Tag der Stille in Tanger - Tahar Ben Jelloun - E-Book

Tag der Stille in Tanger E-Book

Tahar Ben Jelloun

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Beschreibung

An einem stürmischen Tag in Tanger liegt ein alter Mann in seinem Zimmer und wartet auf den Tod. Er weiß, daß er sich von seiner schweren Krankheit nicht mehr erholen wird, doch er will das Leben bis zur Neige auskosten. Gegen den Tod, gegen die Einsamkeit, gegen das höhnische Heulen des Windes setzt er die Kraft der Erinnerung: Stimmen, Gesichter, längst verstorbene Freunde, verhaßte Nachbarn, einst begehrte Frauen tauchen aus dem Dunkel der Vergangenheit auf; Glück, Leidenschaft, aber auch Zorn, Bitterkeit und Enttäuschung brechen erneut hervor. An einem einzigen Tag ringt der alte Mann dem Tod noch einmal ein ganzes Leben ab – «Tag der Stille in Tanger» ist eine Geschichte über das Altern, aber auch über die Macht der Phantasie.

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Seitenzahl: 132

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Tahar Ben Jelloun

Tag der Stille in Tanger

Aus dem Französischen von Uli Aumüller

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

An einem stürmischen Tag in Tanger liegt ein alter Mann in seinem Zimmer und wartet auf den Tod. Er weiß, daß er sich von seiner schweren Krankheit nicht mehr erholen wird, doch er will das Leben bis zur Neige auskosten. Gegen den Tod, gegen die Einsamkeit, gegen das höhnische Heulen des Windes setzt er die Kraft der Erinnerung: Stimmen, Gesichter, längst verstorbene Freunde, verhaßte Nachbarn, einst begehrte Frauen tauchen aus dem Dunkel der Vergangenheit auf; Glück, Leidenschaft, aber auch Zorn, Bitterkeit und Enttäuschung brechen erneut hervor.

An einem einzigen Tag ringt der alte Mann dem Tod noch einmal ein ganzes Leben ab – «Tag der Stille in Tanger» ist eine Geschichte über das Altern, aber auch über die Macht der Phantasie.

Über Tahar Ben Jelloun

Tahar Ben Jelloun, geboren 1944 in Fès (Marokko), studierte Philosophie in Rabat und Psychologie in Paris. Für «Sohn ihres Vaters» erhielt er den literarischen Antirassismus-Preis der Bewegung «SOS Racisme», für «Die Nacht der Unschuld» 1987 den bedeutendsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt.

Tahar Ben Jelloun lebt seit 1971 in Paris.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoDies ist die ...Glossar

Für meinen Vater

«Die Zeit ist ein Greis mit der Bosheit von Kindern.»

 

 

Georges Schéhadé,

L’Émigré de Brisbane

Dies ist die Geschichte eines Mannes, der vom Wind gefoppt, von der Zeit vergessen, vom Tod verhöhnt wird.

 

Der Wind kommt von Osten, in der Stadt, wo der Atlantik und das Mittelmeer zusammenfließen, einer Stadt aus aufeinanderfolgenden Hügeln, die von Legenden umgeben ist, ein liebliches, nicht faßbares Rätsel.

 

Die Zeit beginnt mit dem Jahrhundert, oder fast. Sie bildet ein Dreieck im Lebensraum dieses Mannes, der früh – mit zwölf oder dreizehn Jahren – Fès verlassen hat, um im Rif, in Nador und Melilla, zu arbeiten, während des Krieges nach Fès zurückkehrte und in den fünfziger Jahren mit seiner kleinen Familie nach Tanger auswanderte, in die Stadt der Meerenge, wo Wind, Trägheit und Undank herrschen.

 

Der Tod ist ein Schiff, getragen von den Händen junger Mädchen. Weder schön noch häßlich, ziehen sie in einem verfallenen Haus wieder und wieder an dem ungläubigen, mißtrauischen Blick dessen vorüber, der dieses Bild mit sicherer Hand beiseite schiebt.

 

Zur Zeit liegt er im Bett und langweilt sich. Gern würde er das Haus verlassen, zu Fuß durch einen Teil der Stadt gehen, am Grand Socco haltmachen, um Brot zu kaufen, seinen Laden aufschließen und sich wieder daranmachen, aus dem großen Stück weißen Stoff Djellabas zuzuschneiden. Doch die Bronchitis fesselt ihn ans Bett, und der regenschwere Ostwind hält ihn vom Aufstehen ab, nachdrücklicher als die Anweisungen des Arztes. Das Haus ist kalt. Die Feuchtigkeit zeichnet grüne Schimmelstreifen an die Wände. Der Beschlag auf den Fensterscheiben tropft auf den Holzrahmen, der langsam fault.

 

In einen Burnus und eine Wolldecke eingemummt, denkt und döst er, lauscht dem Regen und weiß nicht mehr, was er in diesem Bett anfangen soll, das sein Körper so durchgelegen hat, daß daraus eine Falle geworden ist, die sich über kurz oder lang auftun und in schwarze, feuchte Erde führen wird. Es ist das Bett, das ihn bewahrt. Es hält ihn zurück. Wenn er aufsteht, zittert er und kann sich kaum auf den Beinen halten; er legt sich wieder hin und denkt dabei an die bergige Straße von Al Huceima, die er mit einem mindestens zwanzig Kilo schweren Sack auf dem Rücken hinaufstieg. Er beschwört diese Erinnerung an seine Jugend herauf, als er nach dem Tod seines Vaters sehr früh arbeiten mußte, weil ein Dutzend Kinder in einem alten Haus in der Medina von Fès mittellos zurückgeblieben waren. Die Erinnerung schmerzt ihn, aber er ist stolz darauf. Unter diesen Bedingungen lernte er, stolz zu sein, und erkannte, daß die Notwendigkeit, «auf eigenen Füßen zu stehen», kein Unsegen ist.

 

Die immer aufs neue wiedergekäuten Erinnerungen an die vergangene Zeit langweilen ihn ebenso wie dieser weiße Himmel, den er undeutlich sieht, oder dieser Wind, den er hört, wie er heult und die Türen zuschlägt.

 

Langeweile entsteht, wenn die Wiederholung der Dinge stechend wird, wenn ein und dasselbe Bild sich durch sein immerwährendes Dasein erschöpft. Langeweile ist diese Reglosigkeit der Gegenstände rund um sein Bett, Gegenstände, so alt wie er; obgleich verschlissen, sind sie immer noch da, an ihrem Platz, nützlich und still. Die Zeit vergeht mit enervierender Langsamkeit. Die Aufwartefrau wischt den Fußboden, ohne seine Anwesenheit zu beachten. Sie trällert, als wäre sie allein. Er beobachtet sie ohnmächtig und verzichtet darauf, um etwas mehr Rücksicht zu bitten. Er sagt sich, sie würde es nicht verstehen. Sie kommt vom Stadtrand, wo die vom Land abgewanderten Leute sich irgendwie, irgendwo zusammengepfercht haben. Sie erregt nichts in ihm. Er sieht sie an und fragt sich, was sie wohl in diesem Haus macht. Sie ist noch jung und kräftig. Er denkt, daß sie keine Gefahr läuft, von einer Krankheit ans Bett gefesselt zu werden. Und wenn sie krank würde, wäre sie wahrscheinlich nicht allein. Die ganze Familie wäre um sie. Angehörige, Nachbarn und Freundinnen. Er würde seine Kinder gern sehen. Aber nicht an seinem Bett. Das ist ein schlechtes Vorzeichen, und überdies ist er noch nicht soweit. Es ist nicht schlimm. Nur ja nicht die Kinder benachrichtigen. Nein, nicht die Familie. Das wäre verfrüht, sagt er sich. Außerdem sieht er die Familie nur bei freudigen Anlässen und Festen gern. Vorläufig findet er sich mit der Bronchitis ab, so gut er kann. Aber die Langeweile, diese schleichende, zähe, opake Einsamkeit, ist stärker, unerträglicher als die Krankheit. Die Nachbarn sind keine Freunde. Es sind nur Nachbarn. Weder gut noch böse. Man kann sie nicht zu einem Schwätzchen einladen. Sie würden es nicht verstehen. Sie hätten einem kranken alten Mann, der sich langweilt, vielleicht nichts zu sagen. Er dagegen könnte ihnen viele Geschichten erzählen. Aber sie würden sich nichts daraus machen. Aus welchem Grund sollten sie einem Fremden zuhören? Sie kennen ihn, sie können sogar hören, wenn er wütend wird oder wenn er mit einem Asthmaanfall kämpft. Sie sehen ihn viermal am Tag, immer pünktlich, durch die Gasse gehen. Wenn sie ihn morgens nicht aus dem Haus kommen hören, können sie sich schon denken, daß er krank im Bett liegt. Dann hören sie seinen heftigen, pfeifenden, tiefsitzenden Husten. Sie können ihn sogar von ihrer Terrasse aus sehen, wenn er, an einen Strauch gelehnt, die Hand auf der Brust, versucht, die Schleimklumpen auszuspucken, die seine Bronchien verkleben. Nervös speit er weißlichen Auswurf auf die Erde und vergewissert sich mit Blicken in die Runde, daß niemand ihn beobachtet. Er haßt diesen Zustand, der ihn quält und herabsetzt. Mehr noch, er verübelt es sich selbst, daß er so etwas über sich ergehen lassen muß.

 

Nein. Die Nachbarn können keine Gesprächspartner sein. Die Männer sind bei der Arbeit. Die Frauen putzen und kochen. Er wird schließlich nicht die Nachbarin von nebenan einladen, um die Zeit des Rif-Krieges in Nador und dann in Melilla heraufzubeschwören. Wenn die Nachbarin wenigstens eine schöne Frau wäre. Außerdem tut man so etwas nicht. Die Langeweile ist diese niedrige Decke mit dem Riß in der Mitte, die jeden Augenblick herunterfallen kann. Von seinem Bett aus starrt er sie lange an, bis der Himmel erscheint, ein ganz bewölkter Himmel, und bekannte oder unbekannte Gesichter, die sich über ihn beugen, wie um ihm Lebewohl zu sagen. Wenn er sich umdreht, hat er die von Feuchtigkeit zerfressene Seitenwand vor sich, eine Wand, die langsam vorrückt und ihm jeden Tag etwas näher kommt. Er sieht, wie sie sich verschiebt, und kann sie durch nichts aufhalten oder zurückdrängen. Dann hustet er und bekommt fast keine Luft mehr bei diesen stoßweisen Erschütterungen, die immer tiefer in seinen Brustkorb dringen. Nur durch den Husten, der ihm allerdings weh tut, entkommt er diesen halluzinierenden, beklemmenden Augenblicken. Er schließt die Augen, weniger um zu schlafen, als um diese Wände und diese Decke nicht mehr zu sehen. Es kommt vor, daß er im Sitzen, mit untergeschlagenen Beinen, den Kopf in die Hände gestützt, einnickt. Wieder hustend schreckt er auf, weil er sich an seinem Speichel verschluckt hat. Selbst wenn er ganz gesund ist, verschluckt er sich oft, an seinem Speichel, an Wasser oder, noch schlimmer, an einigen Grießkörnchen. Das liegt an einer in der Familie verbreiteten Mißbildung. Einer seiner Brüder, der jetzt nicht mehr lebt, konnte niemals ein Glas Wasser in einem Zug leeren; er mußte schlückchenweise trinken. Einem seiner Neffen hat er den Beinamen ‹der Eilige› gegeben, denn er ißt schnell und verschluckt sich oft. In dieser Familie äußert sich die Angst vor der Zeit und vor dem Tod in einer verstopften Kehle, die zu Erstickungsanfällen führt. Die, welche sich verschlucken, sind auch am meisten hinter dem Geld her und gelten als Geizkragen. Sie wollen alles blitzschnell schlucken, wollen Geld und Gegenstände ohne Ende anhäufen und behalten.

 

Im Bett sitzend trinkt er in kleinen Schlucken ein Glas Tee. Er fühlt sich besser, kann aber nicht aus dem Haus gehen. Er sieht aus dem Fenster. Das Gärtchen, das er so liebt, versinkt im Regen. Zuviel Unkraut hat sich breitgemacht. Sobald es schön wird, will er den Garten in Ordnung bringen. Er bittet die Putzfrau, den Fernsehapparat einzuschalten. Das Bild ist verschwommen. Seine Augen werden ständig schlechter. Es läuft ein amerikanischer Film, in dem französisch gesprochen wird. Er hört nicht gut. Vor allem versteht er nicht, wieso das marokkanische Fernsehen, das sein Programm mit der Nationalhymne und einer Koranlesung beginnt, mit einer amerikanischen oder französischen Serie fortfährt. Er fühlt sich nicht nur ausgeschlossen, sondern betrogen. Diese Bilder von Cowboys, Gangstern oder dekadenten reichen Amerikanern haben nicht das geringste mit ihm zu tun. Sonst regt er sich nicht über diese Programme auf, die für ein anderes Publikum bestimmt sind; er macht sich darüber lustig, kritisiert und verwünscht die «Ungebildeten und sonstigen Analphabeten». Heute geht ihm die Langeweile auf die Nerven und macht ihn reizbarer als in normalen Zeiten. Er macht eine Bewegung, als wollte er den Apparat kaputtschlagen, für den er mehr als achttausend Dirham bezahlt hat. Er sagt: «Das ist in das Wadi geworfenes Geld.» Wer könnte kommen und ihm Gesellschaft leisten? Welchen Freund könnte er anrufen, um mit ihm zu plaudern und diese schleichende, quälende Zeit herumzubringen? Er will nicht irgend jemanden bei sich haben. Sonst könnte er ja die Dienste eines Krankenwärters oder Pflegers mieten. Das würde er nicht tun, weil er nicht krank ist. Er hält sich nicht für krank, nur von einem verdammten Ostwind und einem bösen, schmutzigen Regen am Ausgehen gehindert.

 

Er hatte viele Freunde. Sie sind alle tot oder fast alle. Er denkt an einen nach dem andern und kann nicht umhin, es ihnen zu verübeln, daß sie früher als vorgesehen abgetreten sind. Ihr Tod ist seine Einsamkeit, die immer dichter und schwerer wird. Er hat ein Recht, verärgert zu sein, weil sie ihn nach so vielen gemeinsam verbrachten Augenblicken, nach so vielen Prüfungen und soviel Einverständnis verlassen, im Stich gelassen haben. Sogar seine vier Brüder, Mohamed, Allal, Driss und Hadi, die nicht seine Freunde waren, die er aber natürlich geliebt hat, sind tot. Er hat sie einen nach dem andern beerdigt, und jedesmal hat er, allein in einem Winkel, geweint wie ein Kind. Er hat versucht, die Verbindung zu seinen Neffen und Nichten aufrechtzuerhalten. Aber auch da hat er nur Enttäuschungen erlebt.

 

Moulay Ali war ein Lebemann. Großgewachsen und jovial, hatte dieser ehemalige Kaufmann beschlossen, mit fünfundsechzig in den Ruhestand zu gehen, als wäre er Beamter, und die ihm verbleibenden Tage seinem Vergnügen zu widmen. Nach dem Tod seiner Frau, einer Ausländerin, gestaltete er sein Leben um. Der Zufall wollte es, daß er eine Aristokratin mittleren Alters heiratete, die keine Kinder bekommen konnte. Sie führten ein friedliches Leben. Sie waren auch zurückhaltende Nachbarn. Seine Nachmittage verbrachte er mit Kartenspielen. Er empfing die Mitspieler in seinem Haus, lauter Pensionäre und Rentner, die immer weiß gekleidet waren, als gingen sie auf eine Hochzeit. Sie spielten «Tuti», ein aus der andalusischen Zeit stammendes Spiel. Die Karten haben noch spanische Namen: Rey, Espada, Copas … Es geht darum, je nach den Punkten seiner zehn Karten zu kaufen. Dieses Spiel entfesselt Leidenschaften, die von Nervenzusammenbrüchen – ja sogar epileptischen Anfällen – bis zu Euphorie und Ausbrüchen wilder Freude reichen. Man erzählt sich, Ehemänner hätten ihre Frau verstoßen müssen, nachdem sie auf deren Schicksal und Zukunft geschworen und diese Wette verloren hatten. Doch das geschah vor einigen Jahrzehnten.

 

Moulay Ali spielte zu seinem Vergnügen und weil es ihn freute, seine Freunde um sich zu haben.

 

Eines Tages, als er in der Moschee war, bekam er einen Herzanfall. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, und als er aufwachte, war das erste, was er den Arzt fragte, ob er nachmittags Karten spielen dürfe. Die Gefährten kamen an sein Krankenhausbett, und sie spielten, sehr leise, damit der Arzt nicht auf sie aufmerksam würde. An jenem Tag ließ Moulay Ali sich von seinen Freunden versprechen, daß sie an seinem Todestag eine schöne Partie Tuti neben seinem Sarg spielen würden. Die Sache war heikel. Aber keiner mochte ihm widersprechen.

 

Einige Monate später wurde Moulay Ali mitten im Kartenspiel von einer Herzattacke niedergestreckt. Ehe er den Geist aufgab und während er den Zeigefinger der rechten Hand ausstreckte, um das muslimische Glaubensbekenntnis, «Allah ist ein einziger Gott, und Mohammed ist sein Prophet», abzulegen, hielt er mit der Linken eine Karte hoch, um die Freunde an ihr Versprechen zu erinnern. Sie spielten nicht an seinem Sarg, aber drei Tage lang versammelten sie sich zur selben Stunde am selben Ort und spielten, bedrückt und mit Tränen in den Augen.

 

Der Regen hört nicht auf. Von seinem Bett aus kann er das Dach von Moulay Alis Haus sehen. Er denkt an diesen Mann, mit dem er nie Karten gespielt hat, mit dem er aber hin und wieder sprach und die im Rif verlebten Jahre wachrief. Er denkt an ihn wie an jemanden, der Einsamkeit und Langeweile bestimmt nicht kannte. Das Alter auch nicht. Obwohl er mit siebzig Jahren gestorben ist, hat Moulay Ali Krankheit und Gebrechen nie kennengelernt. Er war ein guter Nachbar. Wäre er nicht gestorben, hätte er bestimmt ein paar Stunden mit ihm verbracht. Aber er ist gestorben, und seine Gefährten haben keinen Grund mehr, das Haus der Aristokratin zu betreten, die weiterhin ein einfaches, zurückhaltendes Leben führt.

 

Mit den Zeigefingern macht er ein Kreuz, um Moulay Alis Namen auszustreichen, dann richtet er den Blick auf ein Foto, das an der gegenüberliegenden Wand hängt. Das ist Touizi, ein Mann, der nie geheiratet hat. Er starb, während er hinter einer schönen jungen Frau herlief. Er führte ein Leben, bei dem alle seine Freunde, die verheiratet und Väter mehrerer Kinder waren, ins Träumen gerieten. Aus freien Stücken und reinem Vergnügen Junggeselle, sammelte er Abenteuer mit den Frauen der anderen oder mit naiven jungen Mädchen, die von seiner Schönheit und Großzügigkeit beeindruckt waren. Als Sekretär eines Prinzen aus dem Orient hatte er wenig zu tun. Während er die Geschäfte seines sehr häufig abwesenden patron