Sylter Rivalen - Ben Kryst Tomasson - E-Book

Sylter Rivalen E-Book

Ben Kryst Tomasson

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Beschreibung

Ein dunkler Verdacht.

Sylt hat eine neue Attraktion: Eine Zirkusfamilie bietet von einem restaurierten Schiff aus eine Erlebnisfahrt an. Doch während die Touristen mit einem Speedboot über das Wasser jagen, leert jemand an Bord ihre Brieftaschen. Als einer der Gäste den Diebstahl bemerkt, fällt der Verdacht auf den jungen Jasper, der auf dem Schiff jobbt. Aber die Sache wird noch krimineller: Der Animateur, der eine Aussage zu den Diebstählen machen will, wird ermordet, und alle Spuren weisen auf Jasper. Kari Blom, Undercover-Ermittlerin auf Sylt, tritt in Aktion, denn Jasper ist ihr Stiefsohn ... 

Ein spannender Kriminalroman mit viel Sylt-Flair und einem besonderen Ermittlerteam.

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Über das Buch

Sylt hat eine neue Attraktion: Eine Zirkusfamilie bietet auf einem restaurierten Schiff eine Rundfahrt mit angeschlossener Erlebnisfahrt an. Doch während die Touristen in einem Speedboot über die Nordsee jagen, werden an Bord ihre Brieftaschen geleert. Als einer der Gäste den Diebstahl bemerkt, fällt der Verdacht auf Jasper Voss, der in den Sommerferien auf dem Schiff jobbt. Aber es kommt noch schlimmer: Der Animateur, der eine Aussage zu den Diebstählen machen will, wird ermordet, und alle Spuren weisen auf Jasper. Kari Blom, gerade mit der sechs Monate alten Lotta im Erziehungsurlaub, geht undercover und übernimmt den Animateursjob an Bord. Sie beißt jedoch auf Granit – bis ein weiterer Mord geschieht. Kari hat einen Verdacht und stellt den Tätern gemeinsam mit ihren Freundinnen, den älteren Damen von der Häkelmafia, eine Falle, die dann nicht nur sie, sondern sogar ihre kleine Tochter in höchste Gefahr bringt.

Über Ben Kryst Tomasson

Ben Kryst Tomasson, geboren 1969 in Bremerhaven, ist Germanist und promovierter Diplom-Psychologe. Seine Leidenschaft gehört den Geschichten, die das Leben schreibt, den vielschichtigen Innenwelten der Menschen und dem rauen Land zwischen Nordsee und Ostsee.

Im Aufbau Taschenbuch liegen ebenfalls seine Kriminalromane »Sylter Affären«, »Sylter Intrigen«, »Sylter Blut«, »Sylter Gift«, »Sylter Lügen«, »Sylter Schuld«, »Sylter Sünden« und »Sylter Gier« vor.

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Ben Kryst Tomasson

Sylter Rivalen

Kriminalroman

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Danksagung

Impressum

1. Jasper Voss lächelte. Mit einer Hand balancierte er das Getränketablett, mit der anderen hielt er sich am Handlauf der Schiffstreppe fest, die aufs Oberdeck führte. Über ihm spannte sich ein leuchtend blauer Himmel, an dem eine Reihe plüschiger weißer Wolken vorbeitrieb. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser, das vom Bug der Sea Shell zerschnitten wurde.

Es war der absolute Traumjob. Während seine Klassenkameraden in irgendwelchen Restaurantküchen schmutziges Geschirr abkratzten, im Supermarkt Regale einräumten oder bestenfalls in einem Lokal mit Meerblick servierten, war er selbst draußen auf der Nordsee.

Das Ausflugsschiff machte gute Fahrt, und die Gäste an Bord waren bester Laune. Sie hatten bereits die Seehundbänke passiert. Eine Weile waren sie dort herumgedümpelt, und die Touristen hatten Dutzende Fotos geschossen.

Nun ging es noch ein Stück weiter hinaus, und dann stand die Fahrt mit dem Schnellboot auf dem Programm. Anschließend bekamen die Passagiere ein Mittagessen. Alle das gleiche, was den Vorteil hatte, dass Jasper sich keine Bestellungen merken musste. Auch die Sache mit den Getränken war einfach. Es gab Cola, Wasser und alkoholfreies Bier, und Jasper trug einfach von allem ein paar Becher an Deck. Die Fahrgäste nahmen sich, was sie wollten.

Nach dem Essen war schließlich noch Gelegenheit zum Schwimmen und Schnorcheln, ehe es zurück in den Hafen nach List ging.

Knut, der Kapitän, drosselte das Tempo, und Jasper entdeckte, dass sie den Startpunkt der Schnellbootfahrt erreicht hatten. Rasch verteilte er die Getränke auf seinem Tablett an die Fahrgäste, die sich für die rasante Tour bereitmachten. Luca, der zweite Kellner, sammelte die leeren Becher ein.

Das gelbe Schnellboot dümpelte bereits an der Boje. Es war ein schlankes, offenes Hochleistungs-Jetboot. Vorne befand sich der Führerstand, der lediglich aus einem Pult mit Steuerrad und Gashebel bestand. Dahinter gab es zehn Reihen schwarzer Sitze mit hohen, stabilen Rückenlehnen aus gepolsterten Metallrohren, die an die Sitze einer Achterbahn erinnerten. Salvatore Brunelli, der Besitzer des Unternehmens, lehnte am Steuerrad.

Früher hatten die Brunellis einen Zirkus besessen, doch der hatte sich nicht mehr rentiert. Deshalb hatten sie das Geschäft verkauft und stattdessen das Bootsabenteuer aufgezogen. Es war schnell ein Geheimtipp geworden. Die Touren waren regelmäßig ausgebucht.

Hauke und Gianni, die beiden Matrosen, verteilten Schwimmwesten an die Fahrgäste, die einer nach dem anderen auf das Schnellboot hinüberkletterten. Salvatore wartete, bis alle angeschnallt waren, und prüfte persönlich den Sitz der Gurte. Jasper mochte ihn. Salvatore war ein kleiner, gedrungener Mann mit dunklen Augen und schwarzen Haaren, der fast immer ein Lächeln auf den Lippen hatte. Wenn er redete, sprach er mit Händen und Füßen. Typisch italienisch eben.

Der leistungsstarke Motor heulte auf, und das Schnellboot schoss mit einer mächtigen Bugwelle davon. Einige der Passagiere kreischten, weil sie nassgespritzt wurden oder weil das hohe Tempo sie erschreckte.

Das Team an Bord der Sea Shell musste sich jetzt sputen. Das Deck wurde geschrubbt, und in der Küche wurden die Vorbereitungen für das Mittagessen getroffen. Das Serviceteam bestückte die Bar, an der es hochprozentige Getränke gab, und Hauke und Gianni schleppten die Schnorchel-Ausrüstung an Deck, damit es später keine Verzögerungen gab. Die Touristen hatten zwar Urlaub, waren aber trotzdem oft ungeduldig. Das hatte Jasper bereits festgestellt.

Sie waren gerade mit allem fertig, als das Schnellboot zurückkehrte. Die Fahrgäste kletterten wieder an Bord der Sea Shell. Einige von ihnen waren grün im Gesicht, doch die meisten hatten rote Wangen und strahlten. Jasper war vor den Ferien einige Male auf dem Schnellboot mitgefahren und wusste, dass es wie ein Rausch war, mit dem rasanten Gefährt über die Wellen zu fegen. So ähnlich wie eine Fahrt mit der Wildwasserbahn, nur, dass es nicht nach zwei Minuten vorbei war, sondern eine halbe Stunde dauerte.

Die Passagiere legten ihre Schwimmwesten ab und kehrten zu ihren Sachen zurück. Ein Mann kramte in seinem Rucksack. Er hatte ein feistes Gesicht, spärliche Haare und einen Bierbauch. Bekleidet war er mit Bermudashorts, Hawaiihemd und grünen Plastikclogs. Jasper sah, wie der Mann die Stirn runzelte. Dann richtete er sich auf.

»Man hat mich bestohlen!«, rief er. »In meiner Brieftasche fehlen fünfzig Euro.«

Jasper sah sich alarmiert um. Rasch ließ er die vergangene halbe Stunde vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Hatte sich irgendjemand am Rucksack des Mannes zu schaffen gemacht? Jasper wusste es nicht.

Die Frau, die neben dem Mann stand, legte ihrem Begleiter die Hand auf den Arm. Sie war klein und dürr, hatte pechschwarz gefärbte Haare und trug ein grünes Leinenkleid und hochhackige Sandaletten. Der Mann und sie passten überhaupt nicht zusammen, waren aber offensichtlich ein Paar.

»Psst«, zischte sie. »Bist du sicher? Vielleicht erinnerst du dich bloß nicht, wo du das Geld ausgegeben hast.«

Das feiste Gesicht färbte sich puterrot. »Ich weiß sehr genau, wie viel Geld ich noch hatte. Und zwar fünfzig Euro mehr, als jetzt in der Brieftasche sind.«

Nun begannen auch einige andere Fahrgäste, in ihren Taschen zu wühlen.

»Bei mir fehlt auch Geld«, stellte eine Frau fest, und weitere Verlustmeldungen folgten. Jasper spürte, wie sich in seinem Magen ein Knoten bildete. Auf den Mienen seiner Kollegen sah er ängstliche Besorgnis.

Kapitän Knut Asmussen kam von der Brücke herunter, das wettergegerbte Gesicht ohne erkennbare Regung, der Blick gelassen. »Bitte, meine Herrschaften, beruhigen Sie sich! Das wird sich bestimmt klären.«

»Das wird es in der Tat«, verkündete der Mann mit den Bermudashorts. »Weil wir nämlich jetzt sofort zurück in den Hafen fahren und die Polizei verständigen. Und Sie sorgen dafür, dass niemand das Schiff verlässt, bis der Schuldige gefunden ist.«

Knut tauschte sich kurz mit Salvatore aus, der vom Schnellboot aus mit fragender Miene herübersah. Dann nickte er.

»Wir entschuldigen uns im Voraus für die Unannehmlichkeiten«, erklärte der Kapitän. »Sie bekommen die Hälfte des Fahrpreises erstattet, weil wir den Ausflug auf halber Strecke abbrechen.«

Damit ging er zurück auf die Brücke. Gleich darauf dröhnte der Dieselmotor, und das Ausflugsschiff fuhr zurück in Richtung List.

Jasper hatte ein mulmiges Gefühl. Wenn es stimmte, dass mehreren Fahrgästen Geld entwendet worden war, musste der Schuldige ein Crewmitglied sein. Oder nicht? Die Sea Shell war ein Familienunternehmen. Diebstähle an Bord würden den Ruf schädigen. Die Umsätze würden einbrechen, und der Dieb würde sich letztlich ins eigene Fleisch schneiden. Es sei denn, es handelte sich um einen der beiden Angestellten, die nicht zur Familie gehörten, Kapitän Knut oder den Matrosen Hauke. Aber die beiden waren bodenständige Männer, die ihren Beruf liebten.

Vielleicht war das Geld ja auch nicht während der Schnellbootfahrt gestohlen worden, sondern bereits vorher? Oder der Vorwurf stimmte überhaupt nicht. Womöglich behauptete der Mann nur, dass ihm Geld fehlte, und einige der anderen Fahrgäste waren auf den Zug aufgesprungen. Niemand konnte schließlich beweisen, wie viel Bargeld er in der Tasche gehabt hatte.

So oder so. Die Polizei würde die Wahrheit herausfinden.

Dieser Gedanke beruhigte Jasper, und er überlegte, wie er die freie Zeit nutzen könnte, nachdem die Bootstour deutlich früher als geplant enden würde. Er hatte am Abend eine Verabredung mit Lukas und Leonie, aber jetzt könnten sie sich schon am Nachmittag treffen und vielleicht noch gemeinsam zum Schwimmen an den Ellenbogen fahren. Es war ein heißer Tag. Die Sonne brannte vom Himmel, und das Thermometer hatte zu Mittag fast dreißig Grad angezeigt.

Jasper nahm sein Smartphone aus der Kiste hinter dem Tresen, in dem alle Angestellten ihre Geräte während der Fahrt deponierten, damit sie nicht abgelenkt wurden. Rasch tippte er eine Nachricht. Anschließend legte er das Handy zurück in die Box und lief los, um ein paar Getränke von der Bar zu besorgen. Ein kühles Bier würde sicher helfen, den aufgeregten Mann mit den Bermudas zu beruhigen.

2. Alma Grieger, die Bäckerwitwe mit den orangerot gefärbten Haaren, drehte am Justierrad ihres Opernglases. Witta Claaßen, die ehemalige Gattin eines Kampener Landarztes, zupfte ungeduldig an ihrer weißen Dauerwelle. »Nun sag schon! Was siehst du?«

Marijke Meenken tauschte einen verständnisinnigen Blick mit Grethe Aldag, der Klempnerwitwe mit den eisgrauen Haaren, die sich ungerührt ihrem Eisbecher widmete. Sie saßen auf einer der Restaurantterrassen gegenüber der alten Tonnenhalle in List, zwischen dem Erlebniszentrum Naturgewalten auf der einen und dem Anleger der Rømø-Fähre auf der anderen Seite. Alma hatte den Ausflug vorgeschlagen, weil ihr Lebensgefährte Albert arbeiten musste und sie gern wieder einmal aus Westerland hinaus wollte. Im Sommer war es dort überlaufen, überall waren Touristen. Das war natürlich in List nicht viel anders, aber ein wenig ruhiger war es hier doch, auch wenn der Umbau der alten Tonnenhalle vor einigen Jahren neues Publikum angelockt hatte. Früher hatten hier die Seezeichen gelagert – Fahrwassertonnen, mit denen die Schifffahrtswege gekennzeichnet waren, und andere Markierungen. Jetzt war die Halle eine Einkaufsmeile mit vielen kleinen Geschäften.

Auch die Restaurants auf der gegenüberliegenden Seite mit den großen Sonnenterrassen waren ein Publikumsmagnet und natürlich der Hafen mit seinen Ausflugsschiffen.

Genau dort spielte sich das Schauspiel ab, das Alma mit ihrem Opernglas verfolgte. Zuerst waren zwei Streifenwagen der Sylter Polizei vorgefahren, und die vier Beamten waren zum Anleger gelaufen. Kurz darauf war auch eines der zivilen Fahrzeuge des Polizeireviers Sylt eingetroffen. Marijke und ihre Freundinnen kannten die Wagen, schließlich hatten sie in den vergangenen Jahren oft genug mit der Sylter Polizei zu tun gehabt.

Die Frau, die den Wagen fuhr, war ihnen ebenfalls bestens bekannt. Kriminalkommissarin Hannah Behrends, eine dynamische junge Frau mit blondem Bob und hellblauer Windjacke. Die Kollegin auf der anderen Seite hatten sie dagegen noch nie gesehen. Groß, schlank, mit langen brünetten Haaren und ernster Miene. Sie trug ein Businesskostüm in Taubengrau, dazu elegante schwarze Pumps. Das musste die Frau sein, die Jonas Voss während seiner Elternzeit vertrat.

Die beiden Zivilbeamtinnen gesellten sich zu den uniformierten Kollegen und sahen gemeinsam mit ihnen dem Schiff entgegen, das gerade in den Hafen einlief. Es war die Sea Shell, das neue Ausflugsschiff der Zirkusfamilie Brunelli. Marijke und ihre Freundinnen hatten schon darüber nachgedacht, eine Tour zu buchen. Auf Teneriffa waren sie mit einem Katamaran mit einem ähnlichen Angebot mitgefahren. Allerdings hatten sie nur die Fahrt und das Essen genossen. Auf die Aktivitäten – schwimmen, schnorcheln, Jetski fahren – hatten sie verzichtet, obwohl Grethe eine Weile mit dem Jetski geliebäugelt hatte. Sie hatte sich schließlich dagegen entschieden, doch mit dem Speedboot, das zur Sylter Variante des Abenteuerausflugs gehörte, wollte sie unbedingt mitfahren. Dass sie bisher nicht dabei gewesen waren, lag daran, dass Witta wieder einmal zauderte. Vor allem, weil die Fahrt nicht ganz billig war, nahm Marijke an.

Die Sea Shell hatte angelegt, und die Polizisten waren an Bord gegangen. Verlassen hatte niemand das Schiff. Einer der uniformierten Beamten hielt an der Gangway Wache.

Doch jetzt kam offenbar Bewegung in die Sache. Der Beamte gab den Weg frei, und die Fahrgäste verließen das Schiff.

»Sie gehen von Bord«, berichtete Alma.

Witta atmete geräuschvoll aus. »Das sehe ich selbst. Auch ohne dein albernes Opernglas.«

Alma, die an Wittas Art gewöhnt war, ließ sich nicht beirren. »Jetzt kommen die Polizisten.« Sie rutschte aufgeregt auf ihrem Stuhl herum. »Ich glaube, sie haben jemanden festgenommen.«

»Aha.« Grethe schob sich den letzten Löffel Eis in den Mund.

Marijke sah, wie zwei uniformierte Polizisten an der Reling auftauchten, die einen jungen Mann eskortierten, einen Teenager offenbar. Der erste Polizist betrat die Gangway und bedeutete dem jungen Mann, ihm zu folgen. Der zweite Beamte ging hinter ihnen an Land. Als sie die Mole erreicht hatten, nahmen die Beamten den Teenager in die Mitte und führten ihn zum Streifenwagen. Mit hängendem Kopf rutschte er auf die Rückbank.

»Ach du liebe Güte!«, rief Alma aus.

»Was denn?« Witta sah aus, als würde sie Alma das Opernglas am liebsten aus der Hand reißen.

»Das ist Jasper.«

»Wer? Wo?« Witta blickte sich hektisch um.

»Der junge Mann, den sie gerade verhaftet haben.«

»Unsinn.« Witta schüttelte den Kopf. »Warum sollten sie den Sohn von Hauptkommissar Voss festnehmen? Deine Augen sind auch nicht mehr die besten. Gib mir mal das Glas!«

Alma ließ das Opernglas sinken, reichte es aber nicht Witta, sondern Marijke.

Marijke richtete das Glas auf den Streifenwagen und stellte fest, dass Alma recht hatte. »Er ist es wirklich.«

Alma schlug die Hände vor den Mund. »Was mag er nur angestellt haben?«

Grethe legte energisch ihren Eislöffel beiseite. »Das werden wir gleich wissen.«

Marijke schwenkte das Opernglas und sah, wie Hannah Behrends und die Frau im Businesskostüm das Schiff verließen.

Die Bedienung trat an ihren Tisch, eine blasse junge Frau mit weißer Bluse und schwarzer Schürze. »Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Nein. Hier ist überhaupt nichts in Ordnung«, schnauzte Grethe.

Marijke gab Alma das Opernglas zurück. »Das war nicht auf Sie gemünzt«, sagte sie, an die Kellnerin gewandt. »Es war alles bestens, aber jetzt würden wir gerne zahlen.«

»Zusammen?«

»Nein«, setzte Witta an, doch Marijke ging dazwischen. »Ja. Ich zahle.« Für ein langwieriges Auseinanderrechnen der einzelnen Posten war nun wirklich keine Zeit. Marijke gab der Bedienung ein großzügiges Trinkgeld. Dann eilten sie alle vier zum Anleger, so schnell sie konnten.

Marijkes Hüfte schmerzte immer noch, trotz der wochenlangen Reha, die sie nach dem Unfall im Herbst absolviert hatte, aber sie biss die Zähne zusammen. Grethe war schneller wieder auf den Beinen gewesen und marschierte wie immer energisch vorneweg, dicht gefolgt von Alma. Witta, die nach wie vor nicht auf ihre hübschen hochhackigen Schuhe verzichten mochte, bildete das Schlusslicht.

Marijke schüttelte innerlich den Kopf. Wann würde ihre Freundin endlich akzeptieren, dass man irgendwann in das Alter kam, in dem Trittsicherheit wichtiger war als modische Überlegungen? Ein Alter, in dem sie sich, wenn man ehrlich war, schon seit etlichen Jahren befanden.

Grethe erreichte Hannah und die Frau im Businesskostüm, als sie gerade in das Zivilfahrzeug steigen wollten. »Hallo! Frau Behrends!«

Hannah hielt inne und drehte sich um. »Ach, Frau Aldag.« Sie entdeckte die anderen drei und lächelte. »Was machen Sie denn hier?«

»Wir haben einen kleinen Ausflug unternommen«, erklärte Marijke, die jetzt auch beim Wagen angekommen war. »Einen Eisbecher auf der Sonnenterrasse, die Leute und die Schiffe beobachten, und dann wollten wir noch ins Wattforum gehen.«

Die Frau im Businesskostüm trat neben Hannah. »Dann lassen Sie sich nicht aufhalten«, sagte sie.

Grethe wies auf den Streifenwagen, der gerade vom Platz fuhr. »Wir haben gesehen, dass Sie Jasper Voss festgenommen haben.«

Hannah nickte betrübt, kam aber nicht dazu, etwas zu sagen, weil ihr die Kollegin in die Parade fuhr. »Darüber können wir keine Auskunft geben. Das ist eine Polizeiangelegenheit.«

Witta streckte sich und rückte ihre Marlene-Dietrich-Frisur zurecht. »Junge Frau«, näselte sie. »Wir sind mit dem Vater des Jungen gut bekannt und mit der Arbeit der Sylter Polizei bestens vertraut.«

Der Blick der Beamtin stand dem von Witta in puncto Hochnäsigkeit nichts nach. »Schön für Sie. Aber wir dürfen Ihnen trotzdem nichts sagen. Wenn Sie den Vater so gut kennen, fragen Sie ihn. Wir informieren ihn umgehend.«

»Besten Dank.« In Wittas Stimme klirrten die Eiswürfel. »Das werden wir tun.«

Sie wandte sich ab und stöckelte davon. Fehlte nur noch der Schal, den sie sich mit großer Geste über die Schulter warf. Aber Witta war schon immer eine Diva gewesen, selbst in der Grundschule, als Marijke sie kennengelernt hatte.

Hannah warf ihr einen bedauernden Blick zu und hob die Schultern. Was wohl bedeuten sollte, dass sie ihnen gerne eine Erklärung gegeben hätte, es aber in Anwesenheit der überkorrekten Kollegin nicht konnte.

Die beiden Beamtinnen stiegen in den Wagen und fuhren davon. Grethe sah zum Ausflugsschiff hinüber.

»Wir sollten herausfinden, was passiert ist«, schlug sie vor. »Irgendeine Straftat muss dort ja begangen worden sein, und die Polizei hat mit Jasper mit Sicherheit den Falschen.«

Witta, die zu ihnen zurückgekehrt war, nickte energisch. »Du hast vollkommen recht. Wir finden den wahren Täter, und damit ist Jasper entlastet.«

Grethe sah sie verwundert an. Es kam selten vor, dass Witta ihr zustimmte. Normalerweise lagen sie in ständigem Zank. Aber Grethe beschwerte sich nicht.

»Also los«, sagte sie, und die vier Frauen gingen gemeinsam zum Schiff.

3. Karolina Dahl legte den Kopf an die Schulter ihres Mannes und seufzte leise. Sie saßen auf einer Bank an der Kieler Förde, auf halber Strecke zwischen Strande und dem Bülker Leuchtturm. Jonas hatte den Arm um sie gelegt, während er mit der anderen Hand den Kinderwagen schaukelte. Der Himmel war von diesem typischen hellen, fast durchsichtigen Blau, das es nur hier gab. Vor ihnen lief die türkisblaue Ostsee in kleinen Wellen auf den steinigen Strand.

Es war alles so viel einfacher, als sie gedacht hatte. In den Wochen vor der Geburt war sie fast panisch gewesen, doch als man ihr dann im Krankenhaus ihre neugeborene Tochter in die Arme gelegt hatte, waren alle Sorgen von ihr abgefallen.

Lotta.

Es war, als hätte dieses winzige Wesen einen Schalter in Karis Kopf umgelegt. Ihre Angst vor Nähe, ihr Bedürfnis nach Kontrolle, ihre Schwierigkeiten, Gefühle zu zeigen – das alles war wie von Zauberhand verschwunden. Ihre kleine Tochter hatte einen neuen Menschen aus ihr gemacht.

Für das erste Jahr hatten Jonas und sie Elternzeit genommen, um sich gemeinsam um Lotta zu kümmern. Kari genoss diese Zeit. Jonas war ein wunderbarer Vater, ruhig, aufmerksam und fürsorglich. Er hatte ja auch Erfahrung, schließlich hatte er mit Finja und Jasper bereits zwei Kinder großgezogen. Und Lotta machte es ihnen nicht schwer. Sie schlief viel, und wenn sie wach war, lächelte sie. Alle bestätigten, dass sie selten ein so sonniges und pflegeleichtes Kind erlebt hatten.

Kari hob den Kopf und sah Jonas an. »So viel Glück – womit haben wir das verdient?«

Jonas fuhr sich durch die braunen Locken und betrachtete liebevoll den Kinderwagen. »Es ist einfach ein Geschenk. Wir müssen es schätzen und hüten.«

Kari nickte. »Das tun wir.« Sie wollte Jonas einen Kuss geben, doch das Klingeln seines Mobiltelefons unterbrach sie.

Jonas musste eine Weile in der großen Tasche am Handgriff des Kinderwagens suchen, ehe er das Handy gefunden hatte, aber der Anrufer bewies Ausdauer. Jonas warf einen Blick auf das Display und schmunzelte. Rasch nahm er das Gespräch an.

»Hallo, Hannah. Schön, dass du dich meldest. Wir sitzen gerade mit Lotta an der Ostsee.«

Kari hörte die Stimme von Jonas’ Sylter Kollegin aus dem Lautsprecher, konnte aber nicht verstehen, was sie sagte. Etwas Angenehmes schien es jedenfalls nicht zu sein. Jonas’ Miene verdüsterte sich, und seine Lippen wurden schmal.

»Das kann nicht sein«, sagte er.

Wieder war Hannahs Stimme zu hören.

»Ja, natürlich. Ich komme«, erklärte Jonas. »Danke, dass du mir gleich Bescheid gegeben hast.«

Er drückte das Gespräch weg, steckte das Handy aber nicht zurück in die Tasche, sondern starrte darauf, als wäre es eine Zeitmaschine, bei der man nur den richtigen Knopf drücken musste, um das, was gerade geschehen war, rückgängig zu machen.

Kari berührte ihn sanft an der Schulter. Zugleich musste sie sich anstrengen, den aufwallenden Ärger zurückzudrängen. Sie hatten beschlossen, ihre Elternzeit nicht mit Teilzeitarbeit zu zerstückeln. Ihr selbst war das äußerst schwergefallen, aber schließlich hatte sie entschieden, ebenfalls zu pausieren. Ein ganzes Jahr lang würde sie nicht in die Rolle ihrer Undercover-Identität Kari Blom schlüpfen. Ihr Chef Ole Lund, der zugleich ihr bester Freund war, hatte ihren Entschluss nicht kommentiert, aber in seinen Augen hatte sie die Zweifel gesehen, ob sie so lange durchhalten würde. Jonas dagegen hatte behauptet, es würde ihm nichts ausmachen, ein Jahr lang nicht zu arbeiten. Doch anscheinend hatte ihn sein Job soeben eingeholt.

Kam Hannah nicht allein zurecht? Hatte Jonas irgendein unentwirrbares Chaos hinterlassen? Oder gab es ein Problem mit Jonas’ Vertretung für die Elternzeit?

»Was ist denn los?«

Jonas ließ endlich das Smartphone sinken. »Sie haben Jasper verhaftet.«

Karis Ärger verpuffte mit einem Schlag. »Wie bitte? Warum das denn?«

»Er soll Geld gestohlen haben. Auf dem Ausflugsschiff, auf dem er während der Sommerferien jobbt. Einigen Fahrgästen fehlt Geld in den Brieftaschen. Und die passenden Scheine haben die Kollegen von der Schutzpolizei in Jaspers Rucksack gefunden.«

»Dann hat ihm jemand das Geld untergeschoben.« Kari kannte niemanden, der moralisch so integer war wie Jonas’ Sohn Jasper.

»Das sagt Jasper auch, und Hannah glaubt ihm selbstverständlich. Aber die Neue nicht. Sie meint, das wäre typisch für Jungs in der Pubertät. Und wo Jasper jetzt allein bei meinem Vater wohnt, während ich in Elternzeit bin …«

Kari tippte sich an die Stirn. »Redlef ist ja wohl kaum ein schlechtes Vorbild für Jasper.« Jonas’ Vater betrieb eine gutgehende Fischhandlung auf Sylt und war ein ebenso aufrechter und geradliniger Mann wie Jonas und sein Sohn. »Und nur, weil Jasper sechzehn ist, ist er nicht automatisch ein Verbrecher. Was denkt sich die Frau denn?«

Jonas hob die Schultern. »Keine Ahnung. Sie ist wohl sehr korrekt.« Er schaute bedauernd auf den Kinderwagen. »Jedenfalls muss ich nach Sylt und mich um Jasper kümmern.«

»Natürlich.« Kari löste sich von ihm und stand auf. »Das ist doch keine Frage. Lotta und ich kommen auch allein zurecht.«

Jonas erhob sich ebenfalls. »Davon gehe ich aus.« Er beugte sich über den Kinderwagen und strich seiner Tochter eine blonde Locke aus der Stirn. »So eine süße Maus.«

4. Jonas Voss trat das Gaspedal noch ein Stück weiter durch. Auf der Autobahn in Richtung Rendsburg waren nur hundertzwanzig Stundenkilometer erlaubt, aber seine innere Unruhe war so groß, dass sein Fuß ein Eigenleben führte. Es gelang Jonas einfach nicht, lockerzulassen. Immer wieder zwang er sich, den Fuß ein Stück zurückzuziehen, doch der Druck auf das Pedal verstärkte sich ganz von selbst wieder. Nun, dann würde er im Zweifelsfall eben ein Knöllchen kassieren. Im Augenblick hatte er weiß Gott andere Probleme.

Was, wenn es stimmte? Wenn Jasper tatsächlich in die Taschen der Fahrgäste gegriffen hatte? Nicht, weil er das Geld brauchte, sondern weil er auf sich aufmerksam machen wollte? Sein Sohn war erst sechzehn, und Jonas hatte ihn einfach bei seinem Großvater zurückgelassen, um sich um das neue Kind zu kümmern.

Fühlte Jasper sich zurückgesetzt? Er war ein unkompliziertes Kind gewesen, fröhlich und mit einem sonnigen Gemüt. Jonas’ Sorge hatte seiner älteren Schwester Finja gegolten, die schon immer viel zu ernst für ihr Alter gewesen war. Hatte er Jasper vernachlässigt und ihm das Gefühl gegeben, dass er nicht wichtig war? Beging sein Sohn deshalb Straftaten, um endlich einmal die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Vaters zu bekommen?

Dummes Zeug.

Jonas wechselte am Rendsburger Kreuz auf die A7 in Richtung Flensburg und überquerte gleich darauf den Nord-Ostsee-Kanal. Der Blick über die weite Landschaft und das Wasser beruhigte ihn.

Sie hatten den Plan, das erste Jahr in Kiel zu verbringen, mit Jasper besprochen, und er selbst hatte die Entscheidung getroffen, auf Sylt zu bleiben. Bei seinem Opa Redlef, in seiner gewohnten Umgebung, bei seinen Freunden. Eigentlich hatten sie gehofft, dass Finja, die mit ihrem Zimmer im Studentenwohnheim nicht glücklich war, für eine Weile wieder auf Sylt wohnen würde, so dass Jasper einen Teil der Zeit mit ihr verbringen könnte. Doch Finja war zu Beginn des Jahres mit zwei Kommilitoninnen in eine WG gezogen. Eine günstige Gelegenheit, die sie sich nicht entgehen lassen wollte, und Jonas war es recht gewesen. Finja hatte immer Wert auf Eigenständigkeit gelegt, und er wollte ihr nicht im Weg stehen.

Für Jasper hieß das allerdings, dass er nicht im Haus bleiben konnte. Damit es nicht leer stand, hatte Jonas es spontan für die Elternzeit an die Kollegin vermietet, die ihn im Polizeirevier Sylt vertrat. Eine praktische Lösung für beide Seiten, und Jasper konnte bei Jonas’ Vater wohnen, der genügend Platz hatte. Es war ein Arrangement auf Probe, und wenn es Jasper nicht mehr gefiel, könnte er einfach nach Kiel kommen. Karis Wohnung war zwar eigentlich zu klein für drei Erwachsene und einen Säugling, aber sie würden schon eine Lösung finden.

Doch Jasper hatte nichts gesagt. Im Gegenteil. Bei ihrem letzten Telefonat, das erst drei Tage zurücklag, hatte er begeistert von seinem Ferienjob erzählt. Da war er gerade zum ersten Mal mit dem Ausflugsschiff hinausgefahren und freute sich darauf, das in den nächsten sechs Wochen täglich tun zu können.

Also ging es vielleicht gar nicht um Kari und Jonas, sondern um Leonie? Jonas hatte lange geglaubt, dass sich zwischen ihr und Jasper etwas anbahnte, doch vor einigen Wochen hatte Jasper erzählt, dass Leonie jetzt mit Lukas zusammen war, Jaspers bestem Freund. Hatte ihn diese Zurückweisung gekränkt? Fühlte er sich von den beiden verraten? Und hatte sich sein Zorn nun ein Ventil gesucht?

Nein. Jasper war ein ehrlicher Junge. Mit seinem moralischen Kompass war alles in Ordnung. Er würde sich nicht an fremdem Eigentum vergreifen. Oder?

Jonas fuhr sich mit der Hand durch die widerspenstigen Locken. Immer noch voll und ohne eine Spur von Grau, als würde er überhaupt nicht altern. Aber im Inneren fühlte er sich gerade uralt. Eine Müdigkeit, die er überhaupt nicht von sich kannte, überspülte ihn.

Warum war der Weg nach Sylt so weit?

Tatsächlich war er das gar nicht, aber im Augenblick war ihm jede Minute zu viel. Er atmete erleichtert auf, als er bei Flensburg-Handewitt auf die B199 abbog und fluchte gleich darauf, weil ein Laster vor ihm her kroch. Auf der Strecke gab es kaum Möglichkeiten zu überholen, und wenn er einen Unfall baute, war Jasper auch nicht geholfen. Also fügte sich Jonas in sein Schicksal. Er fuhr das Seitenfenster komplett herunter, schaltete das Autoradio ein und schob eine Scheibe in den CD-Player. Eine Heavy-Metal-Band, die Kari schrecklich fand, aber Jonas half die Musik, den Kopf frei zu bekommen. Er legte den Unterarm auf den Fensterholm und steuerte mit einer Hand.

Die Landschaft veränderte sich, wurde weiter und rauer. Man spürte, dass man sich der Nordsee näherte.

Der Laster bog in Leck ab, und Jonas beschleunigte wieder, hielt sich jetzt aber an die Geschwindigkeitsbegrenzung.

Es würde sich alles aufklären. Jasper war kein Dieb. Und was er jetzt brauchte, war ein Vater, der an ihn glaubte, nicht einen, der an ihm zweifelte.

Der nächste Sylt Shuttle stand schon bereit, und Jonas bekam einen Platz auf dem Oberdeck. Nur ein paar Minuten später setzte sich der Zug in Bewegung.

Jonas stellte die Rückenlehne noch ein Stück weiter nach hinten.

Sie fuhren an den saftigen Wiesen mit den vielen Schafen vorbei, und dann kam das Wattenmeer in Sicht. Dahinter sah er schon die Silhouette seiner Insel.

Erst jetzt merkte er, wie sehr ihm Sylt gefehlt hatte. Natürlich gab es auch in Kiel das Meer und die Möwen, doch dort war alles lieblicher. Die Nordsee war rau und oft grau, aber die salzige Luft und die Weite vermittelten ein unvergleichliches Gefühl von Freiheit.

Eine Freiheit, zu der er seinem Sohn jetzt auch verhelfen würde.

...

Hannah Behrends trat aus dem Hinterausgang des Polizeireviers, das sich zurzeit in einem Interimscontainerbau in der Stephanstraße befand. Schwungvoll warf sie die Tür ins Schloss. Es schepperte, und zwei uniformierte Polizisten, die gerade auf dem Parkplatz aus ihrem Streifenwagen stiegen, schauten verwundert zu ihr herüber.

»Der Wind«, rief Hannah ihnen zu und lachte. Gezwungen und unecht, doch die Kollegen schienen es nicht zu bemerken. Sie wiesen auch nicht darauf hin, dass an diesem heißen Tag kaum eine Brise ging.

Hannah schnaufte. Es war überhaupt nicht ihre Art, derart aus der Haut zu fahren, aber die neue Kollegin machte sie zornig. Diese Borniertheit!

Wie eine Polizeischülerin im ersten Ausbildungsjahr hatte sie Hannah darüber belehrt, dass man in einem solchen Fall keine Ausnahme machen dürfe. Der Sohn von Jonas Voss war genauso zu behandeln wie jeder andere Verdächtige. Es gab ein Delikt, und es gab handfeste Beweise gegen ihn, also war er festzunehmen und zu befragen. Und wenn er die Tat leugnete, musste man zunächst einmal davon ausgehen, dass er log. Schließlich hatten sie das Geld bei ihm gefunden.

Das mochte ja in dem sozialen Brennpunktviertel, in dem Linda Niehaus in Flensburg gearbeitet hatte, so sein. Doch hier ging es nicht um irgendeinen Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen, den Armut und Perspektivlosigkeit zu einer Straftat getrieben hatten. Sie sprachen über Jasper, den Hannah kannte, seit er ein kleiner Junge war. Diese freundlichen blauen Augen konnten nicht lügen.

Jasper hatte beteuert, dass ihm jemand das Geld untergeschoben hatte, und Hannah glaubte ihm. Doch statt sich mit den anderen Besatzungsmitgliedern zu beschäftigen, nahm Linda den Jungen ein ums andere Mal in die Mangel. War sie wirklich so verbohrt, oder ging es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes? Witterte Linda ihre Chance, nach der Elternzeitvertretung Jonas’ Job zu übernehmen? Einen attraktiven Arbeitsplatz auf Sylt statt des ungeliebten Reviers im Brennpunktviertel? Jonas hatte zwar Anspruch auf einen gleichwertigen Posten, aber nicht darauf, an seine alte Arbeitsstelle zurückzukommen. Gewöhnlich wurde das trotzdem so gehandhabt, aber wenn sich in der Zwischenzeit etwas ereignete, dass Jonas’ guten Ruf ruinierte, könnte die Sache anders aussehen.

Hannah schüttelte den Kopf. Es war nicht nett, was sie der Kollegin unterstellte. Bisher hatte sie Linda Niehaus nicht anders als engagiert und korrekt erlebt. Sie war nur eben nicht Jonas. Hannah vermisste ihren Kollegen schmerzlich. Das Vertrauen, die guten Gespräche und den Kaffee auf ihrer Bank auf der Kurpromenade. Manchmal hatte sie auch das Gefühl, dass Linda sie ein wenig von oben herab ansah. Aber das konnte ebenso gut daran liegen, dass Hannah sich neben dieser perfekt gestylten Frau so unvollkommen fühlte. Und das alles bedeutete nicht, dass Linda etwas Übles im Schilde führte. Dass sie sich derart auf Jasper eingeschossen hatte, könnte auch andere Gründe haben.

Hannah holte noch einmal tief Luft und ging dann zurück ins Polizeigebäude. Was auch immer Lindas Motive waren – Hannah hoffte, dass Jonas bald kam und der Sache ein Ende bereitete.

...

Grethe Aldag marschierte entschlossen vorneweg. Die anderen drei folgten der Klempnerwitwe mit den eisgrauen Haaren wie Entenküken der Mutter. Grethe ging auf die Gangway zu, doch ehe sie einen Fuß darauf setzen konnte, tauchte am anderen Ende ein Mann auf. Ein knorriger Typ mit kurzen blonden Haaren und unrasiertem Kinn, bekleidet mit Jeans, Turnschuhen und einem weiß-blau geringelten T-Shirt. Auf dem Kopf trug er eine Matrosenmütze.

»Stopp.« Er verschränkte die Arme und baute sich breitbeinig auf der Gangway auf. »Zutritt verboten.«

»Ach.« Marijke schob sich nach vorn. »Das ist aber schade.« Sie lächelte. »Wir denken nämlich darüber nach, eine Tour bei Ihnen zu buchen.«

»Fahrkarten gibt es da drüben im Häuschen.« Der Matrose deutete zu den Holzbuden, in denen die Reedereien ihre Tickets anboten. »Die nächste Fahrt startet morgen früh um elf.«

»Das haben wir gesehen, danke.« Marijke behielt ihren freundlichen Tonfall bei. Sollte der Mann sie ruhig unterschätzen. Das käme ihrem Vorhaben nur zugute. »Aber wir würden uns vorher gern das Schiff ansehen. Um herauszufinden, ob das etwas für uns ist.«

Der Matrose verzog keine Miene. »Was genau wollen Sie sich da anschauen?«

»Die Treppen. Und die sanitären Einrichtungen. Ob es genügend Haltemöglichkeiten gibt. Wir sind nicht mehr die Jüngsten, das sehen Sie ja. Wir müssen öfter mal zur Toilette. Und wenn wir uns dann nicht hinunter trauen, weil das Schiff schwankt, passiert womöglich ein Malheur.«

Der Matrose hob die Augenbrauen. »Wenn Sie so wackelig auf den Beinen sind, sollten Sie besser an Land bleiben.«

»Hauke!« Neben dem Matrosen erschien ein weiterer Mann. Ebenfalls in Jeans und Turnschuhen, aber ein völlig anderer Typ. Klein und gedrungen, mit krausen schwarzen Haaren und dunklen Augen. Sein T-Shirt war weiß, genau wie die Zähne, die er mit einem breiten Lächeln entblößte. »Sei doch nicht so unhöflich.« Er schob den Matrosen mit einer lässigen Handbewegung beiseite, obwohl dieser mindestens einen Kopf größer und etliche Kilo schwerer war. »Bitte. Kommen Sie an Bord.« Er streckte Marijke die Hand entgegen.

Marijke ließ sich nicht lange bitten, und die anderen drei folgten ihr.

»Salvatore Brunelli«, stellte sich der Dunkelhaarige vor. »Meiner Familie gehört dieses Unternehmen.«

»Sie hatten früher einen Zirkus, richtig?« Almas Wangen hatten einen rosafarbenen Hauch bekommen. »Zirkus Brunelli. Sie haben gelegentlich auf Sylt gastiert. Da haben wir Sie gesehen. Der Fritz, mein verstorbener Mann, und ich. Das waren doch Sie, mit dieser unglaublichen Nummer auf dem Drahtseil?«

Brunelli strahlte. »Ja. Das war ich.« Er tätschelte seinen rundlichen Bauch. »Aber das ist lange her. Zuletzt war ich nur noch der Showmaster.«

Witta musterte ihn. »Das kommt davon, wenn man sich gehen lässt.«

Brunelli lachte. »Nein. Das ist einfach eine Frage des Alters. Mit achtundvierzig turnt man nicht mehr auf dem Drahtseil herum.« Er winkte den Frauen. »Kommen Sie! Ich zeige Ihnen das Schiff und stelle Ihnen meine Familie vor.«

Der Matrose sah ihnen verdrießlich hinterher, sagte aber nichts.

Brunelli führte sie über den Niedergang in den Innenbereich des Schiffs. Ihre Freundinnen, die nicht mit einem Kapitän verheiratet gewesen waren wie Marijke, würden vermutlich einfach von einer Treppe sprechen. Rechts und links gab es Handläufe aus dunklem Holz, die solide verschraubt waren.

»Sehen Sie?« Brunelli wies auf zwei Türen am Ende des Niedergangs. »Hier sind unsere Toiletten. Die Handläufe gehen bis zu den Türen, und im Inneren sind ebenfalls Handläufe und Griffe.« Er riss eine der Türen auf, und sie blickten in einen Waschraum, der für ein Schiff ausgesprochen geräumig und luxuriös eingerichtet war. »Da können Sie sogar bei Sturm unbesorgt die Waschräume aufsuchen. Und wenn es gar nicht anders geht, hilft Ihnen jemand von uns. Meine Söhne sind auch Akrobaten und sehr sicher auf den Beinen.« Er pfiff durch die Zähne. »Luca. Gianni. Kommt ihr mal kurz?«

Aus dem Raum hinter der Bar tauchten zwei junge Männer auf, beide blond, der eine athletisch, der andere ein wenig rundlich. Brunelli schob sie zu Marijke und ihren Freundinnen und postierte sich zwischen ihnen, die Arme um die Schultern der beiden Männer gelegt.

»Das sind sie«, sagte er stolz. »Gianni«, er neigte den Kopf zu dem wohlgenährten Mann, der sein beginnendes Doppelkinn unter einem kurzen Vollbart versteckte, »und Luca.« Sein Kopf wanderte zur anderen Seite, zu dem jungen Mann, der Marijke mit seinem verwegenen Blick und der gewagten Tolle ein wenig an James Dean erinnerte.

»Hallo.« Die beiden sahen etwas ratlos zwischen ihrem Vater und Marijke und ihren Freundinnen hin und her.

»Die Damen möchten wissen, ob sie hier an Bord auch bei Sturm sicher sind. Und ob ihnen jemand hilft, wenn sie bei rauer See ein dringendes Bedürfnis erledigen müssen.«

»Klar.« Luca lächelte breit, und sein Bruder nickte. »Stets zu Diensten.«

»Das sind meine Jungs.« Brunelli klopfte beiden auf den Rücken, und sie verschwanden nach oben an Deck.

Der Schiffseigner führte Marijke und die anderen zur Bar, wo eine Frau mit langen blonden Haaren die Flaschen in den Regalen sortierte. Sie trug ein grünes Kleid. Als sie sich umdrehte, stellte Marijke fest, dass ihre Augen exakt denselben Farbton hatten.

»Das ist meine Schwester Aurora«, sagte Brunelli, und Alma klatschte entzückt in die Hände.

»Sie waren die Pferdenummer!«, rief sie aus. »Das war so phantastisch! Wie Sie einfach so auf dem Rücken dieses herrlichen Schimmels standen, und dann noch diese Akrobatik.«

Aurora seufzte tief. »Ja. Das waren schöne Zeiten. Aber leider hat mein Bruder beschlossen, den Zirkus und die Pferde zu verkaufen.«

Brunelli küsste sie auf die Wange. »Du weißt, dass wir keine Wahl hatten.« Er wandte sich an Marijke und ihre Freundinnen. »Der Zirkus hat sich einfach nicht mehr getragen.«

»Und dieses Ausflugsschiff trägt sich?«, erkundigte sich Grethe.

»Wir mussten natürlich investieren. Aber das Angebot wird gut angenommen, und ich denke, im nächsten Sommer schreiben wir schwarze Zahlen.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, unkte Aurora.

Brunelli lachte. »Meine Schwester sieht immer schwarz.«

»Das tue ich nicht. Ich bin nur realistisch.«

Brunelli schob Marijke weiter zur Küchentür. In der winzig kleinen Kombüse waren zwei Frauen bei der Arbeit, die eine um die vierzig, mit langen dunklen Haaren, die andere knapp zwanzig, mit blonden Haaren und einer nicht zu übersehenden Ähnlichkeit mit Brunellis Schwester Aurora.

»Meine Nichte Camilla«, stellte Brunelli das Mädchen wenig überraschend vor. »Und die Dame meines Herzens. Cecilia.« Er ging zu der Frau am Herd, legte ihr die Hände auf die Taille und küsste sie in den Nacken.

Cecilia drehte sich zu ihm um. »Und mit wem haben wir die Ehre?«

»Marijke Meenken«, stellte Marijke sich vor. »Das sind meine Freundinnen. Alma Grieger, Grethe Aldag und Witta Claaßen.«

»Mein Mann war früher Landarzt in Kampen«, ergänzte Witta.

»Wie schön.« Cecilias Lächeln war herzlich. »Was können wir für Sie tun?«

»Die Damen wollten sehen, ob eine Fahrt mit unserem Schiff etwas für sie wäre.«

Cecilia blinzelte. »Wenn Sie Burger mögen? Sie dürfen gerne probieren.«

Witta krauste die Stirn. »Burger? Ich hätte eher etwas Mediterranes erwartet.«

»Burger sind praktisch«, erklärte Cecilia. »Man braucht nur einen Teller, Messer und Gabel. Wir haben uns gegen eine größere Auswahl entschieden. Das macht zu viel Arbeit während einer solchen Schifffahrt. Und in erster Linie geht es ja um das Naturerlebnis und natürlich um die Fahrt mit dem Speedboot.«

»Also, ich mag Burger«, warf Grethe ein.

»Sicher. Du bist ja auch nichts Besseres gewöhnt«, versetzte Witta.

»Ich esse auch gerne Burger«, stellte Alma klar. »Darf ich fragen, was für Brötchen Sie verwenden? Sie müssen wissen, mein Mann und ich hatten früher eine Bäckerei in Westerland.«

»Das sind Dinkelbrötchen. Bio.«

»Mhm.« Auch Marijke bekam jetzt Lust auf einen Burger.

»Kommen Sie«, sagte Salvatore Brunelli. »Ich zeige Ihnen das Sonnendeck. Sie machen es sich dort bequem, und dann bringt Ihnen Camilla einen Burger und etwas zu trinken. Wasser? Oder ein alkoholfreies Bier?«

»Wenn Sie keinen Prosecco haben.« Witta zog ein Gesicht, als hätte Brunelli ihr Essigwein angeboten.

Brunelli lachte. »Doch. Haben wir. Also Burger und Prosecco für die Damen.«

Er ging vor ihnen her zum Niedergang, stieg die Stufen zum Deck hinauf und kletterte weiter aufs Sonnendeck. Marijke und ihre Freundinnen folgten ihm.

Oben angekommen blieb er so abrupt stehen, dass Marijke beinahe in ihn hineingelaufen wäre.

»Luca! Gianni!« Brunellis Stimme klang verärgert und belustigt zugleich. Er drehte sich zu Marijke und ihren Freundinnen um. »Sie müssen entschuldigen. Meine Söhne tun sich noch ein wenig schwer mit der Umstellung.«

»Was ist denn los?«, nörgelte Witta von hinten. »Warum geht es nicht weiter?«

Brunelli machte Platz. Marijke betrat das Sonnendeck, und nun sah sie auch den Grund für seinen Ärger.

Luca und Gianni hatten ein Tau von der Bugspitze zur Brücke gespannt, auf dem sie balancierten und sich gegenseitig Keulen zuwarfen. Alma, die nun auch oben angelangt war, klatschte begeistert. »Großartig!«, rief sie. »Ganz großartig.«

Grethe wandte sich an Brunelli. »Was stört Sie daran? Das sieht doch sehr gut aus.«

Der ehemalige Zirkusdirektor schnitt eine Grimasse. »Finden Sie nicht, dass es den Eindruck macht, als würden wir unser neues Geschäft nicht ernst nehmen? Seeleute balancieren nicht auf Seilen.«

»Aber im Gegenteil«, sagte Marijke. »Das ist etwas, das Ihr Unternehmen auszeichnet und von anderen unterscheidet. Damit können Sie Werbung machen. Eine Schifffahrt und beste Unterhaltung gratis dazu.«

Brunelli machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wenn Sie es so sehen …«

»Natürlich«, bekräftigte Alma. »Zirkusakrobatik auf See. Das ist …« Sie fand kein geeignetes Wort.

»Ein Alleinstellungsmerkmal.« Witta hob Augenbrauen, Nase und Zeigefinger. »So nennt man das.«

»Nenn es, wie du willst«, sagte Grethe. »Aber es stimmt. Sie sollten da was draus machen.«

»Ich denke darüber nach.« Brunelli lächelte und wandte sich an seine Söhne. »Aber jetzt wartet richtige Arbeit auf euch.« Er klatschte in die Hände, und die beiden jungen Männer warfen ihm die Keulen zu, die er geschickt auffing. Sie verständigten sich mit einem kurzen Blick, sprangen dann synchron mit einem Salto vom Seil und landeten federnd auf dem Deck. Marijke und ihre Freundinnen applaudierten. Brunellis Söhne verneigten sich, rannten die Schiffstreppe hinunter und verschwanden unter Deck.

Brunelli verstaute die Keulen in einer der großen Metallkisten auf dem Sonnendeck.

Marijke holte tief Luft. Es wurde Zeit, sich auf ihren Plan zu besinnen.

»Was war denn da vorhin los?«, erkundigte sie sich so beiläufig wie möglich. »Wir haben zufällig beobachtet, dass die Polizei hier war. Sie haben einen jungen Mann abgeführt.«

Brunelli richtete sich auf. »Einen unserer Aushilfskellner, ja. Er hat die Fahrgäste bestohlen.«

»Jas…«, setzte Witta an. Grethe bremste sie mit einem Rippenstoß.

Witta hustete. »Jasses, wollte ich sagen. Das ist ja ein Ding.«

»Gibt es Beweise?«, fragte Grethe.

»Eindeutige.« Brunelli zog ein trauriges Gesicht. »Die Polizei hat das gestohlene Geld im Rucksack des jungen Mannes gefunden.«

Marijke schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich hätte das auch nicht gedacht«, erklärte Brunelli. »Der Junge macht einen so anständigen Eindruck.« Der ehemalige Zirkusdirektor seufzte. »Am besten reden wir nicht mehr davon.« Er wies zu den Sitzbänken. »Bitte! Suchen Sie sich einen Platz«, forderte er Marijke und ihre Freundinnen auf. »Das Essen kommt gleich. Ich habe leider noch etwas zu erledigen.«

Witta hob die Hand. »Was die Bezahlung angeht …«

»Sie sind natürlich eingeladen.« Brunelli verabschiedete sich mit einer Verbeugung. Dann verschwand er in Richtung Brücke und tauchte gleich darauf hinter den großen Glasscheiben wieder auf. Marijke sah, wie er sich dort mit einem weiteren Mann unterhielt, der eine Kapitänsmütze trug.

Grethe, Alma und Witta steckten währenddessen die Köpfe zusammen.

»Nie im Leben hat Jasper das Geld gestohlen«, sagte Alma. »Das hat ihm der Dieb untergeschoben. Aber die Brunellis waren es auch nicht. So eine nette Familie!«

Witta nickte. »Das war dieser Matrose. Ich habe in der Praxis meines Mannes genug Leute kennengelernt. Ich sehe es, wenn jemand etwas zu verbergen hat. Und dieser Matrose hat ein dunkles Geheimnis.«

Grethe verdrehte die Augen. »Was du alles siehst.«

»Sie hat aber recht.« Alma kramte in ihrer Handtasche. »Ich habe in der Bäckerei auch eine gewisse Menschenkenntnis erworben. Mit diesem Matrosen stimmt etwas nicht.«

»Schön.« Grethe verschränkte die Arme. »Dann müssen wir es ja nur noch beweisen.«

Brunelli und der Kapitän schienen über irgendetwas zu streiten. Marijke wünschte, sie könnte näher heran und die beiden belauschen, doch auf dem Sonnendeck gab es nichts, hinter dem sie sich hätte verstecken können.

»Marijke?« Grethe tippte ihr auf den Oberarm. »Was meinst du?«

»Ich meine, dass bei Salvatore Brunelli nicht alles so eitel Sonnenschein ist, wie er uns weismachen wollte.« Sie deutete zur Brücke. »Die beiden haben doch Differenzen.«

»Natürlich haben sie die«, erklang eine helle Stimme hinter ihnen. Camilla Brunelli, die ein Tablett mit vier hübsch angerichteten Burgern und vier Gläsern Prosecco balancierte. Marijke und ihre Freundinnen griffen rasch zu, ehe die Gläser ins Wanken gerieten.

»Das klingt spannend«, sagte Grethe. »Worum geht es denn?«

»Worum schon? Hahnenkämpfe. Zwei Machos, die sich darüber streiten, wer das Sagen hat. Der ehemalige Zirkusdirektor oder der ehemalige Kapitän.«

»Weshalb ist er ein ehemaliger Kapitän?«, wunderte sich Marijke. »Ich dachte, er führt dieses Schiff.«

»Ja. Schon. Aber an seinem alten Arbeitsplatz haben sie ihn rausgeworfen. Er hat früher die Rømø-Fähre gesteuert«, erklärte Brunellis Nichte.

Das war interessant. Vielleicht eine Spur?

»Wieso hat man ihn gefeuert?«

»Keine Ahnung. Er spricht nicht darüber. Aber er wird schon wissen, warum.«

Camilla klemmte sich das leere Tablett unter den Arm und hüpfte den Niedergang wieder hinunter.

»Also hat vermutlich nicht nur der Matrose Dreck am Stecken, sondern auch der Kapitän«, konstatierte Grethe. »Wir sollten die beiden genauer unter die Lupe nehmen.«

»Und wie soll das gehen?«, fragte Alma.

»Wir beobachten sie. Damit haben wir doch Erfahrung.«

Die hatten sie in der Tat. In den letzten Jahren hatten sie gemeinsam mit Kari Blom einige Verdächtige observiert. Allerdings waren sie dabei ein paar Mal in ernste Gefahr geraten.

»Aber vorsichtig«, mahnte Marijke. »Ich kann mir nicht jedes Jahr ein neues Auto kaufen.« Nach dem Unglück mit dem Sportsvan hatte sie die Marke gewechselt und sich einen Corolla Cross Hybrid angeschafft. Hätte sie allerdings gewusst, dass Witta daraufhin jedes Mal beim Einsteigen diesen uralten Werbesong trällern würde – »Nichts ist unmöglich …« –, wäre sie doch bei VW geblieben. So recht traute sie dem ausländischen Fahrzeug noch nicht, aber bisher hatte der Wagen sich als bequem und ausgesprochen zuverlässig erwiesen. Vielleicht würde er ihnen ja nun auch bei ihrem neuen Fall Glück bringen.

Marijke kicherte. Seit sie Kari Blom kannten, war aus ihrem Häkelclub ein Detektivclub geworden. Und das war gut so. Wenn man alt wurde, musste man zusehen, dass man körperlich und geistig in Schwung blieb, und dafür sorgte ihr neues Hobby.

Witta schlürfte ihren Prosecco. Dann nahm sie den Burger ganz undamenhaft in beide Hände und biss herzhaft hinein.

»Also, der ist wirklich lecker«, stellte sie fest. »Nicht italienisch vielleicht, aber ein Genuss.«

Marijke probierte ebenfalls und gab ihr recht. Das waren gute Aussichten. Wenn ihre Ermittlungen eine häufigere Anwesenheit an Bord des Schiffs erforderten, waren sie zumindest in kulinarischer Hinsicht bestens versorgt.

...

Jonas Voss nahm die Treppe im Laufschritt, immer zwei Stufen auf einmal. Im Flur vor dem kleinen Raum, der ihnen als Vernehmungszimmer diente, begegnete er Hannah, die gerade mit einem Tablett mit Flaschen und Gläsern aus dem Büro kam.

»Jonas!« Hannah stellte das Tablett einfach auf den Boden und umarmte ihn.

»Wie sieht es aus?«, fragte er.

Hannah nahm das Tablett wieder auf. »Jasper beteuert, dass ihm jemand das Geld untergeschoben haben muss, aber Linda glaubt ihm nicht. Sie hat sich vollkommen in ihn verbissen.« Hannah zögerte. »Ich …«

»Ja?«

»Ich glaube, sie ist scharf auf deinen Posten. Deswegen will sie Jasper die Sache unbedingt in die Schuhe schieben. Weil sie denkt, dass man dich dann nach der Elternzeit irgendwo anders hin versetzt.«

Was nicht völlig aus der Luft gegriffen war. Natürlich würde das niemand offen aussprechen, aber es war sicher kein Vorteil, wenn der Eindruck entstand, dass er während der Elternzeit seine anderen Kinder vernachlässigte. Und mit einem Ermittlungserfolg könnte Linda Niehaus zusätzlich punkten. Diebstähle an Touristen waren gerade auf Sylt ein heikles Thema.

Die Tür des kleinen Raums öffnete sich, und die Kollegin trat in den Flur.

»Hannah? Ach, Herr Voss. Sie sind schon da.« Linda Niehaus reichte ihm die Hand. Sie war so trocken und kühl wie ihre Miene.

Jonas dachte darüber nach, ob sie sich nicht geduzt hatten, als er Linda im Dezember sein Haus und seinen Arbeitsplatz gezeigt hatte – nachdem er mit Hannah zwei Wochen lang aufgeräumt hatte, um sein Chaos zumindest einigermaßen zu beseitigen. Aber jetzt stand er ihr nicht als Kollege, sondern als Vater eines Verdächtigen gegenüber, deshalb vermutlich das distanzierte »Sie«.

»Frau Niehaus.« Jonas nickte in Richtung des Zimmers. »Kann ich mit meinem Sohn sprechen? Allein?«

»Bitte.« Linda deutete auf die Tür. Hannah übergab ihm das Tablett mit den Getränken.

»Zehn Minuten«, sagte Linda. Jonas drückte die Klinke mit dem Ellenbogen hinunter und betrat den Raum.

Jasper saß mit dem Rücken zum Fenster am Tisch. Den Blick hielt er auf seine Hände gerichtet, die er auf der Platte gefaltet hatte. Die blonden Locken hingen ihm ins Gesicht. Er sah müde und weitaus älter als seine sechzehn Jahre aus.

Jonas stellte die Getränke ab. »Jasper.«

Jasper blickte auf und sprang vom Stuhl. »Paps.« Er fiel ihm um den Hals, und Jonas verwuschelte seine Haare.

»Hallo, mein Großer.«

Jasper ließ den Kopf einen Moment an Jonas’ Schulter ruhen, ehe er sich ohne jede Verlegenheit von ihm löste und wieder auf seinen Stuhl setzte. Finja hatte schon zu Beginn der Pubertät seine Zärtlichkeiten abgewehrt. Jasper dagegen ließ sich immer noch gerne knuddeln.

Jonas nahm ihm gegenüber Platz und schenkte Wasser ein. »Also. Erzähl mal.«

Jasper hob die Schultern. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir waren mit dem Schiff draußen. Die Fahrgäste sind mit dem Speedboot gefahren, und als sie zurückkamen, ist einem Mann aufgefallen, dass Geld aus seiner Brieftasche fehlt. Daraufhin haben auch die anderen Gäste nachgesehen, und bei etlichen war ebenfalls Geld verschwunden. Wir sind zurück nach List gefahren, und die Polizei ist an Bord gekommen. Sie haben sämtliche Taschen durchsucht und das Geld in meinem Rucksack gefunden. Keine Ahnung, wie es da hingekommen ist. Ich nehme an, der Dieb hat es hineingesteckt, als die Polizei im Anmarsch war.«

Das war die logische Erklärung, und Jonas zweifelte keine Sekunde daran, dass Jasper die Wahrheit sagte. Sein Blick war offen und klar, und Jonas kannte seinen Sohn. Er hätte gemerkt, wenn Jasper ihm etwas vormachte.

»Hast du eine Idee, wer es gewesen sein könnte?«

Jasper kaute auf der Unterlippe. Es behagte ihm ganz offensichtlich nicht, einen seiner neuen Kollegen in Verdacht zu bringen.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Eigentlich kann ich es mir bei niemandem vorstellen.« Jasper richtete sich auf. »Vielleicht war es ja auch keiner von uns, sondern einer der Fahrgäste?«

»Ich dachte, die waren mit dem Speedboot unterwegs? Oder ist jemand an Bord geblieben?«

»Nein.« Jaspers Schultern sanken wieder herab. »Die sind alle mitgefahren. Aber es könnte ja auch schon vorher passiert sein.«

Jonas hob die Augenbrauen.

Jasper winkte ab. »Okay. Das klingt nicht sehr wahrscheinlich.« Er massierte sich die Schläfen. »Also gut. Von den Brunellis war es sicher keiner. Die würden sich ja ins eigene Fleisch schneiden. Und Kapitän Asmussen war die ganze Zeit auf der Brücke. Wenn der an Deck herumgelaufen wäre, hätte ich es bemerkt. Also bleiben eigentlich nur Hauke und Fabian.«

»Wer sind die beiden?«

»Hauke ist einer der Matrosen. Und Fabian ist der Animateur.«

»Der Animateur fährt nicht mit dem Speedboot mit?«

»Nein. Da sorgt der Zirkusdirektor für Stimmung. Salvatore Brunelli, dem das Geschäft gehört.«

»Beschreib mir die beiden, Hauke und Fabian.«

Jasper legte die Hände an die Lippen. »Hauke war früher Matrose auf der Rømø-Fähre. Ein komischer Typ. Macht seinen Job, aber er wirkt immer so, als wäre er nicht richtig da. Redet nur das Nötigste und hält sich aus allem raus. Ich glaube, ich habe ihn noch nie lächeln sehen.«

Jonas überlegte, ob er sich Notizen machen sollte, aber er war ja nicht als Kommissar hier. »Und der andere?«

Jasper lächelte breit. »Fabian ist klasse. Der ist richtig witzig. Ich meine, kein Wunder. Im Zirkus war er der Clown. Er ist so ungefähr das Gegenteil von Hauke. Immer ein Lächeln auf den Lippen und für jeden ein nettes Wort.« Jaspers Miene wurde nachdenklich. »Aber das muss ja nicht heißen, dass er keine Probleme hat. Vielleicht ist das alles nur Fassade, und in Wirklichkeit braucht er dringend Geld.«

»Hast du das alles auch Hannah und Linda erzählt?«

»Linda?«

»Meine Urlaubsvertretung. Linda Niehaus.«

Jasper schüttelte den Kopf. »Sie wollte nur, dass ich ganz genau beschreibe, was passiert ist. Und sie hat mich immer wieder gefragt, wo ich wann war.« Er grinste flüchtig. »Sie hat darauf gewartet, dass ich mich in Widersprüche verwickle, stimmt’s?«

»Hm.« Jonas zuckte zusammen, weil es an der Tür klopfte, die gleich darauf geöffnet wurde. Hannah und Linda traten ein und setzten sich auf die beiden freien Plätze.

Die neue Kollegin sah Jasper an. »Möchtest du etwas aussagen?«

Jasper seufzte. »Ich habe schon alles gesagt.«

Sie wandte sich an Jonas. »Wollen Sie etwas zu Protokoll geben?«

»Nein.« Jonas hätte ihr gern ein paar Vorschläge gemacht, wie sie die Ermittlungen seiner Meinung nach führen sollte, aber er wollte sie nicht gegen sich aufbringen. Es wäre nur zu Jaspers Nachteil. Auch wenn er gerne gewusst hätte, warum sie sich so auf Jasper einschoss und andere Verdächtige nicht einmal in Erwägung zog.

»Gut.« Linda schob Jasper ein Blatt hin. »Das ist deine Aussage. Lies sie in Ruhe durch, und wenn alles richtig ist, unterschreibst du.« Sie wandte sich wieder an Jonas. »Sie können Ihren Sohn dann mitnehmen.«

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte er.

Linda Niehaus lächelte mit leisem Spott. »Ich dachte, das wäre klar. Wir haben die Scheine sichergestellt und lassen sie kriminaltechnisch untersuchen. Ich habe heute Abend ohnehin eine Verabredung in Kiel und bringe sie persönlich beim LKA vorbei, das spart die Kosten für den Boten. Außerdem sind zwei uniformierte Kollegen unterwegs und nehmen von allen Crewmitgliedern der Sea Shell Fingerabdrücke. Wenn wir Glück haben, führt uns ein einfacher Abgleich zum Täter. Andernfalls werden wir sämtliche Crewmitglieder vernehmen. Es ist zwar nur ein Diebstahl, aber da es mehrere Geschädigte gibt, besteht der Verdacht der bandenmäßigen Kriminalität, da müssen wir genau hinsehen.« Sie legte den Kopf ein wenig schief. »Oder würden Sie etwas anderes vorschlagen?«

Jonas fühlte sich beschämt. Er hatte sich von Hannah dazu verleiten lassen, die neue Kollegin vorzuverurteilen, ohne ihr die Chance zu geben, sie kennenzulernen.

»Nein. Alles bestens.« Er erhob sich und machte Jasper ein Zeichen, dasselbe zu tun. Der unterschrieb rasch das Protokoll und sprang vom Stuhl. Hannah und Linda standen ebenfalls auf, und die Kollegin reichte ihm die Hand.

»Wir melden uns, sobald wir etwas Neues wissen. Sie bleiben auf Sylt?«

»Ja. Wir fahren …« Nach Hause, hatte er sagen wollen, aber dann fiel ihm ein, dass Linda Niehaus in seinem Haus wohnte, solange sie ihn während seiner Elternzeit vertrat. »Zu meinem Vater.«

»Schön. Die Adresse haben wir.«

Jonas tauschte noch einen kurzen Blick mit Hannah. Dann verließ er mit Jasper das Polizeirevier.

»So ein Mist«, schimpfte Jasper. »Brunelli schmeißt mich bestimmt raus, obwohl ich nichts getan habe.« Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Und zu meinem Treffen mit Lukas und Leonie komme ich auch zu spät. Mein Fahrrad steht ja noch in List am Hafen.«

Jonas legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich fahre dich hin. Und ich rede mit Brunelli.«

Jasper lächelte breit. »Danke, Paps. Du bist klasse.«

5. Lukas und Leonie hatten sich entschieden, ins Kino zu gehen. Und das bei diesem herrlichen Wetter! Wahrscheinlich wollten sie heimlich knutschen. Warum das nicht am Strand ging, war Jasper ein Rätsel. Aber Lukas war schüchtern. Vermutlich fühlte er sich selbst am frühen Abend an einem beinahe menschenleeren Strand beobachtet.

Jasper hatte jedenfalls keine Lust gehabt, sich in einen dunklen Saal zu begeben, in dem noch die Hitze des Tages stand. Er wollte auch nicht neben einem Paar sitzen, dass die ganze Zeit Küsse austauschte. Nicht, weil er eifersüchtig war. Er war froh, dass Leonie irgendwann aufgehört hatte, ihr Glück bei ihm zu versuchen, und sich stattdessen Lukas zugewandt hatte. Aber die beiden waren in einer anderen Welt. Er selbst störte da nur.

Also war er allein zum Ellenbogen gefahren und schwimmen gegangen. Die Abkühlung tat gut, und sein Frust über den saudummen Nachmittag verschwand. Hannah und die neue Kollegin würden schon herausfinden, dass er unschuldig war. Sie würden auch den wahren Täter schnappen.

Wer es wohl war? Hauke, der immer so finster dreinblickte? Oder doch der nette Fabian? Bestimmt hatte derjenige finanzielle Probleme und sah keinen anderen Ausweg, als sich das Geld durch Diebstähle zu beschaffen. Er war ja sogar so rücksichtsvoll, nicht das gesamte Geld aus den Brieftaschen zu nehmen, sondern nur einen oder zwei Scheine. Beträge, die die Bestohlenen verkraften konnten. Aber in Ordnung war es natürlich nicht. Und dann, als es eng wurde, ihm das Geld unterzuschieben! Das war eine Frechheit!

Jasper kraulte zügig zum Strand zurück und lief zu seinem Handtuch. Er trocknete sich ab, zog die Shorts und das T-Shirt über und rubbelte noch einmal über die blonden Locken.

Die Hose rutschte. Jasper warf das Handtuch beiseite und griff nach dem Gürtel, doch da war nichts. Verwundert sah er an sich herab.

»Das gibt’s doch nicht.«

Er hob das Handtuch an und schaute darunter, durchwühlte seinen Rucksack und sah sich im näheren Umkreis um seinen Liegeplatz herum um. Das Ergebnis blieb dasselbe. Der Gürtel war weg!

Wer, um alles in der Welt, stahl einen Gürtel, ließ aber das Smartphone, den iPod und die teuren Kopfhörer da? Ebenso wie die fünfzig Euro, die sein Vater ihm gegeben hatte, weil Jaspers Bargeld als Beweismittel konfisziert worden war? Derjenige musste komplett bescheuert sein.

Jasper schüttelte den Kopf. Er legte das Handtuch in den Sand, streckte sich darauf aus und steckte die Kopfhörer in die Ohren. Auf den Gürtel konnte er allemal besser verzichten als auf den iPod.

...

Jonas saß in der Küche seines Vaters und sah zu, wie Redlef Fischfilets und Kartoffeln briet. Vor ihm auf dem massiven Eichentisch stand ein Glas Bier, das er bisher jedoch nicht angerührt hatte. Aus dem Radio erklang leise Popmusik, die Redlef pfeifend begleitete.

Jonas schloss die Augen und ließ den Nachmittag Revue passieren. Das Gespräch mit Salvatore Brunelli, der freundlich, aber auch entschieden gewesen war. Für seine Familie und die Crewmitglieder lege er die Hand ins Feuer. Sollte sich herausstellen, dass Jasper unschuldig war, würde er ihn gerne wieder einstellen, doch bis dahin war ihm das Betreten des Schiffs untersagt. Brunelli hatte Jonas noch Jaspers Smartphone ausgehändigt, das zusammen mit den Telefonen aller anderen Angestellten während des Diensts in einer Kiste hinter dem Tresen verwahrt wurde, damit das Personal sich auf die Arbeit konzentrierte. Danach hatte er ihn freundlich von Bord begleitet.

Redlefs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Stellst du schon mal die Teller auf den Tisch?«

Jonas kam der Bitte nach, und Redlef servierte das Essen. Jonas merkte plötzlich, wie hungrig er war. Seit dem Frühstück mit Kari hatte er nichts mehr zu sich genommen.

Ein jähes Schuldgefühl erfasste ihn. Er hatte sich nicht bei Kari gemeldet! Hatte ihr nicht erzählt, was mit Jasper passiert war, und auch nicht gefragt, wie es Lotta ging. Stattdessen hatte er sich in die Geborgenheit bei seinem Vater geflüchtet. Redlef war ein Fels in der Brandung. Er hatte die Ruhe und Gelassenheit des Fischers, der er gewesen war, ehe er seine eigene Fischhandlung auf Sylt eröffnet hatte, und dazu einen Optimismus, der nur schwer zu erschüttern war.