Tage wie Hunde - Ruth Schweikert - E-Book

Tage wie Hunde E-Book

Ruth Schweikert

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Beschreibung

»Und worauf warte ich jetzt?« – Ruth Schweikert erzählt in ihrem neuen, sehr persönlichen Buch von der eigenen Brustkrebserkrankung Am 9. Februar 2016, einem Dienstag, erhält Ruth Schweikert die Diagnose, dass sie an einer besonders aggressiven Form von Brustkrebs erkrankt ist. Aus Ahnung und Angst wird Wirklichkeit. Was aber ist das für eine Wirklichkeit? In welchen Käfig aus Vorstellungen und Gedanken, aus Technik und Terminen gerät jemand, der Krebs hat? Was passiert mit dem eigenen Körper? Was glaube ich zu wissen über Krebs? Und worauf warte ich eigentlich, wenn ich wieder einmal warte: nachts schlaflos im Bett oder in einem der vielen Wartezimmer, vor dem nächsten »Befund«? Nichts ist gewiss in Ruth Schweikerts literarischer Recherche, die radikal genau von der Wirklichkeit der eigenen Krankheit zu erzählen versucht. Es geht dabei um schlaflose Nächte, um Spritzen und Katheter. Es geht aber auch um das eigene Schreiben und Lesen und die wunderbare Möglichkeit der SMS. »Tage wie Hunde« ist ein hellwaches, schonungsloses Buch über Einsamkeit und Scham, Krankheit und Tod. Und zugleich ein heiteres, ermutigendes Buch über Freundschaft und Liebe und die befreiende Kraft der Literatur.

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Seitenzahl: 191

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RUTHSCHWEIKERT

TAGE WIE HUNDE

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Vorbemerkung][Motto]DienstagMittwochDonnerstagFreitagSamstagSonntagSonntagnachtMontag[Dank]

Für Eric

Viele, nicht alle Personen, Geschehnisse, Schauplätze in diesem Buch sind sowohl real als auch behauptet; d.h., selbst wo Personen und/oder Schauplätze durch Namen und Beschreibungen scheinbar leicht zu identifizieren sind, habe ich mir die Freiheit genommen, sie für dieses Buch zu erfinden. Ähnlichkeiten sind wahrscheinlich beabsichtigt, ebenso Verschiebungen, Zuspitzungen, Über- und Untertreibungen; den Titel Tage wie Hunde sowie die Grundstruktur des Textes verdanke ich der zufälligen, nachhaltigen Begegnung mit der Ausstellung Days Are Dogs von Camille Henrot im Palais de Tokyo im Juli 2017, als ich für knapp drei Wochen in Paris war, um an diesem Buch zu arbeiten, und der Stoff auf seine eigene Weise begann, Gestalt anzunehmen.

»Alles, was wir handeln, muss, wenn es Wert haben soll, vom Betrachtungspunkt der Kürze unseres Lebens aus gehandelt sein. Stehen wir nicht da, so werden wir, auch wenn wir scheinbar tätig sein sollten (äussere Gewalten treiben uns zumeist zu einer scheinbaren Tätigkeit und lassen uns ihr nicht mehr entrinnen), vorwiegend in immerwährender Erwartung leben; stehst du aber da, so willst du vor allem anderen selber rasch noch etwas tun. (…) Es ist aber etwas tun und solches Tun – eigenes Tun, zu dem dich nicht fremde äussere, sondern innere Gewalten nötigen – das einzige, was Leben gibt, was retten kann.«

 

Ludwig Hohl, Die Notizen

Dienstag

(Versuchte gestern, Dich zu erreichen. Hörte, dass offenbar noch kein Ergebnis?)

 

Sehr geehrte fru dr. schnell,

gestern abend habe ich mit ihrer Praxishilfe einen termin vereinart für heute 15.30 uhr. Trotz meiner bitte, Sie persönlich zu sprechen

 

Sehr geehrte Frau Dr. Schnell,

gestern um 18.15 Uhr rief Ihre Praxishilfe an und sagte mir, sie müsse mit mir einen Termin vereinbaren zur Besprechung des Befunds. Auf meine Bitte hin, Sie persönlcih zu sprechen

 

Uuuuuund? fragt A, lieb grüssend

 

Sehr geehrte Frau Dr, Shcnell

Ich bitte Sie, mich anzurufen. Es ist mir tausendmal lieber, Sie besprechen den befund am, Telefon mit mir, als bis um 15.30 uhr zu warten

 

Liebe Ruth,

Ich würde unser verpasstes Treffen gerne nachholen. Wann würde es Dir denn gehen …? Ich bin nächste Woche in den Skiferien. Diese Woche noch? Oder danach?

Ich hoffe, Dir geht es gut?

 

Der Himmel ist diesig, die Luft riecht nach Schnee; noch liegt auf den Dächern ein Hauch gestrigen Schnees; auf den Gehsteigen graubrauner Matsch, Salzränder zeichnen sich ab an den Schuhen

 

Dienstag, 9. Februar 2016, 13.09 Uhr; ich stehe im Wintermantel vor dem Café zur Weltkugel in Zürich und rauche eine vielleicht letzte Zigarette; das beinahe volle Päckchen, aus dem ich sie mit klammen Fingern klopfe, ist zarthimmelblau/weiß gestreift, wie der Stoff für ein Sommerkleid oder eine Babydecke; Parisienne Ciel ist die leichteste Parisienne, die es gibt, aber darum nicht minder schädlich, heißt es, inhaliert man die toxischen Substanzen doch nur umso tiefer; mit jedem Lungenzug gelangen Nitrosamine, Teerstoffe, Polonium 210, Nikotin, Benzyprene undsoweiter in die rund 300 Millionen Alveolen, die in dichten Trauben an den Bronchialästen hängen (so ungefähr stelle ich es mir vor); feinste Lungenbläschen, in denen die giftigen Substanzen sich einnisten oder von wo aus sie ins Blut diffundieren, wie die vom Organismus ständig benötigten Sauerstoffmoleküle; sieben weitere Sekunden Lebenszeit verstreichen, bis die ersten Nikotinmoleküle die Blut-Hirn-Schranke durchbrechen und an die Acetylcholinrezeptoren bestimmter Nervenzellen andocken, während ich in Gedanken meine vielleicht kommenden Geburtstage aufzähle, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig, vierundfünfzig, fünfundfünfzig, sechsundfünfzig, siebenundfünfzig, achtundfünfzig; ein Abzählvers, wie ich ihn manchmal aus schierer Langeweile aufsage, wenn ich zum x-ten Mal vor einem Rotlicht stehe oder mit dem Fahrrad die immer gleiche Rampe der Selnau-Siedlung hochfahre; jede weitere Sekunde ein weiteres Lebensjahr – oder ich stehe, wie zehn Tage zuvor, nachdem ich unter der Dusche auf der Innenseite der linken Brust einen erbsenartigen Knoten getastet habe, in der Küche des Stadtschreiberhäuschens von Bergen-Enkheim und drehe die Wasserhähne auf; es sprudelt, es prasselt, es dröhnt; wie lange dauert es, wie viele Sekunden, bis das Spülbecken überläuft

 

Bevor es hell wird, die ersten Autos, später die Vögel in Saint Jean de Luz; im winzigen Wohnwagenschlafzimmer die Fliegen, die unsere verschwitzten Körper nach Nahrung absuchen; am Nachmittag, schon beinahe feierlich, das Hin und Her des Rasenmähers; unter dem Sonnenschirm eine Hornisse

 

Dienstag, 9. Februar 2016, 13.16; ich stehe im Wintermantel vor dem Café zur Weltkugel und rauche eine zweite vielleicht letzte Zigarette; wann eigentlich habe ich diesen Vorsatz gefasst, wenn – dann, und warum habe ich nicht auf der Stelle damit aufgehört, unabhängig vom Ergebnis der Biopsie?; wollte ich sie mir nicht schon längst abgewöhnen, diese Nikotinsucht, die ich mir zuweilen selbst nicht ganz glaube, nicht als physisch-psychische Abhängigkeit; wie eine Attitüde eher kommt sie mir vor (der ewig angespannten, dauerengagierten Schriftstellerin, Dozentin, Übermutter); tatsächlich rauche ich mehr denn je in diesen Tagen (und Nächten) des Wartens; brennende Glut zwischen fahrigen Fingern, und dann diese Gier, das Verlangen nach eben dieser Glut, dieser betäubenden Hitze im Mund, dem Brennen im Hals, als gälte es, die selbst gesetzte Frist buchstäblich auszureizen bis zum letzten Atemzug

 

(wie sonst den eigenen Handlungsspielraum ermessen? Ihn auszudehnen bis zum Äußersten: die größtmögliche Autonomie, das größtmögliche Freiheitsmoment, höchste Lebendigkeit im Augenblick der Entscheidung, im Angesicht des Urteils: l’ instant de la décision est une folie, sagt Kierkegaard in Derridas Übersetzung; nun gut, dann werde ich eben keine einzige Zigarette mehr rauchen; nichts fiel, nichts fällt mir leichter)

 

Die beiden Lehrpersonen, Ari und die Boyz and Girls, wie wir die uns anvertrauten AchtklässlerInnen gern bezeichnen, sind noch beim Essen; in der Mittagspause kümmern sich Isabelle und Jean um ihre Schülerinnen und Schüler; bis 13.45 Uhr sind Ari und ich offiziell aus der Verantwortung entlassen. Seit gestern früh arbeiten Ari und ich mit über dreißig Teenagern aus zwei Parallelklassen einer Brennpunktschule im Jungen Literaturlabor an verschiedenen Texten, die im Lauf der Woche eine definitive Gestalt annehmen (sollen); dafür stehen uns täglich zwei Schreibblöcke à drei Stunden zur Verfügung. Wir haben uns aufgeteilt; Ari hat die Boyz übernommen, ich arbeite mit den Girls, auch wenn ich Nouri bis eben, als sie mir aus dem Damenklo entgegenkam, mit ihren kurzen schwarzen Locken, ihrem gedrungenen Körper, dessen Konturen kaum zu erahnen sind unter dem übergroßen Kapuzenpullover, für einen Jungen gehalten (aber nicht nachgefragt) habe. Ich weiß nicht mehr, warum wir uns im Vorfeld für diese ungewöhnliche Aufteilung entschieden haben; aus Neugier, und weil sie uns erlaubt, die Klassenverbände aufzubrechen ohne weitere Diskussionen, und damit, so hofften wir, auch eingefahrene Dynamiken unter den Schülerinnen und Schülern. Vergeblich; die Girls schreiben (auf ihren dringenden Wunsch) in zwei eingespielten Gruppen; a) eine skurrile Mordundtotschlag-Geschichte, die in der Zürcher Agglo spielt, wo sie alle wohnen; und b) eine hochdramatische Lovestory, die in Berlin spielt, ebenfalls mit Mord und Totschlag, darauf haben sich die sechzehn Achtklässlerinnen schon gestern geeinigt. Lenya und Onur waren von Anfang an die Anführerinnen; sie haben ihre jeweilige Story längst im Kopf und erwarten von mir einzig, dass ich ihre Mitläuferinnen auf Kurs bringe – was ich bislang entschieden verweigere –, dass ich jeder Einzelnen einen ausgeklügelten, exakt auf ihre Vorlieben und Fähigkeiten zugeschnittenen Schreibauftrag erteile, dessen Ergebnis von Anfang an feststeht.

Wie üblich gibt es ein Einheitsmenü; gestern Gemüserisotto mit Mascarpone, heute Tomatenspaghetti mit Parmesan und Eisbergsalat, dazu hausgemachten Apfelschalentee. Wir essen im unteren Saal, wo Ari mit den Boyz an deren Geschichten arbeitet; vor allem aber dient der untere Saal dem Jungen Literaturlabor als Bühnen- und Ausstellungsraum; wie jedes Schreibprojekt mündet auch unsere Intensivwoche am Freitagabend in eine öffentliche Präsentation, wo möglichst alle Beteiligten aus den entstandenen Texten vorlesen; hochnervös, stolz und souverän zugleich flüstern oder rappen die jungen Autorinnen und Autoren ins Mikrophon, mit Gangstamiene die einen, mit glühenden Gesichtern andere; für viele Jugendliche ist die Vorstellung, auf der Bühne zu stehen und eigene Texte zu präsentieren, zunächst ein Albtraum; ichundvorlesen?, daskannichnicht, vergessensies!, doch meistens sind am Ende alle und mit Eifer dabei, besonders jene, die zum ersten Mal coram publico auftreten, eine coole, geile, super, mega Erfahrung, auch wenn das Publikum mehrheitlich aus Eltern, Verwandten, Lehrerinnen und Mitschülern besteht.

Über Mittag bleibt die Verbindungstür zum Café geschlossen; so sind wir außer Sicht- und Hörweite der regulären Mittagsgäste, die sich in der überhitzten, beinahe pariserisch eng bestuhlten Kaffeehausstube um zwei Handvoll Tische drängen; Männer und Frauen von Ende zwanzig bis jung geblieben, mittleres bis oberes Kader, die meisten auffallend gut gelaunt – und ebenso gut gekleidet; blütenweiße, passgenaue Blusen und Hemden, dazu Kostüme und Anzüge aus dunklen, dichtgewobenen Winterstoffen, die den Pobacken und Oberschenkeln, die sie vor Wind und Kälte schützen, vor unerwünschten Blicken auch, zugleich Gestalt verleihen. Aus der offenen Küche riecht es nach Curry, Schweißausbrüchen und frischem Koriander; die Chefin dirigiert ihre Crew mit demonstrativer Angestrengtheit durch die zu bewältigenden Aufgaben; das gastronomische Angebot ist begrenzt, aber von ausgesuchter Qualität; zwei oder drei täglich wechselnde Hauptgerichte; Eintöpfe und Aufläufe, je nach Jahreszeit Suppen oder Salate, alles möglichst frisch, biologisch und fair produziert, voll sekundärer Pflanzenstoffe und Vitamine.

Das Café zur Weltkugel liegt in der Bärengasse, im Erdgeschoss eines denkmalgeschützten Fachwerkhauses unweit des Paradeplatzes, mitten im Banken- und Versicherungsviertel der Stadt. Der untere Teil des umsichtig renovierten Doppelhauses steht – für eine dreijährige Pilotphase – dem JuLL zur Verfügung; die oberen Stockwerke der städtischen Liegenschaft werden von der Volkshochschule genutzt. Nebst Direktions- und Verwaltungsbüros finden sich auch ein paar top ausgestattete Kursräume im Haus; so kann man sich unter der Woche ab 9.30 Uhr mit Qi Gong und Gehirntraining einstimmen für die nachmittägliche Lektüre englischer/französischer/italienischer Klassiker, während an Philosophischen Samstagen wichtige Zeitfragen verhandelt werden; demnächst geht es um »Freiheit vs. Sicherheit?«, ein offenes Diskussionsforum für alle (ausreichend bemittelten) Interessierten; die meisten Volkshochschulkurse finden außerhalb statt, in Sekundarschulen und Gymnasien; zu Randzeiten, wenn die tagsüber von lautstarken Halbwüchsigen bewohnten Schulzimmer plötzlich verwaisen, oder im Hauptgebäude der Universität, mit Blick in den von einem filigranen Glasdach überwölbten Lichtho –f ein gewaltiger, von außen als Turm maskierter, nicht einsehbarer Innenhof, der sich weit über das vierte Stockwerk hinaus zum Himmel erstreckt –; eine Lichtkathedrale des Wissens und der Wissenschaft, die ich an einem Oktobertag 1984 zum ersten Mal betrete, andächtig und ehrfürchtig, aber auch stolz, fortan dazuzugehören, zur illustren Gemeinschaft der Studierenden, die wie selbstvergessen an hellgrauen Tischen sitzen; kaffeetrinkend, essend, rauchend, über ihre Hefte und Bücher gebeugt, einander zugewandt, aufmerksam, nachdenklich, heftig gestikulierend – und auf ihren beweglichen Gesichtern dieses seltsam weich gefilterte Himmelslicht, das ihre Züge erhellt

 

(noch weiß ich nichts vom Chemobrain, den modrigen Pilzen in meinem Kopf, die jeden möglichen Gedanken schon im Voraus zersetzen, von meiner zeitweilig größten Angst: nie mehr halbwegs vernünftig denken, nie mehr schreiben zu können)

 

Dienstag, 9. Februar 2016, 13.22; ich stehe in meinem neuen schwarzen Daunenmantel (den E. mir geschenkt hat; nicht zu Weihnachten, eher anstelle eines Weihnachtsgeschenks) vor dem Café zur Weltkugel und zünde eine dritte vielleicht letzte Zigarette an; wann endlich ruft diese Ärztin zurück; wie war es damals, vor bald zehn Jahren, als ich mit O. schwanger war und bestimmte Blutwerte eine dramatisch erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine Genommutation in der DNA dieses noch kaum erahnbaren menschlichen Wesens anzeigten, hat sie mich da nicht auch einfach angerufen, ohne die Praxishilfe vorzuschieben; aus frühsommerlich-wolkigem Abendhimmel, während E. und ich vor der Aegerten-Turnhalle auf die Zwillinge warten, die nach dem Fußballtraining wie meistens als Letzte aus der Garderobe kommen, verschwitzt und ungeduscht, mit bis zum Haaransatz flammenden Gesichtern; R., der mir seine Sporttasche zuwirft: Fang!, ruft er, und keine Ausreden, was ist los

 

Zwischenhalt in Thonon-Les-Bains. E. steigt aus, um ein paar Fotos zu machen; ich bleibe im Auto sitzen, es ist halb zwei Uhr nachmittags. Der Bahnhofsvorplatz ist verwaist, auf dem Perron stehen einige wenige Menschen und starren, als wären sie dazu verurteilt, als würden sie dafür bezahlt, auf ihre Geräte. Es ist ein angenehm milder Tag Ende November; Bonne Année 2017 weist eine Tafel vor dem Hotel Terminus den Weg in die Zukunft; das zugehörige Restaurant scheint geschlossen. Wir sind auf der Rückreise vom Lac d’Annecy, den ich mir blauer ersehnt, den ich mir mehr als dreißig Jahre lang blauer vorgestellt hatte; blauer und wilder, von mächtigen Bäumen verschattet, wie Paul Cézanne ihn im Sommer 1896 von Talloires aus malte; Le Lac bleu. Seit ich Cézannes Tableau zum ersten Mal gesehen hatte (im verdunkelten Zeichensaal als Diaprojektion, deutlich größer als das Original von 64 mal 79 cm), träumte ich davon – und nahm es mir vor –, den Lac d’Annecy eines Tages mit eigenen Augen zu sehen. Cézanne war siebenundfünfzig Jahre alt und litt schwer an Diabetes; in der ehemaligen Abtei Talloires verbrachte er eine Art Zwangsurlaub, in Begleitung seiner Frau Hortense und seines erwachsenen Sohnes, Paul Cézanne Fils, wie der spätere Nachlassverwalter im Gräberverzeichnis des Friedhofs Père Lachaise genannt wird. Die Ehe war zerrüttet, wie man liest, doch Cézanne hing sehr an seinem einzigen Sohn (den er zunächst vor seinem eigenen Vater verleugnet hatte; aus Angst, dieser könnte ihm die existentiell notwendige Unterstützung streichen); Paul Cézanne Fils wiederum widmete sich sein Leben lang den Werken seines als schwierig und einzelgängerisch charakterisierten Vaters, deren Wert und Bedeutung posthum geradezu explodierten.

Die Landschaft, die er in jenem Sommer malte, gefiel Cézanne nicht – nebst diesem einen Ölbild sind mehrere Aquarelle erhalten –; gewiss, auch das hier war Natur, aber nicht ungezähmt wie seine geliebte Provence, sondern hübsch, notierte er, wie gemacht für das Skizzenheft junger Frauen, eine Natur, wie man uns gelehrt hat, die Natur zu sehen.

Cézannes Aufzeichnungen kannte ich bis vorgestern nicht, sonst hätte mich nicht nur seine Auffassung weiblichen Natur- und Kunstverständnisses (ein bisschen) enttäuscht, sondern ich hätte womöglich gar darauf verzichtet, den Lac d’Annecy in natura zu sehen; jetzt trage ich beides im Gepäck, die (vielfältigen, jederzeit aktualisierbaren) Erinnerungen an Cézannes Ölbild und die Erinnerungen an die novemberfahle, wie entfärbte Landschaft, den beinahe lieblichen See, das gleichnamige Städtchen mit dem hübschen Hafen, Annecy-Le-Vieux; an die mit E. geteilte Zeit.

Vor ziemlich genau 74 Jahren ist E.s Vater im damals italienisch besetzten Thonon-Les-Bains aus dem Zug gestiegen, zusammen mit seinen zwei älteren Brüdern. Das Bahnhofsgebäude scheint unverändert, wenn auch neu gestrichen; die Fassade in freundlichem Maisgelb, akzentuiert vom leuchtenden Weiß der Faschen und Giebel. E. fotografiert noch immer, den leeren Platz, die Gleise, die sanft renovierte Fassade mit dem neuen SNCF-Logo; als gälte es weniger die Anwesenheit von etwas einzufangen als vielmehr das Fehlen, die Abwesenheit von jemandem; als gälte es, die Abwesenden in ihrer Abwesenheit in Erinnerung zu rufen. Am 10. Dezember 1942 steigen Egon, Richard und Theo B. in Thonon-Les-Bains aus dem Zug; die Eltern hatte Egon bereits einige Tage zuvor von Limoges aus, ebenfalls mit dem Zug – mit gefälschten Ausweisen, unter höchster Anspannung –, in das Städtchen am Südufer des Lac Léman gebracht, kaum fünfundzwanzig Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt. Ein vielleicht letzter Versuch, unter Lebensgefahr das eigene und das Leben seiner Nächsten zu retten; ein Überlebensversuch wider die Wahrscheinlichkeit, wider die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse; wider das Gesetz, nachdem der Schweizer Bundesrat die Grenzen für jüdische Flüchtlinge bereits im August 1942 geschlossen hatte: Dieser vielleicht letzte Versuch gelingt

 

ach ruth, du wirst es so gut machen. man darf sich nur nicht das lachen verderben lassen vielleicht. es ist eigentlich so viel erstaunlicher, unbeschadet zu sein, – und man muß ja sagen, wir haben einiges dafür getan, den unbeschadeten zustand auch nicht allzu lang auszudehnen, mit unseren komplizierten köpfen und leben.

ich umarme dich sehr und denke an dich

 

???? Ich versuchte jetzt mehrmals, Dich auf dem Handy zu erreichen (zu Hause finde ich einen deiner Söhne), aber Du bist natürlich voll beschäftigt

 

Wir sitzen im Da Michelangelo, E.s Zürcher Lieblingsrestaurant im Parterre eines Arbeiterwohnhauses von 1918, der früheren Ämtlerhalle; wie immer ist es laut und voll, und wie immer finden neu eintreffende Gäste trotzdem irgendwo Platz im Saal, an einem der schier unzähligen, mit weißem Baumwollstoff bedeckten Holztische; allein, zu zweit, zu viert, zu sechst, vor dem Kinobesuch oder danach, übermüdete Paare mit ihrem schlafenden Säugling; überhaupt (wie immer) viele Kinder, obwohl es ein gewöhnlicher Dienstagabend ist und die meisten am nächsten Tag früh Schule haben; doch es gibt viel zu erzählen, man hat sich lange nicht gesehen und gesprochen; man feiert Erfolge, Geburtstage, Genesung vielleicht, Familienfeste; Nonno und Nonna, ihre längst erwachsenen Töchter und Söhne samt Anhang, die Mädchen mit gelben Samtschleifen im dunklen Haar und Goldglitter auf den Wangen, die Buben in Hemd und Anzughose; im Stimmengewirr halten Italienisch und Schweizerdeutsch sich die Waage, wie immer sind weitere Sprachen zu hören, Englisch, Hochdeutsch, Französisch; das Michelangelo bietet nicht nur beste italienische Alltagsküche, es ist darüber hinaus in umfassendem Sinn populär; als ließe man mit Mantel und Schal auch gewisse Distinktionsmerkmale an der Garderobe zur Aufbewahrung zurück, um für eine kleine Weile in der Menschenmenge aufzugehen, in der Wohlfühlatmosphäre unangestrengter Italianità, wie Zürcher Restaurantbesucher im Februar 2016 sie schätzen, auch wir; und so stoßen wir an wie immer, Lechaim, auf das Leben, E. mit einem Glas Hauswein, ich mit alkoholfreiem Bier; wie immer ist es ein Vergnügen, den Camerieri und Cameriere bei ihrer Arbeit zuzuschauen; ob sie Tische zuweisen, Bestellungen aufnehmen, mit drei tellergroßen, brandheißen Pizze die am Boden herumwuselnden Kleinkinder umkurven, sämige Risotti und dampfende Spaghetti servieren, perfekt al dente gekocht: stets tun sie es mit schwungvoller Leichtigkeit, als mache ihnen dieser Stressjob tatsächlich (auch) Freude. Wie immer kennen und grüßen wir die eine oder den anderen und/oder werden gegrüßt; am übernächsten Tisch sitzen F., ein erfahrener Kameramann, mit dem E. letztes Jahr in Mosambik gedreht hat, seine neue Lebensgefährtin und ihr gehörloser Sohn; später winkt R. mir zu, eine aparte Endvierzigerin; 1992 ungefähr, erzähle ich E., haben wir in Friederike Roths Krötenbrunnen gespielt

 

(ist das der Moment, wo mir Tränen in die Augen schießen, wo ich wehmütig werde, traurig, sentimental?, sogleich wische ich die Tränen weg und klopfe mir dafür in Gedanken auf die Schultern; bloß keine Larmoyanz, nichts unverzeihlicher, nichts hässlicher als Selbstmitleid; Kampfbereitschaft ist die angemessene Haltung; dass man mit aller Kraft gegen den Krebs kämpft (bloß wie genau?), wird vorausgesetzt, am besten gepaart mit Humor, mit unverwüstlichem Optimismus; woher nehmen Sie Ihre Kraft, Ihre unglaublich positive Energie?, so was möchte man Krebskranke fragen; womöglich sollte man sie stattdessen nach ihren Erinnerungen fragen am Tag der Diagnose, ein buchstäblich unerhörtes Reservoir für eine andere Vermessung der Alltagsgeschichte; drei- oder viermal war ich seit jenem Abend im Michelangelo, und bestimmt vierzigmal in den gut drei Jahrzehnten davor; wie wenig ist mir davon im Gedächtnis geblieben – ein wüster Streit mit E., ein vertrauliches Gespräch mit einer zunehmend betrunkenen Freundin, die sich im Nachhinein womöglich so sehr für das Erzählte schämte, dass sie den Kontakt abbrach –, nichts ist mir gegenwärtiger als jener Abend des 9. Februar 2016, wo der Nonno am Nebentisch seinen achtzigsten Geburtstag feiert, happy birthday singen die Kinder und Enkel, tanti auguri a te; ob er zu jenen Gastarbeitern gehörte, wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts von Schweizer Baufirmen zu Zehntausenden in italienischen Dörfern rekrutiert wurden, als sogenannte Saisonniers, während Frau und Kinder für jeweils neun Monate zurückblieben?; und wie lange mussten sie warten, bis ihnen – bei gutem Leumund – der Familiennachzug gewährt wurde? Und während wir auf unsere Espressi warten, die Rechnung, il conto, per favore, sage ich, wie E. macht es auch mir Spaß, ein bisschen italienisch zu sprechen, brechen auch unsere Nachbarn auf, F. und seine neue Familie, R. hat sich schon vor längerem verabschiedet; die Gäste nehmen ihre Mäntel und Hüte, ihre Mützen und Schals wieder an sich, und es leert sich so langsam das Restaurant, das zunächst als eine Art Hauskantine funktionierte für die Bewohnerinnen und Bewohner, die hier nach der Fabrikarbeit ein preiswertes Abendessen bekamen; wie immer um diese Zeit, kurz nach halb elf, erinnert mich der holzgetäfelte, hallenartige Speisesaal an einen jener überdimensionierten Wartesäle, die es bis in die späten achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts in jedem größeren (Schweizer) Bahnhof gab – hohe, oft mit Wandbildern geschmückte Räume –, bevor sie einer nach dem anderen fast alle verschwanden; abgerissen, umgebaut und umfunktioniert, weil die nun getakteten Fahrpläne so ineinander verzahnt wurden, dass für die Reisenden zum Warten keine Zeit mehr blieb; wer heute den Anschluss verpasst, investiert seine Zeit notgedrungen in sogenannte Verweilzonen, unterirdische Ladenpassagen mit Sitzmöglichkeiten dazwischen, um die neusten Nachrichten zu checken; längst haben Bahnhöfe sich in functional hubs verwandelt, und ich denke an Peter Bichsel, der stets erklärt, wie gerne er sich langweile; weil es bedeute, dass er Zeit habe)

 

o ruth, ich wünschte, ich könnte sofort zu dir kommen. und umarme dich. nimmt man die brust ab? ach ich habe sorge um dich. kann ich irgendwie nützlich sein?

wenn ich kommen soll, sag’ es, dann versuche ich zu kommen.

du bist mir kostbar, und ich will nicht, daß dir etwas passiert –

 

Und dann, später an diesem Tag, Äonen später, diese jähe, überwältigende Lust, aufzuspringen, zu singen und zu tanzen, Das dunkle Fest des Lebens zu feiern, wie Gerhard Meier und Werner Morlang ihre Amrainer Gespräche genannt haben (und sogleich sehe ich ihn vor mir, Werner Morlang; seine Leibesfülle, die seiner Stimme, seinem homerischen Gelächter erst Raum gibt; sein Lachen, seine Stimme: wie von weit her beseelt, hallen sie in der Erinnerung nach; so schön beiseit fällt mir ein, der Titel seiner Kolumne im damaligen du, die ich jeweils ausgeschnitten und wie eine übereifrige Gymnasiastin in ein A4-Heft geklebt habe, über Sonderlinge und Sonderfälle der Weltliteratur; Gerhard Meier natürlich, Italo Svevo und Robert Walser, dessen Bleistiftgebiete er mitentziffert hatte; vergeblich suche ich in meinem Kopf nach weiteren – und weiblichen – Sonderfällen, die mir im Gedächtnis geblieben wären; nur Werner Morlang selbst fällt mir ein; dass er tot ist; dass er Krebs hatte und dass es ihm wieder gutging, oder besser; dass er zuversichtlich war; dass er am 8. Dezember 2015 im Literaturhaus Zürich als special guest seine neusten Lese-Leidenschaften mit dem Publikum hätte teilen wollen)

Es ist beinahe Mitternacht, und noch immer sitzen wir im Halbdunkel vor unseren Laptops, E. an seinem Lieblingsarbeitstisch und ich an meinem; wir sind in der Binz, in E.s Büro/Atelier/Schnittplatz; das frühere Bürogebäude steht am Rand einer stillgelegten Industriezone, die sich vor unseren Augen in einen Hot Spot der Kreativwirtschaft verwandelt; eine Transformation, die sich im Haus selbst bereits vollzieht; wo bis vor wenigen Jahren die Schweizer Ausgabe von Reader’s Digest mit ihren Büros das halbe Haus besetzte, arbeiten heute vornehmlich Architekten, Grafiker und Filmemacherinnen; die beiden Brüder, die im Erdgeschoss Briefumschläge produzierten, haben einem Küchendesigner sowie einem Modelabel Platz gemacht; einzig die Vermögensverwaltungs- und Finanzberatungsfirma kann sich als Teil der Kreativwirtschaft problemlos halten; E.s Büro liegt im Souterrain, dessen eine Längsseite gesäumt ist mit schmalen Oberlichtern, so dass der ganze Raum erfüllt ist von einer diffusen Nachthelligkeit, gerade hell genug, um stets neue Varianten derselben Suchbegriffe einzutippen, und hell genug, um den vielversprechendsten jener 715000 Links anzuklicken, die 0,49 Sekunden später als Suchergebnisse auf meinem Bildschirm erscheinen