Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit - Stefan Gesmann - E-Book

Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit E-Book

Stefan Gesmann

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Beschreibung

Es existiert eine markante Differenz in Organisationen der Sozialen Arbeit: "Systemische Konzepte" zum methodischen Handeln in der Sozialen Arbeit erscheinen allgegenwärtig; allerdings trifft man in den Leitungsebenen der Einrichtungen und Dienste auf ein eher zweckrational ausgerichtetes Managementverständnis. Das systemische Denken scheint sich von Hierarchieebene zu Hierarchieebene zu verflüssigen. Leitungspersonen nehmen fast selbstverständlich die an sie herangetragene Erwartung an, dass eine gute Chefin, ein guter Chef "den Laden im Griff" habe. Diese beobachtete Differenz zwischen den unterschiedlichen Ständen der Verarbeitung systemischen Denkens in Organisationen der Sozialen Arbeit ruft zum einen nach Erklärungen; zum anderen motiviert sie zur Suche nach Ansatzpunkten, diese Differenz zu verringern. Das kann dadurch geschehen, dass systemisch inspirierte Denkweisen und Methoden auch in den Managementebenen der Sozialen Arbeit stärker aufgegriffen werden. Dieses Hand- und Lehrbuch analysiert das traditionelle, zweckrationale Managementverständnis der Sozialen Arbeit. Und es stellt ihm eine systemtheoretisch "aufgeklärte" Praxis gegenüber. Es bietet Leitorientierungen für alle Managementbereiche: Organisationsverständnis, Steuerungshandeln, Organisationsgestaltung und -kultur, Organisationsveränderung, Controlling, Marketing, Qualitätsmanagement, Personalmanagement, Bildungsmanagement und Strategiebildung.

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Stefan Gesmann/Joachim Merchel

Systemisches Managementin Organisationender Sozialen Arbeit

Handbuch für Studium und Praxis

Zweite Auflage, 2021

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe: »Systemische Soziale Arbeit«

hrsg. von Heiko Kleve

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Umschlagmotiv: © pixabay

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Zweite Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-0310-3 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8199-6 (ePub)

© 2019, 2021 Carl-Auer-Systeme Verlagund Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Einleitung

1Die systemtheoretische Sicht auf Organisationen

1.1Allgemeine Charakteristika von Organisationen

1.2Das traditionelle (zweckrationale) Organisationsverständnis

1.3Eckpunkte eines systemtheoretischen Organisationsverständnisses

1.3.1Organisation als Differenz: Zur Bedeutsamkeit der System-Umwelt-Unterscheidung

1.3.2Entscheidungsprämissen als Strukturen einer Organisation

1.3.3Und wo bleibt der Mensch? Zur Rolle der Organisationsmitglieder

1.3.4Von der Zweck- zur Systemrationalität

1.4Leitorientierungen für ein systemtheoretisches Organisationsverständnis

2Das Besondere von Organisationen der Sozialen Arbeit als Bedingungsfaktoren bei der Konzipierung von Management

2.1Politische Konstituierung sozialer Dienstleistungen

2.2Interaktion als Kern sozialer Dienstleistungen

2.2.1Charakteristika sozialer Dienstleistungen

2.2.2Folgen für das Steuerungshandeln

2.3Legitimation sozialer Dienstleistungsorganisationen

2.4Soziale Dienstleistungsorganisationen im Spannungsfeld verschiedenartiger Anforderungen und Handlungslogiken

2.5Fazit: Spezifika von Organisationen der Sozialen Arbeit und deren Bedeutung für Management

3Steuerung als Managementfunktion und Leitungsaufgabe

3.1Anspruch »Steuerung«: Selbstverständlich und fragwürdig zugleich

3.2Das »traditionelle« Steuerungsverständnis – und dessen fehlleitende Orientierungen

3.3»Steuerung« systemtheoretisch gedacht

3.4Möglichkeiten zur Steuerung in und von Organisationen

3.5Steuerungskompetenz als Haltung gegenüber der Organisation als sozialem System

3.6Leitorientierungen für ein systemisch verstandenes Steuerungshandeln

4Organisationsgestaltung

4.1Zentrale Gestaltungsanforderungen

4.2Organisationsgestaltung als Umgang mit Spannungsfeldern und Paradoxien

4.3Organisationsgestaltung »systemisch«

4.4Leitorientierungen für eine systemisch konzipierte Organisationsgestaltung

5Zur Bedeutung und Beeinflussbarkeit von Organisationskultur

5.1Zur (bedeutsamen) Funktion von Organisationskulturen

5.2Traditionelle Ansätze zur Beeinflussung von Organisationskulturen

5.3Organisationskultur systemtheoretisch betrachtet

5.4Veränderung von Organisationskultur: Impulse auf der Grundlage des Verstehens

5.4.1Veränderung von Artefakten

5.4.2Indirektes Ansprechen der Organisationskultur über die Formalstruktur

5.4.3Zur Vorbildfunktion von Leitungskräften

5.5Leitorientierungen für eine systemisch konzipierte Beeinflussbarkeit der Organisationskultur

6Organisationsveränderung – Entscheidungen herbeiführen als Management von Balancen

6.1Organisationsveränderung – eine systematisierte Annäherung

6.2Orientierungspunkte für episodische Phasen der Organisationsveränderung

6.3Zur (bewussten) Steigerung der organisationalen Lernfähigkeit

6.3.1Zur Erhöhung des Variationsreichtums

6.3.2Zur Schärfung von reflektierten Selektionen

6.4Organisationsveränderung: Vom Entweder/oder zum Sowohl-als-auch

6.5Leitorientierungen für eine systemisch konzipierte Organisationsveränderung

7Betriebswirtschaftliche Steuerung: Controlling – systemisch konzipiert

7.1Ausgangssituation: Warum überhaupt Controlling?

7.2Spannungsfelder innerhalb des Controllings

7.3Zur Grundlogik des traditionellen Controllings

7.4Systemisches Controlling: Was ist es, und wie kann es gehen?

7.4.1Zum mehrdimensionalen Beobachtungsfokus eines systemischen Controllings

7.4.2Zur erweiterten Beobachtungsform des systemischen Controllings

7.4.3Zum selbstreflexiven Charakter eines systemischen Controllings aufgrund von dessen begrenzter Sichtweise

7.4.4Reflexives Bewerten statt rationales Absichern

7.5Leitorientierungen für ein systemisch konzipiertes Controlling

8Marketing

8.1Warum Marketing auch in der Sozialen Arbeit für Management bedeutsam ist

8.2Zum Kern von Marketing und dessen Herausforderung für Managementhandeln

8.3Absichten und Paradoxien im Marketing

8.4Orientierungslinien für ein systemisch ausgerichtetes Marketing

8.5Unterschiede zu »nicht systemischen« Marketingkonzepten

8.6Leitorientierungen für ein systemisch konzipiertes Marketing

9Qualitätsmanagement

9.1Warum Qualitätsmanagement in der Sozialen Arbeit? Anforderungen und Widersprüche

9.2Orientierungslinien im »traditionellen« Qualitätsmanagement

9.3Perspektiven eines systemisch konzipierten Qualitätsmanagements

9.4Leitorientierungen für ein systemisch konzipiertes Qualitätsmanagement

10Personalmanagement

10.1Personalmanagement als Herausforderung insbesondere in sozialen Dienstleistungsorganisationen

10.2Spannungsfelder und Paradoxien im Personalmanagement

10.3Orientierungslinien für ein systemisch ausgerichtetes Personalmanagement

10.4Aufgaben des Personalmanagements

10.5Leitorientierungen für ein systemisch konzipiertes Personalmanagement

11Bildungsmanagement

11.1Ausgangssituation: »Anything-goes-Mentalität« innerhalb der Fort- und Weiterbildung

11.2Spannungsfelder und Herausforderungen in Bezug auf die Steuerung von Fort- und Weiterbildungen

11.3Traditionelle Bildungsmanagementansätze

11.4Handlungsorientierungen: Perspektiven eines systemischen Bildungsmanagements

11.5Systemisches Bildungsmanagement: Eine abschließende Betrachtung

11.6Leitorientierungen für ein systemisch konzipiertes Bildungsmanagement

12Strategisches Management

12.1Warum Strategisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit?

12.2Strategisches Management: Zweck und Erwartungen

12.3Systemische Strategieentwicklung jenseits des Rationalitätsparadigmas

12.4Typen oder Muster der Strategiebildung in Organisationen

12.5Leitorientierungen für eine systemisch konzipierte Strategiebildung

Literatur

Über die Autoren

Einleitung

Ein Auslöser für das Vorhaben, ein Buch über ein systemisch konzipiertes Sozialmanagement zu schreiben, war die Beobachtung einer markanten Differenz in Organisationen der Sozialen Arbeit: Während einerseits »systemische Konzepte« zum methodischen Handeln in der Sozialen Arbeit allgegenwärtig erscheinen, trifft man in den Leitungsebenen der Einrichtungen und Dienste auf ein eher sozialtechnisch ausgerichtetes Managementverständnis. Man erhält den Eindruck, dass gleichsam »zwei Welten« in der Sozialen Arbeit existieren und in einer Organisation weitgehend irritationsarm nebeneinanderstehen: die Welt der systemisch inspirierten Methoden und Instrumente im Umgang mit Klienten1 einerseits und die Welt eines implizit sozialtechnischen Bemühens und Glaubens, Organisationen nach eigenen Vorstellungen intentional gestalten zu können, bei den Managementaktivitäten andererseits.

Bereits in der Ausbildung werden viele Studierende mit systemischen Denkweisen und systemisch inspirierten Methoden konfrontiert; beim Hineinwachsen in die beruflichen Tätigkeitsfelder können sie in vielfältigen Fortbildungen ihre Grundkenntnisse erweitern. Nicht wenige Organisationen in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit (z. B. Beratungsstellen, ambulante und stationäre Erziehungshilfen, Jugendamt/ASD u. a. m.) erwarten von den dort tätigen Fachkräften, dass sie sich in systemischen Beratungsmethoden fortbilden und ein Zertifikat als »Systemische/r Berater/in« erwerben. Dass das systemische Denken im Hinblick auf die Arbeit mit Klienten innerhalb der Sozialen Arbeit einen beachtlichen Verbreitungsgrad angenommen hat, scheint keine allzu gewagte These zu sein.

Blickt man andererseits in die Leitungsetagen von Organisationen der Sozialen Arbeit, dann stellt man verwundert fest, dass sich das systemische Denken von Hierarchieebene zu Hierarchieebene zu verflüssigen scheint. Hier nehmen Leitungspersonen fast selbstverständlich die an sie herangetragene Erwartung an, »ihren Laden im Griff« zu haben. Das Ausbleiben der Effekte von Steuerungshandeln wird als partielles Steuerungsversagen interpretiert und mit der Suche nach neuen, »zielgenaueren« Impulsen zwischen Sanktionierung und »sozialverträglicher Überredung« der Mitarbeiter beantwortet. Neue Instrumente des Marketings, des Controllings, des steuerungsrelevanten Qualitätsmanagements, der sozialtechnisch verbesserten, psychologisch ausgeklügelten Personalführung werden gesucht – und häufig vermeintlich in der »traditionellen« Betriebswirtschaftslehre gefunden; alles in dem Bestreben, »zielgenauer« zu steuern und das Leben in der Organisation über Steuerungshandeln »in den Griff zu bekommen«.

Was zur Praxis des Managements in Organisationen der Sozialen Arbeit zu beobachten ist, gilt auch für die konzeptionelle Diskussion zum Sozialmanagement: Nicht einmal auf der konzeptionellen Ebene (und erst recht nicht in der Praxis) des Sozialmanagements hat das systemische Denken einen Platz erhalten, das dem in der Methodendiskussion als selbstverständlich angenommenen Vokabular des Systemischen auch nur annähernd entspricht.

Die skizzierte beobachtete Differenz zwischen den unterschiedlichen Ständen der Verarbeitung systemischen Denkens in Organisationen der Sozialen Arbeit ruft zum einen nach Erklärungen und motiviert zum anderen zur Suche nach Ansatzpunkten, die Differenz dadurch zu verringern, dass systemische inspirierte Denkweisen und Methoden auch von den Managementebenen der Sozialen Arbeit stärker aufgegriffen werden.

Versucht man, die markierte Differenz zu erklären, bieten sich insbesondere vier Überlegungen als Hypothesen an:

•Die Wahrnehmung, systemische Konzepte seien in der Arbeit mit Klienten zum allgemeinen und akzeptierten methodischen Inventar von Fachkräften der Sozialen Arbeit geworden, ist möglicherweise verkürzt und trifft nur die Oberfläche der Beobachtung. Es existieren Anzeichen dafür, dass »systemische« Konzeptformulierungen zum methodischen Handeln in der Praxis vielfach nur begrenzt aufgenommen und verarbeitet werden. Es wird vornehmlich derjenige Teil aufgenommen, der die Einbettung des Individuums in soziale Konstellationen (»Systeme« wie Familien, Peergroups, Nachbarschaft, sozialräumliche Konstellationen etc.) anspricht: Man denkt »systemisch«, weil man in der Arbeit mit dem Individuum soziale Konstellationen (»Systeme«) mitdenkt und beim methodischen Handeln berücksichtigt. Wenn man dann noch bestimmte aus dem »Systemischen« abgeleitete methodische Vorgehensweisen (zirkuläres Fragen, die »Wunderfrage« etc.) kennt und partiell anwendet, glaubt man, sein Handeln vor dem Hintergrund des »Systemischen« ausreichend legitimieren zu können. Der andere Teil systemtheoretischer Überlegungen und Konzepte – die Frage der Steuerbarkeit sozialer und psychischer Systeme, die Frage der Kausalität, die Autonomie des Individuums etc.) – bleibt bei der »Anwendung« systemischer Konzepte weitgehend ausgespart. Das »Systemische« in der Praxis der Sozialen Arbeit erscheint vielfach als eine Ausweitung des Blickes, die allerdings auf einige methodische Aspekte begrenzt bleibt. Die grundlegenden theoretischen Annahmen, die Irritation und Reflexion hervorrufen würden, werden jedoch nicht als prägend zur Kenntnis genommen. Das »Systemische« wird also auf bestimmte »Instrumente« beschränkt und damit in einer pragmatischen Absicht verkürzt. Es wird vornehmlich das aufgenommen, was das Handlungsinstrumentarium erweitern könnte; das Irritierende, zur Reflexion und zum Zweifel Herausfordernde wird an den Rand gedrängt oder gar ignoriert.

•Es wird eine deutliche Trennung vorgenommen zwischen der interaktionalen Ebene der Hilfegestaltung einerseits und der organisationalen Ebene andererseits, innerhalb derer die Hilfe stattfindet und in welche die Interaktionen eingebunden sind. Während auf der interaktionalen Ebene das Vokabular des »Systemischen« geradezu zur Norm geworden ist, wurde die organisationale Ebene davon abgetrennt, weil man soziale Organisationen primär (oder gar ausschließlich) als Mittel zum Zweck der interaktionalen Hilfegestaltung verstand, ohne sie als soziale Systeme mit eigener Dynamik zur Kenntnis zu nehmen und in dieser Hinsicht praktisch zu würdigen. Implizit denkt und handelt man nach dem Motto: »Die Organisation hat zu funktionieren, damit die Hilfe geleistet werden kann; man braucht sie irgendwie, aber sie soll ansonsten nicht stören.« Organisation wurde nur als instrumentelles Element der Sozialen Arbeit begriffen. Entsprechend wurde die Erwartung an Leitungspersonen formuliert: Sie sollten dafür sorgen, »ihren Laden im Griff zu haben«, also das Instrument »Organisation« so aufzustellen, dass die Hilfegestaltung reibungslos verlaufen kann, und sie wurden an dieser (impliziten) Norm gemessen. Dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Selbstbild und den Selbstanspruch der Leitungspersonen: Auch sie wollten »den Laden im Griff haben« und suchten daher Konzepte, Methoden und Instrumente, die ihnen dies verlässlich ermöglichen sollten: daher der Rückgriff auf die (traditionelle) Betriebswirtschaftslehre (»von der Wirtschaft lernen«). Insofern konnte und kann es in Organisationen der Sozialen Arbeit geschehen, dass es eine markante Zweiteilung im Reden (und konzeptionellen Denken) gibt: die »Basis-Mitarbeiter« (interaktionale Ebene der Hilfegestaltung) mit ausgeprägtem »systemischem« Vokabular und die Leitungsebene (organisationale Ebene) mit aus der traditionellen BWL entlehntem steuerungsoptimistischem, tendenziell sozialtechnischem Denken. Und mehr oder weniger erstaunlich: Dieses Nebeneinander führte nicht immer zu Irritationen, die Reflexionen auslösten! Es herrscht weiterhin der »alte« Anspruch vor, dass eine Leitungsperson dann gut ist, wenn sie a) »ihren Laden im Griff« hat, und dies b) auf eine (in der Sozialen Arbeit normativ verankerte) sozialverträgliche Weise (partizipativ, kollegial etc.) erreicht.

•Organisationale Kontexte (und damit Management) wurden über eine lange Zeit in ihrer Bedeutung für fachliches Handeln in der Sozialen Arbeit vernachlässigt. Die Einführung von Managementdenken in der Sozialen Arbeit war verbunden mit der Intention, organisationale Dysfunktionen zu beseitigen. Man rufe sich in Erinnerung: Das Aufkommen von Managementdiskussionen und -konzepten in den 1980er- und 1990er-Jahren kam nicht primär aus der Profession selbst, sondern wurde gleichsam »von außen« herangetragen. Bücher wie »Funktionaler Dilettantismus« (Seibel 1992), in denen den freien Trägern der Sozialen Arbeit massives Managementversagen vorgeworfen wurde, oder der Spiegel-Report zum Managementversagen der freien Wohlfahrtspflege unter dem Titel »Saugen und Mauscheln« (o. V. 1988) und weitere Veröffentlichungen zu Managementdefiziten warfen insbesondere den freien (und später auch den öffentlichen) Trägern mangelnde Kompetenz in der Wirtschaftsführung mit Folgen für das soziale Hilfesystem vor. Erste Versuche, Konzepte des Sozialmanagements zu entwickeln, bewegten sich noch in der Diktion einer Sozialarbeitstradition (eher gruppendynamisch ausgerichtete Konzepte wie z. B. Müller-Schöll u. Priepke 1989; Müller-Schöll 1993). Doch auch solche Konzepte verhießen keine angemessene Perspektive zur Verbesserung der betriebswirtschaftlichen Steuerung, sodass sich eher eine Haltung gegenüber dem Sozialmanagement als »ordnender Zugriff« ausprägte, mit der die bestehenden Ineffektivitäten, Organisationsmängel und Mängel in der Wirtschaftsführung behoben werden sollten (Merchel 2009) – eine Haltung, die das Einsickern von systemisch inspiriertem Denken in das Sozialmanagement nicht gerade beförderte.

•Dort, wo systemisches Denken zumindest partiell in die Konzipierung von Sozialmanagement einbezogen wurde, blieb es häufig in eher allgemeinen Konzeptionsformulierungen stecken und wurde nicht so gezielt auf einzelne Steuerungsbereiche des Sozialmanagements bezogen, als dass es Leitungspersonen Orientierungen für ihr praktisches Leitungshandeln geboten hätte. Dadurch blieb »systemisches Denken« abstrakt und für das praktische Managementhandeln weitgehend unzugänglich. Eine Leitungsperson, der eine Vorstellung vermittelt wurde, wie Sozialmanagement generell unter systemischen Gesichtspunkten zu verstehen und zu konzipieren ist, die dies aber nicht für ihre konkreten Managementaufgaben anwenden konnte, erlebte das systemische Konzept als zu wenig nutzbar für ihre Aufgaben der betriebswirtschaftlichen, fachlichen und mitarbeiterbezogenen Steuerung etc. »Systemisches Denken« wird in den Konzeptionsüberlegungen des Sozialmanagements höchstens ansatzweise mit konkretem Managementhandeln verkoppelt, es erscheint letztlich nicht ausreichend »anschlussfähig« an die Praxis des Sozialmanagements. Es wird von den Managementakteuren als zu weit weg von ihrem Alltag und den dort zu bewältigenden Anforderungen erlebt – mit der Folge, dass Leitungspersonen sich in ihrem Alltagshandeln entweder »irgendwie durchwursteln« oder eher zu Methoden und Instrumenten greifen, die ihnen im Sinne der »traditionellen« Betriebswirtschaftslehre vermeintlich die Möglichkeit eines intentionalen, auf bestimmte Effekte gerichteten Steuerungshandelns eröffnen.

Ziele und Aufbau dieses Buches

Wir wollen mit dem vorliegenden Buch einen Beitrag leisten zur Verringerung der Differenz zwischen der Tendenz zu systemischem Denken und Handeln auf der Interaktionsebene einerseits und der Ausrichtung an einem tendenziell sozialtechnologischen Managementverständnis andererseits. Wir wollen Orientierungen entwickeln und zur Diskussion stellen für systemisch inspiriertes Denken und Handeln auch auf den Managementebenen. Dazu charakterisieren wir in einer theoretisch basierten, jedoch auf die Ebene praktischen Managementhandelns ausgerichteten Weise zunächst das systemtheoretische Verständnis von »Organisation« (Kapitel 1) und – daraus abgeleitet – ein systemtheoretisches Konzept von Steuerung in Organisationen der Sozialen Arbeit (Kapitel 3). Ferner verdeutlichen wir, um welchen Organisationstypus es sich bei Organisationen der Sozialen Arbeit handelt und mit welchen spezifischen Konstellationen das Managementhandeln in diesen Organisationen verknüpft ist (Kapitel 2), um dann konkret auf die einzelnen Steuerungsbereiche einzugehen und jeweils zu entfalten, wie sich das zuvor dargelegte Organisations- und Steuerungsverständnis dort konkretisieren lässt im Hinblick auf einzelne Managementaufgaben und Steuerungsfelder:

•Organisationsgestaltung (Kapitel 4) und

•Organisationsveränderung (Kapitel 6) mit besonderer Erörterung des Einflussfaktors »Organisationskultur« (Kapitel 5),

•Controlling als betriebswirtschaftlicher Steuerungsmodus (Kapitel 7),

•Marketing als Gestaltung der Bezüge einer Organisation zu ihrer Umwelt (Kapitel 8),

•Qualitätsmanagement mit fachlichem Steuerungsfokus (Kapitel 9),

•Personalmanagement als Umgang mit dem zentralen Qualitätsfaktor »Mitarbeiter« (Kapitel 10) unter besonderer Beachtung des Bildungsmanagements als zentralen Bestandteils der Personalentwicklung (Kapitel 11) sowie abschließend

•das Strategische Management als das kontinuierliche Bemühen um Aufrechterhaltung der Existenz einer Organisation der Sozialen Arbeit im Gefüge einer sich verändernder Umwelt und der Anforderungen, die durch die gesellschaftliche Verarbeitung der Dynamik Sozialer Probleme an die jeweilige Organisation Sozialer Arbeit herangetragen werden, aber von dieser wahrgenommen und zur Gewährleistung ihrer eigenen Existenz interpretiert und verarbeitet werden müssen (Kapitel 12).

In der Bezugnahme und Verarbeitung der generellen Blickweise auf »Organisation« und auf »Steuerung« im Hinblick auf die verschiedenen Steuerungsbereiche versuchen wir Antworten auf die folgenden Fragen zu entwickeln:

•Welche praktischen Probleme müssen in dem jeweiligen Steuerungsbereich bearbeitet oder gelöst werden? Welche Spannungsfelder und Paradoxien, die in den Blick genommen und bewältigt werden müssen, ergeben sich dabei im jeweiligen Managementbereich?

•Wie sind die in vielen Organisationen der Sozialen Arbeit sichtbaren Aufgaben sowie Lösungs- und Bearbeitungsstrategien aus systemtheoretischer Perspektive zu interpretieren?

•Welche Unterschiede ergeben sich zwischen einer »traditionellen« Sozialmanagementsichtweise und einer systemtheoretischen Perspektive? Warum vermag eine systemtheoretische Perspektive den Blick auf angemessenere Bearbeitungen zu eröffnen?

•An welchen »Leitorientierungen« kann sich ein »systemtheoretisch aufgeklärtes (Sozial-)Managementhandeln« ausrichten?

Mit dem Versuch, systemtheoretische Perspektiven konkreter auf Steuerungsbereiche für Managementhandeln in Organisationen der Sozialen Arbeit zu beziehen und dadurch praktische Reflexions- und Handlungsorientierungen zu entwickeln, verbinden wir die Absicht und die Hoffnung, zur oben skizzierten Differenzminimierung beizutragen und die systemtheoretische Perspektive auch für Akteure des praktischen Sozialmanagements »anschlussfähiger« zu machen.

Schon zu Beginn, in dieser Einleitung, wollen wir die Leser auf eine zentrale Orientierung für die Herausbildung eines systemtheoretisch konzipierten Sozialmanagements aufmerksam machen, deren Beachtung hilfreich für die Lektüre des Buches ist und die in den einzelnen Kapitel jeweils deutlicher herausgearbeitet, begründet und konkreter auf die einzelnen Steuerungsbereiche bezogen wird:

Für alle Bereiche des Managements in Organisationen der Sozialen Arbeit gilt die Anforderung, das bisherige Managementhandeln reflexiv in den Blick zu nehmen:

•im Hinblick auf Wirkungen und Nebenwirkungen,

•im Hinblick auf (explizite und implizite) Annahmen, die das Managementhandeln bisher geleitet haben oder die in diesem zum Ausdruck kommen,

•als Bewertung zur Angemessenheit dieser Annahmen sowie

•als Nachdenken darüber, wie Managementimpulse bisher verarbeitet worden sind.

Eine verstärkte Ausrichtung auf systemische Perspektiven im Sozialmanagement bedeutet auch, das Managementhandeln in der Vergangenheit zu beobachten, um a) daraus Erkenntnisse zu gewinnen über Zustand und Dynamik der Organisation sowie b) Schlussfolgerungen für die Handhabung weiterer Managementimpulse zu ziehen (als begründete Hypothesen). Umorientierung im Managementhandeln bedeutet auch, Beobachtungen der Dynamik bisherigen Managementhandelns und seiner Funktion in der Organisation zu machen als Reflexionshintergrund zur Entwicklung anschlussfähiger neuer (veränderter) Managementimpulse.

Weil die zukunftsorientierte Reflexion zu systemischen Perspektiven des Sozialmanagements immer auch eine reflexive Verarbeitung des bisherigen Managementhandelns und des jeweiligen Zustands des Managements einer Organisation der Sozialen Arbeit einschließen sollte, möchten wir mit den Darstellungen in den einzelnen Kapiteln dazu anregen, sich nicht nur mit möglichen zukünftigen (systemisch ausgerichteten) Handlungsperspektiven zu beschäftigen, sondern sich anhand der in diesem Buch enthaltenen Kategorien und Darstellungen auch mit der bisherigen Managementpraxis in einer Organisation der Sozialen Arbeit auseinanderzusetzen. Denn anschlussfähige und damit praktisch handhabbare und wirkungsvolle Entwicklungsperspektiven haben immer eine sorgfältige Analyse und Reflexion des Bisherigen zur Voraussetzung.

Zur Genese dieses Buches

Zum Schluss der Einleitung möchten wir noch etwas zur Genese dieses Buches sagen und zugleich einem besonderen Personenkreis unseren Dank aussprechen. Früher Ausgangspunkt zu Überlegungen für dieses Buch waren die Vorbereitung und die Durchführung des Fachtages »Systemisches Management – Was ist das und was nützt es?«, der im Februar 2014 an der Fachhochschule Münster stattfand (Referent u. a. Fritz B. Simon). Die Arbeit an dem Buch verzögerte sich durch viele andere Aufgaben und Arbeitsvorhaben – u. a. durch die Konzipierung des weiterbildenden Zertifikatskurses »Systemisches (Sozial-)Management«, der dann schließlich in sieben Seminarmodulen mit einer Gruppe von 18 Teilnehmern (Leitungspersonen in Organisationen der Sozialen Arbeit) von Oktober 2017 bis September 2018 an der Fachhochschule Münster (Fachbereich Sozialwesen) stattfand. Die Diskussionen in den Seminaren mit diesen Leitungspersonen zu den verschiedenen Steuerungsbereichen und zu deren »systemischer Ausprägung« waren für das Schreiben und Überarbeiten der einzelnen Kapitel dieses Buches insofern sehr anregend, als wir durch kritische Rückfragen, durch »Hinweise aus der Praxis«, durch Reflexionsimpulse motiviert wurden, unsere Gedanken zu ordnen, zu präzisieren, anzureichern. Dafür möchten wir an dieser Stelle den Teilnehmern des Kurses danken; durch ihre Beiträge in den Seminardiskussionen haben sie zur Präzisierung einiger Argumentationen in diesem Buch beigetragen. Nicht nur für dieses Buch, sondern auch in anderen Weiterbildungskursen zum »Systemischen (Sozial-)Management« (www.fh-muenster.de/systemisches_management) können wir ihre Anregungen nutzen, und wir sind zuversichtlich, dass auch in weiteren Fortbildungen und Fachdiskussionen das Vorhaben »Systemisches (Sozial-)Management« zu einem kontinuierlichen Entwicklungsprojekt in Theorie, Konzeptionsarbeit und Praxis werden kann.

1Auf Wunsch des Verlages wird in diesem Werk bei Personenbezeichnungen in der Regel darauf verzichtet, jeweils die männliche und die weibliche Form anzuführen. Gemeint sind jeweils alle Geschlechter, unabhängig davon, ob die männliche oder die weibliche Form benutzt wird.

1Die systemtheoretische Sicht auf Organisationen

Sich Organisationen aus einer systemtheoretischen Perspektive anzunähern stellt in mehrfacher Hinsicht eine gewisse Zumutung dar. Dies liegt zum einen darin begründet, dass innerhalb des systemtheoretischen Paradigmas allgemein geteilte – und in der Regel für gültig betrachtete – Annahmen hinsichtlich des Zwecks und der Steuerung von Organisation ebenso wie die Rolle derjenigen, die für die Steuerung von Organisationen zuständig sind (in der Regel Manager), nicht nur kritisch beleuchtet, sondern bisweilen auch auf den Kopf gestellt werden.

Der zumutende Charakter eines systemtheoretischen Verständnisses von Organisationen zeigt sich zum anderen darin, dass eine Auseinandersetzung mit diesem Theoriewerk die Leser bisweilen an das Erlernen einer Fremdsprache erinnert: Da werden Organisationen als selbstreferenzielle oder autopoietische Systeme bezeichnet, die sich operational schließen, zugleich jedoch auf Fremdreferenz angewiesen sind. Es werden Maßnahmen empfohlen, um eine Beobachtung 2. Ordnung zu ermöglichen, alles um bestmöglich mit Kontingenz bzw. doppelter Kontingenz umzugehen. Die Organisationsmitglieder werden als psychische Systeme bezeichnet, die lediglich über strukturelle Kopplung mit der Organisation verbunden sind, aber eigentlich der Umwelt der Organisation zugerechnet werden müssen usw.

Dass systemtheoretische Annahmen trotz dieser »Zumutungen« auch in organisationstheoretischen Standardwerken Berücksichtigung finden (vgl. Kieser u. Ebers 2006) und es zudem innerhalb der Sozialen Arbeit erste Bemühungen gibt, systemtheoretische Erkenntnisse auf die Steuerung von Organisationen zu beziehen (vgl. Bauer 2013; Gesmann 2014; Lambers 2015), erscheint daher erklärungsbedürftig. Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich als Versuch, eben jene Erklärungsansätze zu bieten. Hierbei wird das Ziel verfolgt, Eckpunkte eines systemtheoretischen Verständnisses von Organisationen aufzuzeigen und diese von einem traditionellen, eher betriebswirtschaftlich geprägten Organisationsverständnis abzugrenzen.

Zu diesem Zweck findet in Kapitel 1.1 eine Präzisierung statt, was überhaupt unter einer Organisation zu verstehen ist. Vier allgemeine Charakteristika helfen hierbei, Organisationen von anderen sozialen Gebilden (wie z. B. einer Gruppe von Freunden oder der Schlange im Supermarkt an der Kasse) abzugrenzen. Diese vier grundlegenden Charakteristika von Organisationen dienen nachfolgend auch als Ordnungskriterien, um Unterschiede (und mögliche Gemeinsamkeiten) zwischen einem eher traditionellen zweckrationalen und einem systemtheoretischen Organisationsverständnis aufzuzeigen.

1.1Allgemeine Charakteristika von Organisationen

Von der Wiege bis zur Bahre – Organisationen prägen nachhaltig das Leben. Man wird in der Regel in Organisationen geboren, ab dem 2. oder 3. Lebensjahr einer Organisation zugeführt, die unter dem Namen Kindertagesstätte bundesweit erfolgreich firmiert, verbringt die Schulzeit mehr oder weniger freiwillig in Organisationen, studiert möglicherweise in Organisationen und arbeitet anschließend – im Idealfall bis zum wohlverdienten Ruhestand – in Organisationen. Selbst nach dem Ableben ist eine Organisation in der Regel dafür zuständig, sich der eigenen sterblichen Überreste anzunehmen.

Es verwundert daher kaum, dass auch Fachkräfte der Sozialen Arbeit den überwiegenden Anteil ihrer Arbeitszeit in bzw. mit Organisationen verbringen. Wäre die Unterstützung von hilfebedürftigen Menschen nicht in den Kontext einer Organisation eingebettet, bliebe die jeweilige Hilfe lediglich ein Akt der Nächstenliebe oder eine Form der zwischenmenschlichen Nähe. Soziale Arbeit lässt sich daher u. a. auch dadurch charakterisieren, dass das Helfen durch einen gesellschaftlichen Auftrag geprägt ist und in einem organisationalen Kontext eingebunden ist (vgl. Merchel 2015a, S. 34).

Blickt man in die Praxis der Sozialen Arbeit, so wird allerdings schnell erkennbar, dass der Begriff der Organisation eine gewisse Unschärfe aufweist. Arbeiten die Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) eines Jugendamtes nun in der Organisation ASD oder in der Organisation Jugendamt? Kann ein Arbeitskreis, der sich rund um das Thema unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Bezirk gebildet hat, als Organisation bezeichnet werden? Was ist mit Einrichtungen, die sich einem Wohlfahrtsverband angeschlossen haben: Sind diese nun Organisationen, oder ist nur der Wohlfahrtsverband eine Organisation? Und ist eine Selbsthilfegruppe eine Organisation?

Als sei dies alles noch nicht kompliziert genug, findet der Begriff Organisation noch in völlig unterschiedlichen Zusammenhängen Verwendung. Einerseits wird ein Jugendamt als Organisation der Sozialen Arbeit bezeichnet, andererseits verbringen Eltern zunehmend viel Zeit damit, die Organisation eines Kindergeburtstages zu übernehmen. Dass hier zwei völlig unterschiedliche Bedeutungen von Organisation zum Tragen kommen, dürfte offensichtlich sein. Sehr vereinfacht kann zwischen einem institutionellen und einem tätigkeitsorientierten Organisationsbegriff differenziert werden: Während aus einer institutionellen Perspektive der Organisationsbegriff Verwendung findet, wenn eine Organisation – wie z. B. ein Jugendamt – als Institution mit ihrem spezifischen Zweck, den darauf ausgelegten Strukturen und den organisationsspezifischen Mitgliedern charakterisiert werden soll,2 zielt der tätigkeitsorientierte Organisationsbegriff auf den Prozess des Organisierens ab, der im besten Falle eine gewisse Ordnung (oder einen gut laufenden Kindergeburtstag) ermöglichen soll. Darüber hinaus kann der Organisationsbegriff in einem instrumentellen Sinne Verwendung finden. In diesem Fall wird dann das Ergebnis des Prozesses des Organisierens (kondensiert in den verschiedenen Formen der Aufbau- und Ablauforganisation, die den Rahmen für alle Handlungen innerhalb der Organisation vorgeben) in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt (vgl. Grunwald 2009, S. 88 f.).

Wenngleich eine solche erste begriffliche Eingrenzung Hilfestellung bietet, um den Organisationsbegriff in seinen unterschiedlichen Facetten zu beleuchten, wird hierdurch noch nicht erkennbar, was das Spezifische von Organisationen ist und was sie von anderen sozialen Gebilden abgrenzt. Eine dezidiertere Betrachtung der vier grundlegenden Merkmale von Organisationen erlaubt eine weitergehende Konkretisierung des Gegenstands Organisation (vgl. Schreyögg 2008, S. 9):

•Spezifische Zweckorientierung

•Geregelte Arbeitsteilung

•Identifizierbare Mitglieder

•Beständigkeit der Organisationsgrenzen.

Spezifische Zweckorientierung

Organisationen werden gegründet und erhalten, um einen spezifischen Zweck zu verfolgen. Sei es, dass Unternehmen Güter in Form von Waren produzieren, um damit Profite zu erzielen, oder aber dass – wie es innerhalb der Sozialen Arbeit der Fall ist – Organisationen personenbezogene Dienstleistungen erbringen, um einen gesellschaftlichen Bedarf (z. B. Hilfe und Unterstützung bei der Lebens- und Alltagsbewältigung von Individuen zu bieten oder soziale Ungleichheit in der Gesellschaft zu reduzieren) zu erfüllen. Organisationen, die auf die Formulierung von Zwecken verzichten, würden sowohl bei ihren Mitgliedern als auch in ihrer Organisationsumwelt ein Höchstmaß an Irritationen erzeugen und zugleich ihren Erhalt gefährden (vgl. Kühl 2011, S. 19).

Organisationsstrukturen als Ausdruck einer geregelten Arbeitsteilung

Zu den wesentlichen Definitionsmerkmalen einer Organisation gehört zweifelsohne, dass diese über eine Organisationsstruktur verfügen, dass somit (mehr oder weniger eindeutig) geregelt ist, wer was wann und wie macht bzw. machen sollte. Dieses Regelwerk der Organisation findet seinen Niederschlag beispielsweise in Aufgaben- und Kompetenzverteilungen, in Plänen oder Verfahrensanweisungen oder in Stellenbeschreibungen und Arbeitsverträgen und ergibt in seiner Gesamtheit die formale Struktur einer Organisation (vgl. Klimmer 2012, S. 3).

Identifizierbare Mitglieder

Organisationen sind mit zu identifizierenden Mitgliedern ausgestattet, die bereit sind, die formale Struktur einer Organisation zu berücksichtigen und die hiermit verbundenen Erwartungen an sie zu erfüllen. (Kurz: Sie »unterwerfen sich der Organisation.«) Um den Verbindlichkeitsdruck für beide Seiten zu erhöhen, wird die Beziehung zwischen Organisationen und deren Mitgliedern in der Regel über Arbeitsverträge fixiert. Die »kollektive Unterwerfung« der Organisationsmitglieder honoriert die Organisation in der Regel durch die Bereitstellung eines Entgelts (zumeist in Form eines Gehalts).

Beständigkeit der Organisationsgrenzen

Organisationen lassen sich darüber hinaus dadurch charakterisieren, dass sie in der Lage sind, sich von ihrer Umwelt abzugrenzen. (Es gibt somit ein »Innen« und ein »Außen«.) Jene Grenzen sind weder natürlich gegeben (wie die Grenzen eines Flussbettes) noch zufällig vorhanden. Vielmehr müssen sie als absichtsvoll hergestellt betrachtet werden und weisen in diesem Zusammenhang ein gewisses Maß an Stabilität auf, was zugleich aber nicht ausschließt, dass sich die vorhandenen Grenzen verändern können (vgl. Schreyögg 2008, S. 9).

Zusammenfassend lässt sich eine Organisation also von anderen sozialen Gebilden (wie z. B. der Schlange an der Supermarktkasse) dadurch abgrenzen, dass sie (mindestens) einen klar definierten und in der Regel allen bekannten Zweck verfolgt (einen solchen Zweck könnte man nun einer Schlange im Supermarkt auch noch attestieren: alle wollen bezahlen), dass sie zu diesem Zwecke formale (und zwangsläufig auch informale) Strukturen ausbildet (dies wird in der Supermarktkasse kaum zu beobachten sein) und dass sie sich eindeutig gegenüber ihrer Umwelt abgrenzt, was auch über Formen der Mitgliedschaft geregelt wird. Während sich im Supermarkt jeder an der Schlange anstellen oder aber – wenn es ihm zu lange dauert – auch wieder gehen kann, zeichnen sich Organisationen hinsichtlich ihrer Mitgliedschaft in der Regel durch ein höheres Maß an Verbindlichkeit aus. (Nur so kann in der Regel gewährleistet werden, dass auch die Organisationszwecke erreicht werden).

Wenngleich diese allgemeinen Charakteristika von Organisationen Hilfestellung bieten, um den Gegenstand Organisation einzugrenzen, darf hierdurch nicht übersehen werden, dass Organisationen stets Konstrukte bleiben, die sich letztlich nicht im Ganzen, in ihrer Gesamtheit beobachten, erleben oder erfassen lassen (vgl. Merchel 2015a, S. 34). Ob man nun einen ASD als eigenständige Organisation oder lediglich als Organisationseinheit innerhalb der Organisation Jugendamt betrachtet, hängt daher vom jeweiligen Standpunkt des Beobachters (z. B. der Jugendamtsleiterin oder des ASD-Leiters) und dem individuellen impliziten Organisationsverständnis ab, also der subjektiven Antwort auf die Frage: Was ist mein Verständnis (mein Bild) von einer Organisation?

Wie bunt diese Vorstellungsbilder hinsichtlich des Wesens, der Funktionslogik und damit verbunden auch der Steuerung von Organisationen gefärbt sein können, hat Gareth Morgan eindrucksvoll in unterschiedlichen Bildern der Organisation aufgezeigt (vgl. Morgan 2006). Die nachfolgende Darstellung eines traditionellen, eher zweckrationalen Organisationsverständnisses (Kapitel 1.2), gefolgt von einem Organisationsverständnis aus einer systemtheoretischen Perspektive (Kapitel 1.3), zeigt hierbei auf, wie stark die jeweiligen Bilder voneinander abweichen können, wenngleich hiermit kein Schwarz-Weiß-Denken und erst recht kein Denken in Richtig-falsch-Kategorien produziert werden soll.

1.2Das traditionelle (zweckrationale) Organisationsverständnis

Von einem traditionellen Organisationsverständnis zu sprechen, scheint gewagt, da eine Vielzahl von Organisationstheorien existieren, die allesamt den Versuch unternehmen, den »Zweck, das Entstehen, das Bestehen und die Funktionsweise von Organisationen zu erklären bzw. zu verstehen« (Scherer 2006, S. 20). Dennoch lässt sich konstatieren: Die Vorstellung, Organisationen seien rational geplante und gesteuerte Gebilde, kann als »die seit Langem und noch immer dominierende Sichtweise sowohl im Alltagsleben als auch innerhalb der Organisationsforschung eingeschätzt werden« (Preisendörfer 2011, S. 95). Diese Sichtweise auf Organisationen wird nachfolgend in der gebotenen Kürze skizziert. Im Sinne einer »Leitplankenfunktion« geben hierbei die zuvor genannten vier allgemeinen Charakteristika von Organisationen (Zweck, Strukturen, Grenze und Mitgliedschaft) die Richtung vor.

Die Zweckhörigkeit des traditionellen zweckrationalen Organisationsverständnisses

Wie der Zusatz »zweckrational« bereits vermuten lässt, steht innerhalb des zweckrationalen Organisationsverständnisses der Zweck im Vordergrund. Es wird also davon ausgegangen, dass eine Organisation ein »zweckrationales Gebilde« (Kegelmann 2007, S. 124) ist. Zweckrationalität meint in diesem Zusammenhang nicht nur, dass die Organisationmitglieder ihr Handeln an Zwecken orientieren, sondern vielmehr, »dass die Organisation im Ganzen maßgeblich durch eine stringente Zweckorientierung geprägt ist und die ganze Organisation letztlich in Form von Zweck-Mittel-Ketten formuliert werden kann« (Grunwald 2009, S. 92). Der jeweilige »Urzweck« (Kühl 2011, S. 23) einer Organisation kann dann in eine Vielzahl von Unterzwecken zerlegt werden, denen beispielsweise die Abteilungen dienen sollen. Diesem zweckrationalen Verständnis folgend, ist eine Organisation demnach (Jung u. Wimmer 2014, S. 99):

»eine Bündelung von Stellen und Abteilungen, deren genaues Verhältnis zueinander über Vernetzung von Regeln und Abläufen koordiniert wird und die zur rationell-instrumentellen Erreichung von zuvor gesetzten Zielen oder Zwecken beitragen sollen … Man hat es somit mit einer Zweck-Mittel-Relation zu tun, bei der die Elemente der Organisation so geordnet sind, dass die Zwecke nicht verfehlt werden.«

Die formale Organisationsstruktur als verlängerter Arm des Organisationszwecks

Innerhalb eines zweckrationalen Organisationsverständnisses kann die Organisationsstruktur in gewisser Weise als »verlängerter Arm« des Organisationszwecks interpretiert werden, schließlich gelten die Organisationsziele als wesentliche Leitlinie für die Ausgestaltung der formalen Organisationsstruktur. Die organisatorischen Regelungen und Strukturen werden folglich »als eine Art geronnene und bewährte Mittel zur Erreichung der angestrebten Organisationsziele« (Preisendörfer 2011, S. 96) betrachtet. Organisationen lassen sich demnach als Zweck-Mittel-Hierarchien begreifen: An oberster Stelle der Organisation wird der Organisationszweck definiert (z. B. die Integration von arbeitssuchenden Menschen in die Berufswelt), sämtliche Strukturen und Prozesse werden auf diesen Zweck hin ausgerichtet, der Zweck programmiert die Mittel.

Die Organisationsmitglieder als Rädchen im Getriebe

Um die ideale zweckrationale Organisation nun »fertigzustellen«, müssen nur noch die einzelnen Positionen innerhalb der Hierarchie mit geeigneten Personen besetzt werden. In einem ersten Schritt wird hierzu eine Aufgabe möglichst exakt definiert und erst in einem zweiten Schritt eine Person ausgewählt, die genau zu dieser Aufgabe passt. Hierbei ist der gesamte Personalauswahlprozess ausschließlich auf die für die Organisation bedeutsamen Kriterien ausgerichtet. Geschlecht, ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung etc. gilt es zu vernachlässigen. Wenngleich kein Vertreter eines zweckrationalen Organisationsverständnisses dies so verlauten lassen würde, wird innerhalb dieses Organisationstypus implizit davon ausgegangen, dass auch die Organisationsmitglieder äußerst rational handeln, dass sie also ein kalkulierbares Verhalten an den Tag legen und wie ein »Rädchen im Getriebe« (Neuberger 1977, S. 67) funktionieren.

Abgrenzung gegenüber einer stabilen und berechenbaren Umwelt

Der eindeutig definierte Zweck einer Organisation und die hieraus ausgerichteten Organisationsstrukturen und -regeln führen dazu, dass die Mitglieder der Organisationen nur einen sehr begrenzten Ausschnitt ihrer Umwelt wahrnehmen. Die zweckrationale Organisation beschäftigt sich daher primär mit sich selbst, sie legt sich eine Wahrnehmungsbegrenzung auf, die dazu führt, dass nur solche Informationen wahrgenommen werden, denen mit vorhandenen Routinen begegnet werden kann. Aufgrund ihrer selbst geschaffenen Wahrnehmungsbegrenzung glaubt die zweckrationale Organisation fest daran, dass ihre Umwelt stabil und berechenbar ist (vgl. Kühl 2015a, S. 45 ff.).

Zusammenfassend zeichnet sich das zweckrationale Organisationsverständnis also dadurch aus, dass Organisationen hinsichtlich ihrer Funktionsweise mit einer Maschine verglichen werden. Sie lassen sich demnach »absichtsvoll gestalten, managen, beraten, reformieren oder sonst wie zum Gegenstand instrumenteller Zugriffe und kausaler Zuschreibungen machen« (Jung u. Wimmer 2014, S. 99). Die Effizienz und Effektivität von Organisationen hängt folglich maßgeblich von der Optimierung der Organisationsstruktur und der Arbeitsorganisation ab. Der Mensch wird als »Humanmaschine« betrachtet, deren Aufgabe es ist, vorgegebene Ziele zu erreichen und hierbei bestmöglich zu funktionieren.

Nun muss man weder Organisationsberater noch Organisationstheoretiker sein, um festzustellen, dass jenes zweckrationale Organisationsverständnis wenig mit dem zu tun hat, wie Organisationen »wirklich« sind. Nur allzu oft kann man auch in Organisationen der Sozialen Arbeit beobachten, dass der organisationale Alltag nur bedingt vom übergeordneten Organisationszweck bestimmt wird und stattdessen eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen, bisweilen diametral entgegengesetzten Zwecken das Geschehen in Organisationen prägen. Ebenso selbstverständlich kann beobachtet werden, dass die formalen Strukturen einer Organisation massiv unterlaufen, neu interpretiert oder gänzlich ignoriert werden, genauso wie festgestellt werden muss, dass die Organisationsmitglieder nicht wie die Lemminge den handlungsleitenden Zielen folgen, sondern vielmehr ihren »eigenen Kopf« haben. Auch die Annahme, dass Organisationen der Sozialen Arbeit in stabilen und berechenbaren Umwelten agieren, muss deutlich angezweifelt werden. Kurz: Man muss kein Organisationsexperte sein, um festzustellen, dass es in Organisationen deutlich wilder zugeht, als es das zweckrationale Organisationsverständnis vorgaukelt. Hiermit soll nicht bestritten werden, dass Zwecke in Organisationen eine bedeutsame Funktion einnehmen sollten. Allerdings teilen wir Klaus Grunwalds (2009, S. 93) Skepsis, »eine Organisation sei im Kern bestimmt durch eine hierarchisch aufgebaute Zweck-Mittel-Pyramide, die der Garant für Rationalität ist, sei also quasi allein und vor allem durch ›rationale‹ Zweck-Mittel-Zusammenhänge definiert«.

1.3Eckpunkte eines systemtheoretischen Organisationsverständnisses

Um nachfolgend die Eckpunkte eines systemtheoretischen Organisationsverständnisses aufzuzeigen und diese Perspektive zugleich von einem zweckrationalen Organisationsverständnis abzugrenzen, werden die benannten Charakteristika von Organisationen – Zweckorientierung, Arbeitsteilung über die Ausbildung von Strukturen sowie Beständigkeit der Organisationsgrenzen und in diesem Zusammenhang die Bedeutsamkeit von Organisationsmitgliedern – erneut aufgenommen. Dem in der Einleitung von Kapitel 1 genannten Prinzip des »Auf-den-Kopf-Stellens« folgend, wird der Beginn aber nicht beim Zweck einer Organisation, sondern vielmehr bei deren Abgrenzung gegenüber ihrer Umwelt gesetzt.

1.3.1Organisation als Differenz: Zur Bedeutsamkeit der System-Umwelt-Unterscheidung

Eine systemtheoretische Betrachtung von Organisationen führt zwangsläufig dazu, das Beobachtungsspektrum zu erweitern, da Systeme stets in Abhängigkeit von bzw. im Austausch mit ihrer Umwelt betrachtet werden müssen. Nichts anderes ist gemeint, wenn Torsten Groth ein System als »Einheit der Differenz von System und Umwelt« (Groth 2017, S. 44) beschreibt. Organisation und Umwelt stellen folglich zwei Seiten einer Medaille dar. Eine Organisation entsteht und besteht daher nur dann, wenn sie kontinuierlich dafür Sorge trägt, dass sie die Differenz zwischen sich und der stets komplexeren Umwelt aufrechterhält, wenn also ein Innen von einem Außen (der Umwelt) abzugrenzen ist (Abb. 1).

Abb. 1: System als Differenz von Innen und Außen

Wie wichtig Abgrenzung im Alltag von Organisationen der Sozialen Arbeit ist, zeigt sich bei solchen Organisationen, die – wie ein Fähnchen im Wind – jedem aktuellen Trend hinterherlaufen und ständig ihr Profil, Aufgabenspektrum und damit auch die eigene Organisationsgrenze verändern. In diesen Fällen leiden nicht nur die Organisationsmitglieder, da ihnen die dringend benötigte Orientierung (zwischen Innen und Außen) fehlt. Auch die Umwelt zeigt sich bisweilen irritiert, da der Organisation kein eindeutiges Profil mehr zugesprochen werden kann (im Sinne von: die Organisation steht hierfür oder dafür).

In Bezug auf die Grenzen zwischen Organisation und Umwelt sind zwei weitere Aspekte von zentraler Bedeutsamkeit:

•Die Grenze zur Umwelt wird von Organisationen selbst erzeugt.

•Die Grenzziehung zwischen System und Umwelt bedeutet nicht, dass sich Organisationen vollständig gegenüber ihrer Umwelt abdichten können.

Selbsterzeugung der Organisationsgrenze

Wer sich mit den Annahmen der neueren Systemtheorie beschäftigt, kommt weder an dem Namen Niklas Luhmann noch an dem Begriff der Autopoiese vorbei. Wenngleich dieses Kunstwort3 von den chilenischen Biologen und Neurophysiologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela geprägt wurde (vgl. Maturana u. Varela 2009), war es insbesondere Luhmann, der sich dafür ausgesprochen hat, das Autopoiesekonzept auch auf soziale Systeme (und damit auch auf Organisationen) zu übertragen. Verkürzt formuliert, besagt die Theorie autopoietischer Systeme, »dass komplexe Systeme sich in ihrer Einheit, ihren Strukturen und Elementen kontinuierlich und in einem operativ geschlossenen Prozess mithilfe der Elemente produzieren, aus denen sie bestehen« (Willke 2006, S. 10).

Wenn Organisationen als autopoietische Systeme eingeordnet werden müssen, stellt sich die Frage, was als zu reproduzierendes Element eines sozialen Systems betrachtet werden muss. Anders gefragt: Wodurch grenzen sich Organisationen konkret dauerhaft von ihrer Umwelt ab? Während innerhalb der traditionellen Betriebswirtschaftslehre davon ausgegangen wird, dass der Mensch die kleinste Einheit einer Organisation bildet und folglich Menschen die Elemente von Organisationen sind, unternimmt Luhmann die, wie Willke (1994, S. 99) es formuliert, »wohl folgenreichste theorie-architektonische Weichenstellung in der soziologischen Systemtheorie«, indem er nicht den Menschen, sondern Kommunikation – präziser formuliert, kommunizierte Entscheidungen – als Element sozialer Systeme bezeichnet. Organisationen bestehen gemäß Luhmann (2006, S. 63) also (und grenzen sich hierdurch auch gegenüber der Umwelt ab), indem

»es zur Kommunikation von Entscheidungen kommt … Alles andere – Ziele, Hierarchien, Rationalitätschancen, weisungsgebundene Mitglieder oder was sonst als Kriterium von Organisationen angesehen worden ist – ist demgegenüber sekundär und kann als Resultat der Entscheidungsoperationen des Systems angesehen werden.«

Was sich hier möglicherweise noch abstrakt anhört, zeigt sich im organisationalen Alltag an zahlreichen Stellen. So müssen in der Gründungsphase einer Organisation Entscheidungen hinsichtlich eines bestimmten Zwecks (z. B. ambulante erzieherische Hilfen anzubieten und keine stationäre Einrichtung zu gründen), Entscheidungen in Bezug auf die Wahl der Gesellschaftsform (z. B. die Entscheidung für eine gemeinnützige GmbH und gegen einen eingetragenen Verein) oder aber Entscheidungen hinsichtlich des Personals gefällt werden (beispielsweise die Entscheidung für die Einstellung eines Sozialarbeiters und gegen einen Psychologen). Dadurch, dass Entscheidungen lediglich den Charakter von Ereignissen haben, »die, indem sie vorkommen, schon wieder verschwinden« (ebd., S. 152), ebbt der kontinuierliche Entscheidungsdruck für Organisationen auch nach deren Gründungsphase nicht ab.

Wenn Organisationen dadurch als Einheit Bestand erfahren, dass (kommunizierte) Entscheidungen an (kommunizierte) Entscheidungen anschließen und für das Treffen von Entscheidungen stets Rückbezug auf vorherige Entscheidungen genommen wird, dann muss konstatiert werden, dass Organisationen »auf der Ebene dieser selbstreferenziellen Organisation geschlossene Systeme [sind], denn sie lassen in ihrer Selbstbestimmung keine anderen Formen der Prozessierens zu« (Luhmann 1984, S. 60).

Abgrenzung von Organisationssystemen: Schließung und Öffnung zugleich

Wenngleich Organisationen im Kern ihrer Selbsterstellung als geschlossene Systeme betrachtet werden müssen, kann sich keine Organisation vollständig gegenüber ihrer Umwelt abdichten. Wie andere lebende Systeme auch, sind Organisationen auf Ressourcen (Geld, Personal etc.) und Informationen aus ihrer Umwelt angewiesen, um entscheidungsfähig und damit überlebensfähig zu bleiben.

Organisationen – bzw. generell autopoietische Systeme – weisen also gewisse paradox anmutende Tendenzen auf: Sie sind in den Tiefen ihrer Reproduktion hochgradig autonom – niemand kann von außen determinieren, wie und welche Entscheidungen an Entscheidungen innerhalb einer Organisation anschließen, dies lässt Organisationen bisweilen eigensinnig und strukturell konservativ erscheinen. Zugleich sind Organisationen – um ihr Überleben zu sichern – maßgeblich von ihrer Umwelt abhängig. Keine Einrichtung der Sozialen Arbeit kann ihre Umwelt vollends ausblenden. Wenn sich rechtliche Rahmenbedingungen ändern, Fördermittel wegbrechen oder auf der anderen Straßenseite ein Mitbewerber eine Einrichtung eröffnet, sind dies wesentliche Aspekte, die innerhalb der jeweiligen Organisation beim Treffen von Entscheidungen Berücksichtigung finden sollten. Organisationen sind daher zum Dauerbeobachten ihrer Umwelt »gezwungen«. Nur wenn solche Beobachtungen zu Informationen verdichtet werden und diese beim Treffen von Entscheidungen Berücksichtigung finden, kann die Organisation auch zukünftig weiterentscheiden und hierdurch ihre System-Umwelt-Grenze aufrechterhalten. Eben jene paradoxe Tendenz von autopoietischen Systemen, sich einerseits gegenüber der Umwelt zu verschließen, sich aber zugleich punktuell auch öffnen zu müssen, lässt sich als »operationale (oder operative) Schließung« bezeichnen (vgl. Willke 2001, S. 32).

Blickt man in die Praxis der Sozialen Arbeit, so ist es nicht schwierig, den selbstbezüglichen Charakter von Organisationen infolge ihrer operationalen Schließung zu beobachten. So neigen Organisationen der Sozialen Arbeit beispielsweise dazu, Veränderungen innerhalb der Rechtssystems so lange zu ignorieren und Entscheidungen weiterhin auf der Basis vergangener Entscheidungen (und damit einer überholten Rechtslage) zu treffen, bis der Druck zur Wahrnehmung und Anwendung des Rechts keine anderen Möglichkeiten mehr zulässt (eindrücklich zu beobachten bei der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes Anfang 2012). Das hohe Maß an Autonomie und Selbstbezüglichkeit, das Organisationen im Laufe der Zeit ausbilden, lässt sich auch an deren Umgang mit von außen auferlegten Reformabsichten erkennen. Zwar mussten sich in den 1990er-Jahren zahlreiche Einrichtungen der Sozialen Arbeit infolge der »Neuen Steuerung« mit »neuen Etiketten« versehen (aus dem Klienten wurde ein Kunde, aus dem Jugendamt ein Amt für Kinder, Jugendliche und Familien, es wurden Systeme des Qualitäts- und Beschwerdemanagements eingeführt etc.), die grundsätzliche Art und Weise, wie die Einrichtungen ihre Aufgaben erfüllten, wie also Entscheidungen an Entscheidungen anknüpfen, blieb hiervon aber lange Zeit unangetastet.

Würde das Treffen von Entscheidungen innerhalb einer Organisation jedes Mal das Zusammenkommen von Leitungskräften oder Fachteams erfordern, wäre eine Organisation innerhalb kürzester Zeit maßlos überfordert. Die Vielzahl von Entscheidungen, die tagtäglich auf völlig unterschiedlichen Ebenen innerhalb einer Organisation getroffen werden müssen, verlangen Formen der Vereinfachungen, die den Entscheidungsspielraum von Beginn an verkleinern und damit den Abstimmungsaufwand in Organisationen reduzieren. Strukturen übernehmen jene Funktion, indem sie als Prämissen für Entscheidungen wirken.

1.3.2Entscheidungsprämissen als Strukturen einer Organisation

Ähnlich wie Don Quichotte unbeirrt gegen die Windmühlen kämpft, sind Organisationen auf Gedeih und Verderb dem Kampf gegen eine stets komplexere Umwelt ausgesetzt. Um trotz der hohen Umweltkomplexität die eigene Autopoiese zu gewährleisten, benötigen Organisationen Vereinfachungsmöglichkeiten, also Vorkehrungen, die das Treffen zukünftiger Entscheidungen erleichtern. Eben jene Funktion übernehmen Strukturen in Organisationen, denn nach Luhmann (1984, S. 74) fassen sie

»die offene Komplexität der Möglichkeit, jedes Element mit jedem anderen zu verbinden, in ein engeres Muster ›geltender‹, üblicher, erwartbarer, wiederholbarer oder wie auch immer bevorzugter Relationen. Sie können durch diese Selektion weitere Selektionen anleiten, indem sie die Möglichkeiten auf jeweils überschaubare Konstellationen reduzieren.«

Dies klingt abstrakt, wird aber plausibel (bzw. plausibler), wenn man formale Strukturen in Organisationen der Sozialen Arbeit betrachtet. Als formale Strukturen werden hier beispielsweise Stellenbeschreibungen, Kompetenzregelungen, Verfahrens- und Verhaltensrichtlinien, Entlohnungspraktiken und vorgesehene Unter- bzw. Überordnungsverhältnisse bezeichnet. All jene Elemente der Formalstruktur einer Organisation dienen dazu, die Bedingungen für die Mitgliedschaft in einer Organisation festzulegen. In dem Moment, in dem ein Sozialarbeiter einen Arbeitsvertrag unterzeichnet, unterwirft er sich – in der Regel 5 Tage die Woche, 8 Stunden am Tag – den Erwartungen der Organisation, die innerhalb der Formalstruktur einer Organisation geregelt und in Kurzfassung für die jeweilige Stelle spezifiziert in seinem Arbeitsvertrag festgelegt sind.

Dies hat – sowohl für die Organisation als auch den neuen Mitarbeiter – den großen Vorteil, dass nicht jeden Tag neu darüber entschieden werden muss, wo und von wann bis wann er zu arbeiten hat, was er überhaupt innerhalb seiner Arbeit leisten soll, wen er wann wie informieren muss und welche Kommunikationspartner er zu akzeptieren hat, auch wenn er möglicherweise mit diesen privat keine Minute seines Lebens verbringen würde. Und dennoch determinieren Organisationsstrukturen nicht die einzelnen Entscheidungen, die innerhalb einer Organisation getroffen werden. Dies ist der Grund, warum trotz vorhandener Dienstwege eben jene abgekürzt werden, warum Verfahrensrichtlinien, wie sie beispielsweise in einem Qualitätsmanagementhandbuch dezidiert ausformuliert sind, kreativ erweitert oder umgedeutet werden und warum möglicherweise auch ein neuer Mitarbeiter eingestellt wird, der eigentlich nur bedingt den Formalanforderungen der zu besetzenden Stelle entspricht. Organisationsstrukturen, so die Kurzfassung, machen also lediglich bestimmte Entscheidungen wahrscheinlicher, sie bestimmen diese aber nicht (vgl. Kühl 2011, S. 101).

Innerhalb der neueren Systemtheorie werden Organisationsstrukturen daher auch als »Entscheidungsprämissen« bezeichnet. Solche Entscheidungsprämissen legen zukünftige Entscheidungen nicht fest, aber

»sie fokussieren die Kommunikation auf die in den Prämissen festgelegten Unterscheidungen, und das macht es wahrscheinlich, dass man künftige Entscheidungen mit Bezug auf die vorgegebenen Prämissen unter dem Gesichtspunkt der Beachtung oder Nichtbeachtung und der Konformität oder Abweichung beobachten wird, statt die volle Komplexität der Situationen jeweils neu aufzurollen« (Luhmann 2006, S. 224).

Man könnte Entscheidungsprämissen auch als »Metaentscheidungen« (Boos u. Mitterer 2014, S. 52) bezeichnen, da sie über anderen Entscheidungen liegen und diese beeinflussen. Sie legen somit »nur« den Spielraum fest, innerhalb dessen frei entschieden werden kann.

In Bezug auf das Konzept der Entscheidungsprämissen lassen sich verschiedene Arten von Entscheidungsprämissen unterscheiden. Als die drei wichtigsten können betrachtet werden (vgl. Luhmann 2006, S. 225 ff.):

•Programme

•Kommunikationswege

•Personal

Programme

Was hier als Programme bezeichnet wird, kann alltagssprachlich als Menge von Regeln innerhalb einer Organisation verstanden werden. Programme legen also fest, was man in einer Organisation zu tun und besser zu lassen hat. Betrachtet man die Programme, die in Organisationen wirksam werden, so lassen sich diese in zwei verschiedene Programmtypen unterscheiden: eher inputorientierte Konditionalprogramme auf der einen Seite und eher outputorientierte Zweckprogramme auf der anderen Seite (vgl. ebd., S. 261).

•Konditionalprogramme legen grundsätzlich fest, was innerhalb einer Organisation unternommen werden muss, wenn ein bestimmter Impuls wahrgenommen wird. Wenn ein Hilfe suchender Bürger beim ansässigen Jobcenter einen Antrag auf Arbeitslosengeld II stellt (»Impuls«), greift ein engmaschiges Regelwerk, das vom zuständigen Mitarbeiter abgearbeitet werden muss, um zu entscheiden, ob – und, wenn ja, in welcher Höhe – ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II besteht. Konditionalprogramme folgen hierbei einer Wenn-dann-Logik, bei der die jeweilige Vorgehensweise in der Regel weitestgehend festgelegt ist: »Das Programm bestimmt, was zu tun ist – und was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist bei Konditionalprogrammen verboten.« (Kühl 2011, S. 105.)

•Im Gegensatz dazu legen Zweckprogramme ausschließlich fest, welche Ziele bzw. Zwecke erreicht werden sollen. Ein freier Träger der Kinder- und Jugendhilfe, der in seinem Konzept für die offene Kinder- und Jugendarbeit schreibt, »Wir schaffen und fördern Möglichkeiten zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit«, wird kaum über klare Wenn-dann-Regeln verfügen, wie dieser Zweck erreicht werden soll. Vielmehr sind hier die Organisationsmitglieder gefordert, die jeweiligen Handlungsabläufe nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten auszuhandeln und festzulegen. Im Gegensatz zu Konditionalprogrammen verfügen Zweckprogramme daher über ein deutlich höheres Maß an »Elastizität« (Luhmann 2006, S. 266), was dem stark individualisierten Aufgabencharakter von sozialen Dienstleistungen gerecht wird.

In Bezug auf die pädagogische Arbeit von Sozialarbeitern dominieren folglich Zweckprogramme. Demgegenüber stehen Konditionalprogramme insbesondere dann im Vordergrund, wenn es um die Umsetzung von administrativen Aufgaben geht.

Kommunikationswege

Neben Programmen können über Entscheidungsprämissen auch »Kommunikationswege innerhalb einer Organisation vorgeschrieben werden, die eingehalten werden müssen, wenn die Entscheidung als eine solche der Organisation Anerkennung finden soll« (Luhmann 2006, S. 225). Solche Kommunikationswege werden im organisationalen Alltag in der Regel als Dienstwege bezeichnet, die ihrerseits über die Hierarchie festgelegt werden. Dienstwege haben für Organisationen eine massiv entlastende Funktion, da über sie ausgeschlossen wird, dass jeder bei allem mitredet. Sie geben an, »wie die mit Entscheidungen verbundenen Informationen in der Organisation zirkulieren müssen beziehungsweise dürfen« (Martens u. Ortmann 2006, S. 442). Die Entscheidung des ASD, innerhalb einer Familie eine Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) zu installieren, muss daher nicht zuvor noch mit den Kollegen aus dem Jobcenter, dem Ausländeramt oder dem Pflegekinderdienst besprochen werden, sondern lediglich innerhalb der kollegialen Fallberatung mit den Kollegen thematisiert werden. Zugleich reicht es nicht aus, dass die Kollegen im Team diese Entscheidung richtig finden. Damit diese Entscheidung organisationale Relevanz hat und somit eine Handlung auslöst, muss der Vorgesetzte (z. B. die Teamleitung) der Entscheidung zustimmen.

Personal

Innerhalb der klassischen Betriebswirtschaftslehre wird das Personal einer Organisation in der Regel lediglich als Mittel zum Zweck, nicht aber als Struktur einer Organisation betrachtet (Kapitel 1.2). Hierbei wird übersehen, dass in Organisationen nicht nur über Personal entschieden wird, sondern dass Personalentscheidungen auch wichtige Prämissen für weitere Entscheidungen innerhalb der Organisation darstellen (vgl. Kühl 2011, S. 107). So macht es beispielsweise einen bedeutsamen Unterschied (für zukünftige Entscheidungen), ob die neu zu besetzende Stelle des Jugendamtsleiters durch einen Juristen oder einen Sozialarbeiter besetzt wird. Ebenso macht es einen Unterschied, ob die Stelle des Assistenten der Geschäftsführung einem »Greenhorn« Anfang zwanzig übertragen wird oder einer berufs- und lebenserfahrenen Mittfünfzigerin. Neben der Einstellung von Personal kann innerhalb einer Organisation auch über den Austritt von Personal indirekt Einfluss auf zukünftige Entscheidungen genommen werden. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Entlassung von Personen. Wenn der Vorstand einer Erziehungsberatungsstelle deren Leiter vor die Tür setzt, weiß jeder innerhalb der Organisation, welche Art von (Leitungs-)Entscheidungen unerwünscht ist und demnach zukünftig wahrscheinlich nicht mehr so getroffen werden sollte. Auch Formen der internen Versetzung – sei es in Form einer Beförderung oder Ruhigstellung – können als Entscheidungen mit weitreichenden Auswirkungen für nachfolgende Entscheidungen betrachtet werden (vgl. Luhmann 2006, S. 287).

Programme, Kommunikationswege und Personal lassen sich als Sinnbild für die Formalstruktur einer Organisation interpretieren. Über diese Entscheidungsprämissen können Leitungskräfte in Einrichtungen der Sozialen Arbeit entscheiden und hierdurch – im Sinne von Steuerung – Einfluss auf zukünftige Entscheidungen nehmen. Programme, Kommunikationswege und Personal werden daher auch als entscheidbare Entscheidungsprämissen bezeichnet.

Ähnlich wie innerhalb der klassischen Betriebswirtschaftslehre zwischen formaler und informaler Organisation unterschieden wird, kann auch aus einer systemtheoretischen Perspektive zwischen entscheidbaren und unentscheidbaren Entscheidungsprämissen differenziert werden (vgl. ebd., S. 240). Unentscheidbare Entscheidungsprämissen zeichnen sich dadurch aus, dass Sie – ähnlich wie Programme, Kommunikationswege und Personal – im Sinne einer Prämisse wirksam werden, also zukünftige Entscheidungen beeinflussen. Im Gegensatz zu entscheidbaren Entscheidungsprämissen entziehen sich unentscheidbare Entscheidungsprämissen einer direkten Beeinflussung (beispielsweise durch Leitungskräfte). Als bedeutsamste unentscheidbare Entscheidungsprämisse gilt die Kultur einer Organisation. In ihr bündeln sich die Normen und Werte einer Organisation, die – abseits der Formalstruktur – maßgeblich Einfluss darauf nehmen, wie innerhalb einer Organisation entschieden wird (Kapitel 5).

Zusammenfassend können sowohl die entscheidbaren als auch die unentscheidbaren Entscheidungsprämissen als Leitplanken für den Fluss der Entscheidungen innerhalb einer Organisation interpretiert werden (Abb. 2). Wenngleich diese Leitplanken die einzelne Entscheidung nicht zu determinieren vermögen, kann über die Gestaltung von (entscheidbaren) Entscheidungsprämissen dennoch Einfluss auf zukünftige Entscheidungen genommen werden.

Abb. 2: Entscheidungsprämissen als Leitplanken für Entscheidungen (verändert nach Boos u. Mitterer 2014, S. 53)

1.3.3Und wo bleibt der Mensch? Zur Rolle der Organisationsmitglieder

Bis jetzt wurde dem Leser zugemutet, kommunizierte Entscheidungen als Elemente einer Organisation zu betrachten. Dies widerspricht vordergründig dem alltäglichen Bild von Organisationen. Eine Beratungsstelle besteht schließlich aus Beratern, ein Jobcenter aus Fallmanagern und ein ASD eines Jugendamtes aus den ASD-Mitarbeitern. Auch die klassische Betriebswirtschaftslehre hat sich lange Zeit darauf berufen (und tut dies bisweilen immer noch), dass die Angestellten und Arbeiter die Elemente des Systems »Unternehmen« sind, die dann zu Subsystemen (Abteilungen, Divisionen o. Ä.) zusammengefasst werden (vgl. Simon 1997, S. 119).

Ein solches – stark auf den Menschen fokussiertes – Bild von Organisationen erhält allerdings erste Risse, wenn man feststellt, dass Organisationen zum einen in der Lage sind, ihre Organisationsmitglieder zu überleben, und zum anderen nicht zusammenbrechen, wenn sie sich von einem Teil ihrer Organisationsmitglieder – freiwillig (z. B. durch den Eintritt in das Rentenalter) oder unfreiwillig (z. B. durch Kündigung) – verabschieden müssen. Zudem müssen auch die Vertreter der klassischen Betriebswirtschaftslehre anerkennen, dass sich Organisationen »in einem Prozess der Emergenz von den individuellen Ausgangspunkten unabhängig machen und dabei Systemeigenschaften produzieren, welche aus den Eigenschaften der Elemente (Personen, Handlungen) nicht mehr erklärbar sind« (Willke 1999, S. 55). Die etwas abgedroschene Phrase, Organisationen seien mehr sind als die Summe ihrer Teile, beschreibt jene emergenten Phänomene, die sich nur eingeschränkt erklären lassen, wenn Organisationen lediglich als Ansammlung von Menschen betrachtet werden, die sich im Kollektiv der Erreichung organisationaler Zwecke verschreiben.

Systemtheoretische Annahmen geben Hinweise, um sowohl den emergenten Charakter von Organisationen zu erklären als auch deren Fähigkeit, sich in gewisser Weise von ihren Mitgliedern »unabhängig« zu machen. Hierzu wird das klassische Verständnis hinsichtlich der Beziehung zwischen Menschen und Organisationen allerdings auf den Kopf gestellt, da Menschen der Umwelt von sozialen Systemen und damit auch der Umwelt von Organisationen zugeordnet werden (vgl. Zauner 2007, S. 152). Dies mag zunächst abstrakt und möglicherweise auch befremdlich klingen, da sich insbesondere Organisationen der Sozialen Arbeit doch gerade eben dadurch auszeichnen, dass sich deren Mitarbeiter nicht selten hochgradig mit den Zielen der Organisation identifizieren und sich voll und ganz in die Organisation einbringen. Menschen als Teil der Umwelt einer Organisation zu betrachten ist somit erklärungsbedürftig.

Verständlicher wird eine solche theoretische Zumutung, wenn zunächst einmal konstatiert wird, dass sich im Menschen eine Vielzahl von eigenständigen – autopoietischen – Systemen befindet, etwa »das organische System, das Immunsystem, das neurophysiologische System und das psychische System –, die sich zwar wechselweise beeinflussen, in ihrem Operieren aber überschneidungsfrei agieren. Alle diese Prozesse lassen sich schlicht nicht zu einer (autopoietischen) Einheit ›Mensch‹ zusammenfassen« (Groth 2013, S. 88). Dies ist der Grund, warum diejenige, die Magenschmerzen hat (organisches System), nicht zwingend verrückt werden muss (psychisches System), dies ist aber zugleich auch der Grund, warum derjenige, der Angst oder das Gefühl hat, verliebt zu sein (psychisches System), durchaus an Herzrasen oder übermäßiger Schweißproduktion (organisches System) »leiden« kann. Organische und psychische Systeme operieren also jeweils autonom, aber eben nicht autark. Beide sind auf ihre Umwelt angewiesen, und beide sind zugleich füreinander Umwelt. Eine wechselseitige Beeinflussung ist daher möglich, aber nur in dem Sinne, dass das eine System das andere im Zuge einer strukturellen Kopplung irritieren4, nicht aber determinieren kann. Körper (organisches System) und Geist (psychisches System) können daher aus einer analytischen Perspektive als jeweils eigenständige autopoietische Systeme und deswegen als gegenseitige – zugegebenermaßen höchst relevante – Umwelten betrachtet werden. Beobachter nehmen sie aber als Einheit in Form des Menschen wahr. Dass es unter Umständen dennoch hilfreich sein kann, sich der analytischen Differenzierung zu vergewissern, zeigt sich beispielsweise beim Umgang mit psychosomatischen Erkrankungen.

Ähnlich verhält es sich mit Menschen und Organisationen. Kaum ein Systemtheoretiker würde bestreiten, dass Menschen in Organisationen arbeiten und Menschen diejenigen sind, die tagtäglich Entscheidungen innerhalb einer Organisation ermöglichen. Um aber besser verstehen zu können, wie diese Entscheidungen getroffen werden, und um – hierauf basierend – den Versuch zu unternehmen, steuernd auf ein Organisationssystem Einfluss zu nehmen, kann es äußerst vorteilhaft sein, zwischen dem sozialen System »Organisation« und dem psychischen System »Mensch« zu differenzieren (wohlwissend, dass der Mensch natürlich eine Kopplung weiterer autopoietischer Systeme darstellt).

Wie schon bei der Differenzierung zwischen Körper und Geist gilt es auch bei der Unterscheidung zwischen sozialen und psychischen