Sylter Schuld - Ben Kryst Tomasson - E-Book
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Sylter Schuld E-Book

Ben Kryst Tomasson

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Beschreibung

Der Tote am Strand.

Auf Sylt eröffnet eine neue Wellness-Oase. Allerdings steht schon bald der Verdacht der Geldwäsche im Raum. Kari Blom soll undercover ermitteln, sehr zur Freude der alten Damen von der Häkelmafia. Sie wollen Kari bei ihren Nachforschungen mal wieder tatkräftig unterstützen und belegen einen Achtsamkeitskurs in der Wellness-Oase. Als kurz darauf am Strand eine Leiche angespült wird, ist Kari entsetzt, denn der Tote ist kein Unbekannter. Und wie sich herausstellt, hat auch er kurz vor seinem Tod an einem Achtsamkeitsseminar teilgenommen. Kari ahnt, dass das kein Zufall ist ...

Möwen, Strand und Inselflair – ein atmosphärischer und packender Kriminalroman auf Sylt.

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Über das Buch

Der Tote am Strand.

Auf Sylt eröffnet eine neue Wellness-Oase. Allerdings steht schon bald der Verdacht der Geldwäsche im Raum. Kari Blom soll undercover ermitteln, sehr zur Freude der alten Damen von der Häkelmafia. Sie wollen Kari bei ihren Nachforschungen mal wieder tatkräftig unterstützen und belegen einen Achtsamkeitskurs in der Wellness-Oase. Als kurz darauf am Strand eine Leiche angespült wird, ist Kari entsetzt, denn der Tote ist kein Unbekannter. Und wie sich herausstellt, hat auch er kurz vor seinem Tod an einem Achtsamkeitsseminar teilgenommen. Kari ahnt, dass das kein Zufall ist.

Möwen, Strand und Inselflair – ein atmosphärischer und packender Kriminalroman auf Sylt

Über Ben Kryst Tomasson

Ben Kryst Tomasson, geboren 1969 in Bremerhaven, ist Germanist und Pädagoge (M.A.) und promovierter Diplom-Psychologe. Er hat einige Jahre in der Bildungsforschung gearbeitet, ehe er sich als freier Autor selbständig gemacht hat. Tomassons Leidenschaft gehört den Geschichten, die das Leben schreibt, den vielschichtigen Innenwelten der Menschen und dem rauen Land zwischen Nordsee und Ostsee. Wenn er nicht schreibt, verbringt er seine Zeit am liebsten mit einem guten Buch am Meer – oder mit seiner Frau im Café.

Im Aufbau Taschenbuch sind bisher erschienen: »Sylter Affären«, »Sylter Intrigen«, »Sylter Blut«, »Sylter Gift« sowie »Sylter Lügen«.

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Ben Kryst Tomasson

Sylter Schuld

Kriminalroman

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Danksagung

Impressum

DER DEICHWEG LAG IM DUNKELN. Nur die Laternen auf dem Parkplatz warfen ein wenig Licht auf den Steg, an dem zahllose Boote dümpelten. Zum Glück, denn in dieser Situation wäre jeder Zuschauer eine Katastrophe.

Keuchend blickte er sich um. Die Leiche musste weg, ehe ihn jemand entdeckte.

Der leblose Körper war schwer, viel schwerer, als er es sich vorgestellt hätte. Wenn sämtliche Muskelspannung gewichen war, glich ein toter Erwachsener einem zentnerschweren Mehlsack. Ihn über längere Strecken zu tragen, war vollkommen ausgeschlossen. Selbst ihn über den Boden zu zerren war ein mühsames Unterfangen. Immerhin lag das Boot in erster Reihe am Steg.

Er atmete ein paarmal tief durch, ehe er den Leichnam über die Reling rollte. Zuerst dachte er, es würde nicht gelingen, doch dann sammelte er all seine Kraft, und endlich bewegte sich etwas. Der Tote fiel und landete in der Bilge.

Der Aufprall war laut, ein Klatschen, das weit hinaus über das Wattenmeer zu hallen schien.

Erschrocken hielt er die Luft an. Für ein paar Sekunden rührte er sich nicht. Dann entspannte er sich wieder. Es war nichts passiert, in keinem der Häuser um den Parkplatz herum war ein Licht angegangen. Niemand hatte ihn gesehen.

Mit fliegenden Fingern löste er die Leinen und manövrierte das Boot zwischen den anderen hindurch aufs Meer hinaus.

Am Himmel rissen die Wolken auf. Der Mond kam hervor und warf sein silbriges Licht auf das Wasser. Es hätte schön sein können, wäre die Situation nicht so schrecklich gewesen.

Er hatte nicht darüber nachgedacht, wie es weitergehen sollte. Erst jetzt, als er sich halbwegs in Sicherheit fühlte, ging ihm auf, dass er besser hätte vorsorgen müssen. Den Leichnam in irgendetwas einwickeln, eine Plane oder einen Teppich vielleicht, und die Rolle mit Klebeband verschnüren. Vor allem musste er ihn mit Gewichten beschweren, sonst würde der Tote schnell wieder auftauchen, egal, wie weit er ihn aufs Meer hinaus beförderte. Und er hatte nicht ewig Zeit.

Noch stand das Wasser hoch, doch die Ebbe hatte bereits vor mehr als einer Stunde eingesetzt. Zwei, höchstens drei Stunden noch, dann war der Rückweg zum Hafen versperrt. Bei Niedrigwasser lagen die Boote im Watt auf dem Trockenen. Bis dahin musste er sein Werk erledigt haben.

Im Licht der Taschenlampe sah er sich im Boot um. Er würde den Anker opfern müssen. Den Leichnam mit der Ankerkette umwickeln und den metallenen Dreizack dazwischen befestigen. Damit blieb der tote Körper hoffentlich auf dem Meeresgrund.

Für einen Moment fühlte er sich so schwach, dass er kaum die Arme heben konnte. Das hier hätte nie geschehen dürfen.

Aber nun war es zu spät, um etwas daran zu ändern. Er konnte nur nach vorne blicken. Und versuchen, diese Nacht so rasch wie möglich zu vergessen.

1.

Der Anblick war so grandios, dass es sich nur um eine Illusion handeln konnte. Es war einfach zu schön, um wahr zu sein. Das langgestreckte, moderne Gebäude mit den riesigen Glasfronten, das blauschimmernde Wasser des Schwimmbads und dahinter, wie eine Filmkulisse, das Rantumbecken. Stilles Wasser, umrahmt von Insel und Damm wie von schützenden Armen. Ein einzigartiges Naturschutzgebiet, in dem sich zahllose Vogelarten niedergelassen hatten.

Es war eine Oase der Ruhe, ein Ort, an dem man sein inneres Gleichgewicht wiederfinden konnte. Davon hatte er sein Leben lang geträumt. Und nun wurde dieser Traum wahr.

Er hatte sich sein eigenes Paradies erschaffen: die Wellness-Oase Sylt. Gegen alle Widerstände hatte er sich durchgesetzt, auch gegen die Banken, die zweifelten, ob sein Projekt Aussicht auf Erfolg hätte. Schließlich gab es doch schon das Syltness-Center in Westerland.

Aber seine Einrichtung war besser: kleiner, feiner und exklusiver. Er bot nicht nur Wellness-Behandlungen an, sondern auch Achtsamkeitskurse für gestresste Manager. Sogar eine integrierte Klinik für kosmetische Eingriffe gab es. Genau das Richtige für die Upper Class auf Sylt, davon war Arne Marks überzeugt.

Dass er obendrein auch noch sein privates Glück gefunden hatte, war beinahe mehr, als er fassen konnte. Aber nicht nur der Neubau am Rand des Rantumbeckens war Realität, sondern auch die Frau an seiner Seite. Hand in Hand standen sie auf dem Damm und schauten auf ihre gemeinsame Zukunft.

Sybille war seine große Liebe. Sie würde die Buchhaltung übernehmen, einen Bereich, der ihm überhaupt nicht lag. Er selbst würde sich ganz auf Massagen, Physiotherapie und die Behandlung verklebter Faszien konzentrieren können.

In zwei Tagen fand die feierliche Eröffnung statt. Die ersten Kurse waren bereits ausgebucht, und bis auf die Rezeption waren auch alle ausgeschriebenen Stellen besetzt. Das hatte Sybille in die Hand genommen. Sie besaß ein unglaubliches Organisationstalent. Darüber hinaus war sie eine äußerst attraktive und begehrenswerte Frau. Arne wollte sie nie wieder loslassen.

Er zog das kleine graue Kästchen aus der Hosentasche und kniete sich vor ihr ins Gras. Die Flecken auf seiner weißen Hose würde er vermutlich nie wieder herausbekommen, doch das war ihm in diesem Augenblick vollkommen gleichgültig. Er nahm Sybilles Hand, ließ den Deckel des Kästchens aufschnappen und hielt es ihr hin. Eine lange Rede hatte er nicht vorbereitet, das lag ihm nicht. Der kostbare Ring, Gold mit einem kleinen Diamanten, musste für ihn sprechen.

Arne räusperte sich.

»Sybille. Ich weiß, wir kennen uns noch nicht besonders lang, aber du bist die Frau, mit der ich mein Leben verbringen möchte. Ich liebe dich.« Er holte tief Luft und spürte, dass er zitterte. »Willst du mich heiraten?«

***

»Heiraten?«

Kari Blom blieb abrupt stehen und entzog Jonas Voss mit einem Ruck ihre Hand. Erst jetzt ging ihr auf, wohin er sie scheinbar zufällig dirigiert hatte. Sie standen auf dem Rathausplatz, der vom Rathaus, dem Opernhaus und dem Standesamt eingerahmt war. Kari hatte angenommen, Jonas wolle zum Hiroshimapark mit dem Kleinen Kiel, einem hübschen Teich in der Stadt inmitten einer kleinen Parkanlage. Sie hatten ein paar dringend nötige Einkäufe in der Innenstadt erledigt, aber schon nach kurzer Zeit die Nase voll gehabt von stickiger Klimaanlagenluft und dem Gedrängel an den Tischen mit den Sonderangeboten. Beide gingen nur shoppen, wenn es sich überhaupt nicht vermeiden ließ. Jonas könnte das natürlich ebenso gut, wenn nicht sogar besser, auf Sylt tun, aber er wollte gerne Karis Rat – und sie durfte sich auf Sylt nicht gemeinsam mit ihm blicken lassen.

Doch Jonas hatte offenbar keinen erholsamen Spaziergang im Sinn gehabt. Stattdessen schaute er sehnsüchtig auf die Eingangstür des Standesamts.

»Weshalb denn nicht?«, fragte er. »Wir sind jetzt seit fast drei Jahren zusammen. Wir lieben uns. Warum sollen wir nicht heiraten?«

Kari zog die Schultern hoch und dachte an Björn, ihren verstorbenen Mann.

»Das weißt du ganz genau.«

»Kari.« Jonas legte ihr die Hand auf den Arm. »Du kannst nicht dein Leben lang weglaufen.«

»Nein?« Sie schaute auf ihre Armbanduhr. In einer halben Stunde waren sie im Eispavillon am Alten Markt verabredet. Dorthin brauchte man von hier aus zwar nicht viel mehr als fünf Minuten, aber es schadete auch nichts, wenn sie früher dort waren. Sie schüttelte Jonas’ Hand ab und ging eilig weiter.

»Wir sollten Ole nicht warten lassen.«

Jonas warf ebenfalls einen Blick auf die Uhr. Er hob die Augenbrauen, sparte sich aber einen Kommentar. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, wann es sinnlos war zu diskutieren.

Mit langen Schritten folgte er ihr, bis er sie wieder eingeholt hatte.

»Es war nur ein Vorschlag, Kari«, sagte er sanft. »Gerade weil wir uns so selten sehen. Da wäre es doch schön, wenn es dieses Versprechen gäbe.«

Kari schaute stur geradeaus.

»Was würde das schon nützen?«, murmelte sie. »Es gibt keine Sicherheit, egal, wie sehr wir uns das wünschen.«

Dieses Mal war es Jonas, der stehen blieb.

»Manchmal reicht es, sich eine Illusion davon zu erschaffen«, gab er zu bedenken. »Man fühlt sich geborgen, auch wenn man weiß, dass das Leben zerbrechlich ist.«

Kari spürte, wie ihr das Unbehagen die Kehle zuschnürte.

»Ich will nicht darüber sprechen«, wehrte sie ihn ab. »Ich bin noch nicht so weit.«

Sie sah ihm die Frustration an, aber sie konnte nicht anders. Wenn er sie wirklich liebte, musste er sie so nehmen, wie sie war.

***

In Sybilles Augen trat ein Leuchten. Sie lächelte. Dann nahm sie andächtig den Diamantring aus der Schachtel und streifte ihn über den linken Ringfinger.

»Ja«, sagte sie und griff nach Arnes Hand. »Ich will.«

Arnes Herz machte einen Freudensprung. Aus seinem Zittern wurde ein Vibrieren, das sich durch sämtliche Nervenenden vom Kopf bis zu den Zehen fortsetzte. Er hatte das Gefühl, vor Glück beinahe zu zerspringen.

Sybille half ihm wieder auf die Füße, und er zog sie an sich und küsste sie. Konnte es wirklich wahr sein, dass plötzlich all seine Wünsche in Erfüllung gingen?

Seine Verlobte wandte sich dem Komplex der Wellness-Oase zu.

»Es ist wunderschön geworden«, sagte sie. »Ich hoffe nur, die Kundschaft ist so begeistert, wie wir uns das wünschen.«

Arne legte von hinten die Arme um sie und schmiegte sich an ihren Rücken. Das Kinn legte er auf ihre rechte Schulter.

»Wir zwei zusammen«, sagte er und gab sich dem wohligen Gefühl hin, das durch seinen Körper rieselte. »Da kann doch überhaupt nichts schiefgehen.«

Sybille drehte sich in seinen Armen zu ihm herum.

»Komm«, flüsterte sie. »Ab übermorgen stecken wir bis über beide Ohren in Arbeit. Aber bis dahin können wir ein bisschen feiern.« Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen und küsste ihn.

Arne sog das alles in sich auf, Sybilles innigen Blick, ihre weichen Lippen und das einzigartige Panorama. Den hohen, klaren, blauen Himmel über dem Wasser des Rantumbeckens, das in der Sonne glitzerte, und davor sein persönliches Schmuckstück, die Wellness-Oase. Dann schloss er die Augen und gab sich ganz Sybilles Berührung hin.

Besser konnte das Leben nicht sein.

2.

Ole Lund saß bereits an einem der Tische vor dem Eiscafé am Alten Markt, die Beine übereinandergeschlagen, vor sich ein hohes Glas Eiskaffee mit einer hübschen Sahnehaube. Er trug einen hellen Leinenanzug, braune Slipper und ein graues Hemd mit einer passenden Krawatte. Sicher ein Designerstück. Das gehörte zu den Dingen, auf die er Wert legte. Das blonde Haar saß wie immer akkurat, das bartlose Kinn war ordentlich rasiert. Egal, ob in seinem Büro oder in der Freizeit, der Kriminalrat machte stets eine gute Figur.

Als er Kari und Jonas entdeckte, hoben sich seine Mundwinkel, und er winkte ihnen zu.

Kari setzte sich ihm gegenüber und gab sich Mühe, sein Lächeln zu erwidern.

»Hallo Ole.«

Jonas wählte den Stuhl neben ihr und begrüßte ihren Chef mit einem Nicken. Lunds Blick glitt zwischen ihnen hin und her.

»Streit im Paradies?«, fragte er schmunzelnd.

Kari wehrte ab. »Nichts Wichtiges.«

Ole Lund war seit vielen Jahren ihr Freund. Er kannte sie besser als die meisten anderen Menschen, vielleicht sogar besser als sie sich selbst. Sie waren sehr vertraut miteinander und konnten über alles reden, doch in Jonas’ Gegenwart war ihr das unangenehm. Jonas war zwar nicht eifersüchtig; er glaubte ihr, dass es diesbezüglich auf beiden Seiten kein Interesse gab. Aber sie wusste, dass es ihn trotzdem schmerzte, dass sie mit Lund so viel lockerer umging als mit ihm.

Jonas lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, streckte die Beine aus und schob die Hemdsärmel nach oben. Dann fuhr er sich mit der Hand durch die braunen Locken, ehe er die Arme vor der Brust verschränkte.

»Ich habe sie gefragt, ob sie mich heiraten will«, sagte er zu Lund.

»Mhm.« Die blauen Augen des Kriminalrats funkelten belustigt. Er zwinkerte Kari zu. »Ich nehme an, ich muss nicht fragen, was du geantwortet hast?«

»Nein.« Kari registrierte erleichtert, dass ein Kellner herbeikam, um sich nach ihren Wünschen zu erkundigen. Sie warf einen raschen Blick auf die Karte und entschied sich für einen Cappuccino und ein Tiramisu.

Jonas orderte einen großen Eisbecher mit Walnüssen und Krokant, dazu einen Latte macchiato.

»Hm. Ein Seelentröster«, stichelte Lund weiter.

»Ole, bitte.« Kari ballte unter dem Tisch die Fäuste. »Misch dich da nicht ein.«

»Warum denn nicht?«, erkundigte sich Jonas. »Du hörst doch sonst auch auf seinen Rat. Frag ihn nach seiner Meinung.«

Nicht nur Kari, auch Ole blieb die unterschwellige Aggression nicht verborgen.

»Lieber nicht.« Lund zwinkerte ihm zu. »Ich möchte nicht zwischen die Fronten geraten. Außerdem kennt Kari meine Einstellung.«

»Ja, danke.« Kari blitzte ihren Chef warnend an. Fehlte nur noch, dass er wieder mit ihrer Mutter anfing. Sie war Psychotherapeutin und seit Jahren der Ansicht, dass Kari sich aus Angst, verletzt zu werden, von ihren Gefühlen abschottete. Lund stieß in dasselbe Horn. Dass die beiden vermutlich recht hatten, machte die Sache nicht besser.

Der Kellner rettete sie erneut; er brachte die Kaffeespezialitäten und stellte sie mit einer leichten Verbeugung auf den Tisch.

»Das Eis und der Kuchen kommen gleich.«

»Danke.«

Kari wartete, bis er wieder außer Hörweite war.

»Weshalb wolltest du uns treffen, Ole? Ein bisschen im Freien sitzen bei dem herrlichen Wetter und plaudern? Oder gibt es etwas Wichtiges?«

Ole Lund versicherte sich mit einem schnellen Blick, dass die Nebentische nach wie vor unbesetzt waren.

»Ich dachte, wir könnten das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. In meinem Büro ist es dermaßen stickig, dass ich das Gefühl hatte, ich bekomme keine Luft mehr. Außerdem hatte ich Lust auf Eis. Aber der eigentliche Grund für unser Treffen ist dienstlich.«

»Aha?« Kari hob interessiert die Augenbrauen. Ein neuer Auftrag käme ihr nicht ungelegen. Am besten einer, der eine räumliche Trennung von Jonas erforderte. Ein Undercover-Job in Flensburg oder Lübeck vielleicht. Solange sie als verdeckte Ermittlerin unterwegs war, durfte es keinen Kontakt zu Familie und Freunden geben. Sie hätte die Gelegenheit, sich in Ruhe über ihre Wünsche klar zu werden und ihre Gefühle zu ordnen.

Fast hätte sie über sich selbst gelacht. Wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Es gab Dinge, die sich nicht ändern würden. Dazu gehörte, dass sie ihr eigenes Glück nie wieder so eng mit dem eines anderen Menschen verknüpfen würde, wie sie es mit Björn getan hatte. Sein Tod hätte sie beinahe umgebracht. Noch einmal würde sie einen solchen Verlust nicht überleben.

Jonas war ihr ohnehin schon viel zu nah gekommen. Mehr durfte sie einfach nicht zulassen. Deshalb würde sie auch niemals seine Hoffnung erfüllen können, mit ihm und den Kindern ganz normal als Familie zu leben. Wenigstens tat sie damit seiner Tochter Finja einen Gefallen, die ihr immer wieder deutlich zu verstehen gab, dass sie keine Ersatzmutter wollte. Jonas’ Sohn Jasper dagegen bedauerte ihre Haltung. Er hätte sie sofort angenommen. Kari musste lächeln, als sie an den fröhlichen Jungen mit den verwuschelten strohblonden Haaren und den strahlend blauen Augen dachte.

Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie fast nicht mitbekommen hätte, was Ole Lund sagte. Sie hörte gerade noch das Wort »Wellness-Oase«.

Ging es gar nicht um eine neue Ermittlung? Wollte Lund nur den nächsten Abteilungsausflug planen? Das würde erklären, weshalb er sie nicht in sein Büro zitiert hatte.

»In Rantum, ja.« Jonas nickte. »Das stand in den Sylter Nachrichten. Übermorgen ist die offizielle Eröffnung.«

Kari runzelte die Stirn. Wenn die Einrichtung auf Sylt war, ging es wohl nicht um einen Abteilungsausflug. Das Landeskriminalamt zeigte sich nicht öffentlich mit seinen verdeckten Ermittlern an einem Ort, an dem man sie eventuell wieder einsetzen wollte. Schlimm genug, dass inzwischen etliche Menschen auf der Insel wussten, wer sie wirklich war. Wenn sie nun zusätzlich noch mit einem Polizeibus dort aufkreuzte, wäre sie endgültig verbrannt. Oder war es das, was Lund wollte? War er ebenfalls der Ansicht, dass es nach fünf Undercover-Einsätzen auf der kleinen Insel zu riskant wurde, sie weiterhin dort ermitteln zu lassen?

Sie sah, dass Jonas ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen und seine Augen hoffnungsvoll leuchteten. Schließlich war ihre Arbeit der Grund, weshalb sie sich nicht öffentlich zusammen zeigen durften.

Kari merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Auch wenn sie sich am Anfang dagegen gewehrt hatte, immer wieder nach Sylt geschickt zu werden – jetzt wollte sie auf keinen Fall mehr auf diesen Einsatzort verzichten. Nicht nur, weil dann die schützende Mauer zwischen ihr und Jonas einbrach, sondern auch, weil ihr die Insel und einige ihrer Bewohner ans Herz gewachsen waren.

Der Kellner brachte den Eisbecher und das Tiramisu, und Kari und Jonas machten sich wie ausgehungert darüber her.

Ole Lund schmunzelte. Vermutlich wusste er genau, was in Karis Kopf vorging. Noch einmal schaute er sich um, ob jemand in Hörweite war, ehe er die Hände auf dem Tisch verschränkte und sich näher zu Jonas und ihr beugte.

»Das Landeskriminalamt Hamburg hat sich mit mir in Verbindung gesetzt. Es geht um einen Fall von Unterschlagung in einer Privatklinik in Reinbek. Man hatte eine Mitarbeiterin in Verdacht, konnte ihr jedoch nichts nachweisen. Die Ermittlungen laufen noch, aber die Dame hat mittlerweile den Arbeitsplatz gewechselt. Die Kollegen glauben, dass sie dort ebenfalls in betrügerische Aktivitäten verwickelt sein könnte. Sie kommen allerdings nicht an sie heran. Deshalb haben sie bei uns angefragt, ob wir einen Undercover-Ermittler am neuen Arbeitsplatz einsetzen könnten.«

»In der neuen Wellness-Oase in Rantum«, folgerte Kari und ließ die Kuchengabel sinken.

Lund stutzte. »Sagte ich das nicht?«

»Doch.« Kari lachte verlegen und nahm sich rasch ein weiteres Stück Tiramisu. Das war dann wohl der Teil, den sie verpasst hatte, weil ihre Gedanken noch um Jonas’ Heiratsantrag gekreist waren.

»Also.« Lund griff nach der Aktentasche, die neben seinem Stuhl stand, und nahm ein Tablet heraus. Er schaltete das Gerät ein und zeigte Kari ein Foto. Sie schob den Teller mit dem halbgegessenen Dessert beiseite. Jonas löffelte weiter sein Eis.

»Das ist die Dame«, erklärte der Kriminalrat. »Sybille Wenzel, sechsunddreißig Jahre alt, von Beruf Buchhalterin. Sie war auch an den Kreditanträgen für das Projekt in Rantum beteiligt. Ein recht komplexes Finanzierungsmodell, soweit wir das überblicken können, und ein üppiges Kreditvolumen. Die Bank, die an dem Geschäft beteiligt ist, hat ebenfalls ein erhebliches Interesse daran, dass geprüft wird, ob alles mit rechten Dingen zugeht.«

Kari betrachtete das Bild. Es zeigte eine Frau mit aufgesteckten dunklen Haaren, braunen Augen und einem weichen Mund. Weder sah sie aus wie jemand, der sich hauptberuflich mit Finanzen beschäftigte, noch wie eine Person, die sich durch eine besondere kriminelle Energie auszeichnete. Auf Kari wirkte sie eher wie eine Frau, die vom Ritter auf dem weißen Pferd träumte und ihn kritiklos anhimmelte, wenn sie ihn gefunden zu haben glaubte. Aber Menschenkenntnis war auch nicht ihre Paradedisziplin. Jonas hatte in diesen Dingen ein sehr viel besseres Gespür.

Er lehnte sich zu ihr herüber und schaute ebenfalls auf das Display.

»Sie sieht nett aus«, kommentierte er. »Gar nicht wie eine Betrügerin.«

Ole Lund blinzelte.

»Wie gesagt. Es gibt keine Beweise, nur einen Verdacht. Der sich unter anderem darin begründet, dass sie die Klinik verlassen hat, als die Unterschlagung bekannt wurde, und dass sie jetzt in dieser hochriskant finanzierten Wellness-Oase arbeitet. Die Kollegen möchten vor allem Gewissheit haben. Wenn du herausfindest, dass sie unschuldig ist, ist das auch in Ordnung.«

Er nahm ihr das Tablet ab, wischte ein paarmal über das Display und hielt ihr das Gerät dann wieder hin. Diesmal zeigte es das Titelbild eines Prospekts: die Aufnahme eines langgestreckten weißen Gebäudekomplexes mit durchgehender Fensterfront. Auf der linken Seite schien sich ein Schwimmbad zu befinden, hinter den Scheiben schimmerte das Wasser türkisfarben. Jenseits des Gebäudes befand sich eine riesige Wasserfläche, auf der das Sonnenlicht glänzte, umrahmt von einem ausgedehnten Riedgürtel. Über der Szene schwebte eine Möwe. Es war das perfekte Bild, um Werbung für die Wellness-Oase zu machen. Die Aufnahme versprach Ruhe und Entspannung inmitten einer traumhaften Kulisse. Kari lächelte.

Sie blätterte mit raschen Wischbewegungen durch die Werbebroschüre und erblickte Fotos der geschmackvoll eingerichteten Behandlungsräume. Pastellfarbene Wände, dezenter Blumenschmuck. Solide wirkende Massagebänke und Sportgeräte. Die Innenaufnahme des Schwimmbads zeigte ein mehr als großzügiges Becken. Drum herum standen Liegen mit weißblauen Bezügen. An den Fenstern klebten halbdurchsichtige Bilder, blaue Muscheln und Seesterne, wahrscheinlich, damit keine Vögel dagegen flogen. Außerdem gab es ein Dampfbad und eine Sauna – und eine integrierte Schönheitsklinik.

Auf der letzten Seite des Prospekts posierten zwei Männer und eine Frau vor dem Eingang der Klinik, die Männer mit verschränkten Armen, die Frau mit Klemmbrett und Stift in den Händen, als warte sie nur darauf, die ersten Anmeldungen entgegenzunehmen. Der linke der beiden Männer war dunkelhaarig, breitschultrig und sonnengebräunt, der rechte blond, blass und schlaksig. Arne Marks, Physiotherapeut und Betreiber der Wellness-Oase stand unter dem Bild des Blonden, Dr. David Brockmann, plastischer Chirurg unter dem Foto des Dunkelhaarigen. Die Frau in der Mitte war Sybille Wenzel, die Geschäftsführerin.

Kari reichte Ole das Tablet zurück. Sie konnte sich weiß Gott schlechtere Orte für eine Undercover-Ermittlung vorstellen. Allerdings gab es auch ein Problem.

»Wie soll ich da reinkommen?«, erkundigte sie sich. »Um mich als Physiotherapeutin zu bewerben, kann ich nicht einfach eine erfundene Vita vorlegen und hoffen, dass niemand etwas merkt.«

Lund steckte das Tablet in die Aktentasche und zwinkerte ihr zu.

»Ich könnte jetzt vorschlagen, dass du dich einfach als Klientin ausgibst. Aber dich zu entspannen, liegt dir ja nicht.« Aus seinen Augen blitzte der Schalk.

Kari merkte, wie sie sich verkrampfte. Tatsächlich würde es ihr schwerfallen, sich auf einer Behandlungsliege auszustrecken und sich genüsslich massieren zu lassen. Sie nahm ihren Teller und stach mit der Gabel ein großes Stück vom Tiramisu ab. Solange sie kaute, vermied sie zumindest, dass ihre Mundwinkel mehr von ihren Gefühlen preisgaben, als ihr lieb war.

»Es wäre natürlich eine gute Gelegenheit, es zu üben. Dich fallenzulassen, meine ich.« Lund grinste breit. »Aber das ist nicht der Plan. Als Kundin wärst du nicht nah genug dran. Du kannst nicht jeden Tag fünf Behandlungen buchen, und selbst dann würdest du nicht wirklich hinter die Kulissen blicken. Dort einmieten kannst du dich leider ebenfalls nicht. Die Wellness-Oase bietet keine Besucherunterkünfte an. Die Gäste wohnen in Rantum oder in Westerland im Hotel. Die einzigen Betten in der Wellness-Oase stehen im Kliniktrakt, für den Fall, dass ein Patient nach einer Schönheitsoperation nicht sofort wieder nach Hause gehen kann.« Lund legte den Kopf schief. »Du hattest nicht zufällig vor, in nächster Zeit deine Nase richten zu lassen? Oder irgendetwas anderes?«

Kari war klar, dass der Kriminalrat sie nur aufzog, aber ihr riss trotzdem der Geduldsfaden. Ärgerlich knallte sie die Gabel auf den Tisch.

»Nein, Ole. Wenn ich an meinem Körper etwas verändern möchte, gibt es andere Wege.«

»Richtig. Deswegen joggst du ja so exzessiv«, frotzelte Lund unverdrossen weiter.

Kari schnaubte, musste dann aber doch lachen.

»Nun sag schon, Ole. Was ist dein Plan?«

Der Kriminalrat hob die Hände.

»Die meisten Stellen in der Wellness-Oase sind bereits vergeben. Aber eine Position ist noch offen. Man sucht eine Empfangsdame.« Er lächelte breit. »Ich finde, du bist die perfekte Besetzung dafür.«

»Okay.« Kari schaute zu Jonas, der seinen Becher in Rekordgeschwindigkeit geleert hatte und gerade den letzten Rest Eis vom Löffel leckte. Er nickte ihr zu, was wohl heißen sollte, dass er die Meinung des Kriminalrats teilte.

Kari wandte sich wieder an Lund. »Ich nehme an, du hast schon alles in die Wege geleitet?«

Der Kriminalrat griff erneut nach seiner Aktentasche.

»Deine Papiere sind fertig. Die Bewerbung konnte ich online abgeben. Und bei der Häkelmafia habe ich angekündigt, dass du kommst. Die Damen freuen sich schon.«

Kari hatte sofort das Bild von Marijke Meenken und ihren Häkelfreundinnen vor Augen. Die umtriebigen alten Damen hatten ihr in den letzten Jahren einige Male hilfreich zur Seite gestanden. Leider neigten sie auch zur Unvernunft und hatten sich schon des Öfteren in ernsthafte Gefahr gebracht.

»Ich hoffe, du hast ihnen nicht gesagt, worum es geht?«

Der Kriminalrat lachte.

»Du kennst sie doch.« Er hob in einer entschuldigenden Geste die Hände. »Man kann ihnen nichts vormachen. Und jetzt, wo sie auch noch wissen, dass du Undercover-Ermittlerin beim LKA bist …«

***

»Ganz schön protzig, findet ihr nicht?« Grethe Aldag, wie immer mit verwaschenen Bluejeans und einem selbstgestrickten Pullover bekleidet, fuhr sich durch die kurzgeschnittenen eisgrauen Haare. »Da kann ich mir sofort vorstellen, dass da drinnen üble Sachen vor sich gehen. Geldwäsche, Betrug, Unterschlagung. Von irgendetwas in der Art hat Karis Chef doch gesprochen, stimmt’s?«

Marijke Meenken seufzte. Der Kriminalrat hatte sie gebeten, sich ihren Freundinnen gegenüber bedeckt zu halten. Aber natürlich hatten Grethe, Witta und Alma sie ebenso ausgequetscht, wie sie selbst zuvor Ole Lund.

»Das sind alles nur Verdachtsmomente«, schränkte sie ein.

Grethe winkte ungeduldig ab. »Wo Rauch ist, ist auch Feuer.«

Witta Claaßen rückte ihre frisch gelegte weiße Dauerwelle zurecht.

»Also, ich finde, es macht einen sehr guten Eindruck. Geschmackvoll, seriös, gediegen.«

Grethe verdrehte die Augen.

»Natürlich. Genau das Richtige für dich, das meinst du doch, oder? Weil du dich ja auch für ein Mitglied der High Society hältst. Jedem bindest du auf die Nase, dass dein verstorbener Mann Landarzt in Kampen war.«

»Na und? Das ist eine Tatsache. Außerdem ist es nicht meine Schuld, dass dein Etzard nur Klempner war.«

Grethe brummte. »Darum geht es doch nicht. Aber es ist zwanzig Jahre her, dass dein Mann praktiziert hat.«

Witta klimperte mit den Wimpern. »Und was ändert das an seinen Verdiensten? Wilhelm war ein sehr guter Arzt. Die Leute in Kampen sprechen noch heute von ihm. Erst neulich bei einem Treffen im Rotary Club …«

»Bitte«, fiel Grethe ihr schroff ins Wort. »Verschone uns damit.«

Marijke schaute zu Alma, die am Verschluss ihrer pinkfarbenen Handtasche nestelte. Auch die rothaarige Bäckerwitwe war an die ständigen Kabbeleien zwischen Grethe und Witta gewöhnt. Immerhin kannte man sich schon seit der gemeinsamen Schulzeit. Im Gegensatz zu Marijke konnte sich Alma aber nicht gut damit abfinden. Sie mochte keinen Streit und versuchte immer wieder, die Bruchstellen ihrer Freundschaft mit Zuckerguss zu überdecken.

Jetzt zog sie eine Tüte Kekse aus der Tasche und hielt sie Witta und Grethe hin.

»Wollt ihr mal probieren? Die habe ich heute Morgen gebacken.«

Wie so oft funktionierte ihr Ablenkungsmanöver. Almas Leckereien waren einfach zu köstlich, um sich zu streiten. Marijke nahm sich ebenfalls einen Keks und schaute nachdenklich auf das weiße Gebäude der neuen Wellness-Oase.

»Es würde mich interessieren, wie es im Inneren aussieht.«

»Niemand hindert uns daran hineinzugehen.« Grethe marschierte auf den Eingang zu, und die anderen folgten ihr. Die Klempnerwitwe rüttelte an der Tür, fand sie aber verschlossen.

Witta hob die Nase und deutete auf das große Plakat hinter der Scheibe.

»Wenn du gelegentlich mal deine Brille aufsetzen würdest, könntest du lesen, dass die Wellness-Oase erst übermorgen eröffnet.«

»Danke. Ich sehe noch sehr gut«, konterte Grethe. »Aber es hätte ja sein können, dass man trotzdem schon hineinkann, um sich anzumelden.«

»Wofür denn?« Alma drängte sich zwischen die Freundinnen und nahm die Angebote auf dem Plakat in Augenschein. »Oh.« Sie verschluckte sich und hustete. Rasch holte sie ein Stofftaschentuch mit rosafarbenen Stickereien aus ihrer Handtasche hervor und hielt es sich vor den Mund. Marijke klopfte ihr sacht auf den Rücken.

»Danke.« Alma schüttelte das Taschentuch aus, faltete es zusammen und verstaute es wieder. Dann zeigte sie auf das Plakat. »Das sind aber gesalzene Preise.«

»Es ist ja auch keine Massagepraxis für Hinz und Kunz«, näselte Witta. »Es ist eine Wellness-Einrichtung der gehobenen Klasse.«

»Schön«, konterte Grethe trocken. »Dann kannst du dich ja für eine Behandlung anmelden.«

Witta schaute sie von oben herab an. »Das ist nicht nötig. Ich bin völlig entspannt.«

Grethe lachte meckernd. »Du bist nicht entspannt. Du bist geizig.«

Marijke reichte es.

»Kinder, bitte. Hört doch mal auf. Wir sind hier, weil wir Frau Blom helfen wollen, etwas über die Wellness-Oase herauszufinden.«

Alma nickte. Grethe und Witta zogen Gesichter wie Schülerinnen, die sich zu Unrecht getadelt fühlten, schwiegen aber immerhin.

»Also. Was schlägst du vor?«, fragte Grethe schließlich.

Marijke studierte ebenfalls das Plakat. Die Preise waren tatsächlich unverschämt. Sie selbst gönnte sich seit Jahren gelegentlich eine Massage in einer Praxis in Westerland, zahlte dort aber für eine Behandlung nicht einmal die Hälfte von dem, was hier verlangt wurde. Aber es gab ja auch noch andere Angebote. Vielleicht könnten sie einen Achtsamkeitskurs buchen? Sie hatte keine rechte Idee, was sich dahinter verbarg, wusste aber, dass das Konzept in den letzten Jahren groß in Mode gekommen war. Möglicherweise konnte man dabei noch etwas Gewinnbringendes lernen? Achtsamkeit für Manager war allerdings nicht ganz das Richtige für sie, und der Kurs kostete ebenfalls eine horrende Gebühr.

Marijke wollte schon aufgeben, doch dann entdeckte sie im Foyer hinter der Eingangstür einen Aufsteller, von dem ihr ein langhaariger blonder Mann in einem weiten weißen Hemd entgegenlächelte.

»Da«, sagte sie und deutete darauf. »Das ist es. Ein Schnupperkurs. Achtsamkeit für Anfänger. Der kostet nur fünfzig Euro.«

Alma strahlte. »Das ist es mir wert.«

Witta betastete ihre Marlene-Dietrich-Frisur. »Na ja. Vielleicht … Wenn wir Frau Blom unterstützen, könnten wir die Rechnung doch beim Landeskriminalamt einreichen? Als Spesen?«

Grethe schnaubte. »Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Also schön.« Witta seufzte theatralisch. »Ich bin dabei.«

Marijke wollte sich an Grethe wenden, um auch ihre Zustimmung einzuholen, bemerkte aber aus dem Augenwinkel, dass sich ihnen ein Paar näherte, ein blonder Mann mit weißer Hose und hellblauem Hemd und eine Frau mit aufgesteckten dunklen Haaren im kurzen Kleid. Sie hielten sich an den Händen und wirkten glücklich und beschwingt. Marijke bemerkte den Grasfleck auf Kniehöhe am rechten Hosenbein des Mannes und machte sich ihren Reim darauf.

»Hallo.« Die beiden blieben vor ihnen stehen. »Können wir Ihnen helfen?«

Witta streckte sich.

»Das kommt darauf an. Wir würden uns gerne anmelden. Für den Achtsamkeits-Schnupperkurs.«

»Ach. Das tut mir leid«, sagte der Mann. »Der Kurs ist bereits ausgebucht.«

»Oh.« Alma machte ein betrübtes Gesicht. »Und da kann man nichts tun?« Sie streckte den beiden die Kekstüte hin. »Möchten Sie vielleicht mal probieren? Die habe ich selbst gebacken. Nach einem alten Rezept meines Mannes. Wir hatten früher eine Bäckerei in Westerland.«

Die Frau wehrte ab, doch der Mann nahm sich einen Keks. Er kaute und schmatzte anerkennend.

»Sehr gut.« Er neigte den Kopf. »Aber ich kann Ihnen trotzdem nicht helfen.«

Die Frau öffnete ihre Handtasche und zog ein teuer aussehendes Smartphone hervor.

»Ich frage Thorsten. Vielleicht kann er eine Ausnahme machen.« Sie entfernte sich ein paar Schritte und lief auf dem Weg vor der Wellness-Oase auf und ab, während sie mit ihrem Gesprächspartner verhandelte. Schließlich steckte sie das Telefon wieder zurück und kam mit einem Lächeln auf die Gruppe zu.

»Ich habe ihn überredet«, verkündete sie. »Er hat die Teilnehmerzahl von acht auf zwölf erhöht. Er meinte, das sei zwar nicht optimal, aber wenn es sich bei den zusätzlichen Teilnehmerinnen um vier so reizende alte Damen handelt, würde er eine Ausnahme machen.«

Grethe hob die Hand. »Also, ich hatte eigentlich nicht vor …«

Marijke brachte sie mit einem scharfen Blick zum Schweigen.

»Vielen Dank, Frau …«

»Wenzel. Sybille Wenzel«, stellte sich die Frau vor.

Marijke tauschte sich wortlos mit ihren Häkelschwestern aus. Das war die Frau, um die es ging, die Dame, die Kari unter die Lupe nehmen sollte. Sie hatten gleich im ersten Anlauf einen Treffer gelandet.

»Das ist wirklich sehr nett«, verkündete sie überschwänglich. »Werden Sie auch bei dem Kurs dabei sein?«

»Nein. Ich arbeite hinter den Kulissen«, erwiderte Sybille Wenzel.

»Aha. Dann sind Sie …«

»Die Geschäftsführerin.« Sie zog ihren Begleiter am Ärmel zu sich heran. »Und das hier ist Arne Marks, der Betreiber der Wellness-Oase. Mein Verlobter.«

»Herzlichen Glückwunsch.« Marijke schüttelte Sybille und Arne die Hände. Offensichtlich hatte sie richtig geraten. »Das freut mich für Sie.« Sie zwinkerte ihren Freundinnen zu. »Dürfen wir Sie vielleicht zur Feier des Tages – und als Dankeschön für Ihre Bemühungen – auf ein Glas Sekt einladen?«

»Danke. Das ist sehr freundlich. Aber wir haben noch viel zu tun. In zwei Tagen eröffnen wir, und bis dahin müssen noch etliche Dinge erledigt werden.« Sybille reichte Marijke eine Visitenkarte. »Rufen Sie mich einfach morgen früh unter dieser Nummer an, Frau …?«

»Meenken. Marijke Meenken.«

»Frau Meenken. Dann trage ich Sie für den Kurs ein. Er beginnt morgen um vierzehn Uhr. Seien Sie ruhig ein paar Minuten vorher hier. Thorsten wird Sie hereinlassen und Ihnen alles zeigen. Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte.«

Die beiden winkten zum Abschied und verschwanden dann um das Gebäude herum.

»Schade«, konstatierte Witta. »Bei einem Gläschen Sekt hätten wir sicher das eine oder andere erfahren.«

»Ich finde, wir haben auch so eine Menge herausgefunden«, entgegnete Marijke. »Frau Blom wird staunen.«

Alma strahlte. »Was sie wohl sagt, wenn sie erfährt, dass wir diesen Kurs gebucht haben?«

Grethe zog die Augenbrauen zusammen.

»Ich vermute, es gefällt ihr nicht. Sie will nämlich nicht, dass wir uns in ihre Ermittlungen einmischen.«

»Aber das tun wir doch seit Jahren«, widersprach Alma. »Und wir haben ihr oft genug geholfen.«

»Trotzdem«, beharrte Grethe.

»Du willst ja nur nicht zu diesem Kurs gehen«, stichelte Witta. »Weil du Angst hast, dass da jemand hinter deine spröde Fassade schauen könnte.«

»Ob nun spröde oder glatt, da lässt sich doch niemand gerne dahinter gucken«, konterte Grethe. »Du auch nicht.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich gehe jedenfalls nicht zu diesem Kurs.«

»Du willst kneifen?« Witta fuchtelte mit ihrem Zeigfinger vor Grethes Nase herum. »Das kommt überhaupt nicht in Frage.«

Alma sah ihre Freundin bittend an.

»Komm schon, Grethe. So machen wir es doch immer. Eine für alle und alle für eine.«

Grethe richtete den Blick in den blauen Himmel und stöhnte.

»Also gut. Weil ihr es seid.«

***

Den größten Teil der Strecke von Kiel nach Niebüll hatten sie schweigend zurückgelegt. Kari erinnerte sich an eine ähnliche Autofahrt vor drei Jahren. Damals hatte Jonas erfahren, wer sie in Wirklichkeit war. Nicht die erfolglose Schriftstellerin Kari Blom mit der Schreibblockade, die er zwei Jahre zuvor bei einer Mordermittlung kennengelernt hatte, sondern Kriminalkommissarin Karolina Dahl, Undercover-Ermittlerin beim LKA Kiel.

Er hatte begriffen, dass sie ihn ohne ein Wort verlassen hatte, damit ihre Tarnidentität nicht aufflog, aber er war gekränkt gewesen. Genau wie jetzt. Dabei hatte Kari gedacht, sie hätten längst alles geklärt. Sie hatten sich darauf geeinigt, die Dinge so zu lassen, wie sie waren. Doch Jonas konnte sich offenbar nicht damit abfinden. Immer wieder drängte sein Wunsch nach einem normalen Familienleben an die Oberfläche.

Kari seufzte. Sie liebte Jonas, aber sie war die ständigen Diskussionen leid. Vielleicht machten sie sich ja auch etwas vor, und die ganze Sache hatte einfach keine Zukunft? Wenn es für Jonas nicht funktionierte, wie sollten sie dann damit leben?

Sie erreichten die Verladestation, und Jonas reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Kari blickte auf die Anzeigetafel. Es würde nur ein paar Minuten dauern, bis sie auf den Zug fahren durften. Ehe Jonas etwas sagen konnte, öffnete sie die Tür und stieg aus.

»Ich gehe mir schnell die Hände waschen.«

Sie spürte seinen Blick im Rücken, drehte sich aber nicht um.

Im Waschraum betrachtete sie sich im Spiegel. Sie hoffte, dass sie mit ihren blonden kurzen Haaren und der sportlichen Ausstrahlung die Anforderungen erfüllte, die man an die Empfangsdame einer Wellness-Oase stellte. Ihr selbst jedenfalls gefiel, was sie sah. Abgesehen von den dunklen Schatten unter den Augen. Die ständigen Debatten mit Jonas über ihre gemeinsame Zukunft zehrten an ihren Nerven.

Insofern war es gut, wenn sie in den nächsten Wochen bei Marijke Meenken wohnte und keinen Kontakt zu Jonas haben durfte. Vielleicht würden sich in dieser Zeit die Gemüter wieder beruhigen und die Wogen glätten.

Sie erneuerte rasch ihr sparsames Make-up und ging dann zurück auf den Parkplatz. Die Fahrzeugschlange hatte sich bereits in Bewegung gesetzt; sie musste ein Stück laufen, um Jonas einzuholen. Zum Glück war sein alter, rostroter Passat zwischen den überwiegend deutlich teureren und gepflegteren Wagen, die auf den Autozug rollten, leicht auszumachen.

Jonas lächelte sie an, als sie die Tür öffnete und auf den Beifahrersitz schlüpfte.

»Da bist du ja wieder.« Er steuerte den VW Passat über die Rampe und fuhr über die Metallschienen auf den Waggons entlang, bis ihn ein Ordner zum Parken aufforderte. Jonas nickte dem Mann zu, legte die Handbremse ein, fuhr die Seitenfenster herunter und stellte den Motor ab. Anschließend drehte er sich zu Kari und nahm ihre Hand.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte er. »In einer halben Stunde sind wir in Westerland. Ich möchte nicht, dass wir im Streit auseinandergehen.«

Kari schluckte. Das war typisch für Jonas. Während sie sich verbiss und einfach die Deckung hochfuhr, wenn sie mit ihren Gefühlen nicht zurechtkam, stellte er sich immer wieder selbst in Frage und suchte die Versöhnung. Es war einer der Gründe, weshalb sie ihn liebte.

Der Zug setzte sich in Bewegung, verließ den Bahnhof von Niebüll und fuhr an den ausgedehnten Wiesen entlang in Richtung Klanxbüll. Kari sah ein paar schwarzbunte Kühe und eine Herde Schafe, weit verstreute weiße Tupfen auf dem saftigen Grün.

Jonas schaute sie eindringlich an.

»Es tut mir leid. Ich kann eben nicht aus meiner Haut. Damit musst du leben.«

Kari schluckte. »Vielleicht …«

»Ja?«

»Vielleicht ist unser Modell einfach nicht das Richtige für dich. Vielleicht … bin ich nicht die Richtige.«

»Kari.« Jonas zog ihre Hand an seine Lippen. »Ich habe Wünsche, die du nicht erfüllen kannst. Aber das heißt nicht, dass ich an unserer Beziehung zweifle. Ich liebe dich. Wenn es nicht anders geht, dann ist es eben so. Das ist besser als nichts.«

Kari verspürte einen Knoten in der Brust. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, sich einfach fallenzulassen. Ihren Kopf an Jonas’ Schulter zu legen und nachzugeben. Aber zugleich verspürte sie heiße Angst.

Nein. Sie durfte die Kontrolle nicht abgeben. Es war wichtig, fest auf den eigenen Füßen zu stehen. Andernfalls riskierte sie, ins Bodenlose zu stürzen, wenn irgendetwas schiefging.

Der Autozug passierte Klanxbüll und rollte zwischen den Salzwiesen hindurch auf das Meer zu. Gleich darauf begann die Strecke über den Hindenburgdamm. Es war Flut, zu beiden Seiten der Schienen erstreckte sich die blaugraue Wasserfläche. Von ihrem Platz auf dem Oberdeck aus hatte Kari einen guten Blick. Sie konnte zur Insel hinübersehen, über das Wattenmeer bis zur Nordspitze nach List. Durch die offenen Wagenfenster wehte die salzige Luft zu ihnen herein, und sie hörte die Schreie der Möwen, die über dem Wasser kreisten.

Der Knoten in ihrer Brust löste sich auf. Es war wie immer, wenn sie nach Sylt kam. Die klare Luft, der hohe Himmel und die Weite des Meeres, das sich vor ihr ausbreitete, vermittelten ein Gefühl von Frieden und Freiheit, das sie nirgendwo sonst so verspürte. Sie konnte verstehen, warum so viele Menschen regelmäßig auf die Insel kamen, warum die Sehnsucht sie immer wieder hierher trieb. Es war, wie nach Hause zu kommen. Zu jenem Zuhause, das in einem selbst lag.

Sie schaute in Jonas’ warme braune Augen und streichelte seine Hand.

»Verzeih mir. Ich will gar nicht immer zweifeln. Aber du weißt ja …«

»Ja, ich weiß.« Er versiegelte ihre Lippen mit einem sanften Kuss, ehe sie weiterreden konnte.

Kari schloss die Augen und gab sich der Berührung hin. Auch wenn es ihr schreckliche Angst machte: Jonas war der Mann, den sie liebte.

Sie fuhren vom Hindenburgdamm auf die Insel, an Morsum, Keitum und Tinnum vorbei, doch Kari bekam nichts davon mit. Erst als der Autozug die Geschwindigkeit drosselte und schließlich mit kreischenden Bremsen an der Verladestation zum Stehen kam, öffnete sie die Augen wieder.

Jonas lächelte sie an. Er strich ihr zärtlich über das Gesicht, ehe er auf ein Signal des Ordners hin den Motor anließ und vom Zug rollte.

Ein paar Meter weiter stoppte er wieder und ließ Kari aussteigen. Sie wollte zu Fuß zum Bahnhof hinübergehen, damit man sie nicht zusammen sah. Für die Fahrt zu Marijke Meenken würde sie sich ein Taxi nehmen.

Kari holte ihr Gepäck aus dem Kofferraum und beugte sich noch einmal durch das Seitenfenster zu Jonas hinein.

»Ich hoffe, wir sehen uns erst wieder, wenn der Fall abgeschlossen ist«, sagte sie. »Es muss doch möglich sein, dass ich einmal ein Delikt auf Sylt untersuche, ohne dass es einen Mord gibt, den du aufklären musst, meinst du nicht?«

Jonas lachte. »Hoffen wir das Beste.«

Rasch hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange.

»Mach’s gut. Und grüß die Kinder.«

Sie schulterte ihren Rucksack und nahm die Reisetasche in die Hand. Dann ging sie in Richtung Bahnhof, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie wusste, dass Jonas ihr hinterher sah. Erst, als sie schon ein gutes Stück entfernt war und andere Passagiere hupten, weil er die Ausfahrt blockierte, hörte sie, wie der Motor seines Passats aufröhrte und er sich entfernte.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Es war wie immer; ein Teil von ihr bedauerte die Trennung, der andere war froh über die wiedergewonnene Freiheit. Beide Gefühle wurden aber rasch von einem dritten verdrängt, als sie über den Parkplatz zum Bahnhofsvorplatz mit den Reisenden Riesen lief: das Kribbeln und die Vorfreude, die sie immer verspürte, wenn sie wieder hier war.

3.

Die Haustür öffnete sich im selben Moment, in dem das Taxi vor dem Grundstück im Lörki Wai in Braderup hielt. Kari bezahlte rasch und gab dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld. Der ließ es sich nicht nehmen, auszusteigen, um ihr die Gepäckstücke aus dem Kofferraum zu reichen. Kari bedankte sich und ging dann auf die alten Damen zu, die sich vor dem Eingang aufgereiht hatten und ihr mit leuchtenden Augen entgegensahen. Karis Mundwinkel hoben sich wie von selbst, und ihr wurde warm ums Herz. Die Mitglieder der Häkelmafia – von Kari wegen ihrer weitreichenden Kontakte auf der Insel so getauft – waren einfach die wunderbarsten Freundinnen, die man sich wünschen konnte.

Sie schüttelte Marijke, Grethe, Witta und Alma die Hände.

»Frau Blom!« Marijke wollte sie gar nicht wieder loslassen. »Wie schön, dass Sie wieder da sind.«

Die Frauen nahmen ihr das Gepäck ab und dirigierten sie durch den Flur ins Wohnzimmer. Kari blieb vor der geöffneten Terrassentür stehen.

»Oh«, sagte sie.

Sie war längst daran gewöhnt, dass die Häkeldamen jedes Jahr eine kleine Willkommensparty für sie ausrichteten, doch dieses Mal hatten sich die Frauen selbst übertroffen. Weil die Tage so heiß waren, dass selbst abends noch milde Temperaturen herrschten, hatten sie das Büfett auf der Terrasse von Marijke Meenkens hübschem Reetdachhaus aufgebaut. Von dort blickte man über eine gepflegte Rasenfläche auf Beete mit prachtvoll blühenden Magnolien und Rhododendren und durch eine schmale Lücke im Bewuchs auf ein kleines Stück vom Wattenmeer.

Dazu hatten die Frauen auf der Rasenfläche eine Reihe von Fackeln aufgestellt und bunte Lampions in den Obstbäumen aufgehängt. Wie immer hatten sie weitaus mehr Essen aufgefahren, als fünf Personen an einem Abend schaffen konnten. Allerdings bestand das kulinarische Angebot nicht wie sonst aus Räucherfisch und Buletten. Stattdessen gab es eine Auswahl leichter Tapas: Fleisch- und Garnelenspieße, kleine Kartoffeln und Tacos mit scharfen Dips, Brot mit spanischer Salami, Schafs- und Ziegenkäse und kleine Förmchen mit flambierter Karamellcreme. Auch auf den üblichen Prosecco hatten die Freundinnen verzichtet und schenkten stattdessen selbstgemachte Zitronenlimonade aus, mit einer angenehmen leichten Säure und wenig Zucker. Nachdem sie erfahren hatten, dass sich Kari nichts aus Alkohol machte, hatten sie sofort reagiert. Sie selbst schlossen sich dem Verzicht allerdings nicht an und peppten ihre Limonade mit Weizenkorn auf.

Kari probierte die angebotenen Spezialitäten und lobte die Auswahl. Während sie bei dem sonst üblichen Angebot immer ein wenig mit ihrem Widerwillen gegen schweres und fettiges Essen zu kämpfen hatte, entsprach dieses Büfett genau ihren Vorlieben. Sie erkundigte sich, was die Damen bewogen hatte, das Sortiment zu ändern.

»Ist es wegen des warmen Wetters? Oder wollten Sie einfach mal etwas anderes essen?«

Die vier Häkelfrauen strahlten sie an.

»Wir haben für den Herbst eine kleine Reise geplant«, verriet Marijke.

»Nach Lanzarote«, ergänzte Grethe.

»Diese langen und trüben Winter machen einen doch nur depressiv«, erklärte Alma. »Deshalb haben wir beschlossen, vorher ein wenig Sonne zu tanken.«

»Wow.« Kari war beeindruckt. Die Häkelfrauen waren alle Mitte achtzig. Sie fand es mutig, in diesem Alter eine so weite Flugreise zu unternehmen. Auf der anderen Seite: Warum nicht? Noch waren die Frauen gesund und rüstig. Wenn sie noch Träume hatten, sollten sie sich diese auch erfüllen.

Witta deutete auf das Büfett. »Und nun üben wir schon mal mit dem Essen. Die Spanier kennen ja kein ordentliches Brot, und sie bereiten ihre Gerichte ganz anders zu als wir. Darauf muss man sich einstellen.«

»Es schmeckt alles ganz ausgezeichnet«, lobte Kari.

»Hm«, brummte Grethe. »Da können wir uns die Reise eigentlich sparen. Die werden im Hotel kaum besser kochen als wir.«

»Aber wir fahren nicht wegen des Essens«, erinnerte Witta sie. »Sondern wegen des Wetters.«

»Ich habe nichts gegen Schnee und Eis«, sagte Grethe. »Besser als die heißen Tage, die wir im Moment haben. Außerdem wohnen wir schon auf einer der schönsten Inseln der Welt. Hier hat jede Jahreszeit ihren Reiz. Ich jedenfalls mag die winterliche Landschaft.«

»Dann bleib doch hier«, versetzte Witta.

Kari lachte. Es war alles wie immer. Sie konnte es sich gemütlich machen und wurde umsorgt, das Essen war lecker, und die Häkelfrauen kabbelten sich. Es lag ihr nicht besonders, sich zurückzulehnen und zu entspannen, doch hier bei den alten Damen gelang es ihr. Das freundschaftliche Gezanke vermittelte Lebendigkeit und Geborgenheit zugleich; Kari hätte es nicht missen wollen. Vermutlich war es auch einer der Gründe, weshalb die Häkelfrauen trotz ihres hohen Alters geistig wach und aufmerksam waren.

Während Grethe und Witta weiter diskutierten, ließ Kari ihren Blick durch die Lücke in der Hecke zum Wattenmeer schweifen, über das sich die Dämmerung senkte. Ein leichter Wind kam auf, und die drückende Hitze des Tages flaute ab. Es war wieder einer dieser Sommer, die zur Regel zu werden schienen; viel zu warm und viel zu trocken. Nun konnte sie zumindest ein wenig durchatmen. Sie nahm sich vor, am nächsten Morgen früh aufzustehen, um eine Runde am Meer zu laufen, ehe sich die Luft wieder aufheizte. Genüsslich trank sie noch einen Schluck von der fruchtigen Limonade.

Die Korbstühle mit den dicken Kissen waren so bequem, dass sie nach dem reichhaltigen Essen Mühe hatte, die Augen offen zu halten. Die alten Damen bemerkten das sofort, und Marijke ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Schließlich wollte die Häkelmafia mehr über Karis neue Mission erfahren.

»Wir haben uns heute schon umgesehen«, berichtete Marijke, als die Tassen auf dem Tisch standen. »Sehr eindrucksvoll, diese neue Wellness-Oase. Und der Besitzer und seine Verlobte machen einen sehr netten Eindruck. Aufgeschlossen und hilfsbereit. Kaum zu glauben, dass die nicht koscher sein sollen. Aber man kann den Leuten nicht hinter die Stirn sehen, nicht wahr?« Sie lächelte Kari warm an. »Dafür sind Sie ja da.«

Kari musste schlucken. Sie hatte damit gerechnet, dass die Häkeldamen darauf bestehen würden, sie bei ihren Ermittlungen zu unterstützen. Aber dass sie schon damit anfingen, ehe sie überhaupt eingetroffen war …

»Was genau haben Sie denn dort getan?«, erkundigte sie sich.

»Wir haben uns angemeldet«, verkündete Witta stolz. »Für einen Schnupperkurs zum Thema Achtsamkeit.«

»Aha.« Einerseits war Kari ärgerlich, dass die alten Damen einfach vorpreschten, obwohl sie doch wussten, dass ihre Arbeit kein Kinderspiel war. Andererseits fand sie die Vorstellung der Häkelfrauen in einem Achtsamkeitskurs erheiternd. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass die Freundinnen mit diesem Konzept etwas anfangen konnten.

»Wie sind Sie ausgerechnet auf einen Achtsamkeitskurs gekommen?«, erkundigte sie sich.

»Das war das einzig Erschwingliche«, erklärte Alma. »Die Preise in dieser Wellness-Oase sind …« Sie suchte nach einem passenden Ausdruck.

»Unverschämt«, vervollständigte Grethe.

Witta beugte sich vor. »Wir dachten, Ihr Chef beim LKA könnte vielleicht die Kosten …«

Marijke schüttelte den Kopf, und Witta verstummte.

Kari dachte nach. Es gefiel ihr nicht, dass die Häkelmafia an vorderster Front mitmischte, ehe sie selbst überhaupt einen Zugang zu der Einrichtung gefunden hatte. Andererseits konnten sie bei einem solchen Kurs nicht viel Schaden anrichten. Womöglich schnappten sie sogar etwas auf, das ihr weiterhalf.

»Also gut«, sagte sie. »Aber seien Sie um Gottes willen vorsichtig. Sie besuchen nur die Veranstaltung. Auf keinen Fall schnüffeln Sie in der Wellness-Oase herum oder verschaffen sich Zutritt zu Räumen, in denen Sie nichts verloren haben.«

»Natürlich nicht«, versicherte Marijke.

»Das überlassen wir Ihnen«, fügte Grethe hinzu.

Kari sah die alten Damen der Reihe nach an. Sie wirkten, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Doch Kari kannte sie zu gut, um das zu glauben.

***

Jonas Voss stellte den rostroten Passat vor dem Gartenzaun seines Hauses im Osterwai in Keitum ab. Er hatte den Moment des Nach-Hause-Kommens so lange wie möglich hinausgezögert. Mittlerweile war das Blau des Himmels tiefdunkel. Nur im Westen war noch ein heller Streifen über dem Land zu sehen.

Bevor er in den Wagen gestiegen war, hatte er noch einen Spaziergang gemacht. Von der Polizeistation im Kirchenweg aus war er durch die Fußgängerzone zum Strandübergang Friedrichstraße gelaufen. Von dort war er auf der Kurpromenade und dem Holzbohlenweg, der sich zwischen Strand und Dünen hindurch zog, nach Norden gegangen, bis zum Bistro S-Point-Sylt, wo der Weg endete. Dort hatte er sich auf die Terrasse gesetzt, ein Brot mit Rührei und Schinken gegessen und ein Bier getrunken. Anschließend war er an der Wasserkante entlang zurückgeschlendert. Er hatte die Schuhe ausgezogen, die Hosenbeine hochgekrempelt und die Hemdsärmel nach oben geschoben. Es war ein herrliches Gefühl, mit den Füßen durchs Wasser zu gehen und sich ein wenig abzukühlen. Den Tag über hatte er geschwitzt. Jetzt waren die Temperaturen endlich angenehm.

Natürlich hatte es nicht lange gedauert, bis die Wellen seine Hosenbeine bis zu den Knien durchnässt hatten, doch das störte ihn nicht. Solange er sich mit dem Auf und Ab der Nordsee beschäftigte, dachte er nicht über andere Dinge nach.

Nachdem er auch auf dem Weg nach Süden das Ende der Promenade erreicht hatte, kehrte er um.

In der Friedrichstraße waren die Außenplätze vor den Lokalen dicht besetzt. Jonas seufzte, als das Stimmengewirr und das Lachen der Gäste zu ihm herüberwehten. Dann beschleunigte er seine Schritte. Sein Traum, hier an einem lauen Juli-Abend wie diesem mit Kari zu sitzen und das Leben zu genießen, würde sich nicht erfüllen. Jedenfalls nicht, ehe sie in den Ruhestand ging, und das würde noch eine ganze Weile dauern. Schließlich hatte sie erst vor ein paar Wochen ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert.

Für den Weg von der Polizeistation nach Keitum brauchte er mit dem Wagen nur wenige Minuten.

Es widerstrebte ihm, das leere Haus zu betreten. Es waren Sommerferien, und die Kinder waren ohne ihn unterwegs. Finja, die jetzt schon siebzehn war, arbeitete die gesamten sechs Wochen ehrenamtlich in der NABU-Gruppe Flensburg in einem Artenschutzprojekt mit und wohnte dort bei einer Gastfamilie. Der vierzehnjährige Jasper war mit seiner Fußballmannschaft im Trainingslager im Nordsee-Internat St. Peter-Ording. Und sein Vater Redlef hatte seine Geschäfte für zwei Wochen an seine Angestellten übergeben und unternahm mit einer Bekannten eine Rundreise durch Schweden.

Jonas schloss die Haustür auf und trat in den dunklen Flur. Er war es nicht gewohnt, dass niemand da war. Normalerweise herrschte hier immer Leben. Als die Kinder noch kleiner waren, hatte es darüber hinaus im gesamten Haus ein kaum zu durchdringendes Chaos gegeben, weil er es einfach nicht schaffte, Beruf, Kindererziehung und Haushalt unter einen Hut zu bekommen, nachdem seine Exfrau Friederike ihn im Stich gelassen hatte. Die erfolgreiche Konzertpianistin hatte mit ihrem neuen Lebensgefährten und Manager eine zweite Familie gegründet. Um Jasper und Finja kümmerte sie sich nicht.

Mittlerweile war aus Finja eine junge Dame geworden. Sie lehnte es schon seit Jahren ab, von ihm wie ein Kind behandelt zu werden, doch nun hatte sie sich ganz abgenabelt. Sie wohnte zwar noch zu Hause, aber mit ihr kuscheln durfte er nicht mehr. Jasper dagegen ließ es sich immer noch gern gefallen, wenn er ihm den blonden Schopf verwuschelte, doch sein kleiner Junge war er nicht mehr. Im letzten Jahr hatte er einen Schuss gemacht und war jetzt fast so groß wie Jonas. Seine Stimme war um eine Oktave gesunken, und manchmal, wenn er sprach, dachte Jonas, dass ein Fremder im Haus sei. Die beiden waren glücklich, und Jonas freute sich daran, doch manchmal trauerte er ihrer Kindheit nach, die viel zu schnell an ihm vorbeigezogen war.

Er ging in die Küche, nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich auf die Terrasse. Der letzte Lichtstreifen am Horizont verblasste. Jonas zog sein Smartphone hervor und warf einen Blick auf das Display. Es war kurz nach zehn. Zu spät eigentlich, um jemanden anzurufen, aber er sehnte sich nach Gesellschaft, zumindest nach einem kurzen Austausch.

Hannah nahm das Gespräch schon nach dem zweiten Klingeln entgegen. Sie war mit ihrem iPhone fest verbunden.

»Jonas?«, fragte sie. »Ist irgendetwas passiert? Ein neuer Fall?«

»Nein. Nichts Dienstliches«, beruhigte Jonas seine Kollegin. »Ich sitze nur gerade allein auf der Terrasse. Es ist so ein herrlicher Abend. Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, noch auf einen Sprung vorbeizukommen.«

Vor ein paar Jahren hätte Hannah begeistert zugestimmt. Sie war in Jonas verliebt gewesen, doch inzwischen hatten sich die Dinge geändert.

»Das ist nett«, erwiderte sie. »Aber Maximilian und ich wollen gleich ins Bett. Wir haben gegrillt und viel zu viel gegessen, und jetzt sind wir so müde, dass wir kaum noch die Augen offen halten können.«

»Mhm.« Jonas verkniff sich den tiefen Seufzer, der ihm entweichen wollte.

Seit dem letzten Sommer hatte Hannah einen Freund, mit dem sie vor drei Monaten zusammengezogen war. Jonas gönnte Hannah ihr Glück, doch er bedauerte, dass sie dadurch nicht mehr so oft Zeit für ihn hatte. Innerlich schüttelte er den Kopf. Das hörte sich so missgünstig an, dass er es Hannah auf keinen Fall sagen durfte, dabei war es gar nicht so gemeint. Er freute sich, dass sie mit Maximilian glücklich war. Er vermisste nur ihre gemeinsamen Unternehmungen.

»Ich dachte, du bist in Kiel?«, erkundigte sich die Kollegin. »Wolltet ihr nicht gemeinsam ausspannen, Kari und du?«

»Kari hat einen neuen Fall«, berichtete er. »Auf Sylt.«

»Ach so.« Hannahs Stimme wurde mitfühlend. Sie wusste, wie sehr er darunter litt, dass Kari als Undercover-Ermittlerin arbeitete und immer wieder den Kontakt zu ihrem privaten Umfeld kappen musste, damit ihre Tarnung nicht aufflog. »Dann fühlst du dich einsam?«