Takolia - Zwischen Licht und Schatten - Bea Stache - E-Book

Takolia - Zwischen Licht und Schatten E-Book

Bea Stache

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die noch 15-jährige Natalie ist ein pragmatisches Genie, das ihr Abitur zu machen versucht, weit vor ihrer Zeit und auch gegen allerlei widrige Umstände. Doch seit kurzem plagen sie seltsame Träume von einem gefährlich wirkenden, schwarzäugigen Typen, der wie ein junger Krieger aus längst vergangenen Zeiten aussieht. Sie hat keine Ahnung, dass dies eine echte Geist-Begegnung mit einem todkranken, aber hochbegabten Jemaykrieger der Tak ist, die sie da erlebt. Denn Nial findet sie in der Realität und kommt zu ihr auf die Erde. Was aber leider auch die Aufmerksamkeit der „Jäger" erregt, die jede Begegnung zwischen Tak und Menschen mit dem Tode bestrafen, ... wenn sie sie finden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Impressum

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

Weitere Bücher und Serien der Autorin

Impressum

Vertrieben durch

Tolino Media GmbH

Deutsche Erstausgabe 05.2024

Copyright © 2024 by Bea Stache

Brunnenweg 4

34628 Willingshausen

[email protected]

Lektorat: Franziska Eife und Trouble Black

Coverdesign und Umschlaggestaltung: © 2023 by Florin Sayer-Gaborwww.100covers4you.com Unter Verwendung von Grafiken von Adobe Stock: Artsiom P., Alisa; Shutterstock: Volodymyr Horbovyy, Volodymyr Dvornyk

Prolog

Lieber Bruder,

ich weiß, du wirst es mir immer noch nicht glauben. Du hast es noch nie geglaubt, aber es ist wahr, was unser Großvater uns beiden auf dem Totenbett berichtet hat:

Sie sind hier und sie leben mitten unter uns!

Ich habe ihre Gräueltaten gesehen, Bruder! Ich habe Menschen gesehen, die sie abgeholt haben, ich sah sie sterben, mit eigenen Augen, und konnte nichts tun, denn es gibt hier kein Recht und keine Macht mehr, welche diese Monster aufhalten könnte.

Sie ziehen die Fäden im Verborgenen, kontrollieren uns mit ihrer überlegenen Technologie, mit dem, was sie Fortschritt und globale Vernetzung nennen.

Jeder, der nicht ihren Weg geht und nicht damit aufhört, unbequeme Fragen zu stellen, wird vernichtet - gnadenlos.

Wir haben ihre Lager gesehen, in denen sie die Leute verhören und zu Tode foltern. Wir müssen einfach dagegen vorgehen, auch wenn es schwer ist. Sie sind alle so unglaublich stark und schnell. Doch du, mein lieber Bruder, du hast immer noch eine kleine Chance, alldem zu entkommen.

Wenn du nichts weißt und wenn du auch weiterhin nichts wissen willst. Aber dein letzter Brief deutet mir das Gegenteil an.

Ich kann leider nicht mehr zurück nach Hause kommen, wahrscheinlich sogar nie mehr.

Bruder, bitte glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich nur fortgegangen bin, um euch alle vor dem Grauen zu beschützen. So seid ihr vorerst sicher vor denen, die mich jagen.

Also stell nun keine Fragen mehr, ich bitte dich, hör auf mich!

Sie kommen nur dann, wenn du Fragen stellst. Doch ich vermisse dich ebenfalls, geliebter Bruder, vermisse auch unsere Eltern, das musst du mir glauben.

Wenn du irgendwann später immer noch wissen willst, was mit unserer Welt los ist, schließ dich uns an, aber nur im Geheimen. Denn es gibt jetzt endlich Hoffnung.

Einen neuen Ausweg aus dem Elend unserer kontrollierten Existenz, einen Lichtblick, so gering er gerade auch noch scheinen mag.

Mein lieber Bruder, wenn du den Mut hast und vor allem alt genug geworden bist, nimm mit dem Widerstand Kontakt auf und mache dich ebenfalls zum Kämpfer unserer Sache.

Es ist es wert!

Denn unsere Welt ist noch nicht an sie verloren, solange es Menschen gibt, die gegen sie vorgehen.

Solange wir den Fremden aus der anderen Welt zur Seite stehen, die in den Nächten kommen, um mit den unseren zu träumen, werden sie vielleicht eines Tages auch unser aller Rettung sein. Wir müssen sie nur davon überzeugen!

Jemand muss hinübergehen und mit ihnen verhandeln. Jemand, der intelligent ist, der sich ausdrücken kann, dem man zuhört und dessen Argumente man versteht.

Der alte Graf Karl hat es versucht und ist gescheitert. Er konnte ihnen einfach nicht begreiflich machen, was wir hier wirklich brauchen.

So holen sie uns nur zu Hunderten zu sich herüber, denn das ist ihre Vorstellung von Hilfe, doch das ist falsch. Wir dürfen doch nicht einfach so aufgeben und fortgehen.

Und wir dürfen auch nicht mehr länger fortschauen, bei all dem Elend. Ich weiß, du kannst etwas ändern, Bruder, die Gegenwart und die Zukunft, denn du bist klüger, als ich es bin. Also lerne fleißig, lerne viel und mach die Augen auf.

Jeder Mensch hat schließlich immer noch die Wahl. Und diese sollten wir auch nicht scheuen.

Sollten jedes Risiko gewillt sein, einzugehen, und wenn es sogar auch unser Leben kostet, doch das ist es mir wert.

Noch sind sie uns überlegen. 

Doch die Tage werden sich ändern, die Zeit wird kommen und es wird entweder alles wieder gut sein oder vorbeigehen.

Doch wenn es gut wird, können wir hernach selbstbestimmt leben und unsere Worte werden gehört. Der Bann wird weichen, unter dem die Menschen derzeit stehen, und keiner wird mehr einfach so hingerichtet werden von denen, die hier im Grunde nichts verloren und nichts zu sagen haben sollten.

Ich weiß natürlich, dass du meine derzeitigen Aktivitäten nicht gutheißen kannst, doch wir beschützen die Menschen, retten die Unschuldigen und das kostet Geld.

Die Gesellschaft, das bedeutet sie, nennen uns deshalb Kriminelle. Doch die eigentlichen Mörder und Diebe sind sie.

Wir dagegen kämpfen nur für die Unschuldigen und für unser aller Überleben.

Das ist kein Witz und keine Ausrede, sondern nur die reine Wahrheit. Vielleicht wirst auch du das eines Tages so erkennen. Sei so gut und grüße unsere Eltern von mir.

Ich lasse wieder von mir hören.

Sei vorsichtig und schicke mir bitte keine Briefe mehr. Ich werde immer mal wieder den Kontakt zu dir suchen und wenn ihr mich jemals braucht, dann bin ich für euch da.

Dein großer Bruder

1

Mit einem lauten Klatschen landete das riesige Lehrbuch auf Natalies Tisch und schreckte sie aus tiefem Schlaf auf.

Blinzelnd schaute sie hoch in das von grauen, etwas wirren Haaren umrahmte Gesicht des sichtlich verärgerten Geschichtslehrers, der sie nun eingehend musterte.

„Frau Schmerer! Es wäre gewiss von Vorteil für Sie, wenn auch Sie sich beizeiten auf den Lehrstoff besinnen würden, anstatt Ihr kleines Morgen-Nickerchen ausgerechnet in meinem Unterrichtsfach zu halten!“, dröhnte Herr Doktor Gerke durchdringend durch den Raum.

Natalie blinzelte derweil mit erschrocken klopfendem Herzen, rieb sich dann kurz die Augen und richtete sich dann langsam und entnervt auf.

„Wie meinen?“, fragte sie ihn dann auch nur gereizt, anstatt sich zu entschuldigen. Denn das würde den Gymnasial-Lehrer nur noch mehr ausflippen lassen, das wusste sie bereits von anderen ähnlichen Situationen, also passte sie ihr Verhalten nun dahingehend an.

Herr Doktor Gerke wippte nun ärgerlich, aber auch erstaunt von seinem Fußballen auf die Ferse und wieder zurück, ein deutliches Zeichen dafür, dass seine Flagge noch immer auf Sturm gehisst stand, und rückte sich zugleich seine randlose Brille mit einer für ihn typischen, überkorrekten Bewegung, die sein Missfallen ausdrückte, auf der Nase zurecht.

„Diese Antwort habe ich seltsamerweise nicht von Ihnen erwartet“, schnaubte er trocken, was eine regelrechte Lachsalve in der Klasse auslöste, die vorher schon leise gekichert hatte.

„Natalie, es wäre nun wahrlich besser, wenn Sie mir nun meine Frage bezüglich des Lehrstoffes beantworten würden, junge Dame, anstatt so verschlafen aus der Wäsche herauszuschauen, und das umgehend, wenn Sie keinen Eintrag in mein graues Notenbuch riskieren wollen. Also sehen Sie in das Geschichtsbuch, das Sie vor sich aufgeschlagen liegen haben. ... Seite achtundneunzig, Absatz drei ... - Auf welche Weise kam die Familie von Karl-Heinz Göring ums Leben und wie er selbst, na?“

Natalie atmete tief durch und räusperte sich kurz. Ihr Glück, dass sie die Antwort sofort wusste, auch ohne den nicht enden wollenden Monolog des Lehrers mitangehört zu haben. Sie hatte das Buch schließlich schon Anfang des Schuljahres von vorne bis hinten durchgelesen.

- Gähn!

Die großen Diktatoren und Tyrannen der Zeitgeschichte und ihre Helfershelfer durchzunehmen, war wirklich ermüdend.

Rasch gab sie eine detailgenaue Antwort, mit dem Aufenthaltsort während des Selbstmordes, der Anzahl der Kinder, dem Alter der Kinder und ihrem Geschlecht, den Namen und das Alter der Mutter und dem von Göring selbst und sah dann gelangweilt zu ihrem Lehrer empor. Natürlich war ihre Antwort mehr als nur korrekt. ... Sie war perfekt.

Dank ihres fotografischen Gedächtnisses.

Herr Gerke grunzte jedoch nur irgendetwas und sah sie weiterhin missbilligend an.

„Liebe Frau Schmerer, Sie mögen ja ein wahres Ass in Geschichte sein und auf jede Frage eine stilvolle Antwort wissen, doch ohne ihre ungeteilte Aufmerksamkeit im Unterricht bin ich nicht gewillt, Ihre bislang so ausgezeichneten Noten weiterhin mit meinen überaus großzügig verteilten Punkten zu untermauern.

Also reißen Sie sich gefälligst ein wenig zusammen! Ausschlafen können Sie sich auch nachher noch, ... zu Hause!“

Natalie schnaubte unwillkürlich über seine Annahme und schwieg, während die Klasse noch einmal höhnisch kicherte oder lachte. Herr Gerke aber runzelte noch einmal die Stirn und eilte dann aber, zumindest zufriedengestellt über den öffentlichen Rüffel vor dem Kurs, an die Tafel zurück und nahm seinen eintönigen Monolog wieder auf.

„Göring vergiftete also seine Kinder mit Zyankali ... Dieses hatte er zu einem früheren Zeitpunkt vom Führer persönlich erhalten, wie man berichtet, obschon das Gerücht kursierte, das dieser schon weitaus früher gestorben sein könnte als sein getreuer General, doch dies wurde nie bewiesen. Also gehen wir mal von den schlichten Fakten des Fundtages der Leichen aus und ...“

- Leier ... Leier ... Leier … dachte Natalie nur und unterdrückte rasch ein erneut aufsteigendes Gähnen. Sie war erst um halb eins in der Nacht ins Bett gekommen und dann hatte sie natürlich noch unendlich lange wach liegen müssen, weil Katja mal wieder ihre Kundschaft mit ins Haus genommen hatte, um sie dort zu bedienen.

Das perverse Gelache und Gestöhne klang ihr selbst jetzt noch in den Ohren. Aber wenigstens hatte ihre Mutter diesmal nicht auch noch total high oder betrunken kichernd an ihre Tür gehämmert, wie schon so oft, um sie zum Mitmachen zu bewegen.

Natalie schüttelte kurz den Kopf, um ihn zu klären. Dann aber schweiften ihre Gedanken doch wieder ab, denn sie dachte voller Sorge an diesen eben noch geträumten Traum zurück. Tja, … so allmählich bezweifelte sie ja ernsthaft, dass es nur ein solcher war.

Denn nur noch diesen erlebte sie gerade irgendwie mehrmals täglich, wann immer sie kurz einnickte. Und es war auch fast immer dasselbe Thema, so als wäre sie in einem nicht enden wollenden Déjà-vu gefangen.

Da ging es ständig um irgendeinen düsteren jungen Kerl, in schwarzen langen Ritter-Klamotten, wie aus einem Mittelalterfilm, den sie aber noch nie zuvor gesehen hatte.

Ein echt merkwürdiger blonder Typ mit tiefschwarzen Augen, überlegte sie leicht erschauernd bei sich.

Er war ihr immer noch etwas unheimlich und hatte etwas Hartes und Kaltes an sich und dann aber doch auch wieder nicht.

Nach nun fast zwei Wochen von ihm träumen wirkte er nun nicht mehr ganz so bedrohlich auf sie wie noch zu Anfang, überlegte sie wieder einmal irritiert, weil sie dem Traum immer mehr und öfter gestattete, Einzug auch in ihre wache Gedankenwelt zu halten. Dann verwarf sie diese unproduktiven Gedanken gleich wieder und richtete ihre Aufmerksamkeit, wie von ihrem Lehrer verlangt, erneut auf den Unterricht.

Doch das nicht für lange.

Denn direkt hinter ihr erklang immer noch leises Flüstern und boshaftes Gekicher ihrer sogenannten Klassenkameraden.

„... Sah aus, als würde sie gleich vom Stuhl kippen ...“

„Geschnarcht hat sie auch noch.“

„So eine Lumpen-Trulla ... Kann sich doch gleich zu den Gossentypen in der Innenstadt legen und bei denen pennen. Schäbig genug sieht sie ja aus.“

„… Hast du ihre Schuhe gesehen?“

Wieder erklang unterdrücktes Gelächter und Natalie fühlte mal wieder überdeutlich das kleine Loch in dem Sneaker, an ihrem rechten großen Zeh, welches sie mit leider unpassend farbigem Nähgarn notdürftig geflickt hatte.

Herr Gerke schaute derweil erneut missbilligend herüber und Natalie beschloss, nun einfach so zu tun, als hätte sie nichts mitbekommen und mimte nur noch erhöhte Aufmerksamkeit.

Die beiden Typen, die hinter ihr im Unterricht saßen, waren ohnehin nur snobistische Vollidioten. Und selbst wenn sie es denen nun mit klugen Worten heimzahlen könnte, sie würde gegen ihre bösartigen Scherze über ihre Person und Kleidung letztlich nicht viel ausrichten. Sie sah nun mal lumpig und abgerissen aus und daran konnte sie auch nichts ändern, so ganz ohne Geld.

Nun weitaus genervter, aber zumindest wieder richtig wach, blickte sie also einfach weiter nach vorne, wo Herr Gerke gerade mit eifrigen Handbewegungen diverse Einzelheiten über sein Thema an die Tafel schrieb, Daten und besondere Gesichtspunkte.

Einige ihrer Mitschüler schrieben nun eifrig mit. Natalie hingegen sah es sich nur einmal kurz an und merkte es sich. Sie hatte schließlich auch gar kein Papier mehr, um noch etwas aufzuschreiben.

Es war allerdings auch absolut sinnlos und pure Vergeudung von Ressourcen, bei ihrem fantastischen Erinnerungsvermögen. Das machte jedes Aufzeichnen und Verwahren für später absolut überflüssig.

Ein Umstand, an den sich aber selbst nach drei Jahren noch nicht alle Lehrer hier am städtischen Gymnasium gewöhnt hatten, so auch Herr Gerke nicht, der sie nun erneut missbilligend anblickte.

Oder vielleicht doch nicht sie?

Endlich verstummten die Clowns, die hinter ihr saßen, anscheinend von Herrn Gerkes Todes-Blicken getroffen.

Denn dieser liebte sein Fach nun mal, ... zweifellos. Wenn er es nur nicht so trocken und ohne jeden Humor, ganz furchtbar langweilig präsentiert hätte.

Wieder atmete sie tief durch und rutschte dann unruhig auf dem Stuhl hin und her. Dann war es endlich vorbei.

Der laute Gong beendete auch diese Stunde gähnender Langeweile und verkündete den Schulschluss für den heutigen Tag.

Natalie packte erleichtert ihre wenigen Unterlagen zusammen und wollte eben den Klassenraum verlassen, als Herr Gerke nochmal nach ihr rief.

Oh Mann …

Genervt verhielt sie sogleich im Schritt und kehrte dann zähneknirschend an den Lehrerpult zurück. Der Bus fuhr bald ab und den musste sie ja nun unbedingt erreichen. „Ja bitte?“, fragte sie dennoch, so höflich sie nur konnte.

Herr Gerke machte gerade noch einen kurzen Vermerk in sein kleines ledergebundenes Noten-Buch.

Dann räusperte er sich schließlich umständlich, schloss mit einer Hand den Knopf an seiner grauen Tweedjacke und stand langsam auf.

Nachdenklich tippte er sich mit einer Hand gegen die Lippe, doch Natalie wusste genau, dass das nur seine bevorzugte Show war.

Ein Einschüchterungsversuch.

Beinahe hätte sie darüber nun sogar gelächelt, konnte sich jedoch gerade noch bezähmen.

„Frau Schmerer ... Das ist nun das dritte Mal in diesem Monat, dass Sie in meinem Unterricht einschlafen“, begann er schließlich ziemlich aufgeräumt zu deklarieren. „Haben Sie dafür irgendeine logische Erklärung, hm? Zum Beispiel die afrikanische Schlafkrankheit oder Leukämie, ... einen Tumor im Gehirn vielleicht?“, bot er höflich, aber nur mäßig interessiert an.

Mehrere andere und durchweg plausiblere Gründe, hätte Natalie ihm am liebsten ins Gesicht gebrüllt, doch sie bezwang ihren aufkeimenden Ärger und blieb äußerlich ruhig, obwohl es innerlich stark zu brodeln begann. Doch das hier hatte er sie in der Tat noch nie gefragt.

„Es tut mir leid, Herr Doktor Gerke, dass ich mit sowas nicht aufwarten kann, um damit Ihre Vergebung zu verdienen. Ich arbeite nur immer donnerstagabends bis halb zwölf in einer Spülküche. Danach sitze ich noch eine halbe Stunde am Busbahnhof, damit ich irgendwie nach Hause komme und frühestens um halb eins liege ich dann in meinem Bett. Morgens muss ich um fünf Uhr aufstehen, um ebenfalls wieder meinen Bus zur Schule zu erwischen. Die nächste Haltestelle ist nämlich fast zwei Kilometer von uns entfernt, da öffentliche Busse laut einer hanebüchenen Verordnung der Stadt in unserem Bezirk nicht mehr halten dürfen.

- Wegen der Gangs, wissen Sie noch?

Ich habe es Ihnen bereits letztens erklärt, als ich einschlief, dass ich tagsüber nach der Schule oft bis spät arbeite.

Allerdings sehe ich, trotz meiner unregelmäßigen Unaufmerksamkeit in Ihrem Unterricht, für ihren Spott und Hohn vor der gesamten Klasse nicht den geringsten Grund.

Solange ich in Ihrem Fach noch bei jeder einzelnen Klausur sehr gute Punktzahlen abliefere und auch noch bei all ihren hintergründigen Fragen bestehe, die Sie mir spontan stellen, obwohl ich gerade nicht aufgepasst habe, sehe ich es nicht ein, wieso es nicht dann und wann auch mal drin sein darf, dass ich zwischendurch einfach einnicke, anstatt dem zu lauschen, was ich schon Anfang des Jahres selbst in unserem, oder besser gesagt, Ihrem Geschichtslehrbuch nachgelesen und gelernt habe. Doch natürlich fühlen Sie sich dennoch direkt an den Karren gefahren ... und picken deshalb auch nur immer mich für Ihre Vorträge über Unaufmerksamkeit heraus, weil Sie mich hier anscheinend wirklich gerne und vorsätzlich vor allen Schülern als die hiesige Klassenidiotin abstempeln wollen, die ich aber nun mal nicht bin.“

„Frau Schmerer, ich muss doch sehr bitten …“, versuchte Herr Dr. Gerke sie nun doch mal blinzelnd zu unterbrechen, aber das ließ Natalie nun einfach nicht zu und sprach nur ausdruckslos weiter.

„Nein, Herr Doktor Gerke, Sie dürfen nicht bitten! Jetzt bin ich an der Reihe und Sie hören zu! Denn ich bin, ganz im Gegenteil, sogar keine irgendwie labile Vollidiotin, die Sie hier aufmischen könnten. Und ich kenne das Thema Ihres Unterrichts vermutlich sogar noch besser als Sie selbst ... Da ich sowohl das Geschichtsbuch, aus dem sie lehren, wie auch noch so einiges an weiterführender Literatur anderer namhafter Professoren aus der Stadtbücherei gelesen und damit auswendig gelernt habe. Ich beherrsche darüber hinaus, außer Ihrem Fach der hochgeschätzten Geschichte, bereits den gesamten Stoff der G1 - G4 im G8 – Kurs, in jedem einzelnen Fach. Ich könnte morgen bereits die Prüfungen zum Abitur ablegen, doch leider muss man dazu erst die entsprechenden Schuljahre absolviert haben, also habe ich nun anscheinend bis dahin gelitten, denn so einer wie mir traut man nun mal keine zwei Meter über den Weg, geschweige denn eine Hochbegabung zu. Oder dass ich tatsächlich neben der Schule, die für mich meine Freizeit bedeutet, viele Stunden am Tag arbeite, um zu überleben.

Ich kann Ihnen infolgedessen also nur so viel versprechen, dass ich mich wirklich bemühe, wach zu bleiben und ihrem Unterricht zu folgen, doch versprechen kann ich Ihnen nichts. Ich kann nämlich trotz Ihrer ach so supernetten Worte nicht so wie andere Schüler der Oberschicht jetzt nach dem Unterricht zu Hause ausschlafen gehen. Ich werde den Teufel tun und genau dort landen, wo meine superintelligenten Mitschüler, meines Erachtens die Kinder reicher, versnobter Eltern, wie auch Sie selbst mich wohl am liebsten sehen würden, ... auf der Straße!

Also verzeihen Sie mir entweder oder rutschen Sie mir von mir aus auch den Buckel runter. Ich hab‘s langsam satt, mich ständig zu rechtfertigen für das, was ich bin und woher ich komme. Daran kann ich jetzt noch nichts ändern, da ich erst sechzehn werde, und nun entschuldigen Sie, mein Bus fährt gleich ab.

- Guten Tag, Herr Gerke!“

„Bleiben Sie stehen“, sagte der Lehrer nun so ruhig, dass Natalie tatsächlich gehorchte und erst noch einmal tief durchatmete.

Was war denn nur in sie gefahren, so mit einem ihrer Lehrer zu reden, der auf ihre Noten einen nicht eben geringen Einfluss haben konnte?

Sie schob es der Müdigkeit zu und ihrer extremen Anspannung, die sie seit Tagen nicht mehr losließ.

Natürlich wirkte sich das auch schon sehr auf ihr Aussehen aus. Sie war blass wie ein Bettlaken. Ihre Haare machte sie sich nicht einmal mehr die Mühe zu bändigen, ... als ob das mit diesen dicken Locken überhaupt möglich war.

Sie sah ja fast schon Afro-Look-mäßig aus, auch wenn sie auch eigentlich ein eher hellhäutiger Typ war, mit ihren haselnussbraunen Augen, einer geraden, schmalen Nase und einem vollen und etwas zu breiten Mund, der kaum einmal lächelte. Weil es für sie in der Regel ja auch gar nichts zu lächeln gab!

Die dunkelbraunen Locken standen nach allen Seiten hin ab, viel zu dick und viel zu viele. Sie hätte mal dringend zum Friseur gemusst, doch ohne Knete keine Fete.

Sowieso konnte sie sich nichts leisten, nicht einmal die Bücher, die manche Lehrer ihnen auftrugen, sich selbst zu besorgen, oder die sie einfach so bestellten in der sicheren Gewissheit, dass auch wirklich jeder Schüler das Geld dafür schon irgendwie ranschaffen würde. Als ob sie einen Goldesel zu Hause versteckt hätte … pfff!

Herr Gerke schob nun mit einer resoluten, aber sehr bedachten Bewegung den Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch zusammen und ordnete ihn, begleitet von einem schweren Seufzer, in seine braune Ledertasche ein.

„Warum haben Sie sich denn nie an dem Untersekundar-Intelligenztest beteiligt, Natalie, dann hätten Sie vielleicht sogar auf eine Hochbegabten-Schule gehen können, die für Sie wesentlich geeigneter wäre als diese hier. - Da mein Unterricht Sie ja anscheinend vollkommen unterfordert ...“

„Ich bin offiziell nicht hochbegabt“, unterbrach Natalie ihn nur wieder ausdruckslos. „Das wurde schon vor langer Zeit so für mich entschieden.“

Herr Gerke verzog nun höchst skeptisch sein Gesicht.

„Ach ja? Und warum sind Sie dann schon zwei Jahre vor Ihrer Zeit in meiner Klasse gelandet, junge Dame? Mit noch fünfzehn Jahren, wohlgemerkt!? Und warum sind Sie so dermaßen darauf erpicht, sich alle Menschen vom Leib zu halten und hier ihr eigenes Ding durchzuziehen? Sagen Sie, Natalie, ... was wollen Sie eigentlich noch an dieser Schule?“

Natalie hob mit einer entschlossenen Geste das Kinn.

„Ich möchte nur das, was jeder Schüler will, Herr Gerke: Ein gutes Zeugnis und den Abschluss. Nicht mehr und nicht weniger.“ Sie zögerte kurz, rieb sich die schmerzenden Schläfen, versuchte wenigstens, seine Irritation zu besänftigen.

„Sehen Sie, das ist nun mal mein einziges Ticket nach draußen ...

In meinem Viertel sterben monatlich durchschnittlich zwei Jugendliche wegen irgendwelcher Bandendifferenzen oder wegen Drogen. Die letzten drei von denen waren eigentlich nur irgendwelche dämlichen Schüler so wie ich. Sie gehörten nicht einmal zu den Russis, den Kicks oder den Socks, doch sie wurden trotzdem einfach abgestochen, nur weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren.

Es ist nur eine Frage von Glück, wenn man so lange wie ich überlebt, Herr Gerke. Vielleicht schaff ich's also noch irgendwie, von dort wegzukommen, wer weiß. Doch ich glaub's ehrlich gesagt nicht mehr.

Es ist einfach zu unrealistisch, sein Herz an irgendwelche Hoffnungen zu hängen, die zumeist einfach nicht erfüllbar sind. Vor allem, wenn man aus so einer Gegend kommt wie ich. Familien ziehen dort besser nicht hin, es sei denn, es sind Prostituierte, die ihre Kinder ebenfalls gerne auf dem Strich anbieten wollen.“

Natalie sah, wie das Gesicht ihres Lehrers sich nun mehr und mehr rötete. Sie wollte aufhören, doch irgendwie konnte sie es nicht. Sie hatte es zu lange in sich aufgestaut, jetzt drängte alles heraus. Und das nur, weil sie so scheißmüde war.

Deshalb nahm sie auch keinerlei Rücksicht mehr auf das nun deutlich und wilde Luftschnappen ihres Lehrers oder seine Hand, die bereits krampfhaft auf seinem Herzen lag.

Es wurde Zeit, dass einer mal seine Augen für die Welt und wie sie in Wirklichkeit für viele Menschen aussah, öffnete.

„Wissen Sie was ...? Wenn ich irgendwann innerhalb dieses oder nächsten Jahres nicht mehr da drüben auf diesem Stuhl sitze und es vergehen zwei Wochen darüber, in denen ich ebenfalls nicht wiederkehre und nichts von mir hören lasse, dann brauchen Sie auch nicht mehr länger auf mich zu warten.

Und dann, Herr Gerke, brauchen Sie auch wirklich nie wieder zu befürchten, dass ich in Ihrem qualitativ so hochwertigen und von mir wirklich sehr geschätzten Unterricht einschlafe, nur weil ich neben der Schule leider noch drei schlecht bezahlte Jobs unter der Hand laufen habe. Die ich schwarz mache, weil Kinderarbeit laut deutschem Gesetz nun mal verboten ist. Aber die Regierung tut rein gar nichts dafür, dass wir nicht verhungern, im Gegenteil wendet sie sich ab und schaut offiziell weg, genauso wie Sie alle hier. Denn meine Mutter gehört nun mal zu eben diesen beschissenen Huren und Junkies, die in dieser Gegend leben. Das Jugendamt brauchen Sie nun aber deshalb auch nicht zu bemühen, falls Sie das nun eventuell einschalten wollen. Die trauen sich da nämlich schon seit mehr als fünf Jahren nicht mehr hin, weil sie dann nämlich ebenso abgestochen würden, wie die Bullen oder die vom Ordnungsamt. Bei uns kommt nur das SEK mit einer Hundertschaft stark bewaffneter Bullen rein, wenn sie Razzien machen, und die kommen garantiert nicht wegen mir, sondern wegen Waffen und Drogen.

Tut mir also leid, wenn ich Ihren hohen, geistig und moralisch einwandfreien Standards nicht entsprechen kann, welche auch an dieser Schule immer wieder so offen zelebriert werden, doch dann noch eins draufsetzen und mir eine Schule für Hochbegabte vorschlagen? ... Bitte?

Und wie sollte ich denn da hinkommen, hä?

Ganz zu schweigen von den Unterschriften, die es dazu bräuchte. Meine Mutter würde sich kranklachen und dann den Wisch, den sie garantiert dazu unterschreiben müsste, als Klopapier benutzen.

Der Goldesel, der Natalie heißt und sich tagtäglich für ihr Dach über dem Kopf abrackert, hat doch noch längst nicht ausgedient.

Der Goldesel ist noch da und das werde ich auch bleiben müssen, bis ich siebzehn oder achtzehn bin. Vielleicht besorge ich mir auch nächstes Jahr, wenn ich hier hoffentlich fertig bin, einen gefälschten Ausweis und ziehe in eine andere Bude um, raus aus der Gosse.

Bis dahin wird meine Mutter mich allerdings wieder jede Nacht um den restlichen 5-Stunden Schlaf bringen, wenn sie ihre Kunden in der Wohnung empfängt oder mit der Faust an meine Tür donnert, damit ich aufmache und für sie auch noch anschaffe.

Doch hey, so tief bin ich denn doch noch nicht gesunken. Ich habe immer noch eigene Pläne, kapieren Sie das? Ich bin keine dreckige Hure, sondern verdiene mir mein Geld hart, aber sauber.

Also nur noch bis nächstes Jahr, Herr Gerke, solange muss ich versuchen, die Scheiße zu überleben, in der ich bis zu den Knien stecke. Aber wenn ich es schaffe und da doch noch mal halbwegs heil rauskomme, werde ich garantiert nie wieder bei Ihnen im Unterricht einschlafen, versprochen!“

Herr Gerke schien nun ehrlich schockiert und Natalie erwachte plötzlich wie aus einem irrealen Traum.

Was bin ich nur für eine Furie, mich auf diesen armen, alten Mann zu stürzen und ihn dermaßen zu schockieren,dass er fast umfällt?, dachte sie bestürzt, schluckte schließlich krampfhaft und atmete kurz ganz tief durch.

Es musste an den Kopfschmerzen liegen ... natürlich, das musste es sein.

Das und die verflixten Träume von diesem unbekannten jungen Typen. Es machte sie langsam wahnsinnig.

Natalie wankte kurz, packte ihre Tasche fester und wollte sich abwenden, wenn ihr nur nicht plötzlich so schwindelig geworden wäre ...

„Natalie!“

Herr Gerke trat hastig zu ihr hin und wollte sie am Arm stützen, doch sie wich sofort kopfschüttelnd von ihm zurück und hob abwinkend eine Hand.

„Es ... tut mir leid, Herr Gerke. ... Das alles hätte ich Ihnen gar nicht erzählen dürfen. Und es interessiert Sie ja doch auch gar nicht. Also tun Sie mir bitte einen Gefallen, ja? Vergessen Sie‘s einfach wieder! Einen schönen Tag noch, ich muss jetzt wirklich rennen und den Bus erwischen ...“

Sie packte ihre Tasche fester und rannte nach draußen, so schnell sie nur konnte.

„He ... Natalie! Warten sie doch!“, hörte sie den Lehrer keuchend hinter ihr herrufen, doch sie rannte einfach weiter, immer schneller, als wäre ein Rudel Wölfe hinter ihr her.

Warum hatte sie ihrem so absolut korrekten, wohlhabenden, superkonservativen Pauker nur dieses ganze elendige Zeugs an den Kopf geschmissen? Das hatte sie doch die ganzen Jahre über nicht getan, verdammt ... 

„Ich drehe langsam echt am Rad!“

Der wenige Schlaf ... Ihre Mutter mit ihren Freiern und dann noch dieser Typ mit den schwarzen Kämpfer-Klamotten, blonden, halblangen Haaren und seltsamen, schwarzen Augen, den sie immerzu im Traum sah, so wie einen verdammt gefährlichen Geist oder Racheengel, der über ihr schwebte oder den Tod selbst darstellen sollte. Als wäre er eine Warnung vor ihrem baldigen Tod?

... Egal, alles egal.

Sie war keine Hellseherin und glaubte auch gar nicht an so einen Scheiß und Humbug. Dieser doofe Traum, genauso wie Katja und Herr Gerke mit seinen lächerlichen Reden, waren daran schuld, dass sie sich nun so mies fühlte. 

Mann, ich habe echt große Probleme, wenn ich nun immerzu dasselbe träume. Wenn ich sogar darüber nachdenke, ob es diesen Typen in Schwarz wirklich gibt und was er wohl für mich zu bedeuten hat.

- Schizophrenie vielleicht?

Davon kann ich keinem erzählen, der sie noch alle beisammen hat. Die stecken mich höchstens in eine Klapse und dann bin ich für immer geliefert!

Frustriert schnaubend hielt sie ihre Schultasche zu, damit die Bücher nicht herausfallen konnten. Das Ding war nun schon seit vielen Monaten kaputt. Irgendwo musste sie also demnächst eine neue Tasche herbekommen ... und neue, einigermaßen gute Hosen und Schuhe ... Sie wackelte mit dem großen, sichtlich fadenscheinig bedeckten Zeh, der bereits wieder ziemlich deutlich aus dem Loch an ihren Sneakers herausschaute.

Erbärmlich war schon gar kein Ausdruck mehr für ihren Aufzug. Sie trug einfach Sachen aus dem Müll.

Sachen, die nicht einmal mehr das Rote Kreuz in der Kleiderkammer akzeptiert hätte, wo sie sowieso selten genug hinging, denn das konnte heutzutage ebenfalls höchst gefährlich sein.

Denn an der nächsten Ecke lauerte oft einer der Gang-Typen, die bei den karitativen Einrichtungen ja nicht eintreten durften.

Wer nicht ihr nächstes Raubopfer werden wollte, hielt sich also lieber von solchen Orten fern.

Scheiße …

Natalies Kopf schmerzte nun immer stärker.

Was brachte das ganze Grübeln schon ein?

Sie hatte eine Arbeit.  ... Sie musste ihren Bus erwischen!

So schnell sie nur konnte, eilte sie die Treppe hinunter ins Erdgeschoss und von da aus direkt auf den südlichen Ausgang zu, wo der Busbahnhof lag. Es roch hier schon überall nach Bohnerwachs und Desinfektionsmitteln, Glasreiniger und Seifenlauge. Die Putzfrauen hatten gerade mit ihrer monotonen, täglichen Drecksarbeit begonnen und führten die Putztücher in raschen, geschwinden Bögen über den von unzähligen Straßenschuhen verschmutzten Boden.

Ein Riesenjob, der nie zu Ende ging, weil er ja jeden Tag gleich wieder von vorne begann. Sie hätte sich lieber erschossen, als hier in der Schule zu arbeiten, wo sie ja schon vormittags und manchmal auch noch bis in den frühen Nachmittag hinein sitzen und warten musste. Apropos warten ...!

Ein hastiger Blick auf ihre kostbare, aber billige Uhr sagte ihr, dass sie nun nur noch fünf Minuten Zeit hatte. So ein Mist, dass sie ausgerechnet heute schon wieder eingeschlafen war.

Vielleicht wurde sie ja nun doch mal wieder krank?! 

Sie träumte von irgendwelchen Märchen-Kerlen, die es nicht gab, nickte im Unterricht ein, fühlte sich kraftlos und hatte Kopfschmerzen.

Absolut kein Wunder bei der ganzen Scheiße, die zu Hause vor sich ging.

Fixer, Drogen, Freier, die auf ihr Zimmer zu gelangen versuchten, um vielleicht noch eine Gratisnummer mit der Tochter der Hure zu schieben, bevor sie gingen, angespornt von dem wilden Gekicher ihrer Mutter, die das auch noch saukomisch fand und die Männer stets ermunterte, ihr Glück doch auch mal bei ihr zu versuchen.

Bald ... tröstete sie sich selbst nur wieder in Gedanken. Bald war sie das alles los, ... wenn alles glattlief.

2

Sie fröstelte ein bisschen, als sie durch die Tür hinaus in den scharfen Wind trat. Einige Typen aus ihrer Klasse standen noch auf dem Schulhof, rauchten lässig dastehend und in den gepflegt aussehenden Händen die Zigaretten reichlich cool haltend, während sie sich angeregt miteinander unterhielten.

Die Schickeria der hiesigen Schule in einem grandiosen Kreis, angehimmelt von an der Ecke versammelt stehenden Mädchen, die leise in sich hineinkicherten und ihren schier unerreichbaren Schwarm anhimmelten. 

Sebastian, der hinter ihr saß, war auch darunter ... und Steffen, der Schulsprecher. Beide waren groß, blond, sportlich, aber eben noch unreife, verwöhnte Jungen, ohne jeden Plan im Leben.

Nur auf Spaß und Unsinn aus. Feten, schicke Autos, willige Mädchen ...

Natalie schlug unwillkürlich einen weiten Bogen um die Typen herum. Doch das hätte sie sich auch sparen können.

„Hey, … da ist ja unser Baby! Bist du etwa schon wieder eingepennt, Lumpenmiene?“ wieherte Sebastian plötzlich vor Lachen laut los.

Scheiße! 

Die hatten also extra hier auf sie gewartet, um sich wieder auf ihre Kosten zu beömmeln.

Grimmig presste Natalie die Lippen aufeinander und schwieg, während sie noch schneller ging, um endlich zum Busbahnhof - gleich um die Ecke - zu kommen. 

„Warum versuchst du es nicht denn mal zur Abwechslung bei mir im Bett? Es ist auch ganz kuschelig weich dort und ohne all die Läuse, die dir sonst immer in dem Rattennest herumspringen, dass du Haare nennst ...“, höhnte Sebastian einfach nur dreckig grinsend weiter und die anderen lachten nun auch noch darüber. Natalie zeigte ihnen nicht, dass ihre verbalen Hiebe sie trafen, sondern setzte nur eine ziemlich verächtliche Miene auf.

„Genau ... ja!“, überlegte sie dann laut. „Ich bin mal wieder eingepennt, da hast du völlig recht, Sportskanone“, konzentrierte sie sich bewusst nur auf den ersten Teil seiner blöden Rede und sah ihn dabei kühl an. „Aber, im Gegensatz zu dir, weiß ich dennoch alles, was Herr Dr. Gerke mich fragt, wenn er mich aufweckt. Du dagegen bist von Natur aus zu dumm, als dass du irgendetwas von alleine beantworten könntest, selbst wenn du die ganze Zeit über mit dem Diktiergerät deines Daddys neben dem Lehrerpult sitzt, nur um nicht mitschreiben oder, Gott bewahre, mitdenken zu müssen.

Im Gegensatz zu euch Blödmännern bin ich mit dem Lehrstoff für dieses Jahr schon lange durch. ... Euch also auch noch einen schönen Tag!“, fügte sie noch gleichgültig tuend hinzu.

Sie ging schnell weiter. Doch eine Hand schoss nun vor und zerrte sie grob am Arm zurück.

„Jetzt halt aber mal die Luft an, Kleine“, stieß Sebastian Müller wütend hervor. „Du Lumpen-Trulla hast eigentlich noch gar nichts in unserer Klasse zu suchen. Du bist ein Unterschichten-Kind ...“

„Kommt schon, lasst sie uns wenigstens mal ein kleines bisschen verhauen“, schlug ein dritter Typ vor, dessen Namen sie nicht kannte. Er hatte dunkle Haare und eisgraue, böse funkelnde Augen. Sein Lächeln war absolut fies.

Genüsslich sog er an seiner Zigarette und blies ihr dann den Rauch mitten ins Gesicht, sodass sie beinahe husten musste. Aber wirklich nur beinahe. Sie war noch an weitaus härtere Jungs wie diese Milchbubis hier gewöhnt. An viel Härtere. Dennoch hielt sie sich zurück. Warum auch immer.

„Lass mich augenblicklich los!“, warnte sie Sebastian sehr leise und sehr bedrohlich.

„Vielleicht haben wir Glück und sie läuft nach Hause zu ihrer Mama und bleibt dort“, mokierte sich der fremde Typ erneut und brach in gackerndes Lachen aus.

Seine Hände ballten sich aber schon zu harten Fäusten. 

„Ins Russenghetto soll sie gehen und da auch Unterricht erhalten, ... wo sie hingehört!“, stimmte Sebastian bedrohlich sanft zu und nickte freudig erregt.

Natalie schob ganz unauffällig ihre Hand in die Jackentasche und umklammerte das Messer fester, das sie für genau solche Fälle immer bei sich trug.

„Lass gefälligst deine superweichen Schickeria-Dreck-Finger von mir“, warnte sie zum zweiten Mal bedrohlich sanft und richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter fünfundsechzig auf, wobei sie den fremden, dunkelhaarigen Typen durchdringend anstarrte, der diese gefährliche Wendung erst eingeleitet hatte. „Und denke bloß nicht, ich könnte mich nicht gegen euch wehren, Arschloch! Ihr alle erlebt euer blaues Wunder, wenn ihr mich auch nur mit dem kleinen Finger anrührt!“

Kein Opfer sein; Nicht eine Sekunde lang ducken; Stärke zeigen, schoss es ihr wie ein Mantra durch den Kopf, immer wieder von neuem, immer wieder von vorne.

Sebastian sah aus, als ob er sich jetzt nur zu gerne mit ihr geprügelt hätte, doch Steffen Duman, der Schulsprecher, der mit seinen Freunden dabei gestanden hatte und nun näher herangetreten war, hatte wohl die drohende Gefahr einer Schlägerei erkannt und zog den noch immer direkt vor ihr stehenden Sebastian nun eiligst von ihr weg.

„Hey, Bro, … bleib mal locker, ja? Wir Erwachsenen schlagen doch keine Kinder, nur weil die schräg drauf sind. Egal, ob sie provozieren oder nicht ...“, brummte er derart von oben herab, dass die Kerle schon wieder anfingen, darüber zu lachen und zu grölen, als hätte er gerade den Witz des Jahrtausends gemacht. Die Situation entspannte sich wieder ein wenig. Natalie atmete also erleichtert auf und drückte ihre Schultasche erneut fester an sich. Sie nickte Steffen fast unmerklich zu, was dieser ebenso unmerklich erwiderte, wahrscheinlich, um nicht bei den Gleichaltrigen in Ungnade zu fallen, und verließ dann mit hoch erhobenem Kopf und schnellem Laufschritt das Schulgelände. 

Sie musste jetzt wirklich rennen, um ihren Bus noch zu erwischen.

Der Busfahrer wollte gerade vom Bahnhof abfahren, als sie mit der flachen Hand noch schnell gegen den Türöffner schlug und dann, als die Flügeltüren wider Erwarten doch noch mal aufschwangen, hastig einstieg. 

Sie dankte ihm keuchend, denn es war durchaus nicht selbstverständlich, dass er für sie noch einmal geöffnet hatte, zeigte ihm hastig ihre Schülerbusfahrkarte, setzte sich auf den erstbesten freien Sitz im Mittelteil des Busses und starrte dann einige Minuten lang nur blicklos aus dem Fenster.

Sie hatte nun eine gute Dreiviertelstunde Zeit, bis sie das Ziel erreichen würden. Müde stellte sie sich ihre Armbanduhr ein, damit sie nicht aus Versehen den richtigen Ausstieg verpassen würde, und schloss dann erleichtert die brennenden Augen.

Sofort glitt sie so schwerelos und leicht in den bereits gewohnten Traum hinein, dass sie meinte, dieser fremde Typ darinnen müsste sie bereits erwarten.

Doch als sie nun in diesem seltsamen Wald, mit ihr völlig unbekannten Bäumen und Pflanzen, mitten auf dem ausgetretenen Weg stand, war sie ganz allein.

- Seltsam.

Doch das galt ja ohnehin für alles hier. Sie hatte unlängst in der Bibliothek nach fremdartigen exotischen Pflanzen und Blumen geforscht, die sie sich hier genau angesehen hatte, doch absolut nichts gefunden, was hierzu passte. Gewiss, das Gras war auch grün, aber eingerollt zu seltsamen Kringeln.

Sie hatte natürlich auch nach Blattkrankheiten geforscht, die solche Gebilde ergeben mochten, doch die sahen auch nicht so aus wie diese Kringel. Ebenso die abstruse Form der Gräser, Blütenkelche und Blätter, selbst die Baumrinden an den Bäumen, die schwarz waren und wie angekokelt aussahen …

Es frustrierte sie.

Denn es passte hier einfach rein gar nichts zur Realität.

Auch nicht dieser Weg. Er war seltsam, nur leicht erhaben wie ein Mini-Damm zwischen den beiden Waldseiten und bildete somit eine Art natürlichen Grenzverlauf zwischen der Licht- und Schattenseite in diesem Wald.

Im Licht war es sonnig und schön, grüner Kringel-Rasen zwischen Blütenbäumen und tausende von exotischen Blumen. Dagegen eröffnete sich auf der Schattenseite nach nur wenigen Metern eine kalte, immer karger werdende Sumpflandschaft, die nur wenig einladend wirkte.

Sogar ganz im Gegenteil.

Die Bäume wurden immer krüppeliger, je weiter entfernt sie vom Weg standen und jedes bisschen Grün verschwand allmählich in den sich immer weiter ausdehnenden stinkend blubbernden Schlammlöchern, in denen auch noch die Bäume versanken und starben.

Und obwohl sie den jungen Typen gerade nicht sah, der noch vorhin in Geschichte, als sie ganz kurz eingenickt war, auf der Lichtseite gestanden und sie wieder einmal wortlos angestarrt hatte, traute sie dem Frieden nicht. Denn auch das war schon mehrfach so vorgekommen.

Sie stand hier, dachte an nichts Böses und er tauchte plötzlich doch noch direkt hinter ihr auf und versuchte dann sogar von der Lichtseite auf den Weg oder, wenn sie auf die andere Seite floh, dahin zu gelangen.

Also raus aus dem Licht, in den Schatten.

Doch es gab da zum Glück eine Art unsichtbare Luft-Barriere direkt vor dem Weg. Da kam er nicht durch, hieb aber immer mal wieder zornig aussehend mit der Faust dagegen, wie um sie einzuschlagen.

Und genau so lief es nun schon seit mehr als zwei Wochen.

Sie stand oder saß immer hier auf dem steinigen Weg oder aber da drüben auf einem umgefallenen Baumstamm im Schatten.

Er stand und tigerte dann immer dort auf der Lichtseite auf und ab, sprach nicht, sah sie nur an fast schon vorwurfsvoll, wie sie ab und an meinte …

- Merkwürdig war das, wo er doch hier immer noch der bedrohlichere von ihnen beiden war.

So groß und athletisch, blondes halblanges Haar, schwarze, wallende Kleider, tiefschwarze Augen, … ganz zu schweigen von seiner unglaublichen Bewaffnung:

Ein langes Schwert, ein großer gebogener Dolch und noch dazu weitere kleinere Messer und Dolche am ganzen Körper und in unglaublich vielen schwarzen Scheidengurten verteilt.

Nein, sie begriff es wirklich nicht. Warum ausgerechnet er da drüben auf der Sonnenseite stand aber nun dauernd so unbedingt hier rüber in den Schatten wollte.

Ein Geschöpf wie er, vielleicht sogar ein Dämon ...

War er vielleicht aus der Hölle entflohen und hielt nun den Himmel gefangen? Hm … wenn das da drüben überhaupt der Himmel war … aber wieso sollte er das sein? Es war doch nur ein Traum.

Doch nun war er zum ersten Mal wirklich nicht hier und auch bisher noch nicht gekommen. Das irritierte sie nun doch ziemlich.

Hatte er also aufgegeben?

War er fort?

Langsam drehte sie sich noch einmal forschend nach allen Seiten hin um, ob er sich nicht doch noch irgendwo versteckt hielt, nur doch schon durch die Luftbarriere durchgebrochen und nun auf der anderen Seite versteckt.

Sie war sich gerade unsicher, was sie in dem Fall tun sollte.

Einfach wieder gehen?

Aber wie nur?

Ihr Erwachen hatte sie bisher noch nie steuern können.

Sie fühlte ja noch nicht mal, dass sie ihre Augen geschlossen hielt. Sie stand nur plötzlich hier auf dem Weg oder mitten im Moderwald, zwischen stinkenden und kahlen Baumstümpfen und es war für sie wie die Realität. Alles fühlte sich unglaublich wirklich und echt und sehr beängstigend und verwirrend an.

Oh ja …

Auf einmal knurrte es wieder ziemlich in ihrem Magen.

Er tat ihr nun sogar richtig weh und erinnerte sie schmerzhaft daran, dass sie heute noch nichts gegessen hatte.

Katja hatte gestern mit ihrem derzeitigen Dealer den Kühlschrank geplündert und ihr mal wieder nichts übriggelassen. Wieso machte sie sich überhaupt noch die Mühe, etwas dort hinein zu legen?, fragte Natalie sich einmal mehr erbittert und presste sich dann kurz die Hände auf den Magen, bat ihn stumm mit dem Protest aufzuhören, denn es gab jetzt eben gerade noch nichts und basta.

---ENDE DER LESEPROBE---