Wie wir älter werden - Ruth Schweikert - E-Book

Wie wir älter werden E-Book

Ruth Schweikert

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Beschreibung

Ein bewegender Zeit- und Familienroman Wie spät ist es? Draußen liegt Schnee. Drinnen bereitet der 87-jährige Jacques wie jeden Morgen das Mittagessen für sich und seine Frau Friederike vor. Neun Jahre lang lebte er zwischendurch mit Helena zusammen, seiner Jugendliebe; dann kehrte er in seine Ehe zurück. Jacques und Friederike, Helena und ihr Mann Emil sind untrennbar miteinander verbunden durch den Pakt des Schweigens, den sie vor langer Zeit miteinander geschlossen haben. Dieser Pakt prägt das Leben der Kinder und Enkel. Doch irgendwann beginnt er brüchig zu werden ... In wechselnden Perspektiven umkreist ›Wie wir älter werden‹ die Geschichten mehrerer Generationen, die vom Zweiten Weltkrieg bis in die unmittelbare Gegenwart reichen. Ein großer Roman über Liebe und Verrat und die Frage, wie unser Blick sich im Lauf des Lebens verändert.

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Seitenzahl: 314

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Ruth Schweikert

Wie wir älter werden

Roman

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Inhalt

Die Autorin dankt der [...]WidmungMottoMotto12345

Die Autorin dankt der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für die Unterstützung der Arbeit an diesem Buch.

Für Raphael, David, Ruben, Elia und Orell – und für C., die ich nicht gekannt habe.

Die Zeit verwandelt uns nicht. Sie entfaltet uns nur.

Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man sich zu seinem Denken, das bestenfalls für den Augenblick und für den Standort stimmt, da es sich erzeugt. Man rechnet nicht mit der Hoffnung, daß man übermorgen, wenn man das Gegenteil denkt, klüger sei. […] Wir können nur, indem wir den Zickzack unserer jeweiligen Gedanken bezeugen und sichtbar machen, unser Wesen kennenlernen, seine Wirrnis oder seine heimliche Einheit, sein Unentrinnbares, seine Wahrheit, die wir unmittelbar nicht aussagen können, nicht von einem einzelnen Augenblick aus –

Max Frisch, Tagebuch 1946–1949

Je t’ aime de tout mon corps, que tu as quitté,

de toute ma peau sans force, de tout mon cœur découragé, de toute ma vie perdue.

Helena Seitz, am 29. Juni 2008 an Jacques Brunold

1

Friederike saß, wie fast immer in letzter Zeit, mit dem Rücken zum großen Wohnzimmerfenster, das auf den Balkon ging; ihre schmal gewordene Gestalt beinahe reglos, dabei erstaunlich aufrecht; die Beine hatte sie waagrecht ausgestreckt und die Füße, in dicke braune Wollsocken verpackt, auf einen zweiten Stuhl gebettet, so dass Ober- und Unterkörper einen rechten Winkel bildeten; wie die Zeiger einer Uhr, dachte Jacques einmal mehr, die stehengeblieben war auf Viertel nach zwölf. Das Bild hatte sich festgesetzt in seinem Kopf; ausgerechnet Kathrin hatte ihn darauf gebracht bei ihrem überraschenden Besuch in Saanau Ende November – eine knappe Stunde nur war sie da gewesen, auf der Durchreise von Zürich nach Genf, wo sie fürs Radio über irgendeine Ausstellungseröffnung berichtete; ihr strenges Gesicht blass und angespannt unter den aschblonden Locken, der dunkelblaue Satinstoff ihres Hosenanzugs zunehmend dichter gesprenkelt mit winzigen Hautfetzen, die sie sich ununterbrochen von den Fingern pulte; als hätte Friederike die ihr zugemessene Frist gleichsam unbemerkt überschritten, hatte Kathrin angefügt und ihre Mutter kaum aus den Augen gelassen, als könne sie die Wandlung nicht fassen, die allerdings, dachte Jacques, weniger Friederike vollzogen hatte als vielmehr Kathrin selbst, ihre rätselhafte Tochter, die seither jeden zweiten Tag anrief; einfach so, ohne besonderen Anlass, nur um nachzufragen, ob und wie sie zurechtkamen.

Es war der 30. Dezember 2013. Auf dem Couchtisch stand noch das grasgrüne Plastikbäumchen, das Jacques kurz entschlossen anstelle der Nordmanntanne besorgt hatte, für 25 Franken samt integrierter wechselfarbiger LED-Beleuchtung, die sie jeweils nach der Tagesschau für eine Viertelstunde anmachten. Jacques löschte die Deckenlampe, setzte sich neben Friederike auf das Sofa und stimmte eines der Weihnachtslieder an, die er halbwegs auswendig konnte; Es ist ein Ros entsprungen, O Tannenbaum oder O du fröhliche, laut und deutlich, damit sie es sicher hörte. Wenn sie e-inen guten Tag hatte, fiel Friederike ein, und sie sangen zweimal die erste Strophe, bevor sie sich auf den Weg machten ins Bad; Jacques hielt ihren rechten Arm, und mit der linken Hand stützte Friederike sich an der Zimmerwand ab, den Blick fest auf den Parkettboden gerichtet, damit ihr nicht schwindlig wurde.

Nur noch selten bat sie ihn, eine Bachkantate aufzulegen oder die große Messe in c-moll von Mozart, die sie zuletzt im Kirchenchor gesungen hatten, bevor sie beide austraten, weil es einfach keinen Sinn mehr machte; das war an Weihnachten vor drei Jahren gewesen. Friederike wollte nicht darauf warten, bis der Chorleiter ihr sagte, was sie genau wusste, dass ihr kräftiger, heller Sopran – sogar die Königin der Nacht hatte sie beherrscht – brüchig geworden war und die Töne ihr um Nuancen zu tief gerieten oder zu hoch. Jacques hielt sich selber für komplett unmusikalisch; er hatte nur Friederike zuliebe und, nach Absprache mit dem Chorleiter, nur die einfachsten Passagen mitgesungen, dankbar, dass es etwas gab, womit er ihr eine Freude machen konnte.

Zweiundzwanzig nach zehn; Jacques sprach halblaut vor sich hin und warf einen Blick auf das kompakte kleine Gerät auf der Küchenablage, das Johannes, der ältere der beiden Söhne, ihnen zu Weihnachten geschenkt hatte; ein Hochleistungsweltempfänger mit integriertem Wecker: 10:22, er hatte genau richtig geschätzt, er war im Plan. Wie jeden Montagmorgen hatte er sämtliche Vorräte überprüft; Lauch und Wirz mussten verwertet werden, ein Stück Appenzellerkäse war schimmlig geworden unter der Plastikfolie; er hatte Schimmel und Rinde entfernt und den Rest mit wenigen Bissen vertilgt, obwohl sie eben erst gefrühstückt hatten; was wegmusste, musste weg; essen konnte er immer, ein Reflex, der ihm geblieben war aus seinen Kindertagen.

Es war angenehm warm in der Wohnung; allzu warm, wie ihre längst erwachsenen Kinder befanden, unabhängig voneinander und in seltener Einmütigkeit; als hätten sie sich abgesprochen, zogen Kathrin, Johannes und Sebastian, kaum hatten sie die Wohnung betreten, nicht nur ihre Mäntel, Mützen und Winterschuhe aus, sondern auch ihre Socken, Woll- und Kaschmirpullover, bevor sie entnervt die Fenster aufrissen, damit wenigstens ein bisschen frische Luft hereinkam, während ihre eigenen Kinder sich je nach Alter in Unterhose und Leibchen auf die beiden Gymnastikbälle stürzten oder sich halbnackt im Büro um den Computer scharten.

Die meisten Weihnachtsbesuche lagen hinter ihnen; Johannes war am Stephanstag da gewesen mit seiner Familie, und vorgestern Sebastian, ohne Simona und die Mädchen, die alle krank waren; heute Nachmittag wollte Kathrin vorbeikommen, mit ihren beiden Jüngsten wahrscheinlich, Mara und Frédéric; ihr Mann Remo war geschäftlich unterwegs, und Kathrin hatte extra ein Auto organisiert, um endlich jene Sachen mitzunehmen, die Friederike vor Jahren schon für sie auf die Seite gelegt hatte; Schmuck, Bettwäsche und Tischtücher aus reinem Leinen, die noch aus der Aussteuer ihrer eigenen Mutter stammten; wer hätte gedacht, dass Kathrin sich je für so etwas interessierte.

Der Himmel war bedeckt; auf dem Rasen und auf den Dächern der umliegenden Häuser lag eine dünne Schicht Neuschnee. Die Stille davor, diese ganz besondere Stille, als hielte die Welt den Atem an, bevor der Schnee sich aus den Wolken löste, hatte Jacques erwachen lassen mitten in der Nacht. Vielleicht war auch der Husten daran schuld gewesen; zumindest hatte er, kaum erwacht, heftig gehustet, also war er aufgestanden und ins Wohnzimmer gegangen, um zu inhalieren, wie der Arzt es ihm nahegelegt hatte; mit einer Bronchitis sei nicht zu spaßen in seinem Alter. Jacques hatte abgewinkt; keine Sorge, Unkraut verdirbt nicht so schnell, und dabei wie aus Versehen auf das bleiche, behaarte Stück Bauch gestarrt, das zwischen zwei Knöpfen von Dr. Bez-giavs Hemd hervorquoll. Er war selten richtig krank – eigentlich nie, sagte er sich; im Mai 1983, mit sechsundfünfzig, hatte ihn eine Knieoperation für eine gute Woche ins Spital gezwungen (und durch einen dummen Zufall – das Morphium hatte ihm die Kontrolle entzogen über das Geschehen am Krankenbett – alles ans Licht gezerrt, was er zwanzig Jahre lang mehr oder minder mit sich selbst ausgemacht hatte; seine ganze, akribisch austarierte Existenz zwischen Friederike und Helena, denen er sich gleichermaßen verpflichtet fühlte); davon abgesehen hatte er keinen einzigen Tag seines Erwachsenenlebens im Bett verbracht.

Sie haben recht, sagte Dr. Bezgiav, der seinem Blick gefolgt war, ich bin übergewichtig, BMI achtundzwanzigkommadrei, und hoffnungslos süchtig, jahrelanger Coca-Cola-Abusus, und schauen Sie nur, meine Zähne – er riss den Mund auf –, ungefähr doppelt so gelb wie Ihr Urin, wenn Sie zuviel Vitamin B einnehmen. Er lachte, hievte seinen massigen Körper mit erstaunlicher Eleganz aus dem Bürostuhl und rieb sich die fast dreieckigen, leuchtend hellblauen Augen, die Jacques jedes Mal an einen Schlittenhund denken ließen, der fremde Last über arktische Schneefelder zog; dann suchte er im Wandschrank die Medikamente heraus, die er Jacques gleich mitgab, ebenso seine Handynummer für den Notfall; er sei jederzeit zu erreichen, auch nachts und an den Feiertagen, die ihm wenig bedeuteten, auch wenn er froh war um die kleine Zäsur, das Innehalten zwischen den Jahren.

 

Timur Bezgiav war siebenundreißig; ein großer, breitschultriger Mann mit hohen Wangenknochen und dichtem, dunklem Haar; er hatte sein Medizinstudium noch nicht abgeschlossen, als er im Frühsommer 2001 in Grozny auf offener Straße angeschossen wurde. Sein Vater, in Ostkasachstan in der Verbannung geboren wie alle Tschetschenen seiner Generation, hatte im Stadtzentrum ein kleines Elektrogeschäft geführt, bis er im September 1999, zu Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs, eines Abends nicht mehr nach Hause zurückkehrte; Ruzlan, Timurs einziger Bruder, hatte sich wenig später den militanten Separatisten angeschlossen, die versteckt in den Bergen ihre Trainingscamps abhielten; von beiden gab es keinerlei Nachricht. Sobald er keine Krücken mehr brauchte, packte Timur Bezgiav seinen hellbraunen Rollkoffer und schrieb seiner Mutter, die im Nebenzimmer schlief, einen kurzen Brief, in dem er sie um Verzeihung bat für das, was er ihr antat und was ihm unvermeidlich schien. Er hatte die Hälfte ihrer Ersparnisse an sich genommen, die er ihr zehnfach zurückzahlen würde, wenn er erst fertig studiert und irgendwo eine feste Anstellung hätte. Morgens um drei schlich er sich aus dem Zimmer, legte Brief und Hausschlüssel auf den Küchentisch und verließ die Wohnung. Es war eine laue, fast tropisch warme Julinacht, so dass er schwitzte im viel zu engen, abgewetzten Ledermantel seines Vaters, in den er sich gezwängt hatte, einer plötzlichen Gefühlsaufwallung nachgebend, als er ihn in der dunklen Garderobe dahängen sah wie ein Stück Haut. Drei Tage später erreichte er den länd-lichen Vorort im Südwesten von Moskau, wo Zeinep wohnte, eine entfernte Cousine väterlicherseits, deren Adresse und Telefonnummer er auf dem Weg zum Busbahnhof in der Manteltasche gefunden hatte.

Am späten Vormittag des 11. September landete er mit einer Maschine der Aeroflot in Zürich-Kloten; noch auf dem Flughafen ersuchte er um Asyl, den rechten Oberschenkel mit der schlecht verheilten Schusswunde entblößend, die russische Soldaten ihm zugefügt hätten; in ganz Russland, sagte er, würden Männer wie er, denen man die kaukasische Herkunft von weitem ansah und, sobald sie den Mund aufmachten, auch anhörte, als potentielle Terroristen verfolgt und gebrandmarkt. Wer gegen den Tschetschenienkrieg demonstrierte oder gegen Putins Politik, führte er aus, musste jederzeit damit rechnen, mit illegalen Substanzen erwischt zu werden, die übereifrige Polizisten einem zuvor in den Rucksack geschmuggelt hatten; nicht wenige Demonstranten waren wegen Drogenbesitzes zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden.

Dass es Timur Bezgiav in die Schweiz verschlug, war Zufall; er wollte nach Westeuropa, und die faktisch einzige Möglichkeit, das notwendige Visum dafür zu bekommen, bestand darin, eine organisierte Touristenreise zu buchen. Viel Geld war ihm nicht geblieben; Vaters Mantel hatte er Zeinep gelassen, die ihn küsste dafür, beinahe wie einen Geliebten; Zeinep war dreiundfünfzig Jahre alt, früh verwitwet, kinderlos, und lebte von dem, was ihr Garten hergab, nebst einer winzigen Rente; lange noch gingen ihm ihre Küsse nicht aus dem Sinn; ihr schmallippiger Mund, der nach feuchter Erde roch; und auch wenn es ihm später kaum jemand glaubte: Zürich war die einzige Destination, für die seine Mittel ausreichten; die Gruppenreise dorthin billiger als jene nach Paris, Berlin oder London, wohin er am liebsten emigriert wäre, nur schon der englischen Sprache wegen, die er sich wenigstens rudimentär angeeignet hatte.

Noch am selben Abend wurde er vom Flughafen ins nächstgelegene Aufnahmezentrum verbracht; sein Begleiter führte ihn in ein dunkles, mit Kajütenbetten vollge-stelltes Zimmer, wies ihm mit einer Taschenlampe den Schlafplatz zu und wünschte ihm eine gute Nacht. Seine Zimmergenossen schliefen bereits (oder gaben es vor; sie versuchten zu schlafen, wie er später bemerkte, als auch er es versuchte und die von Ausdünstungen gesättigte Luft ihm den Atem verschlug). In der Gemeinschaftsküche brannte noch Licht; zwei kräftige dunkelhäutige Frauen schrubbten auf Knien den weißgekachelten Boden, und im Ess- und Aufenthaltsraum gleich nebenan lief tonlos der Fernseher, vor dem eine Handvoll Teenager saß. Fünf Mädchen, zählte Timur, und ein schlaksiger Junge, der die Fernbedienung in der Hand hielt, mit der er von einem Sender zum nächsten zappte. Alle Sender zeigten mehr oder minder dasselbe, Männer und Frauen, die mit ernsten Mienen über irgendetwas diskutierten, unterbrochen von immer denselben Einspielungen; New York, las Timur und wandte sich an ein pummeliges Mädchen, das ihn als Einzige bemerkt zu haben schien; what’s happened, fragte er, can you please tell me what’s happened; aber sie sah ihn nur unverwandt an und kaute weiter auf ihren strohigen Haaren herum; Twin Towers, sagte endlich der Junge, stand auf und gähnte. Als er kurz darauf den Raum verließ, folgten ihm die fünf Mädchen wie auf Kommando; auch die beiden Frauen waren verschwunden, als Timur es endlich schaffte, den Ton anzustellen, aber mehr als das, was er sah, verstand er auch jetzt nicht.

 

Auf dem Esstisch lagen die Carmina von Horaz. Jacques hatte nachts geblättert darin, als der Hustenreiz endlich nachließ, und wie so oft war er hängen geblieben an jenem Gedicht, das mit Integer vitae begann und von der Begegnung mit einem Wolf erzählte, der den Dichter nicht anfiel, obwohl (oder gerade weil?) er keine Waffen bei sich trug; seine einzige Waffe war das integere Leben, das der Erzähler offenbar führte, frei von Schuld und Frevel; darin stimmte Jacques mit Horaz überein; die Wölfe, die Bedrohungen und Gefährdungen, die Angriffe in seinem und auf sein Leben waren nie von außen gekommen, sondern hatten ihren Ursprung, die verborgene Höhle, in der sie heranwuchsen, stets in ihm selbst gehabt.

Er ging in die Küche, nahm das gelbe Mikrofasertuch, das über der Spüle hing, feuchtete es an und kehrte ins Wohnzimmer zurück, um Tisch und Stühle abzuwischen. Manchmal verspürte er beim Gehen, wie eben jetzt, winzige Nadelstiche, die von der linken Fußsohle bis in die Hüftknochen ausstrahlten; er hatte das Spülmittel vergessen, fiel ihm ein, auf dessen Verwendung Friederike normalerweise bestand, weil es sonst nicht hygienisch genug sei, aber heute spürte er kaum ihren Blick im Nacken. Seit einigen Tagen schon schien sie zu erschöpft, um sich über seine Sparsamkeit aufzuregen – die Frage, ob diese krankhaft war, wie Friederike meinte, ausgeprägt, typisch schweizerisch, oder womöglich gar kein Attribut brauchte, hatte nur selten zu ernsthaften Auseinandersetzungen geführt, sondern war eher ein willkommenes Spielfeld gewesen, auf dem sie ihre ehelichen Kräfteverhältnisse verhandelten –, oder Friederike hatte schlicht ihre Angst verloren vor den paar Milliarden Bakterien, die sich so oder so in der ganzen Wohnung tummelten und seiner eigenen Überzeugung nach sowieso nur die Abwehrkräfte stärkten.

Jacques war sich nicht sicher, ob Friederike seine Anwesenheit überhaupt wahrnahm; es kam vor, dass sie den Kopf hob und ihn ansah, als sei sie eben erst aus tiefem Schlaf erwacht, bevor sie erneut abtauchte in ihre innere Landschaft, die ihr je länger, je mehr zu genügen schien. Im Gegensatz zu ihm brauchte sie kaum noch Anregungen von außen, um ihren Geist zu beschäftigen; irgendwann im Sommer hatte sie aufgehört, die Zeitung zu lesen, und wenn sie sich an einem Sonntagmorgen gemeinsam vor den Fernseher setzten, um die Sternstunde Religion zu sehen, die Friederike viele Jahre mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt hatte, nickte sie sofort ein. Selbst die vielfältigen Wendungen im Leben der Kinder und Enkel nahm sie eher zur Kenntnis, als sich ernsthaft dafür zu interessieren, während sie früher wie ein Seismograph noch die minimalsten Erschütterungen, die verborgensten Signale, die die Kinder erfuhren und aussandten, registriert und zu deuten gewusst hatte, Fieber und Wachstumsschübe, Kathrins hysterische Anfälle und unerwartet schlechte Schul-noten voraussah oder es zumindest sofort merkte, wenn etwas nicht stimmte. Wie damals, als Johannes und Sebastian im Teenageralter eines Nachts mit ein paar Kumpels in den Kiosk der Badeanstalt eingebrochen waren – erwischt hatte sie niemand, aber Friederike war einer ihrer Ahnungen gefolgt und hatte im Gemüsekeller unter den Lagerkartoffeln mehrere Plastiktüten mit Zigaretten und Süßigkeiten entdeckt. Alle Ausflüchte verfingen nicht; Friederike insistierte so lange, bis die beiden Burschen endlich die Wahrheit gestanden, die gestohlenen Sachen unter ihrer Aufsicht zurückbrachten und sich beim Kioskbetreiber entschuldigten, der Johannes und Sebastian zwar gehörig die Leviten las, aber der verzweifelten Mutter zuliebe auf eine Anzeige verzichtete. Friederike hatte ihm die Geschichte erst später erzählt, als Johannes und Sebastian längst aus dem Haus waren.

Ich komme!, rief Jacques und blickte sich suchend um; wo war das Telefon, dessen Klingeltöne mit jeder Sequenz anschwollen; ich bin gleich da!, schrie er dem Crescendo entgegen und hastete durch die Küche in den Flur; wo steckte es bloß, im Schlafzimmer vielleicht, oder im Büro; tatsächlich, da lag es, auf seinem Arbeitstisch zwischen dem Computer und den beiden Briefstapeln, die immerhin halbwegs geordnet waren nach Rechnungen und Korrespondenz – zu spät, das Klingeln war schon verebbt, als er die grüne Taste drückte. Brunold, sagte er trotzdem und presste den Hörer ans Ohr, aus dem ihm nur noch der Summton entgegenkam, über den sich wie eine zweite Stimme sein eigener, gehetzter Atem legte. Kathrin?, Johannes?, Sebastian?; Jacques ließ sich in den Bürostuhl fallen und ging in Gedanken die Liste möglicher Anrufer durch, während sein Atem sich langsam beruhigte; oder Moritz?, ein ehemaliger Kollege im Hochbauamt, wo sie beide als Verwaltungsjuristen gearbeitet hatten, und einer der wenigen Freunde, die ihm geblieben waren. Sabine fiel ihm ein, Helenas Tochter, die seit letztem Sommer mehrheitlich wieder in Albuquerque lebte und ihm womöglich ein gutes neues Jahr wünschen wollte; ein wenig vorzeitig, damit sie es sicher nicht verpasste, bei all den Aktivitäten, mit denen sie ihre Tage strukturierte, die niemandem gehörten außer ihr selbst, kinderlos, wie sie war, und finanziell abgesichert, sofern und solange Sabine es schaffte, von den Erträgen zu leben, die sie mit ihrem Erbe erzielte, den drei oder vier Millionen, die Helena ihren beiden Töchtern hinterlassen hatte. Was Sabine auch tat, es schien sie zu begeistern; mal lernte sie Tango tanzen, mal rannte sie wie eine Verrückte die Berge hoch, dann wieder konnte sie nicht genug kriegen von ihren Inlineskates oder einer bestimmten Yoga-Art; stets wirkte sie munter und gutgelaunt; ganz im Gegensatz zu Iris, ihrer älteren Schwester, die noch mit einundfünfzig jenen tiefsitzenden Groll in sich trug, den sie Jacques von Zeit zu Zeit vor die Füße spie wie eine Katze ihr Gewölle; ein krudes Sammelsurium unverdauter Gefühlsbrocken, die Iris Tage später kleinmütig wieder aufsammelte – alte Geschichten, schrieb sie ihm dann per Mail, ich nehme alles zurück, was ich gesagt habe –, nur um sie sich erneut einzuverleiben in ihren sehnigen, fast jungenhaften Körper, der sich kaum verändert hatte in all den Jahren, seit sie erwachsen war, und dem man kein einziges der vier Kinder ansah, die er geformt, genährt und geboren hatte. Vor allem aber sah Iris ihrer Mutter ähnlich; eine Ähnlichkeit, die sich mit zunehmendem Alter noch verstärkte; so dass Jacques jedes Mal erschrak, wenn er die Bikini-Fotos betrachtete, die Iris regelmäßig von sich auf Facebook postete, wo sie seit 2007 Freunde waren, ihren zeitweiligen Anwürfen zum Trotz, und obwohl Jacques nie etwas mitteilte aus seinem Leben, wozu auch.

 

Helena Seitz hatte Jacques Brunold ein halbes Kilo Basler Läckerli ins Spital nach Saanau geschickt – sie kannte seinen chronischen Hunger, dem er nachgeben konnte, ohne je an Gewicht zuzulegen –, am Tag der Knieoperation und per Express, damit die Sendung ihn sicher erreichte, bevor er wieder nach Hause entlassen wurde; dazu ein Kärtchen mit Genesungswünschen. Die schwarzweiß lackierte Blechdose war bis in die Details einer echten Zunfttrommel nachgebildet, wie sie an der Basler Fasnacht zu Hunderten durch die Gassen dröhnten, und thronte samt hölzernen Schlägeln auf dem Nachttisch neben seinem Krankenbett, majestätisch und stumm, als warte sie mit allem, was sie war und in sich trug, auf Oskar Matzerath, der sie mit seinen Schlägen zum Sprechen erweckte. Stattdessen betrat Friederike das Krankenzimmer, wie immer mit Einkaufstüten beladen. Der Spitalbesuch war nur ein kurzer Zwischenstopp auf dem Weg nach Hause, wo sie Johannes und Sebastian mit einem munteren Hallo aus ihrer Nachmittagsträgheit scheuchen, die Fenster öffnen und dafür sorgen würde, dass sie wenigstens die Hausaufgaben erledigten, bevor sie sich bis zum Abendessen wieder in ihre Zimmer verkrochen, die Stöpsel ihrer Walkmen im Ohr. Kathrin war im letzten Winter überraschend ausgezogen, ohne jede Ankündigung und ohne groß etwas mitzunehmen. Die Bücherregale, das verstellbare Schülerpult, der antike Kleiderschrank, die meisten Bücher und Kleider, die Ausstellungs- und Filmplakate an den Wänden – Emma Kunz und Godards Weekend, Blow up und Zabriskie Point von Antonioni –: fast alles war noch da; einzig die fehlende Ma-tratze bezeugte ihre entschiedene Abwesenheit; das schmale Mädchenbett stand links von der Zimmertür, ein hölzernes Gerippe, das den Blick freigab auf den hellgrauen Spannteppich darunter, der kaum merklich verstaubte. Kathrin wohnte außerhalb der Stadt, in einer ehemaligen Fabrik und mit anderen jungen Leuten zusammen; so viel immerhin hatte sie den Eltern verraten, und wenn sie einmal im Monat anrief, drang aus dem Hintergrund ein vielsprachiges Stimmengewirr in Jacques’ Arbeitszimmer, wo der schwarze Telefonapparat stand, mitten auf seinem riesigen, mit Ordnern und Blättern übersäten Schreibtisch. Zwischen ihren immer gleichen Sätzen – es ging ihr gut, sie hatte gelernt, ein paar einfache Gerichte zu kochen, und aß regelmäßig, die Mitbewohner waren alle nett – ertönte Geschirrklappern und Gelächter, untermalt von orienta-lischen Klängen, als habe sich Kathrin nicht ein paar Kilometer, sondern um ganze Welten von den Eltern und Geschwistern entfernt. Die Kantonsschule hatte sie abgebrochen; was Kathrin den ganzen Tag machte und wovon sie lebte, darüber sann Friederike fast ununterbrochen nach, und manchmal glaubte sie, eine Verbindung zu ihrer Tochter zu spüren, sah Kathrin in einem winzigen Zimmer auf ihrer Matratze sitzen, den Rücken an die Wand gelehnt, ein Buch auf den Knien, wie früher als Kind, wenn nichts und niemand den Bann zu brechen vermochte, in den die Bilder und Buchstaben sie zogen.

Auf den ersten Blick schon wusste Friederike Bescheid – aber nein, das konnte nicht sein, sie musste sich irren; sie betrachtete Jacques, der entspannt auf dem Rücken lag und schlief; er war gestern am linken Knie operiert worden, eine Routinesache, die ihn mehr mitgenommen hatte als erwartet. Sie erinnerte sich nicht, ihren Mann je so wehrlos gesehen zu haben; die dunklen Haare zerzaust, die grauen Lippen schlaff und leicht geöffnet; sein Brustkorb hob sich und senkte sich; am rechten Handgelenk der Infusionsstecker, an dem die beiden Schläuche befestigt waren, die ihn mit Schmerzmitteln und Flüssigkeit versorgten, und im ganzen Zimmer hing ein säuerlicher Geruch, der von ihm aufstieg; nichts als ein alternder, beschädigter Körper, der sich keinen Deut darum scherte, wer ihn beseelte. Friederikes Blick ging erneut zum Nachttisch; sie kannte diese Läckerli-Trommel aus ihrer Basler Zeit, wo sie als Sekretärin bei Alfred Imboden gearbeitet hatte, ein beliebtes Mitbringsel schon damals, ein süßer, in dieser Verpackung gleichsam doppelter Gruß aus der alten Heimat, die Jacques nicht mit ihr teilte, sondern mit Helena. Statt aufzuschreien, hörte Friederike, wie ihre Papiertüten am Boden aufschlugen, so wuchtig, dass ein paar Erdbeeren aus dem Körbchen sprangen und über den Boden kullerten; die ersten einheimischen in diesem Jahr, die unwiderruflich den Sommer ankündigten. Friederike stürzte zum Nachttisch, griff nach dem Kärtchen und las – entgegen ihrer Absicht und gegen ihre Grundsätze; nie zuvor in ihrem Leben hatte sie einen Brief geöffnet oder gelesen, der nicht an sie gerichtet war – Schatz, Helena, Deine, Küsse; die Wörter verschwammen zu Flecken, die vor ihren Augen tanzten; schwarze Vögel, dachte sie, die aus hohem Himmel auf sie herabstürzten. Sie klappte das Kärtchen zu; auf der Vorderseite war eine zartgelbe Rose abgebildet; mundgemalt, stand auf der Rückseite, und irgendein Frauenname; war die Frau ohne Hände geboren?, was war mit ihren Händen geschehen? Sie legte das Kärtchen zurück auf den Nachttisch, links von der Trommel, die Rose nach unten, die weiße Rückseite nach oben, genau so, wie sie es in der Erinnerung vorgefunden hatte. Sie sah sich im Zimmer um; das zweite Krankenbett war leer; niemand hatte sie beobachtet, nichts war geschehen. Jacques atmete ruhig vor sich hin, die Augen geschlossen; die Nachmittagssonne zeichnete ein helles Parallelogramm auf das dunkelgraue Linoleum, und Friederike löste in Gedanken ihre Ehe auf, rückwärts, vom 18. Mai 1983 bis zur Hochzeit am 8. Januar 1965, wie einen fehlerhaft gestrickten Pullover, dessen gekringelte Fäden man wieder zu Wollknäueln schnürte, um den Pullover noch einmal neu zu stricken, besser diesmal, ohne falsche Maschen. Wann hatten Helena und Jacques ihr Verhältnis wieder aufgenommen, wie hatte sie die Zeichen übersehen können?; aber es gab keine Zeichen, Jacques war wie immer zu ihr, vielbeschäftigt, ein wenig zerstreut, abends früh müde und am Morgen früh wach; und bevor er um Viertel vor sieben das Haus verließ, um mit dem Zug nach Zürich zur Arbeit zu fahren, küsste er sie in alter Vertrautheit auf den Mund.

 

Die Spülmaschine piepste. Jacques schreckte von seinem Bürostuhl hoch, hastete in die Küche und riss die Tür auf; er mochte den Moment, wo ihm der heiße Dampf entgegenschlug, der Geruch von Sauberkeit und Frische. Eigentlich lohnte es sich nicht, die Maschine anzustellen für die vier Teller und Tassen (je zwei vom Vorabend), die beiden Eierbecher, die Gläser, das wenige Besteck. Zum Glück war er darauf gekommen: Jeden Morgen ein weichgekochtes Ei, nahrhaft und leicht verdaulich; das hatte Friederike früher schon gern gegessen, und meistens konnte sie es auch bei sich behalten.

Vor gut sechs Jahren waren sie in die Neubausiedlung gezogen, zwei Reihen je fünf miteinander verbundener Mehrfamilienhäuser, die weder hübsch waren noch hässlich; charakterlose moderne Undinger, fand Jacques, mit denen ein paar mittelmäßige Architekten sich dumm und dämlich verdient hatten; zentral gelegen und dennoch ruhig, am Rande der Altstadt von Saanau, mit breiten, rollstuhlgängigen Verbindungswegen und großzügigen Rasenflächen zwischen den Häuserzeilen. Darunter erstreckte sich die Tiefgarage, die für jede einzelne Mietwohnung zwei dazugehörige Einstellplätze bereithielt, die Jacques und Friederike nun beide nicht mehr brauchten, oder höchstens für Besucher.

Friederike war der Umzug leichter gefallen als ihm; sie hatte sich sofort wohlgefühlt in der Wohnung, die ihr ein Stück Autonomie zurückgab; endlich keine Treppen mehr, sagte sie, die sie nur mit Hilfe überwinden konnte. Sie verließ die Wohnung kaum noch; wenn sie zu Dr. Bezgiav musste oder ins Spital, bestellte Jacques ein Taxi; die Zeiten, als er mit allen Mitteln versucht hatte, sie zum Spazierengehen zu animieren, damit ihre Muskulatur nicht vollends verkümmerte, lagen definitiv hinter ihm, und den silbergrauen Renault Clio hatte er – nicht ohne das zwiespältige Empfinden eines endgültigen Abschieds; Wehmut, aber auch Erleichterung – Daniel zur Hochzeit geschenkt, Kathrins ältestem Sohn, der in Bern Medizin studierte und samt Frau und Schwiegermutter aufs Land gezogen war, ins ehemalige Stöckli eines abgelegenen Bauerhofs, der am Ende eines kilometerlangen, gewundenen Schottersträßchens plötzlich vor einem auftauchte wie aus dem Nichts.

Das war im vorletzten Winter gewesen, als Jacques fünfundachtzig wurde und Dr. Bezgiav ihn mit einigem Nachdruck auf die vielen Unfälle hinwies, die Fahrer in seinem Alter verursachten, selbst wenn sie so gesund und sportlich waren wie er. Sportlich, das war ein Witz mittlerweile; ein paar Knie- und Rumpfbeugen machte er morgens, und ab und zu setzte er sich für eine halbe Stunde auf den Hometrainer; die letzte Wanderung indessen lag acht Monate zurück. Am 28. April war er mit Sabine auf dem Großen Mythen gewesen; um fünf Uhr morgens hatte sie ihn mit dem Auto abgeholt, um halb neun standen sie neben dem Gipfelkreuz; über ihnen der Himmel, unter ihnen das Nebelmeer, in das er sich hätte stürzen mögen, einen Augenblick lang nur – das war, seit er sich damit befasste, seine Vorstellung eines geglückten Endes: ein jäher Tod in den Bergen, und wohl mehr als ein Dutzend Mal hatte er ihn herausgefordert –, dann rief er Friederike an, um ihr zu sagen, dass er rechtzeitig zum Mittagessen zurück sein würde.

 

An der Wand hinter Dr. Bezgiavs Schreibtisch hing das Schwarzweiß-Foto eines Kajütenbetts, dessen untere Etage er mehr als sechs Jahre lang bewohnt hatte; er drehte sich vom Rücken auf den Bauch und wieder zurück; er hockte im Schneidersitz auf der Matratze und rollte sich zum Einschlafen auf die rechte Seite, die Beine angewinkelt, den Oberkörper zusammengekrümmt, die Hände an die Lippen gepresst wie einst als Fötus im Bauch seiner Mutter. Sie waren meistens zu acht im Zimmer und manchmal zu zehnt; das Asylbewerberheim lag beinahe idyllisch, am Stadtrand von Winterthur; ein ausrangiertes Industriegebäude, in dem rund hundertzwanzig Menschen vorübergehend in einer prekären Gemeinschaft lebten; Männer, Frauen und Kinder, halbierte, Zweidrittel-, Vierfünftel- und ein paar ganze Familien, die alle auf einen Entscheid warteten, die eigenen und die Ausdünstungen ihrer Bettnachbarn in der Nase, ihre Gesichter vor Augen, ihre Atemgeräusche in den Ohren, durchbrochen von dumpfen Gesprächsfetzen, die nahtlos in lautstarken Streit übergingen oder in kindliches Weinen, in Gelächter zuweilen. Nach dreizehn Monaten kam der erste Brief, den einer der Betreuer für Timur Bezgiav öffnen musste, weil seine Hände nicht aufhörten zu zittern: abgewiesen, aber vorläufig aufgenommen, so der Entscheid; und Timur erinnerte sich, dass er einen Schrei ausstieß, der seine ganze Anspannung löste; und dann lachte er, als hätte er die Absurdität seiner Lage erst jetzt begriffen, dass sein weiteres Schicksal nicht in Gottes Allmacht lag, sondern in den Händen von Menschen, die ihm ebenso unbekannt waren wie er ihnen. Die vorläufige Aufnahme, eine unsagbare Erleichterung zunächst, verwandelte sich in ein perpetuiertes Provisorium, das sich über fünfeinhalb Jahre erstreckte, in denen Timur Bezgiav sich morgens wusch und abends seinen Eintopf aß, den er zuvor in der stets überfüllten Gemeinschaftsküche gekocht hatte, Reis mit Gemüse und ein wenig Fleisch. In den langen Stunden dazwischen las er sich durch die herumliegenden Gratiszeitungen, indem er sie Wort für Wort übersetzte, mit Hilfe eines deutsch-russischen Wörterbuchs, das er wie nebenbei praktisch auswendig lernte; er wusch seine Kleider und versorgte die wechselnden Wartesaalmitbewohner mit medizinischem Rat, und schließlich erreichte er sogar, dass er an der Uni Zürich sein Medizinstudium fortsetzen und abschließen konnte. Als er im Frühjahr 2008 fast wider Erwarten die ersehnte Aufenthaltsbewilligung B bekam, um die er sich mit allen Mitteln bemüht hatte, sprach er ein beinahe perfektes Deutsch, mit starkem Akzent zwar, aber korrekter Grammatik und verblüffend differenziertem Wortschatz. Kurz darauf trat er seine erste bezahlte Stelle an als Assistenzarzt im Kantonsspital Saanau, wo er Friederike schon bei der zweiten Einlieferung mit Namen begrüßte und der Oberärztin ihre Krankengeschichte auswendig präsentierte. Dreieinhalb Jahre später konnte er den frei gewordenen Platz in einer modernen Gruppenpraxis im Stadtzentrum übernehmen, und mittlerweile verdiente er genug, um die kleine Familie zu ernähren, die er sich ausmalte, wenn er an Donnerstagnachmittagen die Praxis etwas früher verließ und wie zufällig am nahen Primarschulhaus vorbeispazierte. Längst hatte er seiner Mutter, die noch immer allein in Grozny lebte, zehnfach zurückbezahlt, was er ihr in jener schwülheißen Julinacht entwendet hatte; mehr als das, er unterstützte sie regelmäßig, obwohl er wusste, dass sie das Geld nicht anrührte, sondern es, eingenäht in den Saum ihres besten Winterkleides, aufbewahrte für seine Rückkehr. Kaum hatte es geläutet, stießen die ersten Kinder die schwere Holztüre des klassizistischen Gebäudes auf und machten sich auf den Heimweg, zu zweit die meisten oder zu dritt, heftig diskutierend und gestikulierend, dass ihre bunten Tornister auf- und abhüpften. Der dickliche Junge kam erst, wenn der Pausenplatz sich geleert hatte; er nahm seine Brille ab, deren linkes Glas mit einem Stück Stoff abgedeckt war, und ging mit gesenktem Kopf auf eine große, elegant gekleidete Frau zu, die das Gesicht des Jungen kurz an ihr Kostüm drückte, bevor sie ihn am Arm fasste und ihn mit schnellen Schritten hinter sich herzog, bis sie bei einem blauschwarzen BMW angelangt waren, dessen getönte Scheiben an einen Leichenwagen erinnerten. Timur träumte öfter von diesem Jungen; er war sich sicher, auch und gerade ein solches Kind lieben zu können; seine einzige Schwierigkeit war, dass es keine passende Frau für ihn gab; schon seiner Mutter zuliebe kam nur eine Tschetschenin in Frage, die sich in der Schweiz, so befürchtete er, völlig verloren fühlen würde. Von Zeit zu Zeit trafen sich an die hundert Tschetscheninnen und Tschetschenen, die aus den unterschiedlichsten Gründen in der Schweiz gelandet waren, in einem Gemeinschaftszentrum zu einem geselligen Beisammensein; aber die Vorstellung, sich dort als mögliches Objekt zu präsentieren oder selber gezielt Ausschau zu halten nach einer Frau, in die er sich verlieben könnte, schreckte ihn so grundlegend ab, dass er nach zwei halbherzigen Versuchen, genau das zu tun, nie mehr hinging. Und in sein Geburtsland zurückzukehren, das von einem hirnlosen Putin-Affen regiert wurde, wie er Jacques Brunold einmal darlegte, käme einer psychischen Selbst-tötung gleich; ein Preis, den zu zahlen er noch weniger bereit war, als sich endgültig einzunisten in seiner Junggeselleneinsamkeit, in die zuweilen jäh die Hoffnung einschlug auf ein Wunder, das seine kategorischen Vorstellungen zu sprengen vermöchte.

 

Daniel und seine deutsche Braut – wie hieß sie noch mal, gleich fiel es ihm ein, Raissa, nach der Frau Gorbatschows – waren beide Anfang zwanzig, als sie im Entlebucherhaus in Schüpfheim heirateten, an einem eiskalten Februartag 2012; der Himmel war wolkenlos blau, und die schneebedeckten Tannen funkelten in der Sonne, als die Frischvermählten ins Freie traten, um sich von ihren Freunden und Verwandten ausgiebig bejubeln und fotografieren zu lassen; zu zweit, allein, mit Trauzeugen, Müttern und Halbgeschwistern – einzig die Väter fehlten –, aus nächster Nähe oder mit Distanz, von vorne und im Profil, auf Kommando küssend und händchenhaltend. Die ganze Veranstaltung wirkte seltsam überkandidelt auf Jacques; Daniel trug einen (gemieteten) Frack, mit weißer Weste und weißem Hemd, dazu eine silberne Taschenuhr, und Raissa sah hinreißend aus in ihrem eierschalenfarbenen Seidenkleid mit meterlanger Schleppe, die Frédéric und Mara, auch sie entsprechend gekleidet, andächtig an je einem Ende hielten, als seien sie alle zusammen einem Hollywoodstreifen aus den Dreißigerjahren entstiegen. Dabei hatten die jungen Brautleute kaum Geld; beide waren sie ohne Vater aufgewachsen und mit allzu jungen, schlecht ausgebildeten Müttern – Kathrin war mitten im Studium; Veronika jobbte als Kellnerin –, die ihre chronische Überlastung noch nicht einmal zu bemerken schienen, und ebenso wenig, dass sie ihre Kinder emotional überforderten, wenn sie sie da und dort deponierten, um sie Tage später mit einem Aufschrei wieder an sich zu drücken, Mama ist da, und alles wird gut. Raissa, eine ausnehmend hübsche, etwas dralle, selbstbewusste Blondine, war kurz nach dem Mauerfall in Westberlin geboren und als Vierzehnjährige mit ihrer Mutter in die Schweiz gezogen, nach Bern-Bümpliz, wo Veronika Thie in zwei verschiedenen Fitness- und Wellnesscentern Abend für Abend verspannte Rücken massierte; sie hatte mit zwanzig beschlossen, ihren Namen um das angehängte -mann zu kürzen, das sie als Ausdruck patriarchalischer Machtstrukturen empfand, wie sie ihren männlichen Klienten gerne erzählte. Raissa war praktisch sich selber überlassen, weil Veronika auch am Wochenende arbeitete, und dann meistens tagsüber. Mit einiger Mühe schaffte Raissa trotzdem die kaufmännische Berufsmatur, was ihre Mutter mit einigem Stolz erfüllte. Am Tag nach der Maturafeier spürte Veronika Thie eine Taubheit in den Händen und Füßen, die ihr wie abgetrennt schienen vom Rest ihres Körpers, seltsame Gegenstände, die zu nichts mehr zu gebrauchen waren. Ein MRI des Schädels ergab keine Auffälligkeiten, und nach fünf Wochen war der Spuk wieder vorbei, der sie, wie erwartet, ihre beiden Jobs kostete, was sie zunächst als Befreiung empfand, aber bald dazu zwang, sich einen neuen zu suchen. Seither arbeitete sie in der Mensa der Fachhochschule, die Raissa besuchte; meistens stand sie in der Küche, aber manchmal saß sie auch an der Kasse, was Raissa jedes Mal beschämte, wenn die Mutter vor allen Mitstudierenden darauf bestand, ihr das gewählte Menü umsonst zu geben; sie habe ein Anrecht darauf, sagte sie, von dem sie nur dann Gebrauch machte, wenn es ein veganes Gericht gab; viel lieber aß sie stattdessen ihr mitgebrachtes Gemüsesandwich.

Unter der Woche fuhren sie jeden Morgen zu dritt nach Bern und abends wieder zurück, für den Weg brauchten sie je eine gute Stunde. Raissa und Daniel wechselten sich ab am Steuer, während aus dem Kassettenrekorder Veronikas Lieblingshits aus den Achtzigerjahren dröhnten, Supertramp und Dire Straits; aber sobald sie den silbergrauen Renault vor dem verwitterten, spitzgiebligen Häuschen parkten und ausstiegen, fiel mit dem ersten Atemzug alle Anstrengung von ihnen ab; der Hof, ein Familien-betrieb mit ein paar Gästezimmern, lag einsam auf einer Hügelkuppe, umgeben von Wäldern, Wiesen und Feldern; wohin man auch blickte, nach Norden, Süden, Osten, Westen, man sah nichts als den Himmel, Berge und Täler; kein einziges Haus.

 

Das Besteck klirrte, als Jacques das Körbchen auf die Ab-lagefläche neben der Spüle stellte, die noch warmen Teller schlugen beim Herausnehmen gegeneinander; dann war es wieder still. Die Wände und Böden der Wohnung, das Haus, die ganze Siedlung war schallisoliert wie ein Tonstudio, kam es ihm vor, so dass man kaum etwas mitkriegte vom Tun und Lassen der Nachbarn, die durchaus angenehm schienen, auch wenn sie zu niemandem näheren Kontakt pflegten. Als sie frisch eingezogen waren, hatte eine freundliche junge Frau einen duftenden Apfelkuchen vorbeigebracht; es gab Familien und Paare ohne Kinder, darunter auch zwei im frühen Pensionsalter; im dritten Stock wohnte ein geschiedener Physiklehrer, der seine neunjährigen Zwillingsbuben jedes zweite Wochenende bei sich hatte; manchmal klingelte einer der beiden – unmöglich, sie auseinanderzuhalten – und erbat sich höflich den Ball zurück, der aus Versehen auf ihrem Balkon gelandet war.

Die Umgebung war ihnen vertraut; das Einfamilienhaus auf der anderen Seite des städtischen Friedhofs, das sie 1967 gekauft hatten, im April, kurz bevor Sebastian mit einem Not-Kaiserschnitt zur Welt kam, ein winziges, blau angelaufenes Etwas, lag kaum dreihundert Meter Luftlinie von der Siedlung entfernt. Das Haus hatten Sebastian und Simona übernommen, vorläufig zur Miete, und das würde wohl noch eine Weile so bleiben; Sebastian brachte es offensichtlich nicht fertig, die Scheidung von seiner ersten Frau durchzuboxen, die sich mit Händen und Füßen dagegen sträubte, obwohl sie doch die unbefristete Niederlassungsbewilligung längst in der Tasche hatte. Friederike und Jacques waren sich einig, dass sie klare Verhältnisse wollten; solange Sebastian und Simona nicht verheiratet waren, würden sie den beiden auch das Haus nicht verkaufen.