Sylter Gier - Ben Kryst Tomasson - E-Book
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Sylter Gier E-Book

Ben Kryst Tomasson

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Beschreibung

Der Tote am Roten Kliff.

Mehrere Krankenkassen schlagen Alarm: Auf Sylt scheint ein Netzwerk von Abrechnungsbetrügern am Werk zu sein. Alle Fäden laufen beim Schwangerenzentrum Baby-Well zusammen. Kari darf wegen ihrer Schwangerschaft nicht mehr im Außendienst tätig sein – eigentlich. Nun soll sie sich aber bei Baby-Well ein Bild machen, sehr zum Unmut von Hauptkommissar Jonas Voss, der sich um sein ungeborenes Kind sorgt. Der Fall scheint rasch klar zu sein, bis Karis Hauptverdächtiger tot aufgefunden wird … 

Ein Kriminalroman voller schaurig-schönem Inselflair und liebenswerten Figuren.

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Seitenzahl: 490

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Über das Buch

Kari Blom ist schwanger und darf eigentlich nicht mehr im Außendienst tätig sein, doch die Undercover-Einsätze fehlen ihr. Sie ist froh, als ihr Vorgesetzter sie bittet, auf Sylt in einem Fall von Abrechnungsbetrug in einem Schwangerenzentrum zu ermitteln. Zwischen Geburtsvorbereitungskursen und Physiotherapie stellt Kari Nachforschungen an. Nur Hauptkommissar Jonas Voss ist nicht begeistert, denn er sorgt sich um sein ungeborenes Kind. Schnell scheint der Fall klar zu sein – bis Karis Hauptverdächtiger tot am Fuß des Roten Kliffs gefunden wird. Und dann scheint sich Jonas’ schlimmste Befürchtung zu bewahrheiten: Kari gerät in Lebensgefahr.

Über Ben Kryst Tomasson

Ben Kryst Tomasson, geboren 1969 in Bremerhaven, ist Germanist, Pädagoge und promovierter Diplom-Psychologe. Er hat einige Jahre in der Bildungsforschung gearbeitet, ehe er sich als freier Autor selbstständig gemacht hat. Seine Leidenschaft gehört den Geschichten, die das Leben schreibt, den vielschichtigen Innenwelten der Menschen und dem rauen Land zwischen Nordsee und Ostsee. Wenn er nicht schreibt, verbringt er seine Zeit am liebsten mit einem guten Buch am Meer.

Im Aufbau Taschenbuch sind bisher erschienen: »Sylter Affären«, »Sylter Intrigen«, »Sylter Blut«, »Sylter Gift«, »Sylter Lügen«, »Sylter Schuld« sowie »Sylter Sünden«.

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Ben Kryst Tomasson

Sylter Gier

Kriminalroman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Widmung

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Danksagung

Impressum

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Für Mama In meinem Herzen lebst du weiter

1. Es war ein Tag, wie er schöner nicht hätte sein können. Der Himmel war von einem hellen, samtigen Blau, das wie ein weicher Vorhang über der Förde schwebte. Keine einzige Wolke war zu sehen. Auf dem Wasser, das vom schneeweißen Bug des Segelboots zerteilt wurde, spiegelte sich das Sonnenlicht. Die Luft war angenehm mild und warm für Mitte Oktober.

Am Morgen hatte das Thermometer sechzehn Grad angezeigt. Der Wind war gut, die weißen Segel blähten sich bauchig, und das Segelboot machte ordentlich Fahrt über die Ostsee. Es war vermutlich die letzte Gelegenheit des Jahres, mit dem Boot hinauszufahren, und das goldene Herbstwetter war ein echtes Geschenk.

Der Mann an der Pinne sah dennoch alles andere als glücklich aus.

Kriminalrat Ole Lund, der mit der Vorschot in der Hand auf der Backbordseite des Segelboots saß, betrachtete seinen Freund mit zusammengekniffenen Augen.

Dr. Magnus Richter machte eine tadellose Figur. Die vollen dunklen Haare waren gut geschnitten, im Nacken kurz gestutzt. Das markante Gesicht war glattrasiert, der Blick offen und wach. Richters Kleidung war ebenso lässig wie edel. Ein dunkelblauer Markentroyer, dazu eine weiße Segelhose und weiße Bootsschuhe. Die Brille hatte Richter abgenommen und in der Brusttasche der dünnen blauen Windjacke verstaut, die er über dem Troyer trug.

Nein, es waren die fest zusammengepressten Lippen, die angespannten Mundwinkel und die hervortretenden Kaumuskeln. Richter grübelte ganz offensichtlich angestrengt über irgendetwas nach.

Ole Lund rutschte auf der Bank ein Stück nach achtern.

»Magnus. Was ist los?«, erkundigte er sich.

Sie waren seit vielen Jahren befreundet, schon seit dem Studium. Magnus war Oles Tutor im Seminar über Strafrecht gewesen. Die Freude am messerscharfen Denken und Diskutieren hatte sofort ein Band zwischen ihnen geschaffen. Mittlerweile war Lund Kriminalrat beim Landeskriminalamt, Richter Kapitaldezernent bei der Kieler Staatsanwaltschaft.

»Ach, nichts.« Richter zwang ein Lächeln auf seine Lippen. »Ich muss nur mal abschalten. Lass uns einfach diesen wundervollen Tag genießen.«

Lund hob die Augenbrauen. »Meinst du, das gelingt dir?«

Richter lieferte sich ein kurzes Blickduell mit ihm. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Du lässt ohnehin nicht locker, richtig?«

Lund hob die Hände. Du kennst mich doch, sollte das heißen.

»Also gut.« Richter schaute über das Wasser. »Ich habe einen Fall, der mich verrückt macht. Ich bin mir absolut sicher, dass wir es mit einer Straftat zu tun haben, aber wir finden beim besten Willen keine Beweise.«

Lund legte den Kopf schief. »Worum geht es?«

»Fehlverhalten im Gesundheitswesen. Abrechnungsbetrug, Korruption, Urkundenfälschung. Kein Einzelfall, sondern ein Netzwerk. Mehrere Arztpraxen, die plötzlich ein ungewöhnlich hohes Patientenaufkommen verzeichnen, und ein Baby-Zentrum, das der Zahl an abgerechneten Verordnungen zufolge im Akkord arbeitet.« Richters Mundwinkel hoben sich kurz. »Auf Sylt. Da kennst du dich doch aus?«

»Hm.« In Lunds Kopf arbeitete es bereits. »Was habt ihr bisher unternommen?«

»Das Übliche. Datenanalysen, Befragung der Ärzte, der Mitarbeiter und mehrerer Patienten. Aber – nichts. Wer auch immer da den Krankenkassen betrügerisch das Geld aus der Tasche zieht, wir kommen ihm nicht auf die Spur.« Die braunen Augen des Staatsanwalts funkelten wütend. »Schlimmer noch: Wir haben so wenig Indizien, dass ich keinen weiteren Ermittlungsaufwand rechtfertigen kann. Mir wird nichts anderes übrig bleiben, als das Verfahren einzustellen.« Er schlug ärgerlich mit der Faust auf die Reling.

Das Segel knatterte, weil sich das Boot in den Wind drehte. Rasch korrigierte Richter den Kurs, und die erschlaffte Leinwand blähte sich wieder.

Ole Lund schaute versonnen über das blau glitzernde Wasser. »Ein Baby-Zentrum, sagst du?«

Richter nickte. »Baby-Well heißt der Laden. Die bieten Beratung für Schwangere, Geburtsvorbereitung, Physiotherapie und alles Mögliche andere für werdende Mütter an.«

Ole Lund lächelte. »In dem Fall hätte ich eine Idee«, sagte er.

2. Karolina Dahl schnaufte und steuerte die nächste Bank an. Zum Glück erhob sich dort gerade ein älteres Ehepaar. Die beiden lächelten sie wohlgefällig an, als Kari ihren Platz einnahm.

Das passierte ihr in letzter Zeit häufiger. Dabei fand sie, dass man den Bauch eigentlich noch gar nicht richtig sah. Aber Frauen, die selbst Kinder zur Welt gebracht hatten, besaßen wohl einen Blick dafür, und Männer, die Väter geworden waren, offenbar ebenfalls.

Kari setzte den Rucksack ab und holte die Wasserflasche heraus. Während sie trank, ließ sie den Blick über die Förde bis zur anderen Seite schweifen, wo sich am Ostufer das Marine-Ehrenmal in Laboe erhob. Die Ostsee hatte wie so oft an klaren Herbsttagen, an denen die Sonne schon tief stand, eine fast unwirklich azurblaue Farbe, die Kari besonders liebte.

Bis vor einigen Wochen war sie beinahe täglich den Weg an der Förde entlang gejoggt, von Strande bis nach Dänisch-Nienhof und wieder zurück. Jetzt schaffte sie kaum noch das Stück bis zum Bülker Leuchtturm, ohne zwischendurch eine Pause einzulegen. Was weniger daran lag, dass ihr Bauchumfang so sehr zugenommen hatte, sondern eher daran, dass sie sich ansonsten kaum noch bewegte.

Seit sie ihrem Vorgesetzten mitgeteilt hatte, dass sie schwanger war, durfte sie nur noch im Innendienst arbeiten. Natürlich konnte er nichts dafür, er befolgte nur die Vorschriften, doch Kari ärgerte sich trotzdem. Nicht über ihren Chef, sondern über die Arbeit, die sie seitdem zu verrichten hatte. Öde Schreibtischtätigkeiten, um die sie bisher stets einen großen Bogen gemacht hatte.

Kari schrieb nicht gern. Nicht einmal SMS oder Chatnachrichten, aber erst recht keine langen Berichte. Deswegen war es auch geradezu absurd, dass Ole Lund für ihre Sylter Einsätze die Legende der erfolglosen Schriftstellerin Kari Blom ersonnen hatte.

Kari lachte leise. Zumindest die Erfolglosigkeit ließ sich mit ihrem Unwillen zu schreiben erklären.

Aber sie hatte sich an die Rolle gewöhnt, gegen die sie sich anfangs so sehr gesträubt hatte, genau wie gegen einen Einsatz auf der Insel der Schönen und Reichen.

Mittlerweile liebte sie Sylt. Nicht nur, weil Jonas Voss dort lebte, mit dem sie seit einem halben Jahr verheiratet war, und wegen der von ihr sogenannten Häkelmafia, vier reizenden alten Damen, die über ein riesiges soziales Netzwerk verfügten und Kari seit ihrem ersten Fall auf der Insel begleiteten. Sie hatte außerdem festgestellt, dass Sylt einfach unvergleichlich schön war. Dass sich dort auch die High Society tummelte, störte Kari weniger, als sie vermutet hatte. Schließlich gab es auch genügend normale Menschen auf der Insel.

Seit dem Frühjahr hatte es für sie keinen Undercover-Einsatz auf Sylt und auch sonst nirgendwo mehr gegeben. Stattdessen fuhr Kari jetzt jeden Morgen zu dem gesichtslosen grauen Kasten im Mühlenweg und saß den ganzen Tag in ihrem Büro im LKA. Dort tat sie das, was sie bisher immer anderen überlassen hatte. Sie stellte Recherchen an, instruierte die Beamten, die undercover unterwegs waren, und tippte deren meist handschriftlich oder mündlich abgegebenen Berichte, während sie die Kollegen glühend beneidete.

In solchen Momenten kamen ihr Zweifel, ob die Entscheidung für das Kind richtig gewesen war.

Sie hatte schon lange nicht mehr daran gedacht, Mutter zu werden. Nicht mehr, seit Björn, ihr erster Ehemann, bei einem Einsatz als Notarzt ums Leben gekommen war, als er ein Kind aus dem Eis gerettet hatte. Danach hatte Kari sich von allem distanziert. Nie wieder wollte sie jemanden so nah an sich heranlassen wie Björn. Nie wieder wollte sie einen solchen Schmerz erleben.

Aber es hatte nicht funktioniert. Sie hatte Jonas kennengelernt, und der Sylter Kommissar hatte sich einfach nicht abweisen lassen. Seine Liebe war so groß, dass sie Karis Mauern irgendwann eingerissen hatte. Und nun war sie mit ihm verheiratet und bekam ein Kind von ihm. Mit einundvierzig!

Die Schwangerschaft stellte ihr ganzes Leben auf den Kopf. Kari war unausgeglichen, häufig gereizt und fast immer bis in die Haarspitzen angespannt. Sie litt abwechselnd an Appetitlosigkeit und Heißhunger, an kribbelnder Unruhe und lähmender Antriebslosigkeit. Ihr fehlten die Arbeit als Undercover-Ermittlerin und die Bewegung, geistig ebenso wie körperlich.

Würde das nun immer so bleiben?

Allem Unbehagen zum Trotz war ihr von der ersten Sekunde an klar gewesen, dass sie das Kind behalten würde. Der kleine Mensch, der in ihr heranwuchs, war das Produkt ihrer Liebe zu Jonas. Das Kind war ein Geschenk.

Allerdings hatte sie nicht geahnt, wie mühevoll eine Schwangerschaft war. In den ersten Wochen war ihr ständig schlecht gewesen, und seit einiger Zeit fühlte sie sich aufgedunsen, so als würde nicht nur ihr Bauch, sondern jede Zelle in ihrem Körper wachsen. Sie hatte zugenommen und einen Großteil ihrer Fitness eingebüßt. Und sie hatte noch immer keine Idee, wie sie ihr Leben bewerkstelligen könnten, wenn das Kind erst da war. Kari wollte irgendwann wieder in ihrem Job als Undercover-Ermittlerin arbeiten, auch auf Sylt. Das bedeutete, dass sie dort nicht mit Jonas zusammenleben konnte.

Aber noch war Zeit, um sich Gedanken über diese Entscheidungen zu machen. Zeit, von der sie nicht wusste, wie sie sie herumbekommen sollte. Wenn der Bauch immer dicker und sie selbst noch unbeweglicher wurde, als sie es jetzt schon war. Sechs Wochen würde sie noch arbeiten, ehe sie in den Mutterschutz ging. Und dann? Würde sie nur noch wie ein gestrandetes Walross auf dem Sofa liegen?

Ihr Smartphone klingelte, ehe sie sich weiter in ihre gedankliche Negativspirale hineinsteigern konnte. Sie nahm es aus dem Rucksack und stellte fest, dass es nicht, wie sie erwartet hatte, Jonas war, der sie anrief, sondern ihr Chef Ole Lund.

Automatisch ging ihr Blick zu den Segelbooten, die auf der Förde kreuzten. Hatte Ole nicht heute mit seinem langjährigen Freund, dem Staatsanwalt Magnus Richter, die letzte Fahrt für dieses Jahr unternehmen wollen?

»Hallo Ole«, begrüßte sie ihren Vorgesetzten. »Seid ihr auf Grund gelaufen?«

»Nein.« Ole Lund lachte. Er wirkte entspannt und gut gelaunt wie immer. »Aber ich habe ein Attentat auf dich vor.«

»Aha?« Hatten die beiden ihre Arbeit mit aufs Boot genommen, statt sich einen lauen Tag zu machen? In dem Fall bedeutete das wohl: weitere Recherchen, weitere Akten, weitere Berichte.

»Magnus hat einen Fall, bei dem er nicht weiterkommt«, sagte Lund wenig überraschend. »Es geht um falsche Abrechnungen bei den Krankenkassen.«

»Mhm.« Das klang nicht sonderlich spannend.

»Der Haupttäter scheint in einem Gesundheitszentrum beschäftigt zu sein. Aber Magnus fehlen die Beweise, um dort offiziell tätig zu werden. Deswegen dachte ich an einen Undercover-Einsatz.«

»Schön.« Karis Magen zog sich zusammen. Dann musste sie wohl wieder einen Kollegen präparieren.

»Auf Sylt«, fügte Lund hinzu.

Aus dem unguten Gefühl im Magen wurde ein heißer Knoten. Seit ihrem ersten Einsatz betrachtete sie Sylt als ihre Insel. Sie wollte nicht, dass einer ihrer Kollegen dort tätig wurde.

»Ich möchte, dass du das machst«, sagte Lund.

»Würde ich gern«, gab Kari gereizt zurück. »Aber ich darf nicht. Weil ich schwanger bin, schon vergessen?«

»Nein.« Sie konnte Lunds Grinsen sogar durchs Telefon sehen. »Im Gegenteil. Das ist genau der Clou. Ich möchte, dass du privat dorthin fährst. Weil es sich nämlich um eine Einrichtung für Schwangere handelt.«

Karis Laune hob sich im Bruchteil einer Sekunde.

»Die Praxisgemeinschaft heißt Baby-Well. Im Angebot sind Physiotherapie und Kurse für Schwangere.«

Vor Karis Augen entstand sofort ein Bild. Sie könnte nach Sylt fahren und wie all die Jahre zuvor bei Marijke Meenken im Gartenhaus wohnen. Lange Spaziergänge an der Nordsee machen und ein paar Kurse bei Baby-Well belegen. Und ganz nebenbei Ole Lund einen Gefallen tun.

»Bist du dabei?«, fragte Lund.

»O ja.« Kari lächelte breit. Jonas würde das vermutlich nicht gefallen, weil er in ständiger Sorge um sie und das ungeborene Kind war. Doch das war ihr in diesem Moment herzlich egal. Sie wollte zurück in ihr altes Leben, und wenn Lund ihr die Chance dazu bot, würde sie nicht Nein sagen.

»Gut. Dann treffen wir uns morgen früh um zehn in meinem Büro, und du bekommst alle Informationen, die du brauchst.«

»Ich werde da sein«, versprach Kari und beendete das Gespräch. Sie steckte das Telefon und die Wasserflasche zurück in den Rucksack und erhob sich von der Bank, so beschwingt wie schon seit Monaten nicht mehr.

3. »Babette?« Grethe Aldag, die Klempnerwitwe mit den eisgrauen Haaren, tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Wer, um alles in der Welt, nennt sein Kind denn Babette?«

»Das ist ein guter und klangvoller Name«, verteidigte sich Witta Claaßen und rückte ihre weiße Dauerwelle zurecht. »Ich weiß wirklich nicht, was es dagegen einzuwenden gibt.«

Grethe hob den Zeigefinger. »Alt und angestaubt, das ist der Name«, erklärte sie. »Und außerdem kein bisschen norddeutsch.«

Alma Grieger, die Bäckerwitwe mit den rot gefärbten Haaren, rückte auf dem Sofa nach vorn. »Ich finde auch, dass es ein friesischer Name sein sollte«, stimmte sie zu.

»Du meinst, so etwas wie Pietje oder Poppeline?« Witta Claaßen, verwitwete Gattin eines Kampener Landarztes, rümpfte die Nase. »So etwas würde ich dem armen Kind nicht antun.«

Marijke Meenken, die mit der frisch gefüllten Kaffeekanne zurück ins Wohnzimmer kam, schüttelte den Kopf. Sie kannte ihre Freundinnen seit der Schulzeit, und die lag nun wirklich lange zurück, aber manchmal benahmen sich die drei immer noch wie alberne Schulmädchen.

»Nun lasst doch das Gezanke, Kinder«, bat sie. »Frau Blom und Herr Voss werden schon den richtigen Namen für das Kleine finden.«

Wie immer hatten sich die Freundinnen am Samstagnachmittag zum Handarbeiten getroffen. Seit ein paar Wochen produzierten sie ausschließlich Babysachen. Marijke und Grethe strickten Strampelanzüge, Alma stellte winzige Schuhe und Mützen her. Witta, die immer das Besondere wollte, hatte sich darauf verlegt, Stofftiere zu häkeln.

Mittlerweile gab es bereits einen Hund, eine Katze und einen Bären. Wittas aktuelles Projekt war eine in Cyan und Magenta geringelte Schlange. Marijke fand die Farbgebung ein wenig zweifelhaft, aber die Wolle war im Sonderangebot gewesen, und Wittas krankhafter Geiz hatte das Rennen gegen die gestalterische Logik gewonnen.

Aber am Ende war es auch egal. Das Kind würde die Schlange nicht weniger lieben, weil die Farben nicht stimmten. Im Gegenteil wahrscheinlich.

»Wer sagt denn überhaupt, dass es ein Mädchen wird?«, erkundigte sich Grethe. »Vielleicht wird es ja auch ein Junge.«

»Deswegen haben wir extra verschiedene Modelle gestrickt«, sagte Witta und wies auf den Berg von Stramplern, Mützchen und Schühchen im Korb in der Ecke. Einige Teile waren hellblau, einige rosa, der Rest hellgelb. »Damit Frau Blom in jedem Fall die richtigen Farben zur Verfügung hat.«

»Was ist denn richtig?«, stichelte Grethe. »Wir leben doch nicht mehr in Großmutters Zeiten, rosa für die Mädchen, blau für die Buben.«

Witta hob das Kinn. »Das macht man durchaus noch so. Aber das weißt du natürlich nicht. Du hast ja keine Kinder.«

Grethes Gesicht verschloss sich. Marijke schüttelte erneut den Kopf. Witta wusste genau, dass Grethe aufgrund einer Krebserkrankung in jungen Jahren keine Kinder hatte bekommen können, aber im Eifer des Gefechts vergaß sie es manchmal.

»Entschuldige«, besann sich Witta, die Grethes Blick und Marijkes Geste bemerkt hatte. »Das war dumm und unüberlegt.«

»Schon gut.« Grethe winkte ab. »Das ist lange her.« Sie grinste. »Genau wie deine Erfahrungen mit Kleinkindern. Sören wird bald sechzig, oder nicht? Und weit und breit kein Enkelkind in Sicht.«

Witta nahm wieder ihre Marlene-Dietrich-Pose ein. »Er wollte nicht sein eigenes Kind im Luxus großziehen, sondern den vielen helfen, denen es nicht so gut geht.«

Wittas Sohn war als Flying Doctor im Senegal tätig, was Witta gleichermaßen stolz und traurig machte, weil sie ihn nur selten zu Gesicht bekam.

»Ja.« Auch Grethe fuhr ihre Krallen ein. »Das ist wirklich eine gute Sache.«

Grethe, Witta und Alma legten ihr Strickzeug beiseite und schaufelten Zucker in ihre Kaffeetassen. Alma betrachtete den bunten Kleiderhaufen im Korb.

»Frau Blom und Herr Voss können alles so machen, wie sie es wollen. Bis zur Geburt haben wir so viele blaue, rosa und gelbe Strampler, dass sie dem Kind immer dieselbe Farbe anziehen können oder jeden Tag eine andere, egal was es wird.«

»Aber einen Namen braucht das Kind trotzdem«, beharrte Witta und nahm ihr Strickzeug wieder zur Hand, um an der pink-blauen Schlange weiterzuarbeiten. »Victor zum Beispiel. Oder Victoria, wenn es ein Mädchen wird.«

»Es gibt ja auch sehr hübsche friesische Namen«, sagte Alma. »Jeske. Oder Jorin.«

Was zufälligerweise die Namen von Almas Kindern waren.

»Aber das Kind wird doch wohl in Kiel aufwachsen«, wandte Witta ein. »Das ist eine Großstadt, und sie befindet sich außerdem nicht in Friesland. Da kommt man meiner bescheidenen Meinung nach mit einem etwas geläufigeren Namen besser zurecht.«

Ein bedrücktes Schweigen folgte. Witta hatte recht. Kari würde ihr Kind in Kiel zur Welt bringen, und sie würde es auch dort großziehen. Marijke und ihre Freundinnen mochten wohl einen ganzen Korb voller Babywäsche stricken und häkeln, aber sie würden an der ganzen Sache keinen großen Anteil haben. In ihrem Alter reiste man nicht mehr so viel, und mit dem Kind konnte Kari nicht mehr undercover auf Sylt ermitteln. Es würde alles wieder so werden wie vor jenem Sommer, in dem Kari das erste Mal auf der Insel ermittelt hatte. Keine Detektivspiele und keine Abenteuer mehr, nur die wöchentlichen Häkeltreffen und die Spaziergänge mit der Sylter Ornithologischen Gesellschaft SOG, in der sie alle vier Mitglieder waren.

Alma hatte zumindest noch ihren Freund Albert, den sie bei Karis letztem Fall kennengelernt hatte. Er war der Fahrer der Familie, in der es bei der Hochzeit auf dem Golfplatz einen Toten gegeben hatte. Die Familie hatte ihr Anwesen auf Sylt verkauft und sich irgendwo im Hamburger Umland etwas Neues angeschafft, aber Hamburg war nicht aus der Welt, und Albert, der ein paar Jahre jünger als Alma war, kam an seinen freien Tagen auf die Insel und verbrachte die Zeit mit ihr.

Grethe, Witta und Marijke selbst dagegen hatten außer der Häkelrunde und der SOG niemanden. Grethe hatte keine Kinder, Wittas Sohn lebte im Senegal, und Marijkes Sohn Raik, die Enkeltochter und die beiden Urenkelinnen wohnten weit weg in Süddeutschland. Sie hatten kein schlechtes Verhältnis, aber alle drei Generationen hatten so viel mit sich selbst zu tun, dass sie nur selten Kontakt zu Marijke aufnahmen, und die Ferien verbrachten sie lieber im sonnigen Süden als auf Sylt, wo es ihnen zu kalt und zu windig war. Marijke hatte deshalb schon oft darüber nachgedacht, ihr Testament zu ändern und das hübsche Kapitänshaus in Braderup nicht ihren hohlköpfigen Urenkelinnen zu vermachen, die sich nur mit ihren Smartphones beschäftigten, sondern Kari Blom, die sich auf Sylt so wohlfühlte. Oder vielleicht dem neugeborenen Kind?

Aber das eine war so unsinnig wie das andere. Kari konnte nicht auf Sylt wohnen, wenn sie hier irgendwann wieder undercover ermitteln wollte. Wie lange es bis dahin wohl dauern würde? Zunächst müsste das Kind ja aus dem Gröbsten raus sein. Ob Witta, Grethe, Alma und Marijke selbst dann noch am Leben wären?

Marijke stand auf und holte vier Gläser und die Flasche mit dem Küstennebel aus dem Schrank. Sie mussten dringend etwas gegen die trübsinnige Stimmung unternehmen, die sich über ihre Runde gesenkt hatte. Grethe nahm ihr die Flasche ab und schenkte ein.

Sie wollten gerade anstoßen, als das Telefon im Flur klingelte.

»Moment.« Marijke hob die Hand. »Ich bin gleich wieder da.«

Sie ließ die Tür zum Wohnzimmer offen stehen und eilte zum Apparat. »Meenken?«

Als sie die Stimme am anderen Ende erkannte, fiel alle Schwermut von ihr ab. »Frau Blom!«

Binnen Sekunden war sie von ihren Häkelschwestern umringt, die so laut schnatterten, dass Marijke kaum verstand, was Kari sagte.

»Das Gartenhaus? Ja, das ist noch frei«, sagte sie. »Ich lasse dort niemanden außer Ihnen mehr wohnen, das wissen Sie doch.«

Sie hörte wieder zu und spürte, wie sich ihre Laune weiter hob.

»Wunderbar«, sagte sie überschwänglich und verabschiedete sich.

Die anderen drei sahen sie erwartungsvoll an.

»Sie kommt!«, verkündete Marijke. »Und nicht nur das. Sie hat auch einen neuen Fall.«

Die Augen von Alma, Witta und Grethe strahlten.

»Also, Mädels!«, rief Alma. »Das müssen wir feiern!«

4. »Ich weiß wirklich nicht, wie ihr euch das vorstellt.« Finja Voss strich ihre langen dunklen Haare glatt. Sie saß aufrecht am Tisch, ganz selbstgerechte Empörung. »Dass ihr unbedingt heiraten musstet, okay. Aber ein Kind zu bekommen, wenn Kari nicht zu uns ziehen will? Wie soll das gehen?«

Jonas Voss betrachtete seine Tochter. Sie war immer ein ernstes Mädchen gewesen, und sie hatte sehr an ihrer Mutter gehangen. Von Anfang an hatte sie Schwierigkeiten mit der neuen Frau in Jonas’ Leben gehabt. Jonas hatte gehofft, dass sich das mit der Zeit geben würde, doch die Abwehr war geblieben. Vielleicht, weil Kari sich ebenso wenig auf ein normales Familienleben einließ, wie Friederike es getan hatte. Mit Jonas’ Kollegin Hannah wäre es vielleicht anders gewesen. Sie verstand sich gut mit Finja, und sie hatte sich viele Jahre lang gewünscht, Teil der Familie Voss zu werden.

Aber diese Zeiten waren vorbei. Hannah war jetzt seit mehr als zwei Jahren glücklich mit Maximilian Kirschstein liiert.

»Ich werde öfter in Kiel sein«, erklärte er. »Wenn Kari wieder arbeitet, gehe ich in Elternzeit.«

Das hatte er mit Kari noch nicht abgesprochen, aber es erschien ihm die einzig mögliche Lösung.

»Und was ist mit uns?« Finja verschränkte die Arme vor der Brust.

Jonas lächelte sie an. »Du bist ohnehin nur noch an den Wochenenden hier«, sagte er.

Finja hatte vor einer Woche ihr Studium an der Universität Hamburg begonnen. Ein Bachelorstudium der Geowissenschaften mit dem Ziel, anschließend einen Master im deutschlandweit einzigartigen englischsprachigen Studiengang »Integrated Climate System Sciences« zu erwerben. Der Natur- und Umweltschutz war nach wie vor ihre große Leidenschaft. Die Sommermonate hatte sie auf Norderney verbracht und sich dort mit einer Gruppe von Biologen in einem Vogelschutzprojekt engagiert.

In Hamburg hatte sie mit viel Glück ein Zimmer in einem Studentenwohnheim ergattert, so dass sie nicht pendeln musste. Am Anfang würde sie vermutlich jeden Freitagabend nach Sylt fahren und bis zum Sonntagabend bleiben, doch wenn sie unter ihren Kommilitoninnen erst einmal Freundinnen gefunden hatte und ins studentische Leben eingetaucht war, würden die Besuche seltener werden, daran hatte Jonas nicht den geringsten Zweifel.

»Umso schlimmer«, gab seine Tochter zurück. »Dann ist Jasper ganz allein.«

»Ich bin kein Baby mehr«, erklärte Jonas’ Sohn mit vollem Mund und fing mit der Hand ein paar Krümel auf, die herausfielen. Sie saßen an der Kaffeetafel und vertilgten den Streuselkuchen, den Finja am Morgen gebacken hatte. Jasper hatte gerade ein riesiges Stück abgebissen und musste ein paarmal schlucken, ehe er weitersprechen konnte. »Ich werde in drei Monaten sechzehn.«

»Richtig.« An Finjas verkniffener Miene änderte sich nichts. »Es dauert noch mehr als zwei Jahre, bis du volljährig bist.« Sie sah ihren Vater an. »Soll er ganz allein hier wohnen? Dann ist es vermutlich eine Frage der Zeit, bis Leonie genauso einen dicken Bauch hat wie Kari.«

Jasper wurde puterrot. »So ein Quatsch«, empörte er sich. Eine Fontäne von Butterstreuseln sprühte aus seinem Mund über den Tisch bis zu Finjas Teller.

»Igitt.« Finja stand auf, trug den Teller zur Spüle und nahm sich einen neuen aus dem Schrank. Jasper sah zu Jonas und verdrehte die Augen. Jonas zuckte mit den Schultern. Wie so oft konnte er jedes seiner Kinder gut verstehen, obwohl sie gegensätzlicher kaum hätten sein können.

»Also?«, fragte Finja, nachdem sie zurück an ihrem Platz war und sich ein neues Stück Kuchen genommen hatte. »Wie habt ihr euch das gedacht?«

Tatsächlich hatten Kari und er überhaupt noch nicht darüber geredet, aber das würde er Finja nicht auf die Nase binden.

»Jasper kommt mit nach Kiel, wenn ich in Elternzeit gehe. Oder Opa Redlef zieht solange hier ein, falls Jasper auf Sylt bleiben will.«

»Cool«, grinste Jasper. »Ich glaube, ich nehme lieber Opa Redlef als ein schreiendes Baby.«

»Sonst müsstest du dich ja auch von Leonie trennen«, ätzte Finja weiter.

Jasper schüttelte den Kopf so heftig, dass seine blonden Locken von einer Seite auf die andere flogen.

»Da ist überhaupt nichts. Leonie ist bloß eine Schulfreundin«, sagte er mit der tiefen Stimme, die sich mittlerweile gesetzt hatte. Nur ganz selten war noch ein jugendliches Krächzen zu hören.

»Wer’s glaubt.« Finja spitzte den Mund.

Jasper gönnte ihr keine Antwort, sondern griff stattdessen nach der Flasche mit der Sprühsahne und dekorierte sein nächstes Stück Kuchen mit einer zentimeterdicken Schicht. Er war immer noch schlaksig und konnte essen, was er wollte, sehr zum Verdruss seiner Schwester, die genau auf ihre Ernährung achtete, um nicht zuzunehmen. Deshalb verzichtete sie auch auf die Sahne.

»Schön. Und was ist, wenn deine Elternzeit rum ist?«, wandte sich Finja wieder an ihren Vater.

»Das werden wir dann schon sehen«, entgegnete Jonas, der diese Fragen lieber verdrängen wollte. Er hatte sich riesig gefreut, als er von Karis Schwangerschaft erfahren hatte, aber er wusste auch, dass sie eine Menge Probleme zu lösen hatten. Kari war keine Frau, die ihren Beruf aufgab, um in der Mutterrolle aufzugehen. Sie mussten einen anderen Weg finden.

»Also wird es ein Kind mit Teilzeiteltern. Mal hier, mal dort. Keine richtige Familie, sondern immer nur ein Vater oder eine Mutter, die sich ein bisschen Zeit nehmen, während der andere arbeiten muss.«

Jasper legte das Stück Kuchen, das er sich gerade in den Mund schieben wollte, energisch auf seinen Teller zurück.

»Ich weiß nicht, was du willst«, fuhr er seine Schwester an. »Kari und Paps lieben sich zumindest, und sie werden auch das Kind lieben. Unsere Mutter ist abgehauen, als du sieben warst und ich vier. Sie hat sich seitdem überhaupt nicht mehr um uns gekümmert, weil sie mit ihrem Manager eine neue Familie gegründet hat. Karis Kind wird es bestimmt nicht schlechter haben als wir.«

Jonas’ Ex-Frau war Konzertpianistin und hatte ihre Karriere und ihre Tourneen dem Familienleben auf Sylt vorgezogen.

Finjas Miene verschloss sich. Jasper war noch zu klein gewesen, um wirklich zu realisieren, was die Trennung der Eltern bedeutete, doch Finja war davon mit voller Wucht getroffen worden.

»Na, dann sind ja alle glücklich«, sagte sie. »Bloß gut, dass ich nicht mehr hier wohne und das Elend mit ansehen muss.« Finja erhob sich und war mit drei Schritten an der Wohnzimmertür, die mit einem Knall hinter ihr ins Schloss fiel.

Jonas seufzte. Jasper grinste ihn an.

»Die kriegt sich schon wieder ein. Und das mit Opa Redlef – das ist echt stark.« Er verschlang rasch den restlichen Kuchen auf seinem Teller und stand dann ebenfalls auf. »Ich gehe noch zu Lukas«, erklärte er. »Playstation.«

Gleich darauf war Jonas allein. Er räumte den Tisch ab, stellte das benutzte Geschirr in die Spülmaschine und sah aus dem Fenster in den Garten. Die Büsche müssten dringend gestutzt werden, und der Rasen könnte vor dem Winter auch noch einmal gemäht werden. Das Wetter war perfekt, mild und klar, aber Jonas konnte sich trotzdem nicht aufraffen.

Finjas Attacke saß wie ein Stachel in seinem Herzen. Weil sie das ausgesprochen hatte, was er selbst auch dachte. Dass sein Kind in einer kompletten Familie aufwachsen sollte. Vater, Mutter, Kind, hier in seinem hübschen kleinen Kapitänshaus in Keitum. Das war es, was er sich immer gewünscht hatte. Bekommen hatte er es nur in den ersten sieben Jahren nach Finjas Geburt, und auch da war Friederike öfter auf ihren Konzertreisen als zu Hause gewesen.

Aber man konnte eben nicht alles haben.

Das Telefon klingelte, als er gerade beschlossen hatte, das restliche Tageslicht auszunutzen und in den Garten zu gehen. Jonas folgte dem Geräusch und fand das Mobilteil auf der Spüle zwischen Rührschüssel und Backpinsel. Das Chaos der ersten Jahre als alleinerziehender Vater hatten sie hinter sich gelassen, aber das Aufrechterhalten der Ordnung gelang bis heute nicht immer.

Jonas griff nach dem Gerät und drückte auf die Taste mit dem grünen Hörer. »Voss?«

»Hallo Jonas.«

»Kari.« Ein freudiger Schauer durchrann ihn, direkt gefolgt von ängstlicher Beklemmung. Normalerweise telefonierten sie am Abend. Wenn Kari tagsüber anrief, war womöglich etwas passiert. Etwas mit dem Baby?

»Es ist alles in Ordnung«, beruhigte ihn Kari, die sein Erschrecken offenbar bemerkt hatte. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich morgen nach Sylt komme.«

»Aha?« Wieder verspürte er Freude, aber auch Irritation. Kari wollte in Zukunft weiterhin als Undercover-Ermittlerin tätig sein, auch auf Sylt. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass sie sich hier auf der Insel nicht gemeinsam sehen lassen durften. Wenn bekannt wurde, dass die erfolglose Schriftstellerin Kari Blom mit dem Sylter Kriminalhauptkommissar Jonas Voss liiert war, würde sie sich kaum noch ins Vertrauen irgendwelcher Gesetzesbrecher schleichen können.

»Nur, damit du Bescheid weißt«, setzte Kari hinzu. »Wir werden uns nicht sehen. Wenn wir uns zufällig treffen sollten, kennen wir uns nicht.«

Voss kniff die Augen zusammen. Das klang, als würde Kari einen neuen Fall übernehmen.

»Du willst wieder arbeiten?«, fragte er scharf. »Das ist doch gar nicht erlaubt. Kein Außendienst während der Schwangerschaft.«

»Deswegen ist es nicht offiziell«, erklärte Kari. »Ich mache nur einen Besuch bei meiner Freundin Marijke Meenken und wohne ein paar Tage bei ihr im Gartenhaus.«

»Um dort was zu tun?«, fragte Voss.

Karis Mutterschutzzeit begann in einem Monat. Sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Danach würde sie erst im März wieder arbeiten dürfen. Jonas konnte sich nicht vorstellen, dass Kari ausgerechnet in diesen letzten sechs Arbeitswochen vor der langen Zwangspause Urlaub nahm, um sich bei Marijke Meenken zu entspannen.

»Ich belege einen Geburtsvorbereitungskurs bei Baby-Well in Westerland. Und ich gönne mir ein paar Massagen, um mich zu entspannen. Das ist gut für das Kind.«

»Warum machst du den Kurs nicht in Kiel? Dann könnte ich mitkommen.«

»Du hast schon zwei Kinder, bei deren Geburt du dabei warst. Du brauchst keinen Kurs.«

Jonas wartete. Das war mit Sicherheit nicht der wahre Grund. Kari wollte offenbar nicht darüber reden, warum sie wirklich nach Sylt kam, aber sie würde ihn auch nicht anlügen.

»Na gut«, seufzte sie, nachdem er eine halbe Minute geschwiegen hatte. »Ole hat mich gebeten, mich ein wenig bei Baby-Well umzusehen. Die Praxis ist möglicherweise in einen Abrechnungsbetrug verwickelt.«

»Also doch.« Voss knirschte mit den Zähnen. Er wollte nicht, dass Kari sich und das Kind in Gefahr brachte. Aber Kari hatte ihren eigenen Kopf. Sie ließ sich keine Vorschriften machen. »Gibt es irgendetwas, das ich tun kann, um dich umzustimmen?«

Kari zögerte nur kurz.

»Nein«, erwiderte sie dann. »Wie gesagt: Ich wollte dich nur informieren. Es ist alles schon organisiert. Ich rufe dich an, wenn ich bei Baby-Well fertig bin.«

Sie drückte das Gespräch weg, ehe er noch etwas erwidern konnte.

Voss starrte das Mobilteil an. Am liebsten hätte er es in die Ecke geworfen und zugesehen, wie das Plastik zersplitterte und die Batterien aus dem Fach sprangen. Aber das wäre einfach nur dumm. Er müsste ein neues Gerät kaufen, und für Finja wäre das Wasser auf ihre Mühlen.

Also trug er das Mobilteil ins Wohnzimmer, stellte es in die Station und ging anschließend nach oben ins Schlafzimmer, um sich ein paar alte Sachen anzuziehen. Das Telefon hatte er gerettet, aber die Hecke und der Rasen mussten jetzt daran glauben.

5. Ole Lund sah auch am Sonntagmorgen aus wie aus dem Ei gepellt. Wie immer trug er gediegene Kleidung, eine dunkle Stoffhose, ein hellblaues Hemd und ein graues Sakko, dazu eine seiner heiß geliebten Designerkrawatten. Die blonden Haare saßen perfekt, das Kinn war glattrasiert, die blauen Augen leuchteten.

Kari setzte sich ihm gegenüber in den Besuchersessel. Sie plagte immer noch das schlechte Gewissen, weil sie Jonas einfach abgewürgt hatte. Aber sie kannte seinen Standpunkt. Wenn sie die Chance auf eine letzte Undercover-Ermittlung vor der Geburt ihres Kindes nutzen wollte, musste sie die Ohren vor seinen Wünschen verschließen.

Lund, der nicht nur ihr Vorgesetzter, sondern auch ihr Freund war, sah ihr den Zwiespalt offensichtlich an.

»Jonas ist vermutlich mit deiner Entscheidung nicht glücklich?«, erkundigte er sich.

»Nein.« Kari verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber ich mache es trotzdem.«

Der Kriminalrat lächelte. »Ich hatte nichts anderes erwartet.«

Er beugte sich vor, öffnete eine Schublade seines wie immer ordentlichen Schreibtisches und holte ein paar Unterlagen hervor.

»An deiner Legende müssen wir nichts ändern«, erklärte er. »Du bist die erfolglose Schriftstellerin Kari Blom. Du verbringst wie so oft ein paar Tage oder Wochen bei deiner Freundin Marijke Meenken, um an deinem nächsten Buch zu arbeiten. Nur dass du dieses Mal keinen Job annimmst, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, den die brotlose Kunst nicht erbringt, sondern dich ganz auf deine Rolle als werdende Mutter konzentrierst. Du bist also absolut authentisch und unverdächtig.«

»Ja.« Das war eine geradezu perfekte Konstellation.

»Es macht die Sache einfach und schwierig zugleich«, warnte Lund. »Du kommst problemlos bei Baby-Well rein, aber es wird schwieriger, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, als wenn du dort arbeiten würdest.«

»Klar.« Darüber hatte Kari ebenfalls bereits nachgedacht.

»Aber ich bin sicher, du findest trotzdem einen Zugang.« Lund öffnete eine der Mappen, die er auf den Tisch gelegt hatte. »Zum Thema. Was weißt du über Fehlverhalten im Gesundheitswesen?«

Kari überlegte kurz. »Nicht viel«, gab sie zu. Korruption und Betrug waren ihr tägliches Geschäft, aber im medizinischen Bereich war sie bisher nicht unterwegs gewesen. Abgesehen von ihrem Fall in der Wellness-Oase in Rantum, aber da war es um andere Dinge gegangen.

Lund tippte auf die Blätter im Ordner. »Ich habe dir einen Überblick zusammengestellt. Um es kurz zusammenzufassen: Die Schäden durch betrügerische Aktivitäten im Gesundheitswesen belaufen sich in Deutschland jährlich auf mehrere Milliarden Euro.«

»So viel?«

»Ja, leider.« Lund hielt einen Moment inne. »Den weitaus größeren Teil des Schadens erleiden die gesetzlichen Krankenkassen, aber auch bei den privaten gehen die Verluste durch falsche Abrechnungen in den Milliardenbereich. Strafrechtlich handelt es sich um Betrug, der mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe von bis zu fünf, in schweren Fällen sogar bis zu zehn Jahren geahndet wird, aber das scheint die Täter nicht hinreichend abzuschrecken.«

Kari fühlte Ärger in sich aufsteigen. Wer die Krankenkasse betrog, betrog auch die Versicherten. Am Ende zahlten sie den Schaden mit, der von den Gaunern verursacht wurde.

»Wie funktioniert so ein Abrechnungsbetrug?«, erkundigte sie sich.

Lund breitete die Hände aus. »Da gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, je nachdem, wer der Täter ist. Ein Arzt könnte Leistungen abrechnen, die er gar nicht erbracht hat, oder er könnte eine tatsächlich erbrachte Leistung einer falschen Leistungskategorie zuordnen. Er könnte auch Leistungen abrechnen, die jemand anders an seiner Stelle erbracht hat, zum Beispiel die Arbeit des Assistenzarztes als Chefarztbehandlung.«

»Okay.« Kari hob die Augenbrauen. Sie hatte sich über diese Dinge nie zuvor Gedanken gemacht.

»Ein Physiotherapeut könnte eine tatsächlich erbrachte Leistung abrechnen, aber den Umfang falsch angeben«, fuhr Lund fort. »Ein Apotheker könnte dem Patienten ein günstiges generisches Medikament aushändigen, aber das teurere Originalpräparat abrechnen. Ein Pflegedienst könnte Leistungen abrechnen, die nicht wie angegeben von qualifiziertem Personal erbracht wurden. Und so weiter.«

»Meine Güte.« Kari schwirrte schon jetzt der Kopf.

»In unserem Fall geht es um ein paar Ärzte in Westerland, die seit einiger Zeit deutlich mehr Behandlungen abrechnen als ihre Kollegen in der Umgebung«, erklärte Lund. »Und um das Schwangerenzentrum Baby-Well. Angesichts der Summe an Rechnungen, die bei den Krankenkassen eingehen, müsste dort Tag und Nacht gearbeitet werden.«

»Vielleicht ist das ja so.« Kari wusste aus eigener leidvoller Erfahrung, wie schwer es war, einen Termin für ein Beratungsgespräch für Schwangere oder einen Platz in einem Geburtsvorbereitungskurs zu ergattern. Das Angebot war begrenzt, die Nachfrage riesig.

Lund klappte den Ordner zu und schob ihn zu Kari hinüber. »Du wirst es herausfinden.«

»O ja.« Kari stand auf und klemmte sich die Mappe unter den Arm. »Das werde ich.«

Es gab eine ganze Reihe von Verbrechen, die aus Not oder einer unkontrollierbaren emotionalen Erregung heraus begangen wurden, und in manchen Fällen konnte Kari das Motiv der Täter nachvollziehen. Für einige empfand sie sogar Mitleid.

Hier allerdings ging es nicht um Gefühle, sondern nur um niedere Triebe. Wer die Krankenkassen betrog, handelte aus purer Gier. Und dafür hatte Kari nicht einen Funken Verständnis.

6. Marijke Meenken lächelte zufrieden. Es hatte alles ganz wunderbar geklappt. Alma hatte Albert angerufen, und der Chauffeur hatte es tatsächlich geschafft, sich die Geschäftslimousine seines Arbeitgebers auszuleihen und damit nach Sylt zu kommen. Der Wagen besaß zwei einander gegenüberliegende Sitzbänke im Fond, so dass sie alle darin Platz finden würden.

Den gestrigen Abend hatten sie damit verbracht, einzukaufen, zu kochen und zu backen. Sie hatten Girlanden gespannt und ein Büffet aufgebaut, das alles in den Schatten stellte, was sie Kari bisher präsentiert hatten, und das war weiß Gott nicht wenig gewesen. Aber dieses Mal sollte die Begrüßung besonders schön ausfallen. Kari sollte wissen, wie sehr sie bei ihnen willkommen war und wie gern sie an ihrem Leben Anteil nahmen.

Als ob sie das nicht ohnehin wüsste, sagte die Stimme in Marijkes Kopf spöttisch.

Und es stimmte ja auch. Aber mit der Sympathie war es wie mit so vielen anderen Dingen im Leben auch. Selbst wenn der andere wusste, welche Zuneigung man ihm entgegenbrachte, war es trotzdem gut, es auszusprechen. Jeder wurde schließlich gelegentlich von Zweifeln geplagt. Und eine Bestätigung hatte noch nie geschadet.

Witta rückte das kegelförmige Hütchen auf ihrer weißen Marlene-Dietrich-Frisur zurecht. Sie sah nicht besonders glücklich darüber aus, wagte es aber auch nicht, die aus bunt glänzender Bastelfolie hergestellte Kopfbedeckung abzusetzen.

Alma hatte die Hüte gefertigt, für jede von ihnen in einer anderen Farbe, blau für Grethe, gelb für Marijke, silbern für Witta und knallig pink für sich selbst, was sich erheblich mit ihren rot gefärbten Haaren biss. Außerdem hatte sie jeden Hut mit einem farblich passenden Schweif aus Lametta versehen. Feenhüte nannte sie ihre Gebilde. Marijke fand sie ein wenig albern, wollte Alma aber die Freude nicht verderben und machte gute Miene zum bösen Spiel. Anders als Witta, die es nicht schaffte, darüber hinwegzusehen, dass ihr der Hut die mühsam gelegte Dauerwelle ruinierte.

Albert hatte Glück gehabt. Für ihn hatte Alma keinen Feenhut kreiert, sondern ein Barett in Dunkelgrün, das sich auf seinem runden Gesicht mit den vielen Lachfalten ausgesprochen fesch ausnahm.

Zusätzlich zu den Hütchen hatte Alma auch Fähnchen besorgt, die sie bei Karis Ankunft schwenken konnten. Marijke fürchtete, dass sie damit wie eine in die Jahre gekommene Cheerleader-Gruppe aussahen, aber das war auch egal. Sie waren in einem Alter, in dem man sich keine Gedanken mehr darüber machen musste, was andere von einem dachten. Und Kari würde sich sicherlich freuen. Zumindest hätte sie etwas zu lachen.

...

Kari Blom lehnte sich in dem gepolsterten Sessel am Fenster zurück und faltete die Hände über dem Bauch. Seit einigen Wochen spürte sie die Bewegungen des Kindes. Meistens nur ganz zart, aber manchmal versetzte ihr das Baby auch einen Tritt. Es war ein seltsames Gefühl, und Kari war sich nicht ganz sicher, ob es ihr gefiel. Aber es zeigte zumindest, dass ihr Baby gesund und munter war, und das war am Ende das Einzige, was zählte.

Sie lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und schaute aus dem Zugfenster auf die Wiesen, die draußen vorbeizogen. Sattes Grün im goldenen Licht des späten Herbstnachmittags, ein paar Schafe und Kühe, ein Umspannwerk und ein Feld mit einer Solaranlage. Dann kam auch schon das Wattenmeer in Sicht.

Der Intercity verließ das Festland und rollte über den Hindenburgdamm.

Es war Flut, die Wellenbrecher waren unter der Wasseroberfläche verborgen. Ein paar Vögel kreisten über dem Bahndamm. In der Ferne erspähte Kari die Insel.

Sie war seit einem halben Jahr nicht mehr auf Sylt gewesen und hatte gar nicht gemerkt, wie sehr sie es vermisst hatte. Erst jetzt, als sie über das Wasser nach List schaute, spürte sie die Freude, die der Anblick jedes Mal in ihr auslöste.

Wind und Wellen, Weite und Freiheit. Kari konnte nicht erklären, woran es lag, aber auf Sylt fühlte sie sich lebendiger und der großen Welt näher als an jedem anderen Ort, an dem sie bisher gewesen war. Vielleicht, weil das Meer sich so unendlich und verheißungsvoll vor dem breiten Sandstrand auf der Westseite der Insel erstreckte oder weil die lauten Schreie der Möwen so ungebändigt und wild klangen. Sylt öffnete Herzen, selbst dann, wenn man versuchte, sie zu verschließen. Kari hatte das am eigenen Leib erfahren, und obwohl sie mittlerweile schon oft hier gewesen war, wiederholte sich dieses Erlebnis jedes Mal, wenn sie einen der Strandübergänge erklomm und auf die Nordsee blickte.

Der Zug hatte den Hindenburgdamm bereits überquert und stoppte in Morsum, dem ersten Bahnhof auf der Insel. Nur wenige Fahrgäste stiegen hier ein und aus, und schon nach zwei Minuten ging die Fahrt weiter.

Der nächste Halt war Keitum. Kari hatte plötzlich einen Kloß im Hals, der das Gefühl von Freude und Freiheit verdrängte. Hier in Keitum wohnte Jonas in einem hübschen kleinen Kapitänshaus mit blauen Fensterläden und einem Garten, der immer ein wenig verwildert aussah. Es wäre ein wunderbarer Ort zum Leben, perfekt für eine Familie mit einem kleinen Kind. Wenn sie dafür nicht die Möglichkeit opfern müsste, undercover auf Sylt zu ermitteln.

Kari schob den Gedanken beiseite. Vielleicht wäre sie irgendwann so weit, aber noch war sie es nicht.

Der Intercity setzte sich bereits wieder in Bewegung und steuerte Westerland an. Nur ein paar Minuten, dann hielt der Zug. Kari holte mit einiger Mühe ihren Rucksack und ihre Reisetasche aus dem Gepäckfach über den Sitzen und presste mit einem leisen Stöhnen die Hand in den Rücken. Wie sollte das werden, wenn ihr Kind immer weiter wuchs und ihr Bauch immer dicker wurde? Am Ende würde sie noch einen Bandscheibenvorfall bekommen.

Kari schüttelte auch diese unangenehme Vorstellung ab und ließ sich mit den anderen Fahrgästen zum Ausstieg schieben. Schnaufend setzte sie ihre Tasche auf dem Bahnsteig ab und sah sich um. Marijke Meenken hatte ihr versprochen, sie abzuholen, doch im dichten Gedränge konnte sie die alte Dame mit den kleinen grauen Locken und der dicken Brille auf der Nase nirgendwo entdecken.

Unter den Reisenden, die vor ihr gingen, brach Erheiterung aus. Mehrere Personen lachten laut, und einige wiesen mit dem Finger in Richtung Bahnhofsgebäude. Kari reckte den Hals, um herauszufinden, was der Auslöser ihrer Belustigung war.

Die Reihen vor ihr lichteten sich, und dann konnte Kari es sehen.

Vor dem Bahnhofsgebäude standen fünf Personen mit bunten Regenjacken. Auf den Köpfen trugen sie farblich passende konische Hüte aus buntem Glanzpapier mit kometenartigen Schweifen aus Lametta, im Gesicht ein breites Lächeln. Dazu schwenkten sie bunte Fähnchen.

Kari verspürte kurz den Impuls, sich hinter einem Automaten mit Süßigkeiten zu verstecken, bis die anderen Fahrgäste den Bahnhof verlassen hatten, aber dann ging sie doch mit erhobenem Kopf weiter. Das war ihr Empfangskomitee, und darauf durfte sie stolz sein. So leicht verschenkten die vier alten Damen ihre Herzen nicht. Dass Kari sie erobert hatte, war eine Auszeichnung. Und das Leuchten in den Augen der Häkelfrauen, als sie Kari entdeckten, entschädigte ohnehin für alle Peinlichkeiten.

7. Als Kari am nächsten Morgen vor der Praxis von Dr. Wolf Lindner stand, dröhnte ihr der Schädel. Der Begrüßungsabend bei der Häkelmafia hatte tatsächlich alles in den Schatten gestellt, was die alten Damen ihr bisher geboten hatten. Angefangen hatte es mit der Fahrt in der Diplomatenlimousine mit Albert als Chauffeur und dem alkoholfreien Champagner, den Marijke zur Begrüßung geköpft hatte. Seit die Häkelfrauen wussten, dass sich Kari nichts aus Alkohol machte, bemühten sie sich stets um Alternativen, und nun, da sie schwanger war, erst recht. Dann war das leckere Essen gefolgt, das die Damen aufgetischt hatten, und zum Schluss die köstliche Champagnertorte, die Alma Grieger, Witwe eines Westerländer Bäckers und gelernte Konditorin, kreiert hatte. Natürlich ebenfalls mit alkoholfreiem Champagner.

Danach war Kari so satt gewesen, dass sie drei Tassen Espresso gebraucht hatte, bis sie sich wieder in der Lage gefühlt hatte, sich aus dem Sessel hochzustemmen und ins Gartenhaus hinüberzugehen, in dem sie immer wohnte, wenn sie auf Sylt war. Marijke hatte das winzige Gebäude liebevoll eingerichtet. Es war zwar eng, aber Kari fühlte sich dort ausgesprochen wohl.

Sie hatte sich in die weiche, nach Lavendel duftende Bettwäsche gekuschelt, aber nach den drei Tassen Espresso war sie so wach gewesen, dass sie kein Auge zubekommen hatte. Stattdessen waren ihr immer wieder die Gespräche des Abends durch den Kopf gegangen. Sie hatte den Häkeldamen alles über den Abrechnungsbetrug erzählt, was sie wusste, und die Frauen hatten sofort beschlossen, ihr zu helfen. Schließlich besaßen sie die besten Voraussetzungen, um sich bei den Ärzten, unter denen auch Orthopäden, Internisten und Allgemeinmediziner waren, umzusehen.

Kari hatte nichts dagegen. Die Häkelmafia hatte mittlerweile einige Erfahrung mit Undercover-Ermittlungen, und Kari selbst fühlte sich schwerfällig und nicht so beweglich wie gewöhnlich. Ein wenig Unterstützung konnte nicht schaden.

Den Besuch bei Dr. Lindner allerdings konnte sie besser selbst erledigen. Wolf Lindner war Gynäkologe, und Karis nächste Routineuntersuchung stand ohnehin an. Angesichts der Kopfschmerzen, die sie nach der durchwachten Nacht plagten, hätte ein Besuch beim Hausarzt zwar näher gelegen, aber das wäre Kari dann doch zu albern erschienen. Sie wusste ja, woher das Dröhnen in ihrem Schädel rührte, und sie hätte selbst dann kein Medikament dagegen eingenommen, wenn sie nicht schwanger wäre.

Kari betrat das Haus in der Süderstraße und fuhr mit dem Fahrstuhl hinauf in den ersten Stock. An einer Milchglastür befand sich das Praxisschild. Sie drückte auf den Klingelknopf, und ein paar Sekunden später ertönte ein Summer. Kari öffnete die Tür.

Der Empfangsbereich war groß und lichtdurchflutet. Hinter einem halbrunden Tresen saß eine stark geschminkte rothaarige Frau von vielleicht Mitte zwanzig im weißen Kittel und sah ihr entgegen.

»Guten Morgen.« Kari lächelte.

Die Arzthelferin nickte nur knapp. »Haben Sie einen Termin?«

Karis Lächeln erstarb. »Nein. Ich bin spontan vorbeigekommen.«

»Das ist schlecht«, beschied ihr die Arzthelferin.

Kari entschied, ein wenig auf die Tränendrüse zu drücken.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Aber ich habe Angst, dass mit dem Kind etwas nicht in Ordnung ist. Ich hatte solche Schmerzen letzte Nacht, und jetzt kann ich es nicht mehr spüren.«

Der erhoffte Effekt trat nicht ein. Die Miene der Arzthelferin blieb verschlossen.

»Ein Notfall also. Na gut. Dann versuche ich, Sie irgendwo dazwischen zu quetschen. Ich hoffe, Sie haben Zeit mitgebracht?«

Kari hob die Schultern. »Wenn es nötig ist?«

»Das ist es.« Die Arzthelferin streckte die Hand aus. »Ihre Karte bitte.«

Kari zwang das Lächeln wieder auf ihre Lippen. »Ich habe keine. Ich …«

»Sie sind nicht versichert?«, fiel ihr die Arzthelferin ins Wort.

Kari knirschte mit den Zähnen. Sah sie vielleicht so aus, als könnte sie sich keine Versicherung leisten? Sie trug eine weite, bequeme Jeanshose und eine geblümte Bluse, dazu helle Ballerinas und eine gelbe Windjacke. Keine Designermarken, aber auch alles andere als billig. Kari war auch erst vor einer Woche beim Friseur gewesen. Ihre praktische blonde Kurzhaarfrisur saß tadellos. Lediglich mit dem Make-up ging sie ausgesprochen sparsam um. Sie hasste das Gefühl fettiger Cremes auf der Haut und verklebter Poren. Meistens beließ sie es wie heute bei ein wenig Tagesscreme und einem pflegenden Lipgloss.

»Ich bin privat versichert.«

»So?« Die Arzthelferin musterte Kari einen Moment skeptisch. Dann legte sie ein Klemmbrett mit einem Fragebogen auf den Tresen. »Füllen Sie das bitte aus. Wir brauchen Ihre Adresse und Angaben zu Ihrem Gesundheitszustand.«

»Natürlich.« Kari nahm das Klemmbrett und den Stift.

»Sie können sich ins Wartezimmer setzen«, erklärte die junge Frau gnädig und wies auf eine mattierte Glastür in Karis Rücken.

»Danke.« Kari drehte sich um und öffnete die Tür.

Sie hatte erwartet, ein überfülltes Zimmer vorzufinden, doch tatsächlich war der Raum leer. Kari runzelte die Stirn. Sie hängte ihre Jacke an den Garderobenständer und nahm auf einem der Schwingstühle am Fenster Platz.

Wenn hier niemand war, weshalb war es dann ein Problem, Kari einzuschieben? Aber vielleicht gab es ja einen perfekt organisierten Terminplan, und jede Patientin wurde sofort nach ihrem Eintreffen ins Sprechzimmer geleitet? Oder war es deshalb so leer, weil Dr. Lindner ebenso unfreundlich war wie seine Arzthelferin?

Kari verbrachte einige Minuten damit, den Fragebogen auszufüllen. Anschließend sah sie sich im Raum um. Neben den bequemen Schwingstühlen gab es einen Tisch, auf dem zahlreiche Zeitschriften lagen, medizinische Fachblätter ebenso wie Buntes aus der Regenbogenpresse. In einer Ecke stand ein Wasserspender, in einer anderen ein niedriger Tisch mit ebenso niedrigen Stühlen und einer Kiste mit Spielzeug und Kinderbüchern. An der Wand gegenüber der Fensterfront hingen zahlreiche großformatige Babybilder.

Ganz so schlimm konnte Dr. Lindner nicht sein, wenn er all diesen Kindern auf die Welt geholfen hatte.

Die Tür zum Wartezimmer öffnete sich, die Arzthelferin schaute herein. »Haben Sie den Fragebogen ausgefüllt?«

»Ja.«

»Schön. Dann kommen Sie bitte.«

Die Arzthelferin nahm ihr das Klemmbrett ab, als Kari aus dem Raum trat, und deutete auf eine offen stehende Tür auf der rechten Seite.

»Dort hinein, Frau …«, sie warf einen Blick auf den Fragebogen. »Blom.« Ihre Augen verengten sich. »Sie leben auf Sylt? Warum sind Sie dann nicht zu dem Arzt gegangen, der Sie gewöhnlich betreut?«

»Ich bin nur zu Besuch hier«, erklärte Kari. »Ich wohne bei einer Bekannten im Gartenhaus.«

»Aha.« Die Arzthelferin zog sich hinter den Tresen zurück, ohne Kari eines weiteren Blickes zu würdigen. Kari straffte die Schultern und betrat das Sprechzimmer.

Es war klein und bot gerade genug Platz für einen Schreibtisch mit einem Computer. Auf der einen Seite des Tisches stand ein schwarzer Bürosessel, auf der anderen standen zwei weitere Schwingstühle. Kari nahm auf einem davon Platz. Hinter ihr öffnete sich eine Tür.

»Guten Morgen«, erklang eine volltönende tiefe Stimme. Ein Mann im weißen Kittel ging an Kari vorbei und nahm ihr gegenüber hinter dem Schreibtisch Platz. Er war mittelgroß und kräftig gebaut. Ein grauer, kurz gestutzter Haarkranz zog sich um seinen Kopf. Die grauen Augen hinter der randlosen Brille blickten freundlich. Seine Hände, die er locker auf den Tisch legte, erschienen Kari riesig.

In Kiel wurde sie von einer Ärztin betreut, einer jungen Frau mit schlanken, filigranen Fingern. Kari hoffte, dass Lindner ihr nicht wehtun würde. Womöglich war ja das der Grund für sein leeres Sprechzimmer?

»Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sich der Arzt.

Kari tischte ihm dieselbe Geschichte auf wie seiner Arzthelferin. Dr. Lindner lächelte.

»Dann sehen wir uns das am besten einmal an.« Er deutete auf die Tür in ihrem Rücken. »Machen Sie sich untenherum frei und nehmen Sie auf dem Stuhl Platz. Ich komme dann gleich zu Ihnen.«

Kari befolgte die Anweisung und saß kurz darauf in einem ebenfalls winzigen Raum auf dem Gynäkologenstuhl. Zu ihrer Überraschung spürte sie fast nichts, als Lindner sie untersuchte. Verglichen mit seinem zartfühlenden Vorgehen war ihre Kieler Frauenärztin geradezu ruppig.

Lindner verteilte ein durchsichtiges Gel auf Karis Bauch und fuhr dann mit dem Ultraschallgerät darüber. Er drehte den Monitor so, dass sie etwas sehen konnte.

Mittlerweile konnte sie die Schwarz-Weiß-Bilder gut interpretieren. Sie erkannte Kopf, Körper und Gliedmaßen des Kindes.

»Das sieht alles gut aus.« Lindner steckte das Gerät zurück in die Halterung und reichte Kari ein paar Papiertücher, mit denen sie das Gel abwischen konnte. »Ziehen Sie sich wieder an und kommen Sie zu mir, dann besprechen wir die Untersuchungsergebnisse.«

Dr. Lindner verschwand durch die Tür. Kari kletterte vom Stuhl und ging hinter den Paravent. Zwei Minuten später saß sie wieder vollständig bekleidet vor dem Arzt.

»Wie gesagt«, erklärte er. »Ich kann keine Unregelmäßigkeiten erkennen. Es kann schon mal vorkommen, dass Sie Schmerzen haben, vor allem, wenn Sie viel gegessen haben.« Er neigte den Kopf und sah sie fragend an.

»Hm. Ja. Ich bin gestern Nachmittag nach Sylt gekommen«, sagte Kari. »Ich besuche hier ein paar Freundinnen. Sie haben ein sehr schönes Begrüßungsessen für mich gezaubert. Ein bisschen zu üppig vielleicht.«

Lindner breitete die Hände aus. »Da haben Sie Ihre Erklärung.« Er hob die Augenbrauen. »Bleiben Sie länger auf Sylt?«

»Ich weiß es noch nicht genau«, sagte Kari. »Eine Woche, vielleicht auch zwei oder drei.«

Lindner griff in seine Schreibtischschublade und holte ein paar Zettel hervor.

»Ich würde Ihnen raten, einen Geburtsvorbereitungskurs zu besuchen. Sie sind erst im sechsten Monat, das mag der eine oder andere für ein wenig zu früh halten, aber mir ist aufgefallen, dass Sie sehr angespannt sind.«

Kari schnitt eine Grimasse. Angespannt war sie in der Tat.

»Ich empfehle Ihnen das Schwangerenzentrum gleich hier in der Straße«, sagte Lindner. »Baby-Well. Meine Arzthelferin bucht Ihnen dort gerne einen Kurs.«

Kari hätte fast gelacht. Sie bezweifelte sehr, dass die junge Frau hinter dem Tresen irgendetwas gerne tat.

»Ich schreibe Ihnen außerdem ein pflanzliches Präparat auf, das beruhigend und entspannend wirkt. Sie bekommen auch eine Verordnung für eine Physiotherapie. Die können Sie ebenfalls bei Baby-Well machen. Dort arbeiten nicht nur sehr gute Hebammen, sondern auch hervorragende Physiotherapeuten.«

Lindner zog die Tastatur auf dem Schreibtisch zu sich heran, tippte ein paar Zeilen ein und schob einen kleinen blauen und einen größeren gelben Vordruck in den Drucker, der gleich darauf zu rattern begann.

Kari nahm die beiden Blätter entgegen, die Lindner ihr reichte, nachdem der Drucker sein Werk beendet hatte. In ihrem Nacken kribbelte es.

Sie war bisher nicht öfter als unbedingt nötig zum Arzt gegangen, aber seit sie schwanger war, gehörten regelmäßige Arztbesuche dazu. Deshalb wusste sie auch, dass Ärzte selten mit Rezepten und Verordnungen um sich warfen. Gerade bei Krankengymnastik und Physiotherapie war die Zurückhaltung groß, weil die Ärzte mit ihrem engen Budget zu kämpfen hatten. Dass Lindner ihr diese Dinge gleich bei ihrem ersten Besuch geradezu aufdrängte, war mehr als verdächtig.

Zahlte ihm Baby-Well eine Provision dafür, dass er dem Zentrum Patienten vermittelte? Gab es eine Verabredung mit einem Apotheker, der das verschriebene Präparat gegen ein günstiges austauschen, aber das teure abrechnen und den Gewinn mit Lindner teilen würde? Oder würde Lindner zwischen den tatsächlich durchgeführten Untersuchungen ein paar Posten auf ihrer Rechnung vermerken, die frei erfunden waren, ihm aber direkt ein paar Euros in die Tasche spülten?

»Wenn Sie keine Fragen mehr haben, sehen wir uns in zwei Wochen wieder, in Ordnung?« Dr. Lindner erhob sich. »Natürlich nur, wenn alles in Ordnung ist. Falls Sie sich unwohl fühlen, kommen Sie sofort. Jederzeit.«

»Ja. Vielen Dank.« Kari stand ebenfalls auf und schüttelte Lindners angebotene Hand. Sein Händedruck war warm, weich und vertrauenerweckend, genau wie die Untersuchung. Lindner war definitiv ein guter Gynäkologe. Ob er auch ein guter Mensch war, stand auf einem anderen Blatt.

Der Arzt öffnete die Tür zum Empfangsbereich und geleitete Kari zum Tresen.

»Frau Kessler. Buchen Sie für Frau Blom bitte einen Platz in einem der Intensivkurse zur Geburtsvorbereitung bei Baby-Well?«, sagte er zu seiner Arzthelferin. »Sie ist nur eine oder zwei Wochen auf der Insel, deshalb müsste es schnell gehen. Und sagen Sie auch Bescheid, dass Frau Blom gleich mit einer Physiotherapie-Verordnung vorbeikommt.«

Die Arzthelferin lächelte. »Selbstverständlich, gerne, Herr Doktor. Das erledige ich sofort«, flötete sie.

Kari sah die junge Frau ungläubig an. Das konnte unmöglich dieselbe Person sein, die Kari beim Betreten der Praxis in Empfang genommen hatte.

Die Arzthelferin griff zum Telefon. Lindner ging zur Tür des Wartezimmers und bat die nächste Patientin ins Sprechzimmer, die während Karis Untersuchung eingetroffen sein musste. Offenbar war der Ablauf der Sprechstunde tatsächlich straff und gut organisiert.

»Ja. Danke.« Das Lächeln der Arzthelferin verschwand im selben Moment, in dem sich die Tür des Sprechzimmers hinter Dr. Wolf Lindner und seiner Patientin schloss. Sie legte den Telefonhörer auf und kritzelte etwas auf einen Zettel, den sie Kari reichte.

»Bitte sehr. Das ist Ihr erster Termin.« Sie setzte sich wieder, wandte sich von Kari ab und begann, auf ihrer Computertastatur zu tippen.

»Fein.« Kari schlüpfte ins Wartezimmer, um ihre Jacke zu holen – es war auch jetzt wieder leer –, und ging dann zum Ausgang der Praxis. Ihren Abschiedsgruß ließ die Arzthelferin unbeantwortet.

Kari, die sich von dem unmöglichen Verhalten zunehmend gereizt fühlte, stieß schwungvoll die Tür zum Treppenhaus auf und wäre fast in einen jungen Mann hineingerannt.

»Oh. Hoppla.« Der Mann streckte die Arme aus, um sie aufzufangen. Seine kräftigen Hände umschlossen kurz Karis Oberarme, fest, aber unaufdringlich. Dann trat der Mann einen Schritt zurück und schaute auf Karis Bauch. »Sie sollten vorsichtiger sein«, riet er. »So ein Unfall ist schnell passiert.«

Kari betrachtete ihn. Er war nicht besonders groß, aber attraktiv. Schulterlange, gewellte braune Haare und warme braune Augen, dazu die Ausstrahlung eines Tänzers. Kari schätzte ihn auf Ende zwanzig.

»Danke. Und Entschuldigung. Ich war in Gedanken.«

»Kein Problem.« Er machte Platz, um Kari vorbeizulassen, und öffnete dann die Praxistür, während Kari auf den Knopf für den Fahrstuhl drückte. Wahrscheinlich war er der Freund der jungen Frau, die gerade bei Dr. Lindner im Sprechzimmer saß.

Kari fuhr ins Erdgeschoss. Sie trat auf die Straße und sah erst nach rechts, dann nach links.

Schräg gegenüber der Praxis befand sich eine Apotheke. Kari würde dort ihr Rezept einlösen, ehe sie sich auf den Weg zu Baby-Well machte. Bis zu ihrem Termin war noch eine halbe Stunde Zeit.

Eigentlich hielt sie nicht viel davon, Probleme mit Medikamenten zu lösen, aber im Augenblick fühlte sie sich tatsächlich sehr angespannt. Deshalb würde sie eine Ausnahme machen, dem Kind zuliebe.

...

Jonas Voss hatte sich für das Fahrrad entschieden. Er hatte nicht gut geschlafen in der letzten Nacht, weil ihn der Ärger über Karis Entscheidung und die Sorge um das ungeborene Kind gequält hatten. Als am Morgen der Wecker geklingelt hatte, hatte er sich zerschlagen gefühlt. Deshalb war sein erster Impuls gewesen, den Wagen zu nehmen. Aber dann hatte er sich gesagt, dass er mit dem Auto in fünf Minuten im Büro und immer noch aufgewühlt wäre. Er brauchte frische Luft, und er brauchte die Bewegung, um seine innere Anspannung loszuwerden.

Viel geholfen hatte es offenbar nicht. Als er die Tür zu seinem Büro öffnete, wandte ihm seine Kollegin Hannah Behrends, die bereits an ihrem Schreibtisch saß, den Kopf zu und verengte die Augen.

»Jonas? Was ist los?«