Susanna - Angela Rommeiß - E-Book

Susanna E-Book

Angela Rommeiß

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Beschreibung

Nach einem Lottogewinn macht ein Ehepaar aus Weimar eine Urlaubsreise ins Öztal, die sich schnell zum Horrortrip für die junge Frau entwickelt. Schließlich muss sie aus eigener Kraft und zudem heimlich versuchen, wieder nach Hause zu gelangen. Sie stellt ihre bisherige Lebensstrategie in Frage und sieht ihr Umfeld und die Menschen, die ihr bisher nahe waren, allmählich mit anderen Augen. Schließlich ändert sie ihr Leben radikal - trotz Verlusten - und wird endlich glücklich.

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Angela Rommeiß

Susanna

Wege am Abgrund

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1

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Impressum neobooks

1

„Guten Morgen, mein Liebling!“

Strahlend vor guter Laune schob Rolf den Servierwagen mit dem Frühstück in das geräumige Hotelzimmer, wo sich Susanna gerade aus den Federn räkelte. Warm schien die aufgehende Herbstsonne durch die hellgelben Vorhänge und tauchte den Raum in ein goldenes Licht. Draußen erglühten die alpinen Berggipfel orangerot unter einem blassblauen Himmel. Es würde wieder ein wundervoller Tag werden.

„Danke, Schatz!“

Susanna lächelte ihren Mann liebevoll an und nahm ihm das Tablett ab. Hmm, Rühreier und frische Brötchen, dazu Butter und Marmelade. Der Kaffee wurde in einer kleinen Metallkanne warm gehalten, auch Sahne war da. Alles genau nach Wunsch. Es hatte sich doch gelohnt, das teurere Hotel zu nehmen!

Hotels gab es viele hier in der hochalpinen Gletscherwelt des Ötztals. Das Tal war fast sechzig Kilometer lang und erstreckte sich von den tiefliegenden Auen bis hin zu den eisschimmernden Gipfeln des Hochgebirges. Obwohl die Touristen über die gut ausgebauten Straßen bis in den letzten Winkel vorgedrungen waren und es mehr Fremdenzimmer als Einheimische gab, hatte Susanna immer ein überwältigendes Gefühl der eigenen Winzigkeit, wenn sie die schroffen Bergmassive betrachtete, die unbeeindruckt von menschlichem Tun riesig und gewaltig vor ihr lagen. Rolf war ein begeisterter Kletterer, sie selbst dagegen fürchtete sich leider vor allem, was steil war. Deshalb war sie auch nur zum Wandern hierhergekommen, und um die herrliche Natur zu genießen. Während Rolf kletterte, wollte sie mit dem Fernglas die beeindruckende Landschaft betrachten. Sie freute sich auch schon auf Ausflüge mit dem Auto, denn hinter jeder Kurve bekam man neue, atemberaubende Ausblicke auf Wiesen, Bauernhöfe, Felsmassive, schäumende Wasserfälle und hochgelegene Wiesen zu sehen. Die sonnenbeschienenen Almwiesen waren manchmal so steil, dass sich Steine von ihnen lösten und ins Tal kullerten. Trotzdem standen kleine Heuschober da, man fragte sich, wie die Leute das machten. Trauliche alte Kirchen und Kapellen saßen an Felsvorsprüngen, manche ganz winzig, aber alle mit wunderschönen Bildern bemalt, selbst wenn die weiß getünchten Wände noch so schief und buckelig waren. Überall in den Hängen waren Seilbahnen oder Sessellifte zu erkennen, kein Gipfel und kein Gletscher war heutzutage vor den Menschen sicher. Fuhr man die gewundene Straße immer weiter, gelangte man bis nach Italien.

Ja, es war schön hier im Ötztal und Susanna war froh, dass sie hierhergekommen waren, obwohl sie ursprünglich lieber ans Meer gewollt hatte. Aber wo sollte Rolf da klettern? Etwa in einer Halle, zusammen mit einem halben Dutzend verwöhnter, plärrender Kinder? Das war natürlich undenkbar, zumal dieser Urlaub etwas ganz Besonderes war.

Susanna setzte sich bequemer zurecht und gähnte. Rolf schenkte ihnen beiden Kaffee ein, tat Zucker in die Tassen und rührte sogar für sie um, schnitt anschließend Brötchen auf. Seine Frau betrachtete ihn verstohlen von der Seite.

Wie lieb er war! Susanna konnte sich gar nicht daran erinnern, dass Rolf in den letzten zehn Ehejahren auch nur halb so zuvorkommend gewesen wäre. Nun ja, sie waren schließlich im Urlaub, da war er immer besser gelaunt als im stressigen Alltag, wem ging das nicht so? Er arbeitete einfach zu viel und war oft abgespannt und müde. Kein Wunder, dass er mürrisch wurde, wenn er heimkam und sich dann auch noch ihre kleinen Sorgen und Nöte anhören sollte. Sie hatte sich schon oft vorgenommen, ihn einfach mehr in Ruhe zu lassen, wenn er sich nach einem anstrengenden Bürotag auf dem Sofa ausstreckte, aber meistens plapperte sie ihn doch voll. Erzählte von den Nachbarn, vom Garten, von ihren Wehwehchen und vom Wetter, redete sich einfach mal alles von der Seele, was sie tagsüber für sich behalten musste, obwohl sie eigentlich wusste, dass es ihn nervte. Sie redete eben gern. Still wurde sie erst, wenn er prompt nach dem Abendessen wortlos zu seinen Stammtischbrüdern oder ins Fitnessstudio verschwand, sie allein zu Hause sitzen blieb und sich ärgerte, dass sie ihn schon wieder vertrieben hatte.

Auch ihre Mutter hatte ihr, als sie sich einmal bei ihr ausgesprochen hatte, geraten, nicht zu viel Aufmerksamkeit von ihrem Mann zu fordern.

„Was willst du eigentlich, es geht dir doch gut? Immer diese ewige Nörgelei! Du solltest dich glücklich schätzen, so einen gutaussehenden und fleißigen Ehemann zu haben. Schleppt er denn nicht genug Geld nach Hause? Du brauchst bloß ein bisschen putzen, weiter nichts.“

Ja, da hatte sie schon recht. Trotzdem Rolf aus einer früheren, recht kurzen Ehe mit einer gewissen Katrin ein fünfzehnjähriges Kind hatte, für das er Alimente zahlen musste, ging es ihnen finanziell ganz gut. Rolf arbeitete als Autohändler, Susanna putzte vormittags abwechselnd bei vier älteren Leuten und bei einem alleinstehenden Professor. Am Nachmittag machte sie die Wäsche, kümmerte sich um die Wohnung und den kleinen Garten, ging einkaufen, telefonierte mit ihrer Mutter oder ging mit ihrer Freundin Annabell Kaffee trinken. Ihren Mann sah sie am späten Abend und an den Wochenenden. Die Ehe lief gut, Kinder hatten sie keine. Warum sollte sie also mit ihrem Leben unzufrieden sein?

War es diese seltsame Leere, die sie manchmal spürte, dieses Unausgefülltsein? Diese Sehnsucht, etwas zu erleben - keine Abenteuer, das nicht, eher etwas... Gefühlsmäßiges, etwas wie verliebt sein. Oder eben ein Ziel, einen Plan, eine schöne Zukunftsaussicht. Etwas, wofür man arbeiten und kämpfen und denken musste. Sicher, Wäschewaschen war auch wichtig, aber...

Rolf trank einen Schluck Kaffee. Jungenhaft zwinkerte er ihr zu.

Wann hatte diese Verwandlung stattgefunden? Als sie im Flieger saßen und in den langersehnten Urlaub in die Berge gestartet sind? Oder schon vorher, als sie von dem Lottogewinn erfuhren? Wahrscheinlich war es das. Natürlich waren 1,5 Millionen Euro eine Menge Geld. Eine sehr, sehr große Menge Geld!

Tolle Urlaube und schöne Kleider erträumte sich Susanna, wenn sie die Tippscheine ausfüllte. Rolf war immer dagegen gewesen, dass sie Lotto spielte.

„Mensch, das ist doch reine Geldverschwendung! Denkst du etwa, es ist so leicht, reich zu werden? Mit Glücksspielen werden die Leute nur verdummt. Um schnell an Geld zu kommen, muss man sich schon was Besseres einfallen lassen.“

Sie gab ihm grundsätzlich recht, spielte auch nur selten und dann heimlich. Sie schämte sich ja auch, ihn zu hintergehen und das Haushaltsgeld zu verschwenden, das war sonst nicht ihre Art, aber irgendwie musste sie im tiefsten Inneren geahnt haben, dass es sich eines Tages lohnen würde. Und tatsächlich - es lohnte sich! Und wie es sich lohnte!

Mit ihrem Überraschungsgewinn hatte sie sämtliche Argumente auf ihrer Seite. Rolf war jetzt stolz auf sie und ihre Beharrlichkeit. Er war entspannt, freundlich, liebevoll, zuvorkommend. Wie jungverliebt!

Sie frühstückten in Ruhe, unterhielten sich. Er wartete geduldig, bis sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, dann stellte er das Tablett zur Seite und kroch noch einmal zu ihr unter die Decke.

„Meine Marylin!“, flüsterte er erregt und kam zu ihr.

Susanna beschwerte sich schon lange nicht mehr darüber, dass sie beim Liebesakt Marylin Monroe darzustellen hatte. Das war halt so eine Marotte von ihm.

Susannas Freundin Annabell hatte sich die Seiten gehalten vor Lachen, als sie davon erfuhr.

„Er steht auf die Monroe!? Na Mensch, jetzt weiß ich auch, warum du diese Frisur trägst und immer Kleider anhast!“

Dann aber hatte sie ihr ganz ernsthaft zugeredet, doch ein bisschen selbstbewusster zu sein.

„Meine Güte, Susi, dein Mann sollte stolz darauf sein, dass er mit DIR schlafen darf! Wenn du dich wie ein blondes Dummchen benimmst, musst du dich auch nicht wundern, wenn er dich so behandelt. Wie wäre es denn, wenn du ihn im Bett mal mit einem anderen Namen anreden würdest? Ausrasten würde der!“

Das glaubte Susanna allerdings auch, deshalb vermied sie es tunlichst, ihn auf diese Weise zu ärgern. Es war nicht so schlimm, dass sie wie Marylin sein musste, solange er nur glücklich war. Denn wenn Rolf glücklich war, dann war sie es auch. Das sagte sie Annabell aber nicht so direkt, denn die Freundin war für solche Ansichten viel zu emanzipiert und würde das nicht verstehen. Susanna ärgerte sich später, dass sie ihr die Sache mit Marylin anvertraut hatte, sie hätte sich denken können, dass Annabell das nicht verstand.

Rolf hatte ihr auch Pornofilme gezeigt, damit sie wusste, wie sie sich im Bett zu verhalten hatte. Sie fand, das bisschen Stöhnen war nicht so schwer und sie tat ihm den Gefallen. Die körperliche Liebe war für Susanna noch nie so wichtig gewesen wie für Rolf, obwohl sie ihn von Herzen liebte. Natürlich lag es an ihr selbst. Er meinte, sie sei vielleicht frigide. Als Susanna herausgefunden hatte, was das Wort bedeutete, war sie sehr verletzt. Nein, frigide war sie nicht, nur eben nicht so schnell erregbar. Rolf ließ sich nie besonders viel Zeit, deshalb vielleicht.

Annabell meinte, sie hätte mehr Erfahrungen sammeln sollen, als sie noch unverheiratet war. Aber wie hätte das gehen sollen? Sie war ja erst fünfzehn gewesen, als sie den um zehn Jahre älteren Rolf kennenlernte. Seitdem war sie mit ihm zusammen und bekam von ihm alles beigebracht, was sie wissen musste, um ihm eine liebevolle und vorzeigbare Gefährtin zu sein. Eine Berufsausbildung hatte nicht dazugehört.

Mit siebzehn trug sie freudestrahlend ihr Hochzeitskleid.

Susannas Eltern Brigitte und Karl-Heinz Siebert waren froh, ihre einzige Tochter gut untergebracht zu wissen und stolz auf den erfolgreichen Schwiegersohn. Sie waren fleißige, ehrbare Leute. Die Mutter, eine freundliche und einfache Frau, die als Verkäuferin bei der HO arbeitete, hatte damals mit achtunddreißig Jahren schon ihren Traum vom eigenen Kind begraben, als sie das Wunder der Natur doch noch einholte. Sie hegte und hätschelte die Tochter, wo sie nur konnte und genoss die späte Mutterschaft. Gut sollte es die Kleine haben, besser als sie damals. Alles sollte sie bekommen, ohne es sich mit vier rauflustigen Brüdern teilen zu müssen, lieb und brav sollte sie sein, hübsch und vorzeigbar. Das war Susi auch. Frau Siebert konnte mit dem süßen, blondgelockten Engel bei allen Nachbarn und Verwandten angeben, ließ die Kleine Liedchen vorsingen und Knickse machen. Aber leider gingen diese Jahre schnell vorbei, und mit Susanna als Teenager war sie dann heillos überfordert. Dabei war das Mädchen nicht einmal besonders aufsässig gewesen, aber doch so anders als das kleine, süße Ding aus ihren Kindertagen, dass die Mutter die Erziehung fortan weitestgehend dem Vater überließ.

Karl-Heinz Siebert hatte zeitlebens einen pflichtbewussten, ordnungsliebenden Postbeamten dargestellt. Nun, vielleicht nicht zeitlebens, aber doch sein ganzes Erwachsenenleben hindurch und nicht einmal die Wende hatte seinem Patriotismus etwas anhaben können. Was davor war, hatte er vergessen. Von seiner Tochter erwartete er keine Heldentaten. Eine treue, sittsame junge Frau sollte sie werden, das war das Einzige, was zählte. In der Wahl seiner Erziehungsmethoden griff Karl-Heinz Siebert auf die Erfahrungen seiner kurzen Militärzeit zurück, da man einer fast erwachsenen Tochter ja nicht mehr den Hosenboden stramm ziehen konnte. Mit knappen, eindeutigen Befehlen machte er ihr klar, wann sie zu Hause zu sein hatte, welche Kleidung er für unangemessen hielt und wo sie den Mund halten sollte. Bei Befehlsverweigerung folgten Stubenarrest und Sonderaufgaben. Das klappte ganz wunderbar und Karl-Heinz war sehr zufrieden mit sich.

Susanna war damals erleichtert gewesen, dem kleinbürgerlichen, stickigen Mief ihrer Kindheit entronnen zu sein, denn mit Rolf fühlte sie sich so viel freier und erwachsener! Er nannte sie ‚Sunny‘, das klang wie aus einem amerikanischen Film. Sie fuhren Motorrad, trugen Lederjacken und Sunny ließ das lange Haar im Fahrtwind flattern. Dass sie es nachher stundenlang kämmen und entwirren musste, war zwar nicht so schön, aber er mochte es halt so gerne, wenn sie seine coole Rockerbraut war. Später stieg Rolf dann auf Autos um, die seine neue Leidenschaft wurden, und mit der Rockerzeit war es vorbei. Susanna war es recht. Ihr war alles recht, was Rolf anbelangte, denn sie war sehr glücklich, ihn gefunden zu haben. Er war jemand, der im direkten Anschluss an ihre Eltern für sie sorgte und ihr sagte, was sie zu tun und zu lassen hatte im Leben, und das war doch sehr bequem.

Eigentlich war es nicht schwer, es Rolf recht zu machen, denn anders als andere Männer, die sich (laut Annabell), niemals eindeutig äußerten, sagte Rolf immer klipp und klar, was er erwartete. Das war Susanna von zu Hause gewöhnt und bereitete ihr keine Schwierigkeiten. Man brauchte bloß zu tun, was er wollte, dann lief das Leben reibungslos.

Susanna war mollig, weil Rolf weiche Formen liebte. Sie trug ihr brünettes Haar blond gefärbt und gelockt wie Marylin Monroe, die ihr Mann anschwärmte. Sie stöhnte, wie sie es im Film gesehen hatte und kochte ihm immer seine Lieblingsessen.

Ja, Susanna konnte zufrieden sein. Sie hatte keine Kinder und keine Schwiegereltern, mit denen sie sich herumärgern musste und führte eine gute Ehe. Ihre Eltern wohnten ausreichend weit entfernt, dass man sie nicht ständig besuchen musste. Selbst Annabell, die als Arzthelferin arbeitete und sich von Beziehung zu Beziehung hangelte, sagte ihr oft, dass sie eigentlich Glück hatte. Und jetzt noch dieser riesige Lottogewinn!

Susanna blieb im Bett liegen, als Rolf ins Bad ging.

Und plötzlich war es wieder da. Dieses Stechen, von der linken Schläfe hinüber in die rechte, wie von einem Messer durchbohrt. Sie stöhnte und drückte die Handballen auf die Augen. Schon wieder! Was würde Rolf sagen? Den dritten Tag hintereinander konnte sie nicht mit auf die Bergtouren gehen, die er so sorgsam geplant hatte. Diese verdammte Migräne!

Rolf trat pfeifend und gutgelaunt aus der Dusche, ein Handtuch um die Hüften geschlungen und mit feuchtem, strubbligem Haar. Er griff zur Zigarettenschachtel, die auf dem Tisch lag, und zündete sich eine an.

Susanna fiel auf, dass er schlanker geworden war. Sehnig und braungebrannt, der kleine Bauchansatz fiel kaum noch auf. Seine siebenunddreißig Jahre sah man ihm gar nicht an, obwohl das dunkelbraune Haar schon vereinzelte graue Strähnen aufwies. Forschend blickte Rolf zu seiner Frau hinunter.

„Wie geht es dir heute, Sunny?“

Kläglich schaute sie zu ihm hoch und antwortete beinahe entschuldigend:

„Ich hab schon wieder Kopfschmerzen! Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber...“

„Ich glaub es dir ja!“ beeilte sich Rolf zu versichern. Und fürsorglich fügte er hinzu: „Nimm eine Schmerztablette, dann leg dich nochmal hin. Wir können ja mal einen Tag hierbleiben... also,ichkann mal einen Tag hierbleiben. Ich hätte die Tour zwar gerne gemacht, aber wenn es dir schlecht geht...“

„Nein, nein“, wehrte Susanna ab. „Mach du nur deine Bergtour! Ich weiß ja, wie gerne du da rumkraxelst, für mich ist das eh nichts. Geh ruhig alleine!“

„Ach nein! Das kann ich doch nicht machen. Aber nur wenn du unbedingt willst. Bist du sicher, dass ich nicht doch bei dir bleiben soll?“ Rolf sträubte sich noch eine Weile, genau wie die beiden Tage zuvor. Dabei suchte er aber schon seinen Wanderrucksack hervor und sah sich nach den Schnürschuhen um.

Susanna lächelte. Sie gönnte ihm wirklich seine Touren. Schon, weil er so rücksichtsvoll reagierte, das war nämlich sonst gar nicht seine Art. Wenn sie zu Hause über Kopfschmerzen oder irgendetwas anderes klagte, verzog er nur den Mund, hob die Augenbrauen und machte den Fernseher an. Er tat immer so, als wolle sie ihn mit ihren Wehwehchen ärgern. Er selber war kerngesund und litt niemals unter Kopfschmerzen oder anderen Zipperlein. Hatte er Zahnweh, ging er zum Zahnarzt und ließ die Sache in Ordnung bringen. Verletzte er sich, klebte er ein Pflaster drauf und verlor kein Wort darüber. Er sagte gern, sein Körper arbeite wie ein Auto - war etwas kaputt, musste es nur repariert werden, dann funktioniere es wieder. Wahrscheinlich war es deshalb so schwer für ihn, sich in jemanden hineinzufühlen, den etwas plagte. Nein, diese fürsorgliche Art von ihm war neu.

Als ein weiterer Schmerz ihren Kopf durchfuhr, presste sie die Hand an die Schläfe und zog die Nachttischschublade auf, in der ihre Schmerztabletten lagen. Als sie gerade eine mit lauwarmem Kaffe hinunterspülte, hörte sie nur noch ein: „Tschüss, Schatz!“ und das Zufallen der Tür.

2

Der nächste Morgen begann ähnlich wie der gestrige und die beiden davor.

Rolf holte das Frühstück und sie aßen im Bett.

An diesem Tag schienleider nicht die Sonne, es war neblig geworden. Man spürte den Herbst nahen. Susanna war heute entschlossen, den Vormittag nicht im Bett zu verbringen. Gleich nach dem Frühstück stand sie auf und ging unter die Dusche.

Rolf nahm das Ausbleiben des Liebesspiels wortlos hin. Überhaupt war er heute stiller als sonst, wirkte irgendwie abwesend. Susanna schob es auf ihre Unpässlichkeiten, dass er so brummig war, schließlich verdarb sie ihm den ganzen Urlaub damit.

Als sie aus der Dusche kam und ihn da so im zerwühlten Bett sitzen sah, halb angezogen, zerzaust und schmollend, schwoll ihr das Herz vor Liebe an. Ihr kleiner Brummbär! Er gab sich solche Mühe mit diesem Urlaub! Sie nahm sich fest vor, heute mit ihm einen schönen Tag zu verbringen, egal, ob sie Kopfschmerzen bekam oder nicht.

Gestern hatte sie den Vormittag verschlafen, hatte dann im Restaurant ein einsames Mittagessen zu sich genommen und war danach ein bisschen ums Hotel herum spazieren gegangen. Kurz hatte sie überlegt, ihre Mutter anzurufen, es sich dann aber nicht getraut. Wahrscheinlich käme sie nicht mit dem Apparat zurecht, sie würde lieber warten, bis Rolf dabei war.

Draußen schien die Sonne. Mütter und Väter spielten mit ihren Kindern auf dem Spielplatz. Auf dem Trampolin hüpfte eine Frau, die sicher schon über vierzig war, mit einem blonden kleinen Jungen herum. Einen sehnsuchtsvollen Moment lang beneidete Susanna diese Frau von Herzen, denn sie wirkte sportlich und jung. Sie selbst kam sich dagegen mit ihrer blondierten Lockenfrisur und gekleidet in Rock und Bluse ziemlich altbacken vor, obwohl sie doch erst siebenundzwanzig war. Sie fühlte sich dick und unattraktiv. Schnell scheuchte Susanna diese unerfreulichen Gedanken beiseite. Dann hatte sie sich den Rest des Tages ausgemalt, wie es wohl wäre, Mutter zu werden.

Vor ein paar Jahren hatte sie mit Rolf deswegen einen handfesten Krach gehabt. Sie wollte gern ein Kind, aber er stellte sich strikt dagegen. Für ihn war das Thema Kinder aus und erledigt. Der Sohn, den er mit seiner Exfrau hatte, reichte ihm vollkommen. Kinder sind nutzlos, teuer und anstrengend, behauptete er und machte ihr unmissverständlich klar, dass sie sich das aus dem Kopf schlagen solle. Susanna war eine Zeitlang sehr unglücklich gewesen, hatte sich dann aber gefügt. Wahrscheinlich hatte er ja recht, wie immer. In den nächsten Jahren wagte sie es nicht, ihn erneut darauf anzusprechen, schaute nur ab und zu mit einem Gefühl des Bedauerns in einen Kinderwagen. Selbst ihre Eltern, die nach einer vorsichtigen Anfrage in Richtung Enkelkinder von Rolf barsch angefahren worden waren, vermieden daraufhin jegliche Anspielung beflissen.

Aber jetzt, wo Rolf so verändert und freundlich war...? Susanna beschloss, das Thema behutsam noch einmal anzuschneiden. Eventuell am Abend, bei einem guten Glas Wein und einem leckeren Essen. Aber dann hatte sie sich doch nicht getraut und den Abend mit ihm bei unverbindlicher Plauderei verbracht.

Nach dem Duschen ging es Susanna blendend. Sie fühlte sich wie neugeboren. Als Rolf seine übliche Frage stellte, wie es ihr heute ginge, konnte sie ihm fröhlich antworten:

„Gut! Keinerlei Kopfschmerzen! Wo wollen wir heute hin?“

„Überraschung!“, meinte Rolf nur und schnürte seine Stiefel zu.

Es war neblig.

Der Wagen holperte über die unbefestigte Piste. Susanna, die sich so auf den ersten Ausflug in ihrem Urlaub gefreut hatte, hielt sich krampfhaft am Sitz fest und wunderte sich, dass ihr nicht schon vor Stunden von dem Geruckel übel geworden war. Scheu blickte sie ab und zu auf ihren Mann, der mit verbissener Miene übers Lenkrad gebeugt saß. Vorhin, als sie zu fragen gewagt hatte, ob er sich vielleicht verfahren habe, wurde sie von ihm so rüde angefaucht, dass sie bis jetzt beleidigt geschwiegen hatte.

Rolf mochte Autos, kannte sich auch gut mit ihnen aus. Er hatte für ihren Ausflug einen Audi Quattro mit Allradantrieb gemietet, und das war auch gut so. Alle vier Räder hatten zu tun, das Gefährt auf der Fahrbahn zu halten. Die Farbe des Wagens war ein dezentes Perlgrau, sodass sie nahezu mit der feuchtweißen Umgebung verschmolzen.

Draußen sah man rein gar nichts von der Landschaft, so dicht stand der Nebel. Dabei mussten sie schon recht weit oben sein, denn die Fahrt war die ganze Zeit in halsbrecherischen Serpentinen steil bergauf gegangen. Ab und zu sah man kleine Tannenbäumchen am Steilhang aus den Nebelschwaden auftauchen, die wie Gespenster aussahen und sie zu warnen schienen, während sich auf der anderen Seite Steinbrocken unter ihren Rädern lösten und zu Tal polterten. Es war kreuzgefährlich und unvernünftig, so zu fahren. Aber Rolf wollte ihr unbedingt einen wunderschönen Platz zeigen, wo man herrlich picknicken konnte.

Susanna dachte an den Picknickkorb hinten im Kofferraum. Sie wusste nicht, was drin war, denn er war von den freundlichen Küchenfrauen gepackt worden. Ein großer, schöner Korb, recht altmodisch mit rotkariertem Tuch ausgeschlagen, welches unter dem Deckel hervor lugte. Rolf hatte sein stattliches Gewicht anerkennend an einer Hand gewogen, bevor er ihn hinten in den eigens gemieteten Wagen stellte. Mittlerweile war der Korb sicher umgekippt und hatte seine Köstlichkeiten im Kofferraum verstreut.

Susanna schaute wieder zu Rolf. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Was war nur in ihn gefahren? Warum fuhr er immer weiter? Am Ende würden sie noch in eine Felsspalte stürzen! Schaudernd erinnerte sie sich an die steilen Abhänge, die die Straße begrenzten. Nur gut, dass man sich auf Rolfs Fahrkünste blind verlassen konnte.

Sie selbst konnte nicht Auto fahren. Manchmal fand sie es zwar seltsam, als Frau eines Autohändlers nicht fahren zu können, aber Rolf hielt die Fahrschule für rausgeworfenes Geld. Sie würde ja doch durch die Prüfung fallen, meinte er, und sie hatte schließlich ihn, der sie überall hin kutschierte, wo sie nur wolle. Das tat er auch. So wie jetzt. Überhaupt machte er das alles nur ihretwegen, um ihr einen schönen Ausflug zu gestalten. Für das Wetter konnte er schließlich nichts.

„Mistwetter, was?“, wagte Susanna einen Versöhnungsversuch. Rolf war bei ihren Worten zusammengezuckt, weil er sich voll auf den Weg konzentrierte. Jetzt lachte er.

„Das Wetter ändert sich schnell hier oben. In ein paar Minuten scheint vielleicht schon wieder die Sonne, wirst sehen!“

Susanna schwieg erleichtert. Er war nicht mit ihr böse. Nichts konnte Susanna so den Tag verderben wie ein unausgesprochener Konflikt, der zwischen ihnen stand. Jetzt müssten sie nur noch ankommen, dann wäre sie vollends zufrieden, Sonnenschein hin oder her.

Nach fünf Minuten hielten sie endlich. Aufatmend zog Rolf die Handbremse an. Er lächelte.

„Da wären wir!“

Susanna bemühte sich, durch den Nebel etwas zu erkennen. Aber die Suppe war so dick wie Milchreis. Das Auto stand leicht nach vorn geneigt auf einem Felsplateau, vor ihnen erahnte Susanna eine Schlucht. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Lust, auszusteigen.

„Du brauchst nicht auszusteigen!“, sagte Rolf, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Aber schau mal, da vorne!“, und er zeigte auf einen Punkt im Nebel, der für Susanna unsichtbar blieb. Sie beugte sich vor, kniff die Augen zusammen und stieß mit der Nase fast an die Frontscheibe, aber sie sah nichts.

„Was meinst du?“, fragte sie.

Was danach kam, daran erinnerte sie sich nicht mehr.

3

Susanna erwachte.

Blinzelnd öffnete sie die Augen und schloss sie sofort wieder, weil grelles Sonnenlicht sie blendete. Gleichzeitig schoss ein scharfer Schmerz durch ihren Kopf.

‚Schon wieder!‘, dachte sie und stöhnte. Doch dann merkte sie, dass der Kopfschmerz anders war als die übliche Migräne. Er kam nicht von der Schläfe, drückte nicht auf die Augen und schien vom Hinterkopf auszugehen. Vorsichtig bewegte sie den Kopf. Sofort wurde ihr schwindelig und übel.

‚Oh Gott, was ist mit mir? Ich muss Rolf rufen.‘ Doch sie konnte nicht rufen. Da blieb sie einfach still liegen und wartete, dass der Schmerz und die Übelkeit abnahmen. Wie sie so lag, merkte sie, dass das Bett ziemlich hart war. Außerdem lag sie irgendwie schief. Und warum fühlte sie Stein unter ihrer Hand? Wo war die andere Hand? Weshalb schien ihr die Sonne direkt ins Gesicht?

Während das Bewusstsein langsam in ihr Gehirn sickerte, merkte Susanna, dass etwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht stimmte.

Allmählich ebbte der Schmerz ab und sie öffnete die Augen. Ungläubig drehte sie den Kopf, jegliche Schmerzen vor Überraschung ignorierend. Als sie erkannte, wo sie war, fuhr ihr eisiger Schrecken in die Glieder und sie rückte näher an die Felswand. An die Felswand, an deren winzigen Vorsprung sich Susanna jetzt klammerte und die sowohl über ihr wie auch unter ihr steil und schroff aufstieg beziehungsweise abfiel.

Wie um alles in der Welt war sie hierhergekommen? Wo war Rolf, wo war das Auto?

Mit heftig klopfendem Herzen wagte es Susanna, sich aufzusetzen. Sie hatte auch Schmerzen in der linken Schulter und am linken Knie. Ihre Hose war zerrissen, Blut sickerte aus einer Schürfwunde. Als sie ihre Arme betrachtete, bekam sie einen Schreck. Die Jacke und der Pullover wiesen beide längsverlaufende Risse auf, auch die darunterliegende Haut war wie von Dornen zerkratzt - oder von Glasscherben.

Natürlich, es musste einen Unfall gegeben haben, und sie war durch die Frontscheibe geflogen. Aber wo war Rolf?

Vorsichtig beugte sich Susanna vor und lugte über den Rand des Vorsprunges. Vor Entsetzen setzte ihr Herz einen Schlag aus, denn mit einem Blick sah sie, dass ihre Vermutung richtig gewesen war. Der steile Hang war von kümmerlichen Kiefernbäumchen bewachsen, die sich nur mühsam am kargen Felsgestein halten konnten. Einige von ihnen waren abgerissen, hingen mit den Wipfeln nach unten. Eine helle Schleifspur zeigte, wo das Auto hinunter geschrammt war, auf seinem Weg in die Tiefe Steine und Bäume mit sich reißend. Unten verlor sich die Furche zwischen den Tannen, die dort dichter wuchsen. Vom Auto war keine Spur zu sehen.

Susanna lehnte sich zurück. Nach einem krampfartigen Schluchzen, das sie fast eine Minute lang schüttelte, kamen endlich die Tränen. Sie ließ sie laufen. Langsam beruhigte sie sich, wischte sich die Tränen ab und begann nachzudenken.

Es hatte einen Unfall gegeben. Rolf und sie hatten im Nebel an der Schlucht gehalten, dann waren sie hinuntergestürzt. Sie war herausgeschleudert worden und am Leben – mit einigen kleinen Blessuren zwar, aber am Leben. Es war möglich, dass es Rolf genauso ergangen war, dass er irgendwo auf einem Felsvorsprung bewusstlos dalag. Es konnte aber auch sein, dass er noch im Wagen war.

Susanna schloss die Augen und stellte sich Rolfs zerschlagenen Körper vor, das viele Blut...

Sie beugte sich zur Seite und erbrach sich heftig. Dabei schmerzte ihr Kopf höllisch. Wahrscheinlich hatte sie eine Gehirnerschütterung.

Oh Gott, wenn Rolf noch am Leben war, wenn er da unten zwischen den Trümmern lag, eingeklemmt und mit Schmerzen. Er würde verbluten, wenn ihm keiner half!

Vorsichtig kroch sie wieder zum Rand ihres Gefängnisses. Diesmal schaute sie nach oben. Der obere Rand der Schlucht war nicht zu sehen, dafür aber etliche Felsvorsprünge ähnlich diesem, auf dem sie saß. Neue Hoffnung durchströmte Susanna.

„Rolf? ROLF!“ Ihre Stimme klang zitterig und dünn und ihre Kehle brannte. Sie räusperte sich und rief noch einmal. Als Antwort auf ihr Rufen strich eine Elster mit lautem Schimpfen über die Bäume. Susanna legte die Hände wie einen Trichter an den Mund und rief laut ins Tal:

„H I L F E! H I I I L F E!”

Aber es kam keine Antwort, so sehr sie auch lauschte. Es kam noch nicht einmal ein Echo. Sie versuchte es wieder und wieder, rief nach Rolf und verzweifelt um Hilfe, bis ihre Stimme heiser wurde.

Erschöpft ließ sich Susanna zurücksinken. Das Schreien hatte sie so angestrengt, dass sie sich ermattet und verzagt an die Felswand lehnte. Ihr Hals war trocken und schmerzte, im Mund hatte sie einen ekligen Geschmack. Wenn sie nur eine Schluck Wasser hätte! Was sollte sie jetzt tun? Das Rufen hatte keinen Sinn, anscheinend war das hier keine vielbesuchte Gegend. Es konnte Tage dauern, bevor sie gefunden wurden. Derweil war Rolf sicherlich verblutet, sie selbst erfroren. Der Herbst rückte näher, die Nächte waren schon empfindlich kalt. Dazu kam der Durst, der sie schon jetzt quälte. Nein, sie musste etwas unternehmen. Zuerst einmal hier wegkommen, dann Hilfe holen.

Zögernd betrachtete die junge Frau abermals die Felswände über sich. Der nächste Vorsprung war weit über ihrem Kopf, nicht zu erreichen. Nach unten hin wurden die Vorsprünge seltener, dafür konnte sie aber springen oder rutschen. Sie suchte mit den Augen einen geeigneten Weg. Da unten links wurde es mächtig steil! Wenn sie da einen Vorsprung verpassen würde, bliebe ihr nur der freie Fall in die Baumkronen. Nach der anderen Seite hin war der Hang nicht so steil, dafür aber mit losem Geröll übersät, auf dem man auch keinen Halt fände. Aber darunter lief der Berg etwas sanfter aus. Wenn es nur bis nach unten nicht so furchtbar weit wäre!

Susanna überlegte hin und her. Sie traute sich den einen wie den anderen Weg nicht zu. Besonders sportlich war sie noch nie gewesen, außerdem hatte sie Übergewicht. Dazu kam die Angst. Vielleicht wäre es besser, noch etwas zu warten, schließlich konnte jeden Moment jemand kommen. Ein Wanderer, oder eine Gruppe Kletterer mit Ausrüstung. Für die wäre dieser Hang ein Kinderspiel. Es würde bestimmt jemand kommen.

Susanna wartete. Mit dem Rücken an die Felswand gelehnt, saß sie da und spürte, wie der Schmerz in ihrem Kopf abebbte und die Schmerzen in Knie und Schulter zu einem dumpfen Pochen wurden. Eigentlich war es ganz gut so, wie es jetzt war. Keine Schmerzen. Kein Nachdenken. Die Apathie, in welche die junge Frau fiel, ging in einen tiefen Schlaf über.

Susanna schreckte auf.

Diesmal wusste sie sofort, wo sie war. Und sie erkannte auch sofort, dass sie nun handeln musste, denn die Sonne war im Begriff zu sinken. Am gegenüberliegenden Hang war bereits alles dunkel und hier warfen die Bäume lange Schatten.

Noch einmal rief sie und lauschte vergeblich nach Antwort. In ihrem Hinterkopf pochte der Schmerz, aber sie ignorierte ihn. Dann bewegte sie vorsichtig Arme und Beine, um ihre Beweglichkeit zu prüfen, bevor sie sich so weit wie möglich nach rechts schob. Dort war ein Bäumchen, das könnte sie erreichen, wenn sie sprang.

Und sie sprang.

Die Felsbrocken, die aus dem Hang ragten, warfen ihre Schatten auf die orange angeleuchtete Felswand. Dadurch wirkten sie größer und stabiler, als sie in Wirklichkeit waren. Susanna erreichte das Bäumchen, schwang sich daran weiter, rutschte aber von einem Stein, den sie als nächstes Ziel anvisiert hatte, ab und schlitterte gut fünf Meter abwärts. Steine und Geröll polterten um sie herum zu Tal. Mit der Kraft der Verzweiflung klammerte sie sich an einer Felsnase fest und fand mit dem Fuß Halt in einer Spalte. Die waren hier reichlich vorhanden, wie sie nun erleichtert feststellte, und den Rest des Abstieges schaffte sie ohne größere Schreckmomente. Einmal fiel sie noch hin, aber das Knie tat sowieso schon weh, deshalb war es ihr egal.

Irgendwann saß Susanna am Fuß des Hanges, betrachtete ihre abgebrochenen Fingernägel und lachte. Lachte und lachte, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Es dauerte einige Zeit, ehe sie sich beruhigt hatte und sich besann. Sie sah sich um.

Die Schlucht, in der sich die junge Frau nun befand, war eng, dunkel und steinig. Als hätte ein Riese mit einer Axt eine Kerbe in den Felsen geschlagen. Zwischen den dicht stehenden Bäumen lagen große Felsbrocken, die irgendwann einmal von unbekannten Naturgewalten aus dem Gebirge gebrochen worden und bis hierher ins Tal gerollt waren. Für Wanderer war hier kein angenehmes Durchkommen. Die wenigen Stellen, wo keine Bäume standen oder Steine lagen, waren feucht und matschig. Wo Sonnenlicht hinkam, wuchsen meterhohe Brennnesseln und Disteln, wo keines hinkam, Moos und Farne. Die Felsen waren von dicken, feuchten Moosteppichen bedeckt, aus denen Ungeziefer nach allen Seiten flüchtete, wenn man sie berührte.

Susanna seufzte und machte sich auf den Weg. Ganz gleich, wie beschwerlich es war, sie musste unbedingt das Autowrack finden.

Sie kletterte und kraxelte, suchte und kehrte um, hangelte sich an Wurzeln weiter und fluchte. Nie wieder, so schwor sie sich, würde sie ins Gebirge fahren. Sie war sowieso lieber am Strand, suchte Muscheln und badete. Da war nichts steil, nirgendwo bestand Absturzgefahr. Die Straßen waren nicht so eng und gewunden, dass man ständig Angst vor dem Gegenverkehr zu haben brauchte. Man konnte mit dem Fahrrad fahren statt mit diesen blöden Seilbahnen, die sie nicht mochte. Nur weil Rolf gerne kletterte, mussten sie in die Alpen fahren statt ans Meer, wie sie gerne wollte. Dabei war es doch ihr Lottogewinn gewesen, nicht seiner!

Susanna blieb stehen. War sie denn verrückt geworden, solche Gedanken zu haben? Jetzt, wo sie gerade auf der Suche nach ihrem Mann war, der wahrscheinlich tot in einem abgestürzten Autowrack lag? Hatte der Unfall ihren Verstand mehr mitgenommen, als sie dachte? Kopfschüttelnd und schuldbewusst setzte Susanna ihren Weg fort und zwängte sich zwischen Dornensträuchern hindurch.

„Rolf, Rolf!“

Ab und an übermannte sie die Verzweiflung und sie rief nach ihrem Mann. Hoffentlich war er noch am Leben, hoffentlich! Ach, warum musste ihnen so etwas passieren, warum nur? Das Ganze war ein Albtraum.

Als sie sich an einem dicken Steinbrocken vorbeiquetschte, entdeckte sie plötzlich ein verbogenes Metallteil. Es war rund und etwa so groß wie ein Teller. Sie starrte es eine Weile an, ehe sie begriff. Dann hob sie die Augen und erblickte das Wrack. Es lag mit offener Kühlerhaube zwischen zwei Felsbrocken eingeklemmt halb auf der Seite. Das Dach war vorn bis hinunter zum Motor eingedrückt, sodass man nicht in den Innenraum hineinsehen konnte. Sämtliche Scheiben waren geborsten, alle Metallteile völlig verbeult. Das Auto sah jämmerlich aus.

Mit plötzlich aufkeimender Panik stürzte Susanna nach vorn, kletterte über den Felsen und rutschte auf der anderen Seite hinunter.

„Rolf! Rolf, so sag doch was!“

Mit zitternden Händen bog sie eine Strebe um und schlitzte sich an dem scharfen Metall die Haut auf. Sie beachtete die Wunde nicht, suchte nur verzweifelt einen Weg ins Wageninnere. Endlich gelang es ihr, den Kopf durch ein Loch zu zwängen. Die Sonne war schon lange hinter dem gegenüberliegenden Berghang verschwunden, nur noch Dämmerlicht erhellte die grausige Szenerie. Und im letzten Licht des Tages erkannte Susanna, was sie kaum glauben konnte: Der Wagen war leer.

4

Der nächste Morgen war kalt, aber klar.

Susanna hatte die Nacht mehr schlecht als recht auf dem hinteren Sitzpolster des kaputten Wagens verbracht und sich mit einer der Fußmatten notdürftig zugedeckt. Die Verletzungen, die sie bei dem Unfall davongetragen hatte, schmerzten, und sie fror jämmerlich. Jetzt, im allerersten Tageslicht, erwachte sie aus einem unruhigen Schlaf und kroch auf allen vieren aus dem Wrack. Zuerst hockte sie sich hinter einen Stein und verrichtete ein kleines Geschäft.

‚Warum setze ich mich hinter einen Stein?‘, dachte sie bei sich. ‚Niemand ist hier, ich hätte direkt neben das Auto pinkeln können. Aber nein, ich gehe ein Stück weg und setze mich hinter einen Stein.‘

Das Hocken fiel schwer, denn das Knie war angeschwollen und steif. Dafür tat die Schulter nicht mehr so schlimm weh wie gestern. Susanna zog die Hose herunter und untersuchte das Knie. Gebrochen schien nichts zu sein, aber es war dick und blau. Sie zog sich wieder an und befühlte danach ihren Kopf. Hinten waren die Haare hart von geronnenem Blut. Sie fühlte eine Platzwunde, in der Haare festklebten und ließ lieber die Finger davon.

Sie sah sich um. Die steile Schlucht gab nicht viel von sich preis, allenthalben versperrten Bäume oder Felsen die Sicht. Nach oben hin verloren sich die Hänge in den tief hängenden Wolken.

Susanna schauderte, als sie an ihre gestrige Kletterpartie dachte, denn die Steinwände sahen von hier fast senkrecht aus. Gestern Abend hatte sie, bevor es vollends dunkel wurde, nach Rolf gerufen und ein Stück weit in die andere Richtung gesucht, aber er blieb spurlos verschwunden. Vielleicht lag er weiter oben.

Das lähmende Entsetzen des gestrigen Tages war gewichen, die junge Frau konnte wieder klar denken. Die Tatsache, einen so schlimmen Unfall überlebt zu haben, machte sie seltsam stolz, obwohl sie gar keinen Einfluss darauf gehabt hatte. Ob sie hoffen durfte, ihren Mann lebend zu finden? Bisher war immer er der Glückspilz von ihnen beiden gewesen. Aus irgendeinem Grund war sie sehr zuversichtlich, dass er noch lebte. Sie spürte es geradezu.

Susanna hatte Durst. Ob sie etwas aus dem Bach trinken könnte? Eigentlich war es ja kein richtiger Bach, denn man hörte es zwar allenthalben plätschern und rieseln, aber ein offenes Rinnsal war nicht zu sehen.

Da fiel ihr der Picknickkorb im Kofferraum ein. Natürlich, der Picknickkorb! Dass sie an den nicht schon viel eher gedacht hatte!

Der Audi war eine Limousine und der Kofferraum nur von hinten zu erreichen. Nun gut, dann musste sie es eben von der anderen Seite versuchen. Das bedeutete erneute Kletterei, denn der große Stein, hinter dem das Auto eingeklemmt war, versperrte den Weg. Endlich stand Susanna auf der Rückseite. Das Glas der Heckklappe war nicht mehr klar, sondern weiß, aber bis auf ein paar Löcher noch an ihrem Platz. Die Scheibe war in tausend kleine Mosaike zerbrochen, an einigen Stellen war sie gewölbt oder eingesunken, ließ sich aber nicht so ohne Weiteres eindrücken, als Susanna es vorsichtig mit der flachen Hand probierte. Dann versuchte sie den Kofferraum zu öffnen, aber der war verschlossen und hatte nicht mal einen Hebel. Nur ein Schlüsselloch.

Susanna kraxelte wieder zurück, um den Zündschlüssel zu holen. Der Airbag hing als schlaffer Sack aus dem Lenkrad heraus und verdeckte das Zündschloss. Als Susanna ihn beiseiteschob, musste sie verwundert feststellen, dass kein Schlüssel im Schloss steckte. Was nun? Da fiel ihr Blick auf einen Hebel neben dem Fahrersitz, auf dem eine Hecktür abgebildet war. Auf dem daneben eine Zapfsäule. Sie zog an dem ersten Hebel, spürte einen Ruck und richtig - der Kofferraum war auf!

Das erste, was Susanna erblickte, als sie in den Kofferraum sah, war eine dicke, wollene Picknickdecke! Sie verfluchte ihre Dummheit. Die Nacht hätte um einiges angenehmer sein können, wenn sie sich in diese schöne Decke hätte einwickeln können. Wenn sie nur nicht immer so dumm und einfallslos wäre!

Der Inhalt des Picknickkorbes lag verstreut im ganzen Innenraum. Sie klaubte alles zusammen und tat es wieder in den Korb hinein. Es gab sechs belegte Brötchen, vier hartgekochte Eier, zwei Apfeltaschen und eine Obstschale aus durchsichtigem Plastik, mit Äpfeln und Bananen gefüllt. Alles war ordentlich in Alufolie eingewickelt. Zwei kleine Flaschen enthielten Orangensaft. Zumindest eine, die andere war geplatzt und hatte den größten Teil ihres klebrigen Inhalts im Auto verteilt. In einer Thermoskanne, welche zum Glück noch heil war, befand sich lauwarmer Kaffee. Mit zitternden Händen goss sich Susanna Kaffee in einen der Plastebecher und trank gierig. Dann aß sie ein Brötchen. Dabei ließ sie ihre Gedanken schweifen.

Es war doch merkwürdig, dass der Zündschlüssel nicht im Schloss steckte. War er durch die Wucht des Aufpralls herausgeschleudert worden oder hatte Rolf ihn abgezogen? Er hatte doch neben ihr im Auto gesessen, als sie parkten, um sich die Aussicht anzusehen, warum sollte er also den Schlüssel abgezogen haben? Wie sie so nachdachte, fiel ihr Blick in den Kofferraum, wo der jetzt aufgeräumte Picknickkorb neben ihrem Rucksack stand.

Neben ihrem. Wo war Rolfs Rucksack?

Das wunderte sie aber jetzt doch. Sie hatte selbst gesehen, wie Rolf beide Rucksäcke in den Kofferraum gestellt hatte. Sollte sie sich getäuscht haben?

Susanna aß noch einen Kuchen und trank den Rest aus der kaputten Plastikflasche aus. Dann packte sie die Vorräte in ihren Rucksack um, in dem lediglich ein Regencape und ein paar Wechselsocken lagen. Die Kaffeekanne passte nicht mit hinein, aber die konnte sie ja in Rolfs Rucksack tun, der sicherlich vorne lag.

Sie nahm die Decke mit und den Rucksack, schloss ordentlich den Kofferraum und kletterte wieder nach vorn. Dort zwängte sie sich erneut ins Wageninnere, um nach Rolfs Rucksack zu suchen. Sie schaute vorn und hinten nach, kroch sogar in den Fußraum, aber außer Rolfs Jacke fand sie nichts. Nur einen Schraubenschlüssel.

Einen Schraubenschlüssel? Was machte der denn hier? Das war doch ein Mietwagen.

Susanna nahm den großen, schweren Schraubenschlüssel und wog ihn in der Hand. Der hatte ja ein ganz schönes Gewicht. Da sah sie auf einmal am Kopf des Schraubenschlüssels etwas Dunkles. Sie hielt ihn ins Licht und betrachtete ihn genauer. Und mit wachsendem Unbehagen, das sich langsam zu einem unklaren Entsetzen verdichtete, erkannte sie zwei Dinge: Das Dunkle war Blut, und in dem Blut klebte ein blond gefärbtes Haar.

Susanna wusste nicht, wie lange sie da gesessen hatte, den Schraubenschlüssel auf dem Schoß.

Wie passte das zusammen? Wie konnte das wahr sein? Immer wieder schüttelte sie den Kopf im Versuch, ihre Gedanken zu ordnen.

Sie waren im Nebel gefahren. Sie hatten einen Unfall gehabt. Sie selbst hatte durch einen glücklichen Zufall überlebt, hatte sogar den Wagen gefunden. Aber Rolf war nicht da. Auch sein Rucksack fehlte, ebenso wie der Zündschlüssel. Aber seine Jacke war da. Dieselbe Jacke, die er anhatte während der Fahrt, das wusste sie genau. Wie konnte sie dann hier liegen?

Warum hatte sie eine Wunde am Hinterkopf? Aus irgendeinem Grund war sie jetzt sicher, sich diese Wunde nicht bei dem Unfall zugezogen zu haben. Sie hatte ja auch sonst keine Blessuren im Gesicht. Und dann dieser verdammte Schraubenschlüssel - mit Blut und ihrem Haar an dem einen Ende.

Trug er Rolfs Fingerabdrücke?

Susanna schaute auf das Werkzeug hinab, dann legte sie es beinahe vorsichtig ins Gras.