöpfung von Barliona waren nur dreißig Prozent der Freien Lande erkundet worden, der Rest blieb hinter dem Schleier des Unbekannten verborgen. Natürlich gab es ein paar Enthusiasten, die alle anderen Aktivitäten aufgaben und sich ganz der Erforschung der Freien Lande widmeten. Aber die meisten schafften es nicht, Karten der bereisten Gebiete anzufertigen, und die anderen behielten ihre Karten entweder für sich oder – und das war wahrscheinlicher – sie verkauften sie für schwindelerregende Summen an die großen Klans. Für die Mehrheit der Spieler blieben die Gebiete der Freien Lande jedenfalls ein Mysterium. Man konnte nur spekulieren, welche Quests und Erfolgserlebnisse sich dort verbargen, aber das Unternehmen ermunterte die Spieler immer wieder, die Kämpfe gegen Kartoss aufzugeben und doch lieber die Freien Lande zu erkunden, weil sich dort angeblich die besten Boni im ganzen Spiel finden ließen. Die Entwickler platzierten sogar viele der neuen Dungeons, die halbjährlich eröffnet wurden, in den noch unerforschten Teilen der Freien Lande, um Spielern einen zusätzlichen Anreiz zu bieten, damit sie dorthin reisten. Aber ich schweife wieder mal ab …

Ich war in eine Siedlung am äußersten Rand des Imperiums transportiert worden, nahe der Grenze der Freien Lande – einer Grenze, die hier aus undurchdringlichen Wäldern, Sümpfen und Bergen bestand. Es gab keine Städte oder Dörfer ringsum. Auf der Karte konnte ich, ziemlich genau an der Stelle, wo Dochtheim verzeichnet war, mehrere Symbole erkennen, die leer stehende Minen in der Gegend anzeigten. Vielleicht sollte ich dorthin gehen und mich umsehen. Was meine Stimmung aber wirklich trübte, war, dass die nächste imperiale Siedlung, Fernstatt, schrecklich weit entfernt lag. Zwei Tage mit einem Karren, das war nicht gerade um die Ecke, falls ich den Maßstab der Karte richtig interpretierte. Und da ich Dochtheim nicht länger als zwei Tage am Stück verlassen durfte, kam ein Besuch in Fernstatt schon nicht mehr infrage.

»Alles gefunden, wonach du gesucht hast?«, fragte der Vorsteher, dann rollte er die Karte wieder zusammen und ließ sie in seinem Schreibtisch verschwinden. »Das hier mag nicht der Nabel des Imperiums sein, aber es gibt trotzdem genug zu tun.«

»Haben Sie eine Aufgabe für mich?«, fragte ich aus Gewohnheit, wohl wissend, dass mein rotes Stirnband mich in den Augen eines NPC nicht sonderlich vertrauenswürdig erscheinen ließ. Es würde ein paar Wochen dauern, bis sich die Einheimischen an mich gewöhnt und ihr Misstrauen wegen des Stirnbands vergessen hatten. Erst dann würden sie mir Quests geben. Aber ein Versuch konnte nicht schaden, oder?

»Natürlich gibt es Dinge zu erledigen, aber die kann ich nicht einfach einem Fremden anvertrauen«, erklärte der Vorsteher, womit er meine Gedanken bestätigte. »Leb erst mal ein Weilchen hier und leiste deinen Beitrag zum Dorfleben, dann sehen wir weiter. Obwohl … eine Sache wäre da. Vor Kurzem ist ein Wolfsrudel im Wald aufgetaucht. Sie werden immer aggressiver und haben angefangen, unsere Herden anzugreifen. Die Hirten sagen, dass die Tiere von einem riesigen Wolf angeführt werden. Falls du ihn unschädlich machen kannst, gibt es vielleicht noch weitere Aufgaben für dich. Es ist höchste Zeit, dass jemand das Rudel ausdünnt. Es ist viel zu groß, um es einfach so im Wald umherstreifen zu lassen. Aber ich brauche einen Beweis. Dein Wort allein reicht nicht, hörst du?«

Die Quest »Jagd auf Grautod« ist verfügbar.

Beschreibung: Ein Wolfsrudel, angeführt von einem mächtigen Alphatier, ist in der Umgebung von Dochtheim erschienen. Vernichte 10 Wölfe und Grautod. Bring Wolfsschwänze zurück, um zu beweisen, dass du deine Aufgabe erfüllt hast. Drop-Wahrscheinlichkeit für Wolfsschwänze: 100 % bei jedem Mob.

Quest-Typ: Gewöhnlich.

Belohnung: + 100 Reputation in der Provinz Krong, + 100 Erfahrung, + 80 Silbermünzen.

Strafe bei Scheitern/Nichterfüllung der Quest: – 100 Reputation in der Provinz Krong.

»Ich mach’s. Gleich morgen Früh mache ich mich auf die Jagd nach den Wölfen«, sagte ich, als ich die Quest annahm. »Aber ich habe noch ein paar Fragen. Wie viele …«

»Erst die Wölfe, dann die Fragen.« Der Tonfall, in dem der Vorsteher mich unterbrach, machte klar, dass die Angelegenheit für ihn erledigt war. »Tisha wird dich jetzt zu Elisabeth bringen. Vergiss nicht, ihr den Brief zu geben. Und morgen gehst du auf die Jagd. Danach können wir weiterreden. Tisha!« Ein paar Sekunden nach dem Ruf des Dorfvorstehers betrat das Mädchen von dem Gemälde den Raum.

»Lass mich euch einander vorstellen. Das ist meine Tochter Tiliasha. Das ist Mahan; er wird die nächsten drei Monate hier bei uns im Dorf wohnen. Bring ihn zu Elisabeth, er kann bei ihr bleiben.«

»Nenn mich Tisha.« Die sanfte Stimme des Mädchens passte zu ihrer lieblichen Erscheinung. »Gehen wir. Ich zeige dir unser Dorf.« Mit anmutigen Bewegungen schritt sie zur Tür, von wo aus sie mir bedeutete, ihr zu folgen.

Du hast die Quest »Besuch beim Dorfvorsteher« abgeschlossen.

Es war ein großes Dorf. Vom Hügel aus hatte ich ungefähr siebzig Häuser gezählt, aber tatsächlich waren es einhundertunddrei, wie Tisha mir erzählte. Das war ziemlich viel, vor allem für so eine Grenzsiedlung. Dochtheim folgte dem üblichen Aufbau: Es gab einen zentralen Platz, wo sich das Haus des Vorstehers befand, und drei Straßen – eine gerade, eine gekrümmte und eine gewundene. Die Kinder aus diesen Straßen befanden sich in ständigem Wettstreit, um zu ermitteln, wer der Beste und Stärkste unter ihnen war; folglich waren Raufereien an der Tagesordnung.

Tisha erzählte mir auch von dem Tor – vor einem Jahr hatte ihr Vater drei Klauenmale ins Holz geritzt, um den Kindern Angst einzujagen, weil ihr Übermut allmählich zu einem Problem wurde. Es sollte aussehen, als gäbe es einen Werwolf im Dorf. Aber der Plan war nach hinten losgegangen: Eine ganze Woche hatten alle so große Angst gehabt, dass sich niemand mehr bei Nacht vor die Tür traute. Also war der Vorsteher gezwungen gewesen, die Sache zu gestehen, und so war daraus eine Mutprobe unter den Jünglingen geworden. Wer Respekt verdienen wollte, musste Klauenmale ins Tor schnitzen. Tagsüber wurde besagtes Tor von zwei Trunkenbolden bewacht, die kaum etwas taugten, aber bei Nacht übernahmen richtige Wachen deren Posten – entweder Tishas Brüder oder Leute, die sie angeheuert hatten; freie Bürger des Imperiums so wie ich. Nur ohne das rote Stirnband, versteht sich. Ich konnte nicht anders, als zu fragen, ob sich jetzt gerade freie Bürger im Dorf aufhielten. Zu meiner großen Enttäuschung erklärte mir das Mädchen, dass schon seit einem halben Jahr keine solche Person mehr nach Dochtheim gekommen war.

Tishas eigene Geschichte entpuppte sich als äußerst interessant. Sie war gemeinsam mit ihrer Familie vor gerade mal zwei Jahren ins Dorf gekommen, unmittelbar nach dem Tod des vorigen Vorstehers – Elisabeths Ehemann. Davor hatte Tisha in einer großen Stadt gelebt, wo ihr Vater eine hochrangige Position bekleidet hatte. Hochrangig genug, dass eine Kutsche ihn jeden Morgen abholte und abends wieder ablieferte und er regelmäßig eine große Zahl teuer gekleideter Leute in seinem Haus bewirtete und im Arbeitszimmer lange Gespräche mit ihnen führte. Dann war etwas geschehen, und ihr Vater hatte ihre Sachen gepackt und war mit ihnen hierhergekommen, an den Rand des Imperiums.

»Dann wird das Tor nachts also von deinen Brüdern bewacht? Von allen dreien?« Der Gedanke an das Gemälde mit dem Farbfleck ließ mir keine Ruhe – etwas stimmte hier nicht. Nach meiner Initiation hatte ich beschlossen, besser auf meine Instinkte zu hören.

Ein Schatten fiel auf Tishas Gesicht, und sie verstummte. Eine Weile gingen wir wortlos durch das Dorf, bis sie sich schließlich wieder gefangen hatte und mit ernster Stimme erklärte: »Nein, nicht drei, nur zwei. Aber sie schieben nur einmal pro Woche Wachdienst. Frag mich bitte nicht nach meinem dritten Bruder. Ich selbst kann mich nicht an ihn erinnern, und auch sonst spricht niemand in der Familie über ihn. Ich weiß nur, dass er sein Blut und seine Heimat verraten hat und dass Vater ihn auf ewig verbannte. Also kein Wort mehr über ihn. Wir sind da. Elisabeth wohnt in diesem Haus.«

Tisha drehte sich um und verschwand rasch hinter der nächsten Biegung der Straße. Ups. Es sah ganz so aus, als wären meine ehrgeizigen Pläne, sie zu verführen, gerade den Bach runtergegangen. Jetzt durfte ich von ihr außer einem kurz angebundenen »Hallo« wohl nichts mehr erwarten, bis ich mein Ansehen bei ihr wieder verbessert hätte. Schade. Aber alles in allem hatte ich durch sie einige interessante Informationen in Erfahrung gebracht. Jemanden aus seiner Familie zu verbannen, ist auch für einen Imitator eine ziemlich ernste Angelegenheit. Ich konnte mir nicht vorstellen, was geschehen sein musste, damit ein ehemals hochrangiger Beamter seinen eigenen Sohn verstößt. Sobald ich meine Reputation auf »Freundlich« gebracht hätte, würde ich den Vorsteher selbst auf das Gemälde ansprechen. Jede Wette, dass die Geschichte hinter dieser Verbannung recht kompliziert und an eine Quest geknüpft war. Solche Missionen waren typisch für Barliona – sie verbesserten die sozialen Fähigkeiten des Spielers, wenn sie ihn Familien wieder zusammenführen ließen.

»Du hast gesagt, dass du Mama nicht von dem Rad erzählen wirst«, riss mich eine aufgebrachte Kinderstimme aus meinen Gedanken. »Du hast es versprochen!«

»Erstens habe ich nichts dergleichen versprochen, und zweitens habe ich nicht vor, irgendjemandem irgendetwas zu erzählen. Was tust du überhaupt hier?« Es dauerte eine Weile, bis ich Brecher unter der Veranda kauern sah.

»Was meinst du? Ich wohne hier. Mit meiner Mama und meiner Schwester«, erwiderte der Junge, während er aus seinem Versteck kroch.

»Das trifft sich gut. Ist deine Mutter da?«

»Ja, und wie sie da ist.« Brecher blickte sich um, aber dann schien er es sich anders zu überlegen und kroch wieder unter die Veranda. »Aber ich geh da nicht rein. Es gibt Kartoffelbrei zum Abendessen, und ich hasse Kartoffelbrei. Falls Mama mich sieht, wird sie mich am Ohr packen und mich an den Tisch setzen. Es ist besser, ich bleibe noch eine Weile hier.«

»Kann ich dir helfen?« Eine tiefe Frauenstimme ließ mich von Brechers Versteck aufblicken. Dem Quietschen der Bodenbretter nach zu urteilen, wollte der Junge mir zu verstehen geben, dass er nicht hier war und dass ich auch keine Ahnung hatte, wo er wohl zu finden wäre. Elisabeth blickte mit dem wissenden Lächeln einer Mutter zwischen ihren Füßen hinab, dann wandte sie sich mit einer völlig unerwarteten Frage wieder an mich: »Verzeihung, hast du vielleicht einen rothaarigen Jungen gesehen? Ich habe seinen Lieblingskuchen gebacken, aber er wird schon bald kalt sein, und dann schmeckt er nicht mehr so gut. Ich werde ihn Daunie geben müssen, obwohl sie schon den ganzen Kartoffelbrei hatte.«

»Du hast Daunie den Kartoffelbrei gegeben? Wirklich?« Nachdem er sich mehrmals den Kopf an den Bodenbrettern angeschlagen hatte, flitzte Brecher aus seinem Versteck und stellte sich mit leuchtenden Augen vor seine Mutter. »Ist es Blaubeerkuchen?«

»Natürlich ist es Blaubeerkuchen, genauso, wie du ihn magst. Geh rein, solange er noch heiß ist, du Lausebengel.« Elisabeth verwuschelte sein Haar, als er an ihr vorbeirannte, anschließend richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Also, was kann ich für dich tun?«

»Der Vorsteher schickt mich. Er sagte, ich könnte die nächsten drei Monate bei euch wohnen. Hier ist ein Brief von ihm.« Ich überreichte ihr die Notiz. Falls ihr Verhalten ihrem Sohn gegenüber natürlich gewesen war, sollte ich keine Probleme mit diesem NPC haben.

»Drei Monate, hm?«, murmelte Elisabeth, während sie den Brief las. Ich wunderte mich, was genau der Vorsteher wohl geschrieben hatte. In seinem Haus hatte ich mir die Nachricht nicht ansehen können, und danach hatte das Gespräch mit Tisha meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Was, falls der Brief meinen Intelligenzwert verbessert hätte? Nun, das würde ich wohl nie erfahren. »Und willst du hier als Schnorrer wohnen, oder wirst du mit anpacken?«

War da vielleicht eine Questreihe für mich drin? Es würde vermutlich keine große Belohnung geben, aber eine Quest war nun mal eine Quest.

»Ich habe nicht vor, mich durchfüttern zu lassen. Falls ich irgendetwas tun kann, sag einfach Bescheid und ich kümmere mich darum. Ist mir egal, ob ich Wasser holen, Holz hacken oder den Garten umgraben soll …«

»Nein, ich habe Arbeiter, die so was erledigen. Der Vorsteher schreibt hier aber, du seist ein Koch.« Elisabeth zögerte, und ich blieb erwartungsvoll stehen. Eine fähigkeitsbasierte Quest! Der Traum eines jeden Spielers! Unvorstellbar, welche Boni bei so was rausspringen können! Elisabeth zögerte noch einen weiteren Moment, dann schien sie zu einer Entscheidung zu gelangen und sagte: »Ich bin nicht reich, darum kann ich nicht auch noch Gäste durchfüttern. Du wirst also selbst für deine Verpflegung sorgen müssen.« Anschließend wanderte ihr Blick zu meinem roten Stirnband hoch. »Außerdem möchte ich dich bitten, nur in mein Haus zu kommen, wenn du dazu aufgefordert wirst.«

Achtung, Spieler! Dir wurde der Zugang zum Haupthaus von Elisabeth, der Witwe des früheren Dorfvorstehers, verwehrt. Falls du gegen diese Einschränkung verstößt, wird das als ein Bruch deiner Bewährungsauflagen gewertet. Wir wünschen dir ein angenehmes Spiel!

Elisabeth drehte sich um und ging ins Haus zurück, während ich in einem Zustand völliger Niedergeschlagenheit auf der Veranda zurückblieb. Ich hatte mich schon so auf Quests und eine freundschaftliche Beziehung gefreut …

Und hatte dabei ganz mein rotes Stirnband und den damit einhergehenden Status vergessen. Solange ich das Ding aufhatte, würde mir jeder NPC mit Skepsis begegnen. Was sollte man schließlich von einem ehemaligen Verbrecher erwarten? Was, falls ich anfing, wahllos Leute umzubringen oder ihnen ihr Geld zu klauen? Ich meine, wer weiß, wozu ich in der Lage wäre? So wie die Sache stand, würde es nicht gerade einfach werden, hier zu leveln. So viel zu meinen Plänen, während der nächsten drei Monate durch diverse Quests zehn oder vielleicht sogar zwanzig Level aufzusteigen.

Das Sommerhaus, das Elisabeth mir freundlicherweise zur Verfügung stellte, war schlicht und spartanisch eingerichtet. Das gesamte Mobiliar beschränkte sich auf ein Bett, das ungefähr die Hälfte des freien Platzes einnahm, und … das war’s. Der Boden bestand aus festgetretener Erde, die sich selbst in der Hitze des Tages kalt anfühlte. Die Wände waren aus grau verwitterten Holzbrettern gefertigt, mit schmalen Fenstern direkt unter der Decke, durch die kaum Licht hereinfiel. Ein toller Ort, um darin die nächsten drei Monate zu verbringen. Ich ließ mich auf das Bett fallen und begann, Pläne zu ersinnen, wenn auch nur, um mein Gehirn zu beschäftigen.

Erstens: Gleich morgen Früh würde ich die Quest mit den Wölfen in Angriff nehmen. Zusätzliche Erfahrung und Reputation in der Krong-Provinz sollten helfen, Elisabeths Vertrauen zu gewinnen, dann würde sie mich vielleicht ins Haupthaus lassen. Ich hatte nicht vor, meinen gesamten Aufenthalt hier in diesem Käfig zu verbringen.

Zweitens: Ich musste einen Weg finden, um Fernstatt zu besuchen. Die Reise mit einem Karren dauerte viel zu lange, aber der Vorsteher hatte mir erzählt, dass sich hin und wieder eine Handelskarawane hierher verirrte. Wenn die das nächste Mal ankam, musste ich den Karawanenführer überzeugen, mir eine Teleportationsrolle von Dochtheim nach Fernstatt zu verkaufen. Die Schriftrolle für die Rückreise könnte ich dann dort erstehen. Der Entfernung zwischen beiden Siedlungen nach zu urteilen, würde so eine Rolle etwa acht- bis neunhundert Goldstücke kosten. Ziemlich teuer, aber falls ich zur Bank von Barliona gelangte, könnte ich auf die Besitztümer meines früheren Jäger-Charakters zugreifen. Der hatte dort mindestens elftausend Goldmünzen hinterlegt, ganz zu schweigen von einigen nicht verwendeten Ausrüstungsgegenständen. Die waren zwar alle auf die Verbesserung der Beweglichkeit ausgelegt, aber im Vergleich zu dem, was ich momentan am Leib trug, wäre selbst das der reinste Körperpanzer.

Drittens: Ich musste mehr über die Minen herausfinden, die auf der Karte des Vorstehers markiert gewesen waren. Er hatte mich natürlich gewarnt, dass es gefährlich sei, sich allein dorthin zu wagen, aber ich durfte eine solche Gelegenheit nicht ungenutzt lassen. Falls ich ihn richtig verstanden hatte, befanden sich die nächsten Ablagerungen des einen oder anderen Erzes einen zweistündigen Fußmarsch von Dochtheim entfernt. Mir war nicht nach Schlafen zumute, und falls ich jetzt gleich aufbrach, sollte ich wieder zurücksein, bis es hell wurde. Außerdem konnte ich mir so einen besseren Eindruck davon verschaffen, wie sich meine Fähigkeiten hier verbessern ließen.

Viertens … es gab kein viertens. Genug geplant. Jetzt war es Zeit, zu handeln – loszugehen und mir diese Minen anzusehen. Aber erst einmal wollte ich einen genaueren Blick in meine Tasche werfen. Nach meiner Zeit in der Pryke-Mine war sie voller neuer Gegenstände, und ich war noch nicht dazu gekommen, mir die alle anzusehen.

Ich leerte den Inhalt auf den Boden, entzündete eine Kerze, stellte sie in eine kleine Ausbuchtung in der Wand und begann mit meiner Inspektion. Da waren die Schachfiguren. Acht Stück des Spiels hatte ich bis jetzt angefertigt. Es war wirklich schade, dass jeder Orkkrieger einen ganzen Platz in der Tasche beanspruchen würde, wenn ich das gesamte Set einmal erstellt hätte. Der Gedanke, alle zweiunddreißig Figuren mit mir herumschleppen zu müssen, ließ mich den Kopf schütteln. Wo um alles in der Welt sollte ich eine so große Tasche herkriegen?

Dann waren da sieben Ringe mit einem +3-Attributbonus und vier Ringe mit einem Bonus von +2. Die hatte ich in der Pryke-Mine nicht verkaufen können, und jetzt waren sie viel zu schwach, um mir noch zu nutzen. Es wäre sinnlos, sie zu behalten, um sie später vielleicht bei einer Auktion anzubieten; für solchen Schrott würde ich nicht mal fünf Goldstücke bekommen. Nein, ich würde sie bei einem normalen NPC-Händler verkaufen. Die Handschuhe, die der letzte Boss des Dungeons gedroppt hatte, sah ich mir nicht einmal an. Die hatte ich schließlich den Mitgliedern meines zukünftigen Klans versprochen, mit denen ich den Dungeon erforscht hatte. Was, wenn mir die Dinger gefielen und ich mich nicht mehr von ihnen trennen wollte? Ich hatte nicht vor, es mir jetzt schon mit ihnen zu verscherzen. Also: Warum sich einer zusätzlichen Verlockung aussetzen? Nein, nein, dann besser gar nicht inspizieren.

Die dreiundzwanzig Stücke Malachit, hundert Stücke Kupfererz und achtundsechzig Kupferbarren würden mir helfen, mein Juwelierhandwerk zu verbessern, bis ich an mehr Erz herankam. Dann war da noch mein alter Freund die Spitzhacke und zu guter Letzt der große Haufen von Häuten, Schwänzen, Fleisch, Klauen und anderem Kram, den die Ratten und Spinnen des Dungeons gedroppt hatten. Glücklicherweise nahmen das Metall und das andere Zeug jeweils nur einen Slot in der Tasche ein.

Ich kämpfte den Impuls nieder, das ganze Zeug einfach zu verkaufen, ohne es auch nur genauer in Augenschein zu nehmen. Wenn man seinen ersten Dungeon abschloss, konnte man selbst durch unscheinbare Gegenstände beträchtliche Boni erhalten, und ich wollte nichts wegwerfen, was sich noch als nützlich erweisen mochte. Während ich all die Sachen durchging, legte ich ein Spinnenauge auf die Seite. Es sah genauso eklig aus, wie es sich anfühlte, aber seine Eigenschaften hatte ich noch nicht ermitteln können; dazu fehlte mir das nötige Level in Weisheit. Nicht dass ich vorhatte, darauf hinzuarbeiten. Es war viel leichter, in einer beliebigen Stadt einen Magier-NPC aufzusuchen, der den Gegenstand dann für einen identifizierte. Das kostete nur ein paar Goldstücke. Außerdem legte ich zweiundzwanzig Rattenschwänze beiseite, die mit »für Alchemisten« gekennzeichnet waren, und zwölf Spinnenmandibeln mit der Eigenschaft »für Waffenmeister« – bei Gelegenheit würde ich die entsprechenden Läden besuchen und diese Gegenstände verkaufen. Oh, da plante jemand aber weit voraus. Die entsprechenden Läden … Ich besaß noch nicht einmal eine Teleportationsrolle, organisierte aber schon mal meinen nächsten Besuch in der Stadt. Der Rest war totaler Schrott; nur mit dem Rattenfleisch ließ sich vielleicht etwas machen, um mir beim Leveln als Koch zu helfen.

Nachdem ich die Gegenstände unter die Lupe genommen hatte, legte ich sie zurück in die Tasche, dann nahm ich meinen Schlägel zur Hand und trat in die Nacht hinaus. Ein paar Schritte später stieß ich eine Verwünschung aus.

Die Macher von Barliona wussten genau, dass sich viele Spieler nur spätabends einloggen. Aus diesem Grund waren die Nächte hier sehr lang, und in der Regel nicht allzu dunkel, man konnte üblicherweise also ganz gut sehen. Dochtheim aber stand offenbar auf der kurzen Liste von Orten, wo diese Regel bezüglich hellerer Nächte keine Geltung hatte.

Pechschwarze Finsternis lag wie eine Decke über dem Dorf, und es war unmöglich, irgendetwas zu erkennen, das mehr als ein paar Meter entfernt war. Damit hatte sich mein Plan, die Minen aufzusuchen, dann wohl erledigt. Ich hatte nämlich nicht vor, in dieser Dunkelheit umherzuirren. Frustriert setzte ich mich auf eine Bank, wo ich mich zurücklehnte und die Augen schloss. Es herrschte eine fast völlige Stille, die gemeinsam mit der Dunkelheit über das Dorf gefallen sein musste, unterbrochen allein vom Rascheln des Waldes und dem leisen Zirpen von Grillen. Da gab es weder Hundegebell noch Rufe von NPCs – die schliefen jetzt wohl alle friedlich in ihren Häusern. Eine perfekte Nacht, um allein draußen zu sitzen und die kalte, klare Luft zu atmen, in der sich der Duft von Harz und Kiefernnadeln mit dem scharfen Geruch eines Tieres vermischte. Moment – ein Tier?! Sofort schlug ich die Augen wieder auf. Nur ein paar Meter von mir entfernt sah ich einen undeutlichen Schemen, aus dem mich zwei rote Augen anstarrten. Was zum …? Ich wählte den nebulösen Umriss an und versuchte, an seinen Eigenschaften zu erkennen, womit ich es zu tun hatte.

Eigenschaften des Objekts: Verborgen.

Verborgen? Was sollte das denn? In Barliona konnte man die Eigenschaften eines Gegners nicht verbergen. Oder zumindest war das bis jetzt so gewesen. Das gesamte Spiel basierte auf der Fähigkeit, Eigenschaften zu erkennen und anhand dessen eine Strategie für den Mob oder einen Boss zu entwickeln. Ich würde im Handbuch oder in den Foren nachsehen müssen, wer seine Werte verbergen konnte und ob das überhaupt möglich war. Später. Jetzt musste ich mich erst einmal um andere Dinge kümmern. Was wollte dieses Ding von mir? Ich bezweifelte stark, dass seine Absichten freundlicher Natur waren. Eine Faustregel in Barliona lautete: »Wenn ein Mob rote Augen hat, dann ist er aggressiv.« Neutrale oder wohlwollende Mobs können verschiedene Augenfarben haben, aber sie waren nie rot. Diese beiden blutigen Lichter, die mich direkt anstarrten, stimmten mich nicht gerade zuversichtlich, was meine unmittelbare Zukunft anging.

Darum bemüht, keine ruckhaften Bewegungen zu machen, stand ich von der Bank auf und begann, mich seitwärts auf die Tür zuzuschieben. Sie war nur ein paar Meter entfernt. Mit jedem winzigen Schritt, den ich machte, drehte sich auch das seltsame Ding ein wenig zur Seite, sodass es mich nicht einen Moment aus den Augen ließ. Das war jetzt nicht mehr lustig. Vielleicht sollte ich es angreifen? Angriff ist schließlich die beste Verteidigung. Ich war schon im Begriff, einen Geist des Blitzschlags gegen dieses nicht identifizierbare Etwas zu beschwören, da berührte meine Hand den Türknauf. Der Gedanke, meine Kräfte mit denen dieses Dings zu messen, löste sich in Luft auf – eine Tür, ganz gleich wie schwach, war ein effektives Hindernis, um sich gegen Mobs zu schützen. Dass man in seinem Heim sicher sein sollte, war eine der Grundregeln von Barliona.

Vorsichtig schob ich die Hand hinter meinen Rücken, drehte den Türknauf und huschte rasch ins Innere des Hauses. Gerade als ich mich herumdrehte, um die Tür zuzuschlagen, sprang die Bestie nach vorn und drückte von der anderen Seite dagegen.

Schaden erlitten. Trefferpunkte um 30 reduziert: 260 (Tür): 230 (Verteidigung). Trefferpunkte insgesamt: 650 von 680.

Fähigkeitssteigerung:

+ 10 % Durchhaltevermögen, insgesamt: 70.

+ 5 % Stärke. Insgesamt: 60.

Nur ein paar Zentimeter, und die Tür wäre ganz geschlossen. Ich stemmte mich mit aller Kraft und meinem ganzen Körper gegen das Holz, aber das Biest, das von der anderen Seite dagegenhielt, wollte mich nicht einfach so davonkommen lassen.

Langsam, Zentimeter um Zentimeter, begann die Tür, sich wieder zu öffnen, und als der Spalt breit genug war, schob sich eine nebelumhüllte Gliedmaße hindurch. Im Innern des Hauses löste sich der Nebel sofort auf, und ich konnte im Zwielicht vier scharfe Klauen sehen. Was war das, ein zu groß geratener Vielfraß? Die Klauen gruben sich in den Boden und hinterließen dort tiefe Linien – genau wie die am Tor. War das hier vielleicht nur ein Scherz der Dorfjugend? Würde ganze Dochtheim morgen darüber lachen, wie der Schamane auf den Trick von ein paar Kindern hereingefallen war? Ich wollte gerade von der Tür zurücktreten, als eine Nachricht aufleuchtete:

Energie 30: Hör auf, wütender Schamane!

Das war die automatische Benachrichtigung, die ich schon in der Mine eingerichtet hatte, damit ich nicht wegen zu hohen Energieverbrauchs ins Gras biss. Nein, das hier war kein Scherz. Keine Bande von Kindern hatte genug Kraft, um mich innerhalb weniger Sekunden meine ganze Energie zu kosten. Das hier war etwas anderes.

Aber was war es dann? Ich sollte keine Gelegenheit bekommen, es herauszufinden. Eine weitere Nachricht blinkte auf und informierte mich, dass meine Energie auf null gefallen war, woraufhin ich wie eine kaputte Marionette erstarrte. Anders als in den Minen regenerierte sich Energie in der Hauptspielwelt auch von null aus wieder, und man brauchte dafür nicht einmal Wasser. Aber bis die Anzeige sich um zehn Punkte aufgefüllt hat, erstarrt der Spieler wie eine Wachsfigur.

Der nächste Schlag gegen die Tür schleuderte mich nach hinten in den Raum, und noch in der Luft sah ich einen grauen Schatten auf mich zu springen. Er war jetzt nicht mehr durch Nebel vermummt, aber in der Dunkelheit des Hauses konnte ich trotzdem nichts erkennen. Nur eines war offensichtlich – die Bestie hatte zwei Arme und zwei Beine. Oder vier Gliedmaßen, um es zusammenzufassen. Warum hatte ich nur die Kerze gelöscht, bevor ich nach draußen gegangen war? Auf die Weise wüsste ich jetzt zumindest, womit ich es zu tun hatte. Vier Klauen blitzten in der Düsternis auf, gefolgt von einem scharfen Schmerz, und dann wurde die Finsternis noch finsterer.

Ganz so sicher war ich in meinem Heim dann wohl doch nicht. Andererseits war das hier ja auch nicht wirklich mein Haus – das hatte ich nicht richtig bedacht.

Die Welt flackerte, und unmittelbar danach fand ich mich am Eingang des örtlichen Friedhofs wieder. Ein äußerst symbolträchtiger Ort, um wieder aufzuerstehen. Ein paar Meter von meinem Respawn-Punkt entfernt erhob sich ein kleiner Tempel, dessen Schatten mich vor der hellen Morgensonne verbarg. Diese mysteriöse Bestie hatte mich tödlich erwischt, und die obligatorische Zwölf-Stunden-Frist nach dem Spieltod war innerhalb eines Wimpernschlages vorbeigegangen. Großartig.

Ich wollte gerade zu dem Tempel hinübergehen, da beanspruchte eine weitere Nachricht meine ganze Aufmerksamkeit und Verärgerung:

Achtung!

Aufgrund deines Todes werden die Erfahrungspunkte deines aktuellen Levels um 30 % reduziert …

Aktuelle Erfahrung: 199.

Verbleibende Punkte bis zum nächsten Level: 1201.

Ich überprüfte meinen Geldbeutel. Und tatsächlich, er enthielt nur noch dreitausend Goldstücke; die andere Hälfte lag im Sommerhaus. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass zwischenzeitlich niemand vorbeigekommen war und das Geld eingestrichen hatte. Es sollte irgendwo hinter dem Bett liegen; hoffentlich an einer Stelle, wo man es von der Tür aus nicht sehen konnte.

Aber was hatte mich erwischt? Trotz der Tatsache, dass ich 680 Trefferpunkte und 230 Verteidigung mein Eigen nannte, hatte die Bestie mir mit einem einzigen Schlag einen Respawn beschert. Ich konsultierte das Kampflog in der Hoffnung, dass diese Funktion seit meiner Zeit in der Mine freigeschaltet worden war. Ja! Jetzt konnte ich nachlesen, was mich plattgemacht hatte. Ich wechselte zum Statusschirm für den erlittenen Schaden während der letzten dreißig Stunden und sah mehrere Einträge:

23:45:23 erlittener Schaden: 28 (258 »von Tür getroffen« – 230 »Verteidigung«). Verbleibende Trefferpunkte: 652.

23:45:26 Erlittener Schaden: 28 (258 »von Tür getroffen« – 230 »Verteidigung«). Verbleibende Trefferpunkte: 624.

23:45:39 Erlittener Schaden: 28 (258 »von Tür getroffen« – 230 »Verteidigung«). Verbleibende Trefferpunkte: 596.

23:45:41 Erlittener Schaden: 24762 (24998 »Unbekannt« – 230 »Verteidigung«). Verbleibende Trefferpunkte: 0.

Sprachlos starrte ich die Daten an. Das war doch mal ein Schlag! 25.000 Schadenspunkte – ein Gegner, der so hinlangte, musste mindestens Level 70 haben. Aber was trieb ein aggressiver Mob mit so hohem Level in Dochtheim? Und warum um alles auf der Welt hatte er ausgerechnet mir einen Besuch abgestattet?

»Suchst du nach etwas, mein Sohn?«, erklang eine Stimme ganz in meiner Nähe. Ich drehte mich um und sah einen kleinen, rundlichen, rotwangigen Priester – welchen Gottes auch immer – neben dem Tempel stehen. Eine schwarze Robe verhüllte ihn von Kopf bis Fuß, vermochte aber nicht die Größe seines enormen Bauches zu verbergen. In einer Hand hielt er eine Kette mit Gebetsperlen. »Möchtest du Vlasts Segen erhalten? In dem Fall musst du sein Novize werden. Bist du dafür bereit?«

Dann war dieser Tempel also Vlast geweiht, dem Gott des Weins. Er war das Gegenstück zu Bacchus, Pan und vergleichbaren Gottheiten aus der realen Welt. Ich ging ins Menü, um mir die Einschränkungen anzusehen, die mit der Verehrung des Gottes einhergingen, und zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass es keine gab. Jeder NPC oder Spieler konnte ein Novize Vlasts werden, ohne dass er dafür irgendwelche anderen Möglichkeiten einbüßte. Es fielen auch keine zusätzlichen Kosten oder Spenden an. Alles, was man tun musste, war, jeden Tag ein Glas Wein oder Selbstgebrautes zu trinken. Schon erhielt man seinen göttlichen Segen. Versäumte man es aber, auf Vlast zu trinken, zog man einen göttlichen Fluch auf sich – und die waren generell nicht sehr angenehm.